Inhaltsverzeichnis


Einführung

Vorwort
„Was für ein Begleiter“
SPIEGEL-Autor Volker Hage über seine Begegnungen mit Martin Walser
Von Wasserburg aus
Martin Walser wuchs in einem kleinen Ort am Bodensee auf
Im Malhaus
Ein Museum für den Dichter

Der Literat

Glänzende Skrupel
Martin Walser über Jean-Paul Sartres „Die Wörter“
Wortwörtliche Streichlerei
„Das Einhorn“
Kristlein am Kreuz
„Der Sturz“
Überlebensspiel
„Ein fliehendes Pferd“
Bleiben nur die Russen
„Seelenarbeit“
Gott oder Gottlieb?
„Das Schwanenhaus“
Eckermann
Hellmuth Karasek über Walsers Goethe in Wien
Muttersöhnchen
„Die Verteidigung der Kindheit“
„Oben ist oben“
Interview mit Martin Walser über „Finks Krieg“
Meßmer auf Reisen
Walsers eigenwillige Selbstbeobachtungen

Die Politik

Heimatliebe
Walser und die DKP
Fäulnis und Verfall
Walser und Heinrich Böll über den Vietnamkrieg
„Warum wählen wir noch?“
Walser über Parteien, Staat und Wirtschaft
Vietnam
Die Debatte im Bundestag
Treten Sie zurück!
Brief an DDR-Staats- und Parteichef Erich Honecker
Ohne Triumph
SPIEGEL-Gespräch mit Walser über die Deutsche Einheit

Der Essayist

Deutsche Sorgen
Eine gestörte Identität
„Goethe retten“
Martin Walser über Victor Klemperer
Vergangenheit
Rudolf Augstein und Martin Walser im Gespräch
Friendenspreis
Eine Rede mit Folgen
Großdebatte
Streit über die Paulskirchenrede
Tod eines Kritikers
Antisemitismus-Vorwürfe gegen Walser
Goethes Leidenschaft
„Ein liebender Mann“
„Nicht ohne Liebe“
Über das Glück, Vater von Töchtern zu sein
„Vorwurf ist das falsche Wort“
Martin Walser und Jakob Augstein sprechen über ihre schwierige Vater-Sohn-Beziehung
„Einsam ist man sowieso“
SPIEGEL-Gespräch über Literatur nach Auschwitz
Letzte Lockerung
„Statt etwas oder Der letzte Rank“
Martin Walser
Danksagung an die deutsche Sprache

Anhang

Impressum
Einführung
Im November 1957 fand Martin Walser erstmals im SPIEGEL Erwähnung. Auf schmalen 25 Zeilen war eine kurze, wohlwollende Besprechung des Romans „Ehen in Philippsburg“ zu lesen, dem Autor wurde eine „stellenweise auch mutig bebilderte Sprache“ attestiert. So begann die mehr als ein halbes Jahrhundert währende Beziehung zwischen dem SPIEGEL und dem Großschriftsteller, der Millionen Menschen mit seinen Romanen und Schriften begeistert – nicht nur als Dichter, auch als Denker und Chronist der deutschen Seele.  
In diesem E-Book enthalten sind aktuelle Texte über den „wichtigsten“ deutschen Intellektuellen („Cicero“), sowie eine Auswahl von Rezensionen seiner Werke, politische Schriften, Essays und Gespräche, die im SPIEGEL erschienen sind.   
Fehlen darf natürlich nicht Walsers Rede, die er 1998 als Friedenspreisträger in der Frankfurter Paulskirche hielt und die in Deutschland eine wuchtige Diskussion über den Umgang mit der NS-Vergangenheit auslöste. Das Echo klingt bis heute nach: In einer aktuellen Anmerkung wehrt sich Walser gegen die Einvernahme von inzwischen überholten Passagen seiner Rede durch die rechtskonservative AfD.   
Angriffslustig und melancholisch hat SPIEGEL-Autor Volker Hage den Schriftsteller immer erlebt. Walser sei ein „in sich hineinlauschender Zeitgenosse und stets aufs Neue überraschender Geist“. Als Literaturredakteur hat Hage den Dichter vom Bodensee jahrzehntelang begleitet. Nun gibt er bislang unbekannte, auch persönliche Einblicke in diese Zeit.   
Martin Walser selbst liefert ebenfalls einen Text, in dem er sich bei dem Werkzeug bedankt, das er so virtuos, so spielerisch und so kraftvoll zu nutzen weiß: Es ist eine „Danksagung an die Sprache, die deutsche“.

Hans-Ulrich Stoldt
Einführung
SPIEGEL BIOGRAFIE 1/2017

„Was für ein Begleiter“

Ein Redakteursleben mit Martin Walser. Von Volker Hage
Es begann mit einem Leserbrief. Er schickte ihn im Februar 1964 von Friedrichshafen nach Hamburg. Das Thema: Marcel Reich-Ranicki, der zuvor im SPIEGEL ordentlich gerupft worden war. Das gefiel dem Schriftsteller, vor allem, dass da endlich einmal ein Kritiker kritisiert werde.
Martin Walser konnte damals nicht ahnen, dass er mit Reich-Ranicki zeitlebens zu tun haben würde, selten im Guten, häufig verbunden mit Verdruss und Verärgerung, ja Kränkung. Der Kritiker wurde zu seinem größten Widerpart.
Noch jetzt, in Walsers soeben publiziertem Prosaband „Statt etwas oder Der letzte Rank“, taucht der 2013 gestorbene Reich-Ranicki kaum verhüllt als „exemplarischer Feind“ auf: „Er tadelte, kritisierte und beschimpfte immer im Namen und Interesse des Großenganzen.“ Nicht ohne Folgen für die Psyche des so Kritisierten: „Woher sonst sollte die Tag und Nacht erlebte, die immerwährende Selbstverneinung dann herrühren, wenn nicht von ihm?“
Mit Mitte dreißig, in seinem Leserbrief, war der emporstrebende Schriftsteller kämpferischer gestimmt. „Der blinde, einsträngige Indikativ ist sein bevorzugter Modus“, schrieb er dem SPIEGEL: „Urteilen, aburteilen und ein bisschen hinrichten.“
Das war Walsers erster Beitrag. Ein Jahr danach, im März 1965, trat er dann selbst als Kritiker auf. Über zwei SPIEGEL-Seiten setzte er sich lobend, keineswegs unkritisch mit einem literarischen Werk von Jean-Paul Sartre auseinander („Die Wörter“). Fortan war er regelmäßig Gast, zumeist als Zulieferer von Statements und Meinungsbeiträgen.
Über Rudolf Augstein, den er schon 1947 kannte und mit dem er später befreundet war, äußerte Walser sich erstmals 1987 im SPIEGEL. Den „Erfinder eines Hamburger Nachrichten-Magazins“ behandelte er nicht ohne Spott („Immer wieder kriegt er es hin, dass seine Sätze strahlen wie aus dem allerbesten Latein übersetzt“), aber doch voller Bewunderung: „Er hat sich mit keiner Seite, keiner Partei, keiner Machtclique dauerhaft befreundet.“
Walser war, als er seinen ersten Leserbrief für den SPIEGEL schrieb, vom Kulturressort längst wahrgenommen worden. Sein Roman „Halbzeit“ wurde 1960 in einer Rezension vorgestellt, deren Tenor schon die Überschrift signalisierte: „Unentschieden“. Als Kronzeuge wurde der „FAZ“-Literaturchef Friedrich Sieburg zitiert, der Walser zwar „ein Genie der deutschen Sprache“ genannt, aber gleichzeitig über den umfänglichen Roman das originelle Urteil gesprochen hatte: „Das Ganze kommt nicht recht vom Fleck, und warum das Buch überhaupt aufhört, habe ich immer noch nicht begriffen.“
Von dieser Ambivalenz blieben auch spätere SPIEGEL-Kritiken geprägt. Nahezu Jahr für Jahr galt es, ein neues Theaterstück oder einen neuen Roman des Schriftstellers vom Bodensee vorzustellen. Immer wieder wurde dabei Walsers Sprachkraft bewundert und das künstlerische Ergebnis bemängelt. Walsers auf „Halbzeit“ folgender Roman „Das Einhorn“, hieß es 1966, sei „so eloquent, dass es kaum noch auszuhalten ist. Der Roman selbst hält es nicht aus.“ Walser war mittlerweile zur Chefsache geworden, über ihn urteilten (von gelegentlichen Gastbeiträgern wie Peter Wapnewski oder Reinhard Baumgart abgesehen) abwechselnd die Redakteure Rolf Becker und Hellmuth Karasek.
1957 "Ehen in Philippsburg" ist ein Roman über die westdeutsche Nachkriegsgesellschaft.
1957 "Ehen in Philippsburg" ist ein Roman über die westdeutsche Nachkriegsgesellschaft.
Beide waren es auch, die im Oktober 1990 an den Bodensee reisten, um das erste SPIEGEL-Gespräch mit dem Schriftsteller zu führen. Thema: die deutsche Einheit. Die Begegnung verlief nicht ohne Komplikationen. Am Tag darauf nämlich rief Walser in der Redaktion an und zog das Interview zurück. Er habe nur Unsinn geredet, war seine Begründung. Immerhin bestieg er in Friedrichshafen das nächste Flugzeug und kam nach Hamburg, wo das Gespräch noch einmal geführt wurde, das unbedingt in der nächsten Nummer erscheinen sollte. Mit der neuen Fassung sei er zwar auch nicht zufrieden gewesen, erzählte Walser später einmal, „aber etwas zufriedener“.
Tatsächlich war es ein gründliches, ein grundsätzliches Gespräch über Deutschland und die Rolle der deutschen Intellektuellen – die standen, wie Günter Grass, in jenen Tagen zu einem großen Teil der Wiedervereinigung skeptisch gegenüber. Walser dagegen erklärte, „dass für mich die Entwicklung, die jetzt zur Einigung geführt hat, das schönste Politische ist, was ich in meinem Leben erfahren habe“. Gefragt, wie sich das denn mit seiner früheren Annäherung an die DKP vertrage, wiegelte er ab: „Meine engsten Freunde waren da drin, ich bin auf diversen DKP-Kulturkongressen gewesen.“ Das sollte heißen: Mehr war da nicht.

Sich zur Politik zu äußern war gerade für jene Nachkriegsautoren, die wie Walser, Günter Grass oder Siegfried Lenz in sehr jungen Jahren noch am Krieg teilgenommen hatten, ein höchst ambivalentes Unterfangen. Einerseits drängte es sie alle mit gutem Grund dazu, sich in der noch jungen Bundesrepublik aktiv an den politischen Debatten zu beteiligen, andererseits sahen sie sich irgendwann in die Rolle von Intellektuellen gedrängt, die von den Medien ständig zur Stellungnahme aufgefordert wurden.
„Ich kenne keinen Schriftsteller, der lieber nach seinen politischen Auftritten beurteilt werden möchte als nach seinen Romanen“, sagte er fünf Jahre später zu mir, als ich für den SPIEGEL mit ihm sprach. „Die Forderung, dass bei einem Schriftsteller die Weltveränderungsbotschaft dabei sein müsse, ist eher eine Art von Gesellschaftsspiel.“
Dieses Treffen im August 1995 verdankte sich weniger einem aktuellen Anlass als einer alten Verabredung zwischen uns. Mein erster Besuch in Nußdorf am Bodensee, die erste persönliche Begegnung mit Walser, hatte genau zehn Jahre zuvor stattgefunden, damals noch für das „FAZ-Magazin“, mehr oder weniger zufällig an Goethes Geburtstag, am 28. August. Es war ein angenehmer und ergiebiger Besuch gewesen, offenbar für beide Seiten. Jedenfalls hatten wir uns in freundlicher Abschiedsstimmung vorgenommen, fortan alle zehn Jahre genau an diesem Tag ein Gespräch zu führen. So kam es denn auch, zumindest dieses eine Mal.
Ich hatte lange einen großen Bogen um ihn gemacht, auch als Leser. Als er 1964 seinen Brief an den SPIEGEL schickte, war ich 14. Immerhin las ich gegen Ende der Schulzeit „Ehen in Philippsburg“, seinen ersten Roman, nicht für den Deutschunterricht, das wäre noch undenkbar gewesen, allein schon einer drastischen Abtreibungsszene wegen, sondern weil der Autor längst einen Namen hatte.
Als Redakteur hatte ich zum ersten Mal 1980 mit Walser zu tun. Damals war in der „FAZ“ eine Serie geplant, die den Arbeitstitel „Literarische Fensterblicke“ trug. Schriftsteller sollten gebeten werden, die unmittelbare Umgebung ihrer Arbeitsstelle zu beschreiben. Die Serie kam allerdings nie zustande. Walser stand nicht allein mit seiner Absage, die freilich besonders feinsinnig formuliert war: „Entschuldigen Sie bitte, wenn ich meine Straße nicht ausliefere. Es handelt sich um eine von wenigen bewohnte Straße, sie ist, glaube ich, verletzlich.“
1966 "Das Einhorn" ist der zweite Teil einer Trilogie, ein Roman über die Liebe und fehlende Sprache dafür.
1966 "Das Einhorn" ist der zweite Teil einer Trilogie, ein Roman über die Liebe und fehlende Sprache dafür.
Als junger Literaturredakteur durfte ich 1976 aus nächster Nähe erleben, wie der „FAZ“-Literaturchef Reich-Ranicki einen Totalverriss von Walsers Roman „Jenseits der Liebe“ ins Blatt hob. Die Rezension begann mit den Worten: „Ein belangloser, ein schlechter, ein miserabler Roman. Es lohnt sich nicht, auch nur ein Kapitel, auch nur eine einzige Seite dieses Buches zu lesen.“ Das war dermaßen überspitzt formuliert, dass die wenigen Kollegen in der Redaktion, denen das Manuskript vorher zugänglich war, dringend vom Druck abrieten.
Reich-Ranicki war natürlich nicht zu beirren. Vielmehr ließ er uns wissen, im Grunde gehe es ihm gar nicht um den Roman, sondern um die politische Haltung des Autors, um dessen Flirt mit der DKP, der zu nichts Gutem führen könne. Er kenne sich schließlich mit kommunistischen Gewaltsystemen aus. „Es geht mir um das Verhältnis der Intellektuellen zur Bundesrepublik“, erläuterte er in kleiner Runde. „Ich habe kein Interesse daran, dass noch einmal eine Demokratie untergeht, weil sich keiner für sie eingesetzt hat.“
Für den Romancier war die Wucht dieser Kritikerschelte ein Trauma, das bis in die Gegenwart andauert, auch wenn Walser sich heute zu einem abgeklärten Verhältnis durchzuringen versucht. „Wer immer sich einbildet, mein Feind sein zu müssen, er darf zur Kenntnis nehmen, dass ich nicht mehr einholbar bin“, heißt es da in seinem neuesten Werk. Er habe sich in jahrzehntelanger Anstrengung aus der Erreichbarkeit entfernt.

Als ich 1986 von der „FAZ“ zur „Zeit“ wechselte, dort für den Literaturteil zuständig, ging einer meiner ersten Briefe an den Bodensee, mit der Bitte um Mitarbeit. Zurück kam eine Gratulation und eine freundliche Absage im schönsten Walser-Ton: „Wenn es sich machen lässt, möchte ich, ohne Rezensionen zu schreiben, durchkommen.“ Und es folgte noch ein typischer Satz: „Verlangen Sie lieber von mir, ich soll etwa beschreiben, was ein aus Versehen auf einer Müllkippe gelandeter, noch ganz brauchbarer Füllfederhalter denkt, wenn er im blauen Himmel über sich Wildenten fortfliegen sieht ...“ Solch poetische Post lohnt allein jede Anfrage.
Später, Anfang 1988, war auf einer Postkarte Walsers von einem geplanten Essay die Rede, der den Titel „Das deutsche Karussell“ tragen sollte. Das Beste an der Mitteilung: „Ein Aufsatz, den ich, wenn Sie wollen, ausarbeite.“ Das war nun keine Frage: Wir wollten.
Einige Wochen später kam schriftlich die Abwandlung des Plans: Er habe nun gerade eine Einladung zu der Vortragsreihe „Reden über unser Land“ in den Münchner Kammerspielen erhalten, schrieb Walser. „Und diesmal probier ich's, also ist das Deutschland-Ding erst im Winter '88/'89 zu veröffentlichen.“
Es war Mitte Oktober, als mich abends daheim ein Telegramm von ihm erreichte: „Münchner Rede umständehalber jetzt nicht zu drucken.“ An einem der folgenden Tage dann ein Brief: „Vielleicht wird mein Hin- und Herzögern ein bisschen verständlicher, wenn Sie den Gegenstand, der es bewirkt, kennen.“ Und als Ergänzung: „Nur Ihnen geschickt, bitte.“ Beigelegt war das Manuskript der Rede.
1978 "Ein fliehendes Pferd" ist die Geschichte zweier Paare mittleren Alters, die sich am Bodensee treffen.
1978 "Ein fliehendes Pferd" ist die Geschichte zweier Paare mittleren Alters, die sich am Bodensee treffen.
Da war nun Überzeugungsarbeit angesagt. Dass Walser sich mit seinen Gedanken zur deutschen Teilung, mit deren Endgültigkeit er sich nicht abfinden wollte, wieder einmal reichlich Empörung und Ärger einhandeln würde, war keine Frage. Schließlich hatte er schon gut zehn Jahre zuvor, im August 1977, wegen einer Rede in Bergen-Enkheim massiv Gegenwind bekommen, wegen seines dort geäußerten Wunsches, „die Wunde namens Deutschland“ offen zu halten: „Wir dürfen, sage ich vor Kühnheit zitternd, die BRD so wenig anerkennen wie die DDR.“ Vor Kühnheit zitternd – diese Formel sollte Walser Jahre später in seiner berühmten Paulskirchenrede noch einmal aufgreifen.
In der Münchner Rede nun warb er erneut dafür, die Teilung Deutschlands nicht auf ewig als Strafe für deutsche Schandtaten im Zweiten Weltkrieg zu betrachten. Es war klar: Wieder fanden sich Formulierungen, die – isoliert genommen und Walsers vieles in der Schwebe lassenden Duktus entkleidet – gegen ihn gerichtet werden würden. Also versuchte ich ihn am Telefon davon zu überzeugen, dass nur ein vollständiger Abdruck vor böswilligen Interpretationen schützen könne. Es wäre dann, so lautete mein Argument, für jeden überprüfbar, in welchem Zusammenhang und mit welcher Redehaltung das formuliert sei.
Mag sein, dass Walser nur auf ein wenig Beharrlichkeit und Unterstützung gewartet hatte. Jedenfalls stimmte er dem Abdruck zu. Und so erschien seine Rede über Deutschland, nachdem er sie am 30. Oktober 1988 in München vorgetragen hatte, Anfang November komplett in der „Zeit“.

Um zu verdeutlichen, wie sehr das damals als Provokation empfunden wurde, sei eine Szene aus der „Zeit“-Redaktion kolportiert. Während der folgenden Ressortkonferenz tauchte ein politischer Redakteur auf und erklärte der verdutzten Mannschaft, dass der Abdruck dieser Rede eine Blamage für die Zeitung sei und die politische Ahnungslosigkeit der Kulturleute belege. Es handle sich bei Walser um reine Schwärmerei, wurden wir belehrt. Auf Jahre hinaus, so erklärte der Kollege, der später für wenige Jahre Chefredakteur des Blattes werden sollte, stehe die Wiedervereinigung nicht auf der Tagesordnung. Das war, wie gesagt, 1988.
Noch empörter reagierte damals der Schriftsteller Jurek Becker, der als Kind den Holocaust überlebt hatte. Er schrieb für die „Zeit“ eine flammende Entgegnung unter der Überschrift: „Gedächtnis verloren – Verstand verloren“. Das war nun einer der Fälle, wo der Redakteur hilflos dazwischensteht: Ein Autor bekriegt einen anderen – und beide schätzt man überaus.
Becker, der damals in Westberlin lebte, schrieb nämlich: „Nationalistisches Geschwafel wird ja nicht dadurch erträglicher, dass der Redner zuvor einige schöne Bücher geschrieben hat. Umgekehrt: Ich muss mich dagegen wehren, dass mir diese Bücher nicht plötzlich in einem neuen Licht erscheinen.“ Auch er, der Schriftsteller aus der DDR, missbilligte die „Forderung nach Wiedervereinigung“.
Danach war es auf lange Zeit unmöglich, von Walser einen neuen Beitrag zu erhalten. Ein Versuch von mir im Mai 1989 führte immerhin wiederum zu einer Postkarte mit einem herrlich verschlungenen Walser-Satz. Er sei „ganz abgewandt“, hieß es da, und „auch von einem Kopfweh belegt, das länger gehen will; vielleicht auch nur, um meine Abgewandtheit zu unterstützen; das tut es wirklich“. Und er unterzeichnete mit „unbrauchbar, aber herzlich“.
1980 "Das Schwanenhaus" erzählt die Geschichte des Kampfes um ein idyllisches Haus am See.
1980 "Das Schwanenhaus" erzählt die Geschichte des Kampfes um ein idyllisches Haus am See.
Im Jahr darauf war es dann die Arbeit an seinem Roman „Die Verteidigung der Kindheit“, mit der er eine Anfrage ablehnte, und zwar postwendend – „gleich zurück: Ich kann nicht heraus aus meinem Projekt“. Das war nun allerdings ein Argument, dem sich kein Literaturredakteur verschließen könnte, wenn zudem noch von einer schwierigen Schreibphase die Rede ist: „Jetzt muss ich also aufpassen und bitte, mich für entschuldigt zu halten.“ Doch er freue sich auf ein mögliches Treffen in Berlin.
Damit war eine Veranstaltung des Deutschlandfunks im Literarischen Colloquium gemeint. Im November 1990, inzwischen war die Einheit Deutschlands Realität, war es gelungen, Walser zu einer Diskussion mit Jurek Becker zu bewegen. Zu viert saßen wir auf dem Podium, der Rundfunkredakteur Hajo Steinert als Moderator. Zur Einstimmung las Walser Passagen aus einer neuen Arbeit mit dem Titel „Vormittag eines Schriftstellers“, worin er das nach der Vereinigung „neu angefachte Diskussionsgeflacker“ beklagte. Wie solle man da ruhig bleiben, fragte er, „wenn immer noch ein Kollege beweist, Deutschland müsse in zwei Staaten existieren“?
Walser machte in den 15 Minuten seiner Lesung vor allem deutlich, wie sehr er es bereue, sich immer wieder auf den Meinungsstreit einzulassen. „Eine Meinung ist für einen Erzähler ein Kurzschluss“, rief er geradezu in den voll besetzten Saal. „Wenn du allein bist, brauchst du keine Meinungen.“
Natürlich kam er auf seine Münchner Rede 1988 und die Reaktionen darauf zu sprechen. Er habe doch damals nur versucht zu zeigen, „wie es dir zumute war angesichts des geteilten Landes“ und „dass du dich an diese Teilung nicht gewöhnen könntest“. Seitdem erfahre er Beschimpfungen jeder Art, und es werde kein Vorwurf ausgelassen, „von intellektueller bis moralischer Unzurechnungsfähigkeit“. Dass er von einem „Geschichtsgefühl“ gesprochen habe, „produzierte in den Statthaltern der Gegenmeinung die Gewissheit, dass sie, im Unterschied zu mir, denken können“.
Damit war nun auch sein Gegenüber angesprochen.
Becker konzedierte, „damals böse und wütend“ reagiert zu haben: „Ich dachte, das ist die Angelegenheit der Landsmannschaften, der CDU, der Konservativen, und jetzt dringt das in meine Welt vor. Wo gibt es denn so was? Das mag ein Grund gewesen sein für übertriebenes Ausholen.“
Walser entgegnete: „Ich war irrsinnig überrascht, weil ich das nicht für möglich gehalten hätte unter uns Kollegen. An Ihnen habe ich erleben dürfen, wie weit einer gehen kann, der sich im Recht fühlt. Sie haben gesagt, ich hätte den Verstand verloren. Das ist ja nicht weiter schlimm. Aber Sie stellten die Frage in Ihrem Zorn, ob Sie nicht vielleicht alle meine Bücher falsch gelesen hätten. Sie haben mich nach rückwärts hinein vernichtet!“
Becker trocken: „Sie haben wohl noch nie etwas im Zorn gesagt ...“
1991 "Die Verteidigung der Kindheit" ist ein Roman über Heimat und Erinnerung.
1991 "Die Verteidigung der Kindheit" ist ein Roman über Heimat und Erinnerung.
Walser: „Gut, aber das war gedruckter Zorn. Deshalb habe ich das jetzt geschrieben, gegen das gesamte Zorngebräu. Ich habe fünf, sechs Wochen an diesem Stück gearbeitet, weil ich es einmal vom Halse haben wollte.“
Der in Berlin auszugsweise vorgetragene Essay erschien kurz darauf in der „Zeit“. Dieser „Vormittag eines Schriftstellers“ zählt für mich bis heute zu Walsers faszinierendsten und sensibelsten Aufsätzen. Hier wird vorgeführt, wie es einem Schriftsteller ergehen und wie er sich fühlen kann, nachdem er am Meinungsstreit teilgenommen hat und wieder daheim an die eigentliche Arbeit gehen will: „Erst wenn man sich selbst zum Verstummen gebracht hat, hören auch die anderen auf. Das Meinungsgewoge verebbt, man wäre wieder allein, könnte versuchen, etwas anzufangen mit sich.“

Ein spätes Echo hierzu findet sich jetzt auch in seinem Buch „Statt etwas ...“: „Alles, was nach Urteil klingt, möchte ich hiermit widerrufen.“
Zunächst aber war er dem Urteilen, dem Argumentieren, dem Streit noch lange nicht entronnen. So leicht gelang das mit dem Rückzug dann doch nicht.
Im Juni 1993 war Walser von der Hamburger Autorenvereinigung zu einem Gespräch über seine Erfahrungen als politischer Autor eingeladen worden. Der Journalist Ulrich Schacht befragte ihn vor rund 80 Gästen, wie er überhaupt zu seinem Engagement gekommen sei. Er habe angefangen zu schreiben und sei „irgendwann als Linksintellektueller aufgewacht“, sagte Walser. Das sei willkommen gewesen im Kreis der Freunde und Kollegen.
Und dann sei das passiert: Jürgen Habermas forderte ihn 1979 auf, sich an einem Sammelband mit dem Titel „Stichworte zur 'Geistigen Situation der Zeit'“ zu beteiligen. Walser lieferte und setzte sich in seinem Text „Händedruck mit Gespenstern“ mit der Frage auseinander, warum „Meinungen“ stets dazu führen, dass man nicht alles sagt oder schreibt, was man zu einem Thema weiß. Das Thema Deutschland sei in diesem Aufsatz eigentlich nur ganz am Rande vorgekommen. Das aber habe genügt, damit ihm Habermas später bei einer persönlichen Begegnung ins Gesicht sagte: „Du hast ja einen entsetzlichen Aufsatz geschrieben!“
Wegen seiner Ansichten zur deutschen Frage hätten sich sogar Freunde von ihm abgewandt, rief er aus. Er habe als nicht mehr „zurechnungsfähig“ gegolten. Zu spüren war in diesem Moment: Die Wunde saß tief.
1996 "Finks Krieg" basiert auf authentischen Vorgängen in der Hessischen Staatskanzlei.
1996 "Finks Krieg" basiert auf authentischen Vorgängen in der Hessischen Staatskanzlei.
Im Nachhinein sei er „nicht undankbar für diese Lektion“, sagte er dann. Heute fühle er sich „lagerfrei“. Und: „Mir genügt es allemal, dass ich etwas empfinde.“ Seine Erfahrung als Schreiber sei nun einmal: „Ich kann mir nicht kommandieren, was mir in den Kopf kommt. Ich kann allenfalls nachträglich Sätze ablehnen.“
Gefragt nach den ausländerfeindlichen Anschlägen von Mölln und Solingen, sprach Walser von „rechtsextremistischen Kindern“. Die Naziverkleidung sei für ihn der „Kostümball“ verzweifelter junger Menschen: „Was aus deren Mündern kommt, ist beschämend für uns alle.“ Aber jetzt sei das zu einem Medienthema geworden. Und flugs werde ein „rechtsextremistischer Hintergrund“ geschmiedet.

Walser hatte mir zuvor eine Einladung zu dieser Veranstaltung gefaxt, bei der es weiter keine Öffentlichkeit gab, mit dem handschriftlichen Vermerk: „Aber trotz Ihres Charmes kann ich – jetzt nur auf mein Buch konzentriert – ein SPIEGEL-Gespräch nicht führen.“ Gemeint war damit ein Versuch von mir, inzwischen als SPIEGEL-Redakteur, ein Interview mit ihm über all diese Themen zu führen. Es war geplant, zu ihm an den Bodensee zu reisen. Das wollte er nun gar nicht. Lieber ein Gespräch in Hamburg, sagte er am Telefon, dann sei es nicht so schlimm, wenn nichts dabei herauskomme.
Immerhin schickte Walser bald nach der Hamburger Veranstaltung einen Aufsatz: „Deutsche Sorgen“. Auch darin ging es wieder um die aufflackernde rechtsradikale Stimmung, vor allem auf dem Territorium der ehemaligen DDR. Wieder einmal fühlte sich Walser bei einem Thema unter Rechtfertigungsdruck. Er wurde als Abwiegler kritisiert und musste nolens volens reagieren.
„Und ich hatte schon geglaubt“, heißt es in seinem Essay, „das Ende des Kalten Ideologie-Kriegs bringe von selbst ein Zeitalter hervor, in dem einem nicht mehr täglich mindestens einmal die richtige Meinung abverlangt würde.“
Doch kaum waren seine „Deutschen Sorgen“ gedruckt, sagte er gequält am Telefon: „Ich hätte mich beherrschen müssen.“ Wenn er sein Gefühl befrage, so sei es falsch gewesen, eine weitere Meinung in die Welt zu setzen.
Aber es gab eben die lange Geschichte seiner politischen Einlassungen von 1961 an, als er jenes Taschenbuch herausgab, das schon im Titel den Überdruss an der seit 1949 von der CDU geprägten Republik zum Ausdruck brachte: „Die Alternative oder Brauchen wir eine neue Regierung?“ Und ausgerechnet er hatte einst über das Bonner Postulat nach Wiedervereinigung noch gehöhnt („Ich habe keine Güter in Mecklenburg“). Ja, er zählte zu den Ersten, die sich 1962 zur SPIEGEL-Affäre äußerten; er verfolgte die großen Frankfurter KZ-Prozesse und schrieb 1965 in der Zeitschrift „Kursbuch“ jenen fulminanten Essay „Unser Auschwitz“; im Jahr 1967 formulierte und unterzeichnete er zusammen mit anderen den Autorenboykott gegen das Zeitungshaus Axel Springer; er geißelte beharrlich den amerikanischen Vietnamkrieg und das zustimmende Schweigen der deutschen Politik und Presse.
2002 "Tod eines Kritikers" glossiert den Literaturbetrieb und polemisiert erkennbar gegen Marcel Reich-Ranicki.
2002 "Tod eines Kritikers" glossiert den Literaturbetrieb und polemisiert erkennbar gegen Marcel Reich-Ranicki.

Im Nachhinein ist es oft schade um jene Äußerungen während eines Interviews, die aus Platzgründen gestrichen werden müssen, schade auch um jene Anekdoten, die nach dem eigentlichen Gespräch erzählt werden, während das Aufzeichnungsgerät noch läuft.
Bei unserem SPIEGEL-Gespräch im August 1995, Walser war damals Ende sechzig, fiel das unter den Tisch: „Als Max Frisch zu meinem 60. Geburtstag hierherkam, war er Mitte siebzig und erzählte mir, ihm würden drei Stunden pro Tag am Schreibtisch genügen. Und ich weiß noch, dass ich damals dachte: und die andere Zeit? Das habe ich nicht gewagt zu fragen. Das musste ja entsetzlich sein: nur drei Stunden, bleiben 21 Stunden pro Tag, die man herumbringen muss. Inzwischen komme ich auch nach drei, vier Stunden von meinem Arbeitszimmer unter dem Dach herunter und bin erledigt.“
Es ist üblich, dass der Gesprächspartner bei einer Autorisierung seine Formulierungen überarbeiten, in Maßen auch erweitern kann. Bei Walser kommen dann oft, in seiner charakteristischen Handschrift, ganz wunderbare Ergänzungen zustande. Wo es zunächst nur hieß, beim Schreiben eines Romans wisse man vorher nie, „wo das hinführt und was dabei herauskommt“, fügte er am Rand hinzu: „Bei mir ist ein Roman die Antwort auf eine Zumutung, auf eine weit über alles Politische hinausgehende Zumutung, auf eine Daseinsschwierigkeit eben.“

Das SPIEGEL-Gespräch im Frühsommer 2002 mit ihm war das komplizierteste. Es hatte einen besonderen Hintergrund. Für August des Jahres war ein neuer Roman mit dem Titel „Tod eines Kritikers“ angekündigt, und schon im Vorfeld begann eine heftige Debatte über das noch unveröffentlichte Werk. Es empörte sich nämlich der „FAZ“-Mitherausgeber Frank Schirrmacher in einem offenen Brief über das „Repertoire antisemitischer Klischees“ in diesem Roman. Er teilte Walser und der Welt auf diesem Wege mit, dass die „FAZ“ auf einen Fortsetzungsabdruck des Romans verzichten werde.
Der Suhrkamp-Verlag hatte der Zeitung wie gewohnt den Roman zum Vorabdruck angeboten, einen Roman, in dem recht offensichtlich, wenn auch unter anderem Namen, Marcel Reich-Ranicki, der jüdische Kritiker und langjährige „FAZ“-Literaturchef, als Machtmonster dargestellt wird und auf geheimnisvolle, einen Mord suggerierende Weise verschwindet – um am Ende wieder fröhlich aufzutauchen und einen unter Verdacht geratenen fiktiven Schriftsteller von dieser Last zu befreien.
Der Fall wurde nicht nur im Kulturteil verhandelt, sondern war auch Gegenstand von Fernsehnachrichten, sogar die „Bild“-Zeitung berichtete darüber, unter der Überschrift: „Ein Krimi! Ein Skandal! Die Literaturwelt bebt.“ In unserer Redaktion herrschte rasch Einigkeit darüber, dass das Gespräch mit Walser gesucht werden sollte.
2008 "Ein liebender Mann" erzählt die Geschichte der Liebe des alternden Goethe zu einer jungen Frau.
2008 "Ein liebender Mann" erzählt die Geschichte der Liebe des alternden Goethe zu einer jungen Frau.
Der war dazu auch bereit. Noch am selben Abend flog ich an den Bodensee, das ausgedruckte Dokument in Händen. Das Interview fand am 30. Mai zur Mittagszeit im Haus von Walser statt. Es war ein schwierig zu führendes Gespräch, da es der Autor nur unwillig gewährte. „Das Problem war mir klar: Eine Figur dieses Buches gehört zu dieser Zeitung“, sagte Walser auf die Frage, warum der Roman ausgerechnet der „FAZ“ angeboten worden sei. „Niemals, wirklich niemals hätte ich gedacht, dass es auf diese Weise abgelehnt wird, mit dem Vorwurf des Antisemitismus ... Warum sollte ich das Buch damit belasten, wo es mir um etwas ganz anderes ging: um die Machtausübung im Kulturbetrieb?“
Und die Mordfantasien einem jüdischen Kritiker gegenüber? Wie der reale Reich-Ranicki ist auch die Romanfigur André Ehrl-König ein Jude. „Ich versichere Ihnen: Ich hätte nie einen Roman schreiben können, in dem der Kritiker wirklich umgebracht wird. Das Ganze ist eine Komödie.“ Und Walser setzte hinzu: Bei keinem seiner Bücher habe er „ein solches Gefühl von Richtigkeit, Wichtigkeit, Notwendigkeit“ gehabt wie bei diesem.
Mag sein, dass er es hinterher bereute, sich überhaupt zu seinem Roman geäußert zu haben, jedenfalls schickte er die autorisierte Fassung, die er wunschgemäß rasch und professionell bearbeitet hatte, mit einer grimmigen E-Mail zurück: „Hier als Word-Datei unser bis zur Makellosigkeit geschöntes Gespräch. Von Ihren mutig angezettelten Gemeinheiten ist noch genug drin!“
Das allgemeine Interesse an dem Roman „Tod eines Kritikers“ hatte im Übrigen wohl noch einen ganz simplen Grund: Es war pure Neugier auf die Kraftprobe zwischen zwei altgedienten und telegenen Größen des Literaturbetriebs, zwischen Walser und Reich-Ranicki, der eine 75, der andere 82 Jahre alt. Der Kritiker aber wollte sich zunächst gar nicht zur Sache äußern, tat es dann zögerlich als enttäuschter Leser („ein erbärmliches Buch“), schließlich auch als Betroffener: Er halte zwar nicht den Autor Walser, wohl aber dessen Roman für antisemitisch.
Was Walsers Romanpolemik gegen ihn angeht, so dürfte Reich-Ranicki noch aus einem anderen Grund enttäuscht gewesen sein: Er hatte nämlich den Autor 1998 aus Anlass des Streits um dessen Rede in der Frankfurter Paulskirche verteidigt. Die Rede sei zwar missverständlich und missglückt, befand er, doch er habe „keinen einzigen wirklich empörenden Gedanken“ darin entdecken können.

In dieser legendären Rede, der zunächst heftig beklatschten, später vielstimmig und unerbittlich kritisierten Dankrede zur Verleihung des Friedenspreises im Oktober 1998, aus der Frankfurter Paulskirche live im Fernsehen übertragen, hatte Walser fahrlässig die Erwartung repräsentativer Rhetorik an diesem Ort unterlaufen, indem er betont subjektiv von eigenen Erfahrungen mit „Wegschauen und Wegdenken“ berichtete, „wenn mir der Bildschirm die Welt als eine unerträgliche vorführt“ – zunächst sehr allgemein gesprochen, dann konkret bezogen auf Bilder vom Holocaust.
„Jeder kennt unsere geschichtliche Last“, sagte Walser, „die unvergängliche Schande, kein Tag, an dem sie uns nicht vorgehalten wird.“ Und er fügte sofort hinzu: Er habe es nie für möglich gehalten, „die Seite der Beschuldigten zu verlassen“ – anders als jene Intellektuellen, die, wie er vermute, sich Entlastung durch die mediale „Dauerpräsentation unserer Schande“ erhofften oder, schlimmer noch, die „Instrumentalisierung unserer Schande zu gegenwärtigen Zwecken“ betrieben.
2016 "Ein sterbender Mann" ist ein Roman über die Liebe, das Alter und den Verrat.
2016 "Ein sterbender Mann" ist ein Roman über die Liebe, das Alter und den Verrat.
Es dürfte vor allem an der Diskrepanz zwischen dem offiziellen Charakter der Feierstunde und der betont subjektiven, in sich kreisenden und vieldeutigen Sprechweise gelegen haben, dass das Echo auf diese Veranstaltung so gewaltig war. Walsers Gedanken waren nicht neu. Von der „ungeheuren Schande“ hatte auch schon Thomas Mann gesprochen, vor der Verwendung Hitlers „zur Denunziation irgendeiner missliebigen Politik von heute“ später Botho Strauß gewarnt. Und von Adorno war der mitleidende Zeitgenosse einst ermutigt worden, sich die „objektiv ihm aufgenötigten Grenzen“ einer Identifikation einzugestehen, „die mit seinem Anspruch auf Selbsterhaltung und Glück kollidiert“. Das sei Selbstschutz vor der „Imagination des Schlimmsten“.
Immer wieder hatte Walser sich vorgenommen, Meinungen überhaupt zu meiden, und nun wurde er durch diese Rede zu einer Persona non grata. Für ihn keine neue Erfahrung, doch jetzt tiefgehender als je zuvor. Und er fand keinen Ausweg. Ein von der „FAZ“ initiierter, als Versöhnung gedachter Dialog zwischen ihm und Ignatz Bubis geriet desaströs. Es sollte Jahre dauern, bis Walser einräumen konnte, sich in seiner Not respektlos verhalten zu haben. Erst 2007 sagte er in einem Interview einer Journalistin: „Auf Bubis habe ich völlig borniert reagiert.“ Die Frage, ob er die Rede in der Paulskirche heute anders halten würde, verneinte er. „Aber ich würde mich danach ganz anders verhalten, als ich mich im Herbst 1998 verhalten habe.“
Im März 2007, vor zehn Jahren also, sprachen wir aus Anlass des 80. Geburtstags über das Altern. „Das Grandiose ist doch“, sagte er in seinem Arbeitszimmer unter dem Dach, „dass es Neuland ist. Diese Lebensphase enthält Provokationen für einen, die man sich nie hat vorstellen können“.
Wir waren inzwischen geübte, ja vertraute Gesprächspartner geworden. Und doch kam zum Schluss des Gesprächs bei ihm das alte Ungenügen hervor: „Wenn Sie das Haus verlassen haben werden, wird auf mich eine Flut von nicht Gesagtem, halb Gesagtem, falsch Gesagtem, Versäumtem einstürzen – und das geht in der folgenden Nacht noch weiter. Das darf ruhig auch das Publikum zur Kenntnis nehmen, dass der, der da sozusagen Auskunft gibt, andauernd hinter dem zurückbleibt, was er eigentlich sagen wollte.“
Bei der Autorisierung dann hielt er sich dennoch mit Nachträgen bemerkenswert zurück. Nur an einer Stelle ergänzte er handschriftlich mit Verve. Ich hatte ihn gefragt, ob eine Gedichtzeile von ihm („Wenn du kein Virtuose im Vergessen bist, verblutest du / auf der Intensivstation Erinnerung“) nicht doch als Plädoyer für das Vergessen aufgefasst werden könnte. Er lieferte seine Empörung über die Frage schriftlich nach: „Wenn Sie das jetzt politisieren, zeigen Sie nur die grauenhafte Monotonie Ihres berufsgeschädigten Zeitgeistgehirns.“
Walsers übergroßer Gegenpart ließ es sich nicht nehmen, in seiner 1999 publizierten Autobiografie „Mein Leben“ ein fast endgültig klingendes Fazit zu formulieren. Für ihn, Reich-Ranicki, sei Martin Walser „einer der intelligentesten Essayisten der deutschen Gegenwartsliteratur, einer der anregendsten und auch wunderlichsten Intellektuellen weit und breit“, kurzum: „Deutschlands gescheiteste Plaudertasche“.
Auch so lässt sich ein Schriftsteller erledigen: indem sein Eigentliches, das literarische Werk, gar nicht erst erwähnt wird. Dabei hat Walser doch so wunderbare Romane geschrieben wie „Seelenarbeit“, „Brandung“, „Die Verteidigung der Kindheit“ oder „Das dreizehnte Kapitel“, die Novelle „Ein fliehendes Pferd“, sein erfolgreichstes Buch, nicht zu vergessen.
Vielleicht ist es aber so, dass am Ende die kritischen Töne von Rezensenten, die nicht Reich-Ranickis Kaliber haben und sich auch nicht so gut als Feind eignen, noch mehr schmerzen, wenn sie aus einem grundsätzlichen Wohlwollen heraus geschrieben sind.
Das wird dann natürlich selten direkt mitgeteilt. Als ich 2011 im SPIEGEL seinen Roman „Muttersohn“ negativ beurteilt hatte, sagte Martin Walser in einem Gespräch mit der „Bunten“ über mich verstimmt: „Der urteilt hier wie ein Literaturbeamter und ist nicht bereit, mein Buch wirklich zu lesen, weil es sich um Glauben und Wissen handelt.“
So reisten dann Susanne Beyer und ich ein Jahr später, Ende 2012, an den Bodensee, um Walser zu Religion und Gott zu befragen. Er zitierte sofort einen Satz aus seinem Roman: „Der Glaube macht die Welt schöner, als sie ist.“ In seinem Tagebuch heißt es einmal: „Das Bewusstsein meiner Unfähigkeit bereitet sich so langsam in mir aus, dass zu hoffen ist, es werde mich erst kurz vor meinem Tod vollkommen durchdrungen haben.“

Martin Walser – was für ein Begleiter und Anreger durch so viele Jahrzehnte, was für ein angriffslustiger und melancholischer, ein in sich hinein lauschender Zeitgenosse und stets aufs Neue überraschender Geist: aufbrausend und zweifelnd, verletzlich und tapfer. Und ein großer Erzähler in jedem Sinne.