Madeleine Prahs
Die Letzten
Roman
dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München
Madeleine Prahs, geboren 1980 in Karl-Marx-Stadt, ist dort und am Ammersee aufgewachsen. Sie studierte Germanistik und Kunstgeschichte in München und Sankt Petersburg. 2014 erschien ihr Debütroman ›Nachbarn‹. Für ihre Arbeit an dem Roman ›Die Letzten‹ erhielt sie mehrere Stipendien, u.a. vom Literarischen Colloquium Berlin. Sie lebt in Leipzig.
Es ist Herbst in einer Großstadt: Das letzte, unsanierte Haus in der Hebelstraße wird »leergewohnt«. Karl Kramer, 55 Jahre alt, Hausmeister, Elisabeth Buttkies, 72, Deutschlehrerin a.D., und Jersey, 28 Jahre, Studentin in Teilzeit, sind noch übrig – und sie könnten unterschiedlicher nicht sein. Die Welt vor der Tür meint es nicht immer gut mit ihnen, so glauben sie, aber drinnen pflegen sie ihre Wunden und streicheln die Narben. Bis der Brief des neuen Hauseigentümers kommt: Auszug. Kernsanierung. Endgültig. Der Kampf der Bewohner um ihr vermeintlich letztes Stückchen »Ich« beginnt. Man verbarrikadiert sich, Katzen werden vergiftet und Perücken abgefackelt – fast ist es zu spät, doch dann schließen sich »die Letzten« zusammen. Am Ende blühen die Geranien wieder. Es ist Frühling. Drei sind glücklich. Und einer ist tot.
2019 dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München
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ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-14728-6
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ISBN (epub) 9783423433099
Wohl steht das Haus gezimmert und gefügt, doch ach, es wankt der Grund, auf dem wir bauten.
Friedrich Schiller, ›Wilhelm Tell‹
Ich hab ja ein Sorgenkind, machen wir uns nichts vor, ich sag Ihnen gleich, wie es ist. Dachgeschoss Mitte. Das Mädchen mit dem schiefen Lächeln. Jersey heißt sie, eigentlich Marina Weber. Sie ist 28 Jahre, Studentin in Teilzeit, Tagträumerin und alkoholabhängig. Ihre hellbraunen Haare sind unregelmäßig auf Kinnlänge geschnitten, und ich habe es nicht nur einmal erlebt, wie sie am Sonntagnachmittag in Jogginghosen und Puschen zum Späti am Ende der Straße läuft. Da kauft sie sich dann drei Flaschen Billigbier, ’ne abgelaufene Tiefkühlpizza und zieht eine glitzernde Spur aus Superstarflair hinter sich her. Manchmal sind ihre Augen auch rot und verklebt und empfindlich wie die eines Kaninchens, da weiß ich: Jetzt ist schon wieder was schiefgelaufen.
Einmal stand so ein Typ auf dem Dach gegenüber und hat für sie gesungen, frisch verheiratet mit ’ner Flasche Wodka. Aber ich will gar nicht zu viel vorwegnehmen, Sie werden es noch erleben.
Jersey hat davon natürlich nichts, aber auch gar nichts mitbekommen. Drei Stunden zuvor hatte sie sich nämlich zwei blaue Kügelchen auf die Zunge gelegt, dann hatte sie ihren Kopf im Kissen vergraben und war vom Rand der Welt gefallen. Sie ist wie ein blinder Welpe. Manchmal tanzt sie nachts im Wohnzimmer und das ist schön. Natürlich regt sich die Buttkies drei Stockwerke drunter dann wahnsinnig auf, aber da höre ich gar nicht hin. Ich muss Ihnen sagen, ich habe noch nie jemanden gesehen, der sich so traumwandlerisch sicher zu Musik bewegen kann wie mein Sorgenkind aus dem Dachgeschoss. Am Ende von Nächten wie diesen stellt sie sich dann auf den Balkon und wirft Kussschnuten die Straße runter. Der Straße ist das natürlich herzlich egal, das merkt der Welpe dann auch und geht ins Bett.
Apropos Balkon, da erkennt man den Menschen.
Sehen Sie, der Kramer züchtet rote Geranien, jedes Jahr blühen sie herrlich gediegen und exakt bis zur Beetkante und säumen den kleinen asphaltierten Fußweg im Hinterhof. Die Buttkies hingegen hat die exklusivsten und exotischsten Pflanzen auf ihrem Balkon, eine extravaganter und greller als die andere – und alle aus Plastik.
Und der Welpe? Hat exakt einen Blumentopf, in dem sie Cannabis angepflanzt hat, und irgendwie hat sie es geschafft, einer mickrigen Efeuranke beizubringen, sich ein Stück am Balkongeländer entlangzutasten. Das einzige Lebewesen, dem sie Zuneigung entgegenbringt, denn es ist das einzige Lebewesen, mit dem sie mehr als eine halbe Stunde im Jahr verbringt, ist ihre Katze. »Major Tom« hat sie diese genannt, was oder wer immer das auch sein mag. Und diese Katze, meine Damen und Herren, ist mir die liebste Bewohnerin der Hebelstraße 13, denn sie ist die einzige, die offensichtlich keine Probleme hat.
Jersey ist mit der Miete 425 Euro im Rückstand, und ihre Klingel ist defekt. Eines von den wenigen Dingen, die ihr wichtig sind. Statt ihres Nachnamens klebt ein selbst geschriebener Zettel auf dem Plastikschildchen. Zwei Worte darauf: Fuck off. Muss ich Ihnen noch mehr erklären?
Kommen wir also zum 2. Stock Mitte. Da haben wir 2-Zimmer-Küche-Bad, mit Balkon, die Sanitäranlage wurde 1994 erneuert, klingeln bei: Elisabeth Buttkies.
Elisabeth Buttkies ist 72 Jahre alt, rüstig wie eine Stahlkonstruktion aus der Wirtschaftswunderzeit, Deutschlehrerin a. D. und Witwe. Im Jahre 1996 hat sie doch tatsächlich den dritten Platz beim Wettbewerb der Stadtteilzeitung »Unser schönster Balkon« gewonnen. Mit Blumen aus Kunststoff. Und keiner hat’s gemerkt. Na egal, sie kann ein ziemlicher Drachen sein, aber wer will ihr das verdenken. Sie hat ein diffus großzelliges B-Zell-Lymphom in fortgeschrittenem Stadium, also Lymphknotenkrebs, was die Sache nicht einfacher macht. Ihr Problem ist nicht, dass der Krebs da ist, sondern dass sie noch da ist und dass der Krebs nicht dafür sorgt, dass sie endlich von dieser Welt gehen kann. Sie kommt mir manchmal vor wie ein ramponiertes Schneckenhaus. Dennoch versucht sie, die unwillkommenen Zusatz-Tage, -Wochen, -Jahre, die ihr der Chefmechaniker des Großen Spiels unaufgefordert zur Verfügung gestellt hat, mit Würde zu ertragen, was eine Leistung ist, wenn Sie mich fragen.
Kandidat drei schließlich ist wohnhaft im Erdgeschoss rechts. Da haben wir 2-Zimmer-Küche-Bad, ohne Balkon, Garten- und Kellermitbenutzung, klingeln bei: Karl Kramer.
Er ist 55 Jahre alt und Logistiker. Also eigentlich war er Logistiker, jetzt macht seinen Job eine Software, was natürlich bitter ist, wenn man bedenkt, dass der Kramer jahrelang in dem Glauben lebte, eine verantwortungsvolle Tätigkeit wie die seine könne nur durch die reibungslose Mechanik eines Qualitätsgehirns wie des seinen bewerkstelligt werden. Die Wohnungsbaugesellschaft hatte ihn dann dankenswerterweise zum Hausmeister beordert, aber auch der Spuk dauerte nicht lange. Denn ein Jahr später hat die Wohnungsbaugesellschaft alles an den Grube verkauft. Der Kramer ist 1x geschieden, durch und durch Realist, und die Weiterbildungsmaßnahmen des Arbeitsamtes nimmt er sportlich.
Mit dem Kramer verhält es sich … – ja, wie soll ich sagen? – wie mit dem Ende eines guten Krimis. Stellen wir uns also einmal vor: Der Mörder sitzt dem Kommissar am Tisch gegenüber. Sie reden, reden viel, und irgendwann bauen sie so etwas wie ein Vertrauensverhältnis auf. Und im Laufe des Gesprächs kann man dann beobachten, wie der Mörder beginnt, seine ganze Schuld wegzuerzählen. Er gesteht natürlich nicht, er erzählt, und in diesem Moment beginnt er, an seine Geschichten zu glauben. So verhält es sich mit dem Kramer. Natürlich hat der Kramer niemanden umgebracht, noch nicht, und der Kommissar ist in diesem Fall auch kein Mensch, sondern ein Heimtrainer. Um Schuld geht es trotzdem, aber dazu kommen wir noch.
Wenn Sie mir nun bis hierher gefolgt sind, werden Sie sich natürlich fragen: Nur drei Bewohner plus Katze in so einem großen Haus? Fünf Stockwerke à drei Wohneinheiten pro Etage plus Dachgeschoss? Und zur Straßenseite hin nur Fenster und Balkone? Liegt der Eingang etwa an der Rückseite? Ja, das tut er. Die Haustür blickt genau auf den Innenhof. So fangen Romanzen an. Wenn Sie also bitte erst durch den Torbogen gehen wollen, da an der Seite, dann weiter den schmalen Pfad entlang, am Geranienbeet vorbei – und Stopp! Schon sind Sie da! Hier im Hof gibt es nicht viel, nur einen kräftigen Baum, der sich verirrt haben muss, und ein ungepflegtes Stück Rasen. Und Sie werden auch völlig zu Recht auf den bemitleidenswert anzusehenden Grill zeigen, der verschämt in der letzten Ecke steht und das letzte Mal während des Dreißigjährigen Krieges benutzt wurde, aber dessen Existenz doch beweist: Hier findet Leben statt, zumindest hat es mal stattgefunden. Sie werden auf den Efeu hinweisen, der linkerhand mehr schlecht als recht die Fassade hochkriecht. »Schön«, werden Sie denken, »wie romantisch«, aber Ihnen werden natürlich auch die Risse und Schürfwunden in der Hauswand nicht entgehen. »Sanierungsbedürftig«, werden Sie sagen und wissend nicken, und nun frage ich Sie: Hat das die Menschheit jemals vom Wohnen abgehalten?
Aber ich greife schon wieder zu weit vor, kommen wir also, zu guter Letzt, zu Thomas Grube.
Thomas Grube besitzt eine Doppelhaushälfte vor der Stadt. Na, Sie wissen schon, diese Sorte falscher Marmor, Wandbemalung in Wischtechnik, klassizistische Fresken in den Nassbereichen, so einer. Er ist gerade Vater geworden, hat sehr gute Blutwerte, Klingel gibt es gar keine, denn Besuch läuft natürlich nur auf Anfrage. Sie werden von Herrn Grube nicht viel mitbekommen, und doch ist er, wie man so schön sagt, der Dreh- und Angelpunkt dieser Geschichte. Außerdem wird er der Bösewicht sein, nein, verzeihen Sie, er IST der Bösewicht, und wenn Sie jetzt sagen: Moment mal, man muss doch jeden Charakter ausgewogen zeichnen, dann kann ich Ihnen nur sagen: Nein, muss man nicht. So etwas gibt es nur in Buchpreis-Romanen oder in Arthouse-Filmen, und nichts ist schlimmer als diese Schriftsteller oder Regisseure, die erklären, wie ambivalent doch ihre Figuren sind, diese Feinheiten im Menschen, alles Quark. Außerdem ist das hier kein Roman (Gott sei Dank!) oder Film, sondern das Leben, nicht mehr und nicht weniger, denn alles hat sich genau so zugetragen. Und außerdem: Kennt nicht jeder einen oder zwei, von dem er sagen kann: Das ist ein absoluter Ungustl, ein bösartiger, weil bedenken- und gedankenloser Charakter?
Sehen Sie! Eben!
Jetzt höre ich doch tatsächlich noch einen aus der letzten Reihe rufen: Aber er ist doch gerade Vater geworden. Ts, ts, ts! Diese Menschenkenntnis! Da kennen sich die Ratten im Keller besser aus! »Gerade Vater geworden!« Ja eben, das sind doch die Schlimmsten!
Und diese Rolle hat sich dankenswerterweise der Thomas Grube bereit erklärt anzunehmen. Es ist ihm leichtgefallen, sagt er, nur das am Ende hätte nicht sein müssen, aber da sind wir ja noch nicht, also schön der Reihe nach. Wir befinden uns in der Hebelstraße 13. Es ist Montag, der langweiligste Tag der Woche. Eben war der Briefträger da, und damit nimmt das Unheil seinen Lauf.
Erdgeschoss rechts
Erschossen. Dachte Karl Kramer. So müsste sich das anfühlen, wenn man erschossen wird. Während du noch in die Mündung der Pistole siehst und dich fragst, was hier gerade passiert, während ein Teil deines Hirns also noch reagiert, wissen deine Knie bereits, dass du tot bist. Du fällst um, wirfst einen letzten Blick zu der hässlichen Deckenlampe, die du nur aus Sentimentalität deiner Mutter gegenüber nie abmontiert hast, du denkst nichts, absolut nichts, kein Erinnerungsflash, kein Film, siehst kein einziges Bild vor deinem inneren, zuckenden Auge, nicht mal Erika, wie sie nackt und prall und schön vor dir steht (wenigstens in der Minute des Todes, denkst du, müsste das doch gelingen, wenn es schon im Leben nicht mehr gelingt, weil es einfach zu lange her ist, dass du sie das letzte Mal nackt gesehen, dass du sie überhaupt gesehen hast), aber auch das schaffst du nicht, statt Erikas Brüsten lacht dich in der letzten Sekunde deines Lebens diese bräunlich verfärbte Deckenlampe an, und im Grunde ändert sich nicht viel, eigentlich gar nichts, denn ein paar Verwesungseinheiten später bist du immer noch das, was du vorher schon warst: ein alter Sack. Nur eben tot.
Sehr geehrter Herr Kramer, die 1AConcept Bau AG muss Ihnen leider mitteilen…
Kramer ließ die Hand sinken, in der er das Schreiben hielt. Irgendwo schmiss jemand einen Rasenmäher an, draußen schien die Sonne, einer der letzten schönen Herbsttage. Wahrscheinlich hatte dieser Grube sogar den Wetterbericht studiert, damit das Setting bei der Lektüre seiner »Bitte um Auszug wegen geplanter Modernisierung« perfekt wäre. Zu der Goldumrandung des Briefbogens hätte es zumindest gepasst.
… für Ihre Nachfragen stehen wir jederzeit zur Verfügung, gezeichnet: Ihr Thomas Grube.
Seit dieser Immobilienfritze das Haus von der Wohnungsbaugesellschaft gekauft hatte, gab es in der Hebelstraße 13 keinen Hausmeister mehr. Man hatte Kramers nicht zu unterschätzende Dienste einfach ersatzlos gestrichen, woran er sich immer noch nicht gewöhnt hatte. Und jetzt wollte ihm dieser Immobilienheini auch noch das Sofa unterm Arsch wegziehen.
Kramer blickte zu der Uhr, die auf der Anrichte stand. Es war 09:30 Uhr, er war vor einer Stunde aufgestanden, und doch hatte er jetzt das starke Bedürfnis, wieder ins Bett zu fallen und zu schlafen. Hoffentlich ohne zu träumen. Wobei es natürlich auf die Träume ankam. Sie konnten Himmel oder Hölle sein. Das wusste man vorher nie. Letzte Nacht zum Beispiel. Kategorie Hölle. Kein Zweifel. Er hatte vor einer Wohnungstür gestanden, die exakt so aussah wie seine eigene. Er hatte geklingelt. Und dann in ihr Gesicht geblickt. Erika, endlich, hatte er gedacht. Aber nein, halt, dieses Puppengesicht, dieses Engelsgesicht, mit diesem schläfrigen Blick und den vom Kopfkissen verwirbelten Haaren, das war nicht Erika. Das war der Teufel, und der hatte einen Namen: Kate Moss!
Kate Moss hieß in Wirklichkeit Marina Weber, oder Jersey, wie sie sich beknackterweise selbst nannte, sie wohnte unterm Dach, und in Kramers Traum hatte sie gelächelt, eine obszöne Bewegung gemacht und gefragt: »Na, Kramer? Stört dich die Mucke beim Mütze-Glatze-Spiel?«
Kramer atmete jetzt tief ein. Ein Mal, ein einziges Mal, vor ein paar Jahren im Sommer, hatte er sie höflich gebeten, ihre Wohnungstür nicht einfach offen stehen zu lassen, wenn sie DAS hörte. »Sie wohnen hier schließlich nicht alleine.« Er hatte den Rücken durchgestreckt, wie sich das für einen erwachsenen Mann gehörte. Dann hatte er die leeren Weinflaschen auf dem Boden im Flur hinter ihr entdeckt und so vorwurfsvoll und angeekelt, wie es ihm nur möglich war, den Kopf geschüttelt. Sie hatte glasige Augen, und für einen Moment hatte er befürchtet, sie heule gleich los. Aber sie blickte auf seine Hose, lächelte seltsam entrückt, sagte, DAS sei Judas Priest, und er solle sich verpissen. Als er wieder in seiner Wohnung stand und an sich hinabblickte, merkte er, dass sein Hosenstall offen stand, obwohl er sich sicher war, ihn geschlossen zu haben. Und auch jetzt noch ließ ihn das ungute Gefühl nicht los, dass sie etwas damit zu tun gehabt haben könnte, mit dem offenen Hosenstall, dass sie irgendwie, mit den Augen vielleicht, mit dem Blick, den Reißverschluss, zippzapp, übernatürliche Fähigkeiten, er würde das nicht sagen, nicht laut zumindest. Und eigentlich glaubte er nicht einmal daran, an übernatürliche Kräfte, Esoterik und den ganzen Schnickschnack, aber eins war sicher, Kate Moss hatte nicht mehr alle Tassen im Schrank. Sie wusste, dass er sich ab und zu einen von der Palme wedelte, dabei sogar an sie dachte, an ihre hässlichen, mickrigen Brüste. Und jetzt hoffte er, sie wäre zu Hause, wenn in einem halben Jahr die erste Abrissbirne auf das Dach krachen würde.
Dachgeschoss
Jersey blickte zur Decke, genauer in die rechte obere Ecke. Es war größer geworden, das Loch. Oder bildete sie sich das nur ein? Irgendwann, vor einem Dreivierteljahr vielleicht, so genau wusste Jersey es nicht mehr, da hatte sie den Hausmeister angerufen, Kramer, Erdgeschoss rechts, ihm gesagt, er müsse vorbeikommen. »Schimmel, ein Schimmelfleck«, hatte sie gesagt und sich Mühe gegeben, dabei sehr traurig zu klingen, dann würde das Ganze vielleicht schneller vonstattengehen als beim letzten Mal, als der Durchlauferhitzer in der Küche den Geist aufgegeben hatte und sie die Gas-Wasser-Scheiße-Installateure gefragt hatte, ob sie extra aus der Wüste angereist seien.
Es war eine dieser Phasen, in denen sie beschlossen hatte, neu anzufangen, alles hinter sich zu lassen, ihrem Leben eine neue Richtung zu geben. Jersey zog jetzt an der selbst gedrehten Zigarette, ohne ihren Blick von der Decke zu nehmen. Sie hatte sich eine Liste gemacht, es lief gut, Punkt für Punkt hatte sie auf den Zettel gesetzt, als sie aber zwischendurch kurz auf die Uhr geblickt hatte, war es fast zu spät, und sie hatte es gerade noch geschafft, die Flaschen unter der Spüle zu verstauen und einmal durchzuatmen. Es klingelte, und sie war schon kurz davor, die Wohnungstür zu öffnen, als ihr auffiel, dass sie immer noch den alten zerschlissenen Morgenmantel ihrer Mutter trug und im Grunde nackt war. Hastig band sie den Gürtel um und machte eine Schleife, und als sie die Tür schließlich öffnete, zog sich Kramer gerade kleine blaue Plastiktüten über seine Schuhe. Sie musste lachen, es sah aus, als würde der sich auf ’ne OP vorbereiten, fehlte nur noch der Mundschutz, aber er verzog keine Miene. »Vorschrift, ich möchte Ihre Wohnung nicht beschmutzen«, konstatierte er trocken. Als er dann aber im Flur stand, konnte sie an seinem Gesichtsausdruck erkennen, dass er nun eher Angst davor hatte, die Wohnung könne ihn beschmutzen. Da fing es an, dass Jersey das kleine spitze Klopfen in der Schläfe wieder spürte, auf das sie so gerne, zumindest für eine Weile, verzichtet hätte, sie lachte, zu laut, aber das war ihr egal. »Das nennt man Marmoreffekt«, sagte sie, legte Arroganz in ihre Stimme und strich sich eine Strähne hinter das Ohr wie ein gut gebuchtes Model, und dann schritt sie über den von ein paar wirklich nur winzigen Schmutzflecken durchsetzten Flurboden voraus, »bitte hier entlang.«
Natürlich hatte diese Schnarchnase nichts gemacht, nicht mal eingesprüht hatte er den Fleck, mit »Schimmel weg« oder irgend ’nem anderen Scheiß. Er hatte sich nur verächtlich in dem Zimmer umgesehen und ihr dann was von Lüften und dem richtigen Heizverhalten erzählt, als wäre sie gerade erst auf die Welt gekommen. Es war Appeasement-Politik vom Feinsten. Im Haus hatte es sich bereits herumgesprochen, dass keine Nachmieter mehr einziehen würden, dass die städtische Wohnungsbaugesellschaft bald verkaufen würde. »Die machen hier jetzt nichts mehr, kannste wissen, wird leergewohnt«, hatte ihr David aus dem dritten Stock damals erklärt, und genau so war es gekommen.
In der Tür hatte sich Kramer dann noch einmal umgedreht, als sie ihn fragte, was er denn jetzt zu tun gedenke. Wegen des Schimmels.
»Ja, Frau Weber, was soll man da machen? Das sind Flecken.« Sie hatte versucht, seinem spöttischen Blick standzuhalten, aber es war ihr nicht gelungen, und spätestens da wusste Jersey, dass sie mal wieder verarscht werden sollte, ausnahmsweise mal nicht von ihrem Ex, sondern von Kramer, diesem Columbo für Arme, der sich nicht als Hausmeister bei ihr vorgestellt hatte, sondern als »Vertreter der städtischen Wohnungsbaugesellschaft«.
»Ja, Frau Weber, was soll man da machen? Das sind Flecken.« In diesem Moment hatte Jersey gemerkt, dass das kleine spitze Ticken in der Schläfe immer noch da war, schneller wurde, stärker, sie hatte versucht durchzuatmen. »Versuchen Sie sich zu konzentrieren in Momenten wie diesen«, hatte ihr ein Therapeut mal erklärt, und das hatte ihr gefallen, in Momenten wie diesen. Das klang nach einem Gebirgsbach, nach etwas Kraftvollem, Schönem und nicht nach dieser bindfadendünnen Hilflosigkeit in ihr drin.
Zu dem Therapeuten hatte sie der ärztliche Notdienst geschickt, damals, nach der Sache mit Mutter. »Trauerbewältigung«, doch gebracht hatte es nichts.
Jersey zog an der Zigarette.
Vor Kramer aber hatte sie nicht aufgeben wollen. Es war ein guter Tag gewesen, es hatte die Liste gegeben. Punkt für Punkt ein neues Leben. Also hatte sie auf die kleine Warze an Kramers Hals gestarrt und sich nur vorgestellt, wie sie in diesem Moment an der Schleife des Gürtels ziehen und das Band auf den Boden fallen würde. Weil er wahrscheinlich noch nie ’ne nackte Frau gesehen hatte, weil es irgendwann Zeit gewesen wäre für den überraschten Gesichtsausdruck dieses kleinen, blöden Spießers, weil es dann, und nur dann, noch ein schöner Tag geworden wäre.
»Schimmel«, hätte sie gesagt, als sei nichts passiert.
»Wie bitte?«
»Das an der Decke.«
Dann hätte sie ihren langen schmalen Zeigefinger gehoben und ihn langsam, sehr langsam und sehr nah vor seinem solariumgebräunten Gesicht hin und her bewegt. »Keine Flecken, Opa, sondern S-C-H-I-M-M-E-L.«
Und der Opa hätte auf ihre Brüste gestarrt und genickt, als säße in seinem Kopf eine kleine Maus, die die Schaltzentrale betätigte, wenn er nicht zu Hause war. »Keine Haare mehr am Sack, aber im Puff drängeln, was?«, hätte Jersey gesagt und für diesen Anblick, in dem sein Kiefer bis auf die Spitzen seiner OP-Schuhe klappte, hätte sie 20 Euro bezahlt, aber aufgeben war nicht drin, zumindest nicht, solange er noch in der Tür stand. Als er sich dann endlich verzogen und ihr noch ein abfälliges »Alles Gute, Frau Weber« reingedrückt hatte, als die Schleife von Mutters Morgenmantel immer noch fest verknotet und die Tür hinter ihm ins Schloss gefallen war, hatte Jersey beschlossen, noch ein einziges Mal, noch dieses eine Mal, alles beim Alten zu belassen, die Liste auf den nächsten Tag zu verschieben, und dann war sie in die Küche gegangen, hatte den Kühlschrank geöffnet und den Verschluss der Flasche Lambrusco 1 Liter halbtrocken abgeschraubt.
Jersey seufzte, auf dem Teppich neben ihr lag Asche, und die Zigarette war ausgegangen. Der Schimmelfleck war immer noch da, genau wie Kramer, genau wie sie selbst. Aber eigentlich war es kein Fleck, es war ein kleines Loch, ein Loch in ihrer Decke. Und manchmal, wenn sie zu viel getrunken hatte oder zu lange durch die Nacht getanzt war, oder wenn die Sache mit der Konzentration nicht mehr klappte, in Momenten wie diesen, wenn sie aufgegeben hatte und ihr einer der Typen endlich eine langte, weil sie dieses Bedürfnis nach Provokation einfach nicht raus bekam, aus sich raus, nachdem ihr also mal wieder eine Faust zärtlich ins Gesicht gefallen war und sie den Zünder ausgelöst hatte, damit das Ticken zwischen den Schläfen verstummte, wenn das alles geschehen war und es in ihr so ruhig wurde wie an einem Gebirgsbach, sie keine Angst mehr hatte und keine Wut, dann, nur dann konnte Jersey durch das Loch den Sternenhimmel sehen, oder die Sonne, wie sie gerade aufging. Sie sah die Kondensstreifen von Flugzeugen und manchmal einen Schwarm Zugvögel. Dann holte sie die Katze, legte sie neben sich und zeigte zur Decke: »Siehst du? Ist das nicht schön?« Sie nahm sich fest vor, bald etwas zu ändern. Das Einzige, was sie mitnehmen würde aus ihrem alten Leben, wäre die Katze. Und Mutters Morgenmantel. Und dann schlief Jersey ein, unter freiem Himmel mit dem leisen, gleichmäßigen Schnurren des kleinen Tieres neben sich.
2. Stock Mitte
Elisabeth zog den Vorhang zur Seite und öffnete das Fenster, um nachzusehen, denn jetzt war das Geplärre wirklich nicht mehr zu ignorieren. Er stand auf dem Rand des Daches gegenüber, offensichtlich betrunken, und fuchtelte mit etwas in der Luft herum, das große Ähnlichkeit mit einer Pistole hatte. Am Ende kam wahrscheinlich nur Glitter raus und ein lustiges Peng, vielleicht war es auch eine Schreckschusspistole, im ungünstigsten oder günstigsten Fall – je nachdem, welche Absichten der junge Mann dort oben hegte – war das Ding tatsächlich echt und geladen. Elisabeth kniff die Augen zusammen. Sie schätzte ihn auf Mitte zwanzig, aber er sah bereits irgendwie porös aus. Wie das Mauerwerk unten an der Eingangstür des Hauses, bei dem man sich jedes Mal, wenn man den Schlüssel drehte, fragte, wie lange es noch halten würde. Aber offensichtlich wurde der arbeitslose Sigmund Jähn dort oben nicht müde, sondern war bereit, die zweite Ladung Katzenjammer in die Nacht zu schicken. Immerhin war die Wodkaflasche jetzt leer, lange würde es jedenfalls nicht mehr gehen.
»Jersey! Ich bin’s, der Mister! Hey, Igelmädchen!«
Elisabeth zog die Augenbraue nach oben. Hatte sie das gerade richtig verstanden? »Igelmädchen!« Bitte? Waren das nächtliche Dreharbeiten für die Lindenstraße? Und Jersey? Wer bitte war Jersey? War das etwa diese hässliche Punkerin aus dem Dachgeschoss? Aber natürlich, ihr dämmerte es. Der Lebensmüde brüllte das Dachgeschoss drei Stockwerke über ihrer Wohnung an, und dort hauste die einzige Person, bei der sich Elisabeth vorstellen konnte, dass sie sich diesen schauderhaften Vornamen sogar selbst gegeben hatte.
»Jersey! Ich … ich … ich, es tut mir leid, ich …«
Elisabeth verzog das Gesicht. Oh nein, bitte nicht, da war doch nicht etwa so was im Spiel wie … Bevor sie den Gedanken zum bitteren Ende denken konnte, fuhr der Wind in ihre Gardine, die sich, wie zum Hohn, in die Nacht bauschte. Als hätte nur jemand darauf gewartet und die Gardine als perfekte Kulisse eingestellt für diese billige Kinoschnulze. Jetzt reicht’s, dachte Elisabeth, holte die Gardine zurück, warf einen letzten Blick auf den Revolverhelden, doch gerade als sie das Fenster schließen wollte …
»Jersey! Ich schieß für dich das Licht aus …« Plötzlich wankte er, gefährlich nah am Rande des Daches, seine Knie schienen den Geist aufzugeben, und für einen Augenblick, einen kalten Agentenblick lang, stockte Elisabeth der Atem. Wenn er fällt, das wäre nicht schön, nicht nur im Kleinen, auch im Großen, im Ganzen, Reue war da jetzt in ihr, und Scham, nicht zu leugnen, sie hatten sie am Haken, diese Liebestiere, und jetzt streckte Elisabeth ihre Hand aus, durch das offene Fenster streckte sie ihre Hand aus, doch, tatsächlich, als könnte das helfen, 25 Meter Luftlinie, ach Gott, seine Knie sackten weg, das war’s, dachte Elisabeth, machen wir uns nichts vor, Bella Ciao, das wird was geben in der Stadtteilzeitung, aber dann schien er wieder Mut gefasst zu haben, richtete sich auf und brüllte: »Ich schieß für dich das Licht aus vom Empire State Building!« Und seine Hand zeigte diffus Richtung Stadtmitte.
Und da tat er ihr leid, wirklich. Das hätte ihm ja ruhig mal einer erklären können, dass das große Gebäude eine Luftlinie weiter nicht das Empire State Building war, sondern der Verwaltungstrakt der Stadtwerke.
Vielleicht hatte er das auch gerade begriffen, ein kurzes Schluchzen noch, dann stieg er durch die Dachluke zurück in das Gebäude. Elisabeth atmete tief ein. Ein armer Irrer ohne Kompass. Sie dachte an die Punkerin, die im Dachgeschoss hauste, und schloss das Fenster. Erleichterung war in ihr, ganz ohne Zweifel. Und Wut. Über diese Leichtlinge, diese Träumer. Sie drehte sich in Richtung des Sofatisches, das gerahmte Bild von Walther. Sein strenger Blick traf sie, Elisabeth nickte. Dann löschte sie das Licht, legte sich zurück auf das Bettsofa, das Mondlicht schien durch die Gardine, es war still, nur das Ticken der Uhr war zu hören, und sie fragte sich, wann diese Kellerkinder endlich begreifen würden, dass das Leben immer ein wenig kleiner und dreckiger war als im Prospekt angegeben.
Heute Morgen waren sie da. Fünf Mann. Einer verschwitzter als der andere. Erst hatte ich gedacht, dem Kramer sei was zugestoßen. Warum sonst stehen Müllmänner plötzlich im Treppenhaus, wenn der Kramer doch jede Woche, zuverlässig wie ein deutsches Präzisionsgewehr, die Mülltonnen nach vorne an die Straße schießt – als wäre er immer noch Hausmeister.
Dann haben sie die Schlagbohrmaschinen aus ihren Koffern geholt. Mordsdinger.
Und da habe ich mich dann schon gefragt: Warum kommen Einbrecher heutzutage bei helllichtem Tag, und für was brauchen sie Schlagbohrmaschinen? War das edle Gewerbe denn dermaßen auf den Hund gekommen?
Sie verteilten sich im Treppenhaus und setzten beinahe gleichzeitig die Teufelsmaschinen an, und weiter konnte ich leider nicht denken, weil plötzlich ein überirdischer Lärm jedes aufklärerische Analysieren verunmöglichte. Ein derart monströses Gedröhne hatte ich – in meiner ganzen bescheidenen, nun doch immerhin schon beinahe 50 Jahre währenden Existenz – noch nicht vernommen. Das dämonische Geprahle kam offensichtlich direkt aus der Hölle, zumindest tief aus den von Maden befallenen Innereien einer durch und durch verrotteten Welt. Wie ich später erfuhr – die Männer unterhielten sich in der Mittagspause über die Qualität der Schlagbohrmaschinen – hatte diese Hölle sogar einen Namen: Baumarkt.
Doch mischten sich in den Lärm noch andere Töne, und diese betrübten mich nicht nur, sondern sie zogen mich gleichsam hinab in die dunklen Gefilde der Melancholie. Es war das dünne, schmerzverzerrte Gewimmer des Putzes und der Treppenstufen, das diese gesamte moderne Audioinstallation zu einer wahren Pein werden ließ. Ein handelsüblicher Sprengsatz hätte diese Verheerung nicht besser hinbekommen, und wenn diese nach Schweiß stinkende Rotte morgen wiederkommt, um ihr Werk möglicherweise zu vollenden, dann heißt es für mich »Adieu, du schöne Welt«.
Fazit an diesem späten Herbsttag, der unabhängig von der Meteorologie erahnen lässt, dass wir in großen Schritten auf den Winter zurasen: Das Treppenhaus liegt in Schutt und Asche. Dabei ist doch gerade die Treppe so etwas wie die Hauptschlagader des Hauses. Nicht der Salon, nein, das Treppenhaus ist im Grunde das erste Treff- und Begegnungszentrum der Menschheit. Die Entwicklung beinahe aller Kulturen wäre meines Erachtens unvorstellbar ohne diese elegante Art des Vorankommens. Ob in schlichter, gediegener oder pompöser Aufmachung, die Treppe überzeugt mit Stil und Formbewusstsein. Es ist der bereits in der Frühzeit verwirklichte Traum der Erdenbewohner, dem Himmel ein Stück näherzukommen. Nehmen wir zum Beispiel Horrorfilme. 80 Prozent aller Horrorfilme wären nach fünf Minuten vorbei ohne Treppe. Denn was macht das hübsche blonde Mädchen mit den schönen Lungenflügeln, auf das es der böse Schlächter abgesehen hat? Natürlich: Es rennt nicht aus dem Haus, das Dummerchen, nein, es rennt die Treppe hoch, »leider« muss man sagen, dem Himmel entgegen, ins Schlafzimmer, und dort, neben Mutters Kommode, steht der Schlächter grinsend und flüstert zärtlich »Bye, bye Blondie«, während er die Kettensäge anschmeißt. Das ganze schöne Gemetzel wäre also für die Katz ohne, richtig, eine Treppe.
Aber nicht erst seit heute Morgen spüre ich, wie meine Kräfte langsam schwinden, und ich kann nur hoffen, dass die Buttkies, der Kramer und die Jersey den Ernst der Lage begreifen, dass sie einen Plan entwickeln werden und aus der Abwärtsspirale im Handumdrehen einen Springbrunnen machen. Denn wenn nicht bald was passiert – was genau, kann ich Ihnen auch nicht sagen –, aber wenn nicht bald irgendwas passiert, was Gutes, ein Zauber vielleicht, ein Wunder, dann steuern wir hier auf ein Drama zu, und das wäre mir dann doch peinlich, weil ich mir eigentlich vorgenommen hatte, Ihnen eine Komödie zu erzählen.
Erdgeschoss rechts
Der Raum war exakt das, was sich Kramer unter einem Schulungszimmer beim Arbeitsamt vorgestellt hatte. Die kunststoffbeschichteten Tische waren zweckdienlich, die Stühle unbequem, und alles zusammen war beim Baumarkt wahrscheinlich mit dem Aufsteller »Büroausstattung komplett!« beworben worden.
Der graue Teppich verströmte einen leichten Geruch von Lösemitteln, auf dem Fensterbrett stand eine Orchidee, deren Übertopf zu klein war, und die Jalousien hätten sich automatisch runterfahren lassen, wenn der Schalter nicht defekt gewesen wäre. Der Raum in seiner ganzen belanglosen Stumpfheit hatte eine beruhigende Wirkung gehabt, und dafür war Kramer dankbar gewesen. Alles war abgenutzt, ein wenig schäbig, aber niemand interessierte sich dafür, niemand würde hier renovieren.
Wie schon die Tage zuvor musste er heute Morgen im Treppenhaus vor einem knöchelhohen Geröllhaufen stehen bleiben, und erneut stand die Frage in dem schwer angeschlagenen Raum, ob es ihm auch dieses Mal gelingen würde, ohne Verletzungen und verschmutzte Kleidung auf die Straße zu gelangen. Das Ganze hatte ihn an die Versatzstücke eines Horrorfilms erinnert: ein einsames, dunkles Haus, eine Ahnung von drohendem Unheil sowie der Wegfall der einzigen Fluchtmöglichkeit. Das unbekannte Grauen hatte sogar einen Namen und den ehrenwerten Beruf des Immobilienmaklers. Fehlte nur noch das Gewitter.
Kramer lehnte sich zurück und blickte auf das Flipchart. Er hatte gehofft, der Film würde heute noch besser werden, anderes Genre, bessere Story, aufgeräumtes Setting, eine Prekariatskomödie vielleicht, auf jeden Fall etwas, womit er später in der Kneipe angeben könnte, aber es sah ganz und gar nicht danach aus.
Die Tische waren in U-Form zusammengestellt, an deren offenem Ende besagtes Flipchart stand – und leider auch der Kay.
Seit zweieinhalb Stunden saßen Kramer und die acht anderen Insassen nun schon in dessen Weltbild fest, und es würden mindestens noch drei weitere Stunden Haft werden.
Dabei hatte das Ganze vielversprechend angefangen. Der Kay, »Kay mit y«, hatte eine lässige Jeans und ein blau-weiß kariertes Hemd an, er war noch jung, wirkte aber solide, und es sah nicht danach aus, als bestünde sein Leben bloß aus Sonnenbrillen, Filmhits und Autoerotik. Er hatte alle Teilnehmer tatsächlich sehr freundlich begrüßt, vielleicht ein wenig übertrieben, aber das hatten Coachingexperten wahrscheinlich so an sich, und es war das erste Mal seit Langem, dass Kramer als »Kunde der Arbeitsagentur« das Gefühl hatte, hier meinte jemand wirklich ihn. Kay stellte Fragen nach dem Lebensweg jedes Einzelnen, die Atmosphäre war locker, beinahe entspannt, und für einen Moment hatte sich Kramer wohlgefühlt. Ein Fehler.
»Wie erging es dir …«, hatte Kay gleich zu Beginn gefragt und auf den Spickzettel mit den Namen geblickt, »wie erging es dir mit deiner Karriere, Karl?«
Kramer hatte unbeholfen gelächelt, mit den Schultern gezuckt und gesagt: »Tausend Mal berührt, tausend Mal ist nichts passiert …«
Ein paar hatten gelacht, nur Kay hatte die Luft scharf durch die Zähne gezogen. Und dann hatte er Kramer angesehen, wie der Arzt einen zuversichtlich vor ihm sitzenden Patienten ansieht. Der Patient ist ahnungslos, arglos, und vielleicht hat er bis eben im Wartezimmer gedöst und davon geträumt, wie er über eine Wiese rennt und Schmetterlinge fängt. Der Arzt jedoch erkennt mit wenigen scharfen Blicken, die wie Handkantenschläge den Körper seines Gegenübers treffen und auf Symptome von Mangelerscheinungen hin abscannen, dass es für den Patienten höchste Eisenbahn wäre, sich ernsthaft Sorgen zu machen und die Lebenseinstellung zu ändern, sonst war’s das mit der Wiedereingliederung in die Gruppe der Gesunden.
»Gut, versuchen wir es mal anders.« Kay war langsam zu einem der Fenster an der Längsseite des Raumes geschlendert, hatte sich an die Kante des Fensterbretts gelehnt und die Arme verschränkt. Der Stoff des Hemdes spannte über den Oberarmen, und das lag nicht am Fett-, sondern am Muskelgewebe. So viel hatte Kramer verstanden. »Wichtig ist immer die Frage: Was ist dein Projekt im Hier und Jetzt?«, fuhr er fort, während er Kramer immer noch durchdringend anblickte. »Meine Frage bezieht sich auf dein berufliches Projekt, Karl«, fügte er hinzu, als halte er Kramers kognitive Kompetenzen für ausbaufähig. Vielleicht hatte er aber auch den kleinen Fleck Eigelb auf dem Kragen von Kramers Salz-und-Pfeffer-Jackett entdeckt, und sofort war ihm klar geworden, dass Kramer zu jenen mittelalten Männern gehören musste, deren privates Projekt – eine Ehe oder langjährige Beziehung – vor noch nicht allzu langer Zeit gescheitert war. Dass die Trennung erst kürzlich vollzogen worden sein musste, zeigte ihm der Umstand, dass der Geschiedene immerhin noch ein Jackett trug. Und in seinem Seminar saß. Es war also noch nicht zu spät. Kay klatschte in die Hände: »Na? Ich höre.«
»Na ja, also ich würde schon gerne beruflich wieder Fuß fassen«, hatte Kramer sich beeilt zu antworten, aber noch im gleichen Moment begann er sich zu schämen. Es hatte verzweifelt geklungen, als wolle er dem Arzt nach der Diagnose versichern: Also, ich würde schon noch gerne eine Weile leben.
»Schon irgendeine Vorstellung?«, hatte Kay gefragt und schwer ausgeatmet, aber Kramer hatte nur den Kopf gesenkt.
Und während Kay zum Flipchart gerannt war, um dort aus unerfindlichen Gründen die erste noch völlig unbeschriebene Seite über die obere Klemmschiene nach hinten zu ziehen, hatte Kramer sich zurückgelehnt, die Arme vor der Brust verschränkt und an der verkrüppelten Orchidee vorbei aus dem Fenster gesehen.
Es hatte einmal eine Zeit gegeben, da wäre für Kramer eine Situation wie diese unvorstellbar gewesen. Kramer wusste noch ganz genau, wie begeistert der ganze Saal damals geklatscht hatte. Es war, als habe gerade jemand den Beginn einer neuen Zeitrechnung ausgerufen. Der Schulze, die Hübner, der Voigt und sogar der Lentner, der an jenem Tag neben ihm saß, strahlten wie neu gewartete Atomanlagen.
Und auch er selbst, da musste man ehrlich sein, hatte sich an jenem Nachmittag in einer extrem gesteigerten Gemütsstimmung befunden.
»Die Logistik der Zukunft: Das ist die Vision einer Branche, die mit Hilfe von Hightech und hoch motivierten Mitarbeitern die globalisierte Wirtschaft zuverlässig am Laufen hält. Effizient, intelligent und nachhaltig. Also müssen wir uns den Marktanforderungen anpassen und Prozesse und Abläufe neu organisieren und digitalisieren. Das ist unser Ziel.«
Ja, das konnte Schenkel, seine Mitarbeiter in Ekstase versetzen. Hinter seinem Kugelkopf mit Raspelfrisur leuchtete ein raumhoher Screen, darauf stand der Slogan »Die Zukunft hat längst begonnen«, und etwas kleiner darunter: »Mitarbeiterversammlung RQ Logistic & Services«.
»Auch langjährige Beschäftigte«, hatte Schenkel in den Saal gerufen, »auch langjährige Beschäftigte möchten wir auf diesem Weg zu Innovation und Fortschritt mitnehmen. Aber sie müssen bereit sein, sich auf die neuen Anforderungen einzulassen.«
Kramer atmete tief ein, dann drehte er den Kopf vom Fenster zurück zum Flipchart. SMART stand in Großbuchstaben in der Mitte des DIN A1 großen Blattes Papier.
»Ziele sollten immer SMART sein«, sagte Kay jetzt, dann drohte er gespielt böse mit dem erhobenen Zeigefinger in Kramers Richtung. »Und damit ist nicht das Auto gemeint, Karl.« Gelächter.
Kramer zwang sich zu lächeln, während er in Gedanken beherzt das Geschäft betrat, über dessen Schaufenster stand: »Jägerbedarf & Waffen aller Art«.
Kay drehte sich mit einem lockeren Schwung aus der Hüfte zu den anderen: »Also, was sind Ziele? Wie würdet ihr das definieren? Anyone …?«
Kerstin meldete sich, eine kleine, schüchtern wirkende Mittfünfzigerin, die neben Kramer saß. Sie hatte zu den Ersten gehört, die von den Entlassungswellen bei Schlecker erfasst worden waren. »Ja, Kerstin, bitte …«
»Für mich ist ein Ziel …«
Kramer hörte nicht mehr zu und schaute an Kerstin vorbei auf ein Stück Raufasertapete.
Lentner, der ein bisschen aussah wie Paul Kuhn und ähnlich gewitzt war, hatte nach der Mitarbeiterversammlung damals gesagt, dass er sich mit keinem von den Porzellanaffen da oben in eine Weiterbildungsmaßnahme stecken lassen würde. Denn kurz vor Ende der Ansprache hatte Schenkel allen erklärt: »Die Alten müssen von den Jungen lernen. Und die Alten zum Lernen zu motivieren, ist eine Aufgabe der Führungskräfte.«
Sie hatten die Schlussworte Schenkels seinerzeit beklatscht, wenn auch nicht mehr so euphorisch wie am Anfang. Und vielleicht klatschten einige auch nur, weil es einfach schön war zu wissen, dass die Führungskräfte auch eine Arbeit aufgetragen bekommen hatten, und sei es die Motivation der Alten.
»Bei uns«, so schloss Schenkel, »wird es keine dramatischen Arbeitsplatzverluste geben.«
Ein Finger schnipste plötzlich vor Kramers Gesicht. Er erschrak.
»Na, kleines Nickerchen gemacht?«
Kramer hob den Kopf und blickte in Kays cremeverwöhntes Gesicht.
»Wir reden gerade über Bedürfnisse, und ich frage dich: Was ist dein Bedürfnis? Karl?«
Vor etwa einer Stunde hatte Kramer begonnen, ein Bedürfnis zu entwickeln, das er bis zu diesem Tag, zu dieser Stunde nie gehabt hatte und das mitnichten seiner Persönlichkeitsstruktur oder seinem Charakter entsprach. Es war das Bedürfnis, allein für Kay behandlungsbedürftige Verhaltensauffälligkeiten zu entwickeln.
Kay hatte ihnen erklärt, dass die Diagnose und Analyse der eigenen Situation einen entscheidenden Vorteil im Wettbewerb brächte, dass der Mensch ein Produkt sei, das es zu verkaufen gelte, und dass ein Vorhaben meist dann zum Scheitern verurteilt sei, wenn die Ressourcen schlecht genutzt würden. Und spätestens da hatte Kramer gedacht: »Ressourcen, was ist das?« Bevor man sie schlecht nutzen konnte, musste man sie ja erst mal haben.
Er hätte gerne Explosionsgeräusche gemacht mitten hinein in eine von Kays künstlichen Gedankenpausen, er hätte dieses Nullgerede von »besser strukturiert sein, super organisiert«, dieses automatisierte leere Geplapper, dieses zerschossene Gewirr aus Geisterwörtern gerne jedes Mal mit einem kräftigen Miauen unterstrichen, diesen ganzen beschissenen Tellerwäscher-zum-Millionär-Mythos, der den Maschinenraum des Kapitalismus mit immer neuem Feuerholz versorgte.
Aber spätestens jetzt, da sich Kay mit einer Arschbacke auf seinen Tisch gesetzt hatte, auf ihn herabblickte und ihn im Psychotherapeuten-Ton fragte: »Was ist dein Bedürfnis, Karl?«, spätestens an diesem Punkt hätte Kramer sich langsam erheben müssen, ruhig, Kay für eine Weile anstarren, um dann mit Grauen hervorzubringen: »Du bist einer von ihnen!«