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Über den Autor

Hans-Dieter Gelfert war bis zum Jahr 2000 Professor für Englische Literatur und Landeskunde an der FU Berlin und ist seitdem freischaffender Autor. Bei C.H.Beck sind von ihm erschienen: «Typisch englisch. Wie die Briten wurden, was sie sind» (62011); «Kleine Geschichte der englischen Literatur» (22005); «Kleine Kulturgeschichte Großbritanniens» (1999); «Shakespeare» (2000); «Englisch mit Aha! Die etwas andere Einführung in die englische Sprache» (22011); «Was ist gute Literatur?» (32010); «Was ist deutsch?» (2005); «Edgar Allan Poe. Am Rande des Malstroms» (2008); «Charles Dickens, der Unnachahmliche» (22012).

Untragic America – Exorzismus statt Katharsis

Unter dem Titel «Untragic America» erschien am 2. Dezember 1946 in der Zeitschrift Life ein Artikel, der zu erklären versuchte, weshalb es in der amerikanischen Literatur keine wirklichen Tragödien gibt. Amerika, heißt es dort, ist seinem Wesen nach untragisch. Sein Optimismus lässt nicht zu, dass Menschen für ihre Hybris bestraft werden, und der Glaube an die Lösbarkeit aller Probleme macht es Amerikanern schwer, sich in eine ausweglose tragische Situation einzufühlen. Die Kernthese des Artikels wird durch das Fehlen tragischer Dichtung in der amerikanischen Literatur bestätigt. Doch die Erklärung dafür greift zu kurz. Um die Frage nach der Möglichkeit tragischer Dichtung in Amerika zu beantworten, muss aber zuerst einmal Tragik definiert werden.

Wenn man wissen will, wann und unter welchen gesellschaftlichen Bedingungen ein Publikum mehr Vergnügen am Untergang eines Helden als an seinem Triumph hat, muss man nach der Wirkung der Tragödie und nicht nach dem Wesen des Tragischen fragen. Aristoteles war der Erste, der diese Frage gestellt und darauf eine Antwort gegeben hat. Sie lautet: Die Tragödie ist eine dargestellte Handlung, die im Zuschauer Schrecken (phobos) und Jammer (eleos) hervorruft und ihn nach der Katastrophe mit einem Gefühl kathartischer Entlastung entlässt. Katharsis wird von Aristoteles als Abreaktion eines leidenschaftlichen Emotionsstaus verstanden und damit als eine heilsame Sozialtherapie gedeutet. Sein Vorgänger Plato hatte die Tragödiendichter noch aus dem Gemeinwesen verbannen wollen, weil sie im Volk gefährliche Leidenschaften weckten. Aristoteles hingegen rehabilitierte sie mit der entgegengesetzten These, dass nämlich die Aufführung einer Tragödie dem Zuschauer Gelegenheit gebe, in der Scheinwelt des Theaters Leidenschaften zu empfinden und diese durch Mitleiden kathartisch abzureagieren. Damit dies geschehen kann, muss der Zuschauer jedoch ein ambivalentes Verhältnis zum Helden einnehmen. Zuerst muss er mit ihm sympathisieren, damit er für ihn phobos entwickeln kann. Nach dem Wendepunkt aber muss er sich von ihm distanzieren, indem er durch jammerndes Mitleid (eleos) die aufgebaute Befürchtungsspannung abreagiert. Die zurückbleibende kathartische Befriedigung hat demnach etwas von einem orgastischen Lusterlebnis. Wie muss nun der Held beschaffen sein, damit diese Reaktion möglich ist? Zunächst einmal darf er kein schuldloser Heiliger sein. Für einen solchen würde der Zuschauer zwar phobos empfinden, er wäre aber unfähig, die Spannung durch eleos in das lustvolle Gefühl kathartischer Entlastung übergehen zu lassen. Der Held darf aber auch kein Verbrecher sein; denn dann würde der Zuschauer seinen Untergang zwar mit Befriedigung quittieren, aber es käme in ihm keine Befürchtungsspannung auf. Also muss der Held ein Mensch sein, mit dem man einerseits sympathisiert, aus dessen Untergang man aber doch eine gewisse moralische Befriedigung zieht. Das ist im Kern die aristotelische Definition der Tragödie.

Die nächste Frage lautet: Wie muss eine Gesellschaft beschaffen sein, damit in ihr ein Verlangen nach dem geschilderten Reaktionsablauf aufkommt? In einer aristokratischen Gesellschaft, in der die Gefolgschaft ihr Wohl und Wehe mit dem Fürsten verknüpft, werden die Menschen zwar grenzenlosen phobos entwickeln, wenn dem Helden Unheil droht, doch sie werden angesichts seines Sturzes keine Befriedigung empfinden, sondern in tagelanger Totenklage um ihn trauern, wie dies aus der heroischen Frühzeit überliefert ist. In einer egalitären Gesellschaft hingegen wird man den herausragenden Menschen eher mit Argwohn betrachten, da er gegen das Gleichheitsprinzip verstößt. Sein drohender Untergang wird weniger phobos als heimliche Befriedigung hervorrufen. Eine kollektive Disposition zur Tragödie ist demnach nur dort zu erwarten, wo die Bewunderung für den herausragenden Helden noch und das egalitäre Misstrauen gegen ihn schon besteht. Das ist in Gesellschaften der Fall, die sich in einer Phase des Übergangs von der aristokratischen zur egalitären Ordnung befinden. Exakt das war in Griechenland zur Zeit der großen Tragödiendichter gegeben, als sich unter Perikles das zuvor aristokratische Athen in eine Demokratie verwandelte. Das Gleiche gilt für die Zeit Shakespeares, als im elisabethanischen England das Unterhaus als Repräsentant der Mittelschicht die Vorherrschaft des aristokratischen Oberhauses brach. Es gilt ebenso für Deutschland, wo das langsame Schwinden des aufgeklärten Absolutismus bis hin zur Weimarer Republik von einem ebenso langen literarischen Ringen um die Tragödie von Lessing bis zu Gerhart Hauptmann begleitet wurde.

Nach dieser Theorie konnte es in der egalitären Gesellschaft der USA keine Disposition zur Tragödie geben – mit einer Ausnahme. An der Nahtstelle zwischen dem aristokratischen Süden und dem egalitären Norden wäre die tragische Ambivalenz denkbar gewesen, allerdings noch nicht zum Zeitpunkt der Niederlage der Südstaaten; denn da war das aristokratische Prinzip stigmatisiert. Doch als in den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts das einsetzte, was in der amerikanischen Kulturgeschichte the Southern Renascence genannt wird, konnte sich der inzwischen demokratisierte Süden auf seine alte aristokratische Tradition besinnen. Und genau in dieser Zeit entstand der einzige Beitrag zur amerikanischen Literatur, der die Bezeichnung ‹tragisch› verdient. Zwar sind es keine Dramen, doch William Faulkners Romane entsprechen genau dem tragischen Schema. Sie zeigen Menschen, die Sympathie auf sich ziehen, die aber durch den selbst verursachten Fluch der Sklaverei den Untergang ihrer Kultur herbeiführen. Weniger schicksalsschwer, doch mit ähnlicher Struktur zeichnet sich das Problem in Tennessee Williams’ Stück Endstation Sehnsucht ab. Auch hier geht es um den Konflikt zwischen dem untergehenden aristokratischen Süden und dem vitalen egalitären Norden. Die tragische Heldin Blanche verkörpert einerseits kultivierte Verfeinerung, führt aber zugleich durch moralische Haltlosigkeit ihren Untergang selbst herbei. Da es nirgendwo sonst in der amerikanischen Literatur etwas gibt, was im aristotelischen Sinn tragisch genannt werden darf, scheint die Theorie bestätigt, zumal Amerikaner sich selber, wie der oben zitierte Artikel zeigt, den Sinn für das Tragische absprechen.

Was bedeutet das nun für die geistige Innenwelt der USA? In Amerika fehlt die Bereitschaft, sich mit dem scheiternden Helden zu identifizieren und aus seinem Untergang kathartische Befriedigung zu ziehen. Amerikaner wollen ihre Helden siegen sehen. Aber es dürfen keine aristokratischen Helden sein. Wie an früherer Stelle gezeigt wurde, muss der amerikanische Held ein Mann aus dem Volke sein, der zu heroischer Größe aufsteigt und danach auf die Ebene des Volkes zurückkehrt. Das ist der Heldentyp, den man überall in der Populärkultur antrifft. Im typischen Western ist der siegreiche Sheriff ein bescheidener, Frauen gegenüber schüchterner Mann, während sein Gegner, der Gangsterboss, mit aristokratischen Insignien ausgestattet ist. Der Schurke hat das Charisma eines arroganten, männlich attraktiven Führers, und genau deshalb muss er nivelliert werden. Katharsis im aristotelischen Sinn spielt in der amerikanischen Literatur keine Rolle. Die durch sie bewirkte ‹Reinigung› findet im amerikanischen Seelenhaushalt auf andere Weise statt, nämlich durch das, was Freud ‹Übertragung› nennt. Was der Zuschauer einer Tragödie durch Identifikation mit dem untergehenden Helden innerlich loswird, davon befreit sich der seelisch leidende Amerikaner, indem er sein Leiden nach vorausgegangener Psychoanalyse auf den Therapeuten ‹überträgt›. Dass die Erfolgsquote der klassischen Psychoanalyse erwiesenermaßen kaum höher ist als die Quote der Spontanheilungen, hält die sonst so wissenschaftsgläubigen Amerikaner nicht davon ab, in dieser Therapie ihr Seelenheil zu suchen. Hier kommen wesentliche Momente der amerikanischen Innenwelt zusammen: die Verwerfung der Eltern, die der Sündenbock für die von der Analyse zutage geförderten Komplexe sind, die Übertragung der psychischen Spannung auf einen Therapeuten, zu dem man nicht vorher aufschauen musste, und der Traum einer abschließenden Wiederherstellung der Unschuld des von der eigenen Verantwortung freigesprochenen Kindes. Strukturell ist die Psychoanalyse ein Exorzismus, eine Teufelsaustreibung zum Zwecke der Wiederherstellung der kindlichen Unschuld. Nicht erst der Film Der Exorzist hat dies als amerikanische Obsession aufgezeigt. Während in den tragischen Phasen der antiken und der europäischen Literatur der Widerstreit zwischen gegensätzlichen Wertnormen durch deren wechselseitige Vernichtung kathartisch gelöst wurde, versucht die amerikanische Seele sich von ihm durch einen exorzistischen Prozess zu befreien. Das entspricht der oben dargelegten Theorie; denn anders als zu Zeiten von Sophokles und Shakespeare gab und gibt es für Amerika – mit Ausnahme der genannten Zone zwischen Nord und Süd – keine zeitliche Überlappung eines noch bestehenden mit einem schon heraufziehenden gegensätzlichen Normensystem, sondern nur die unaufgelöste Gleichzeitigkeit der aufgezeigten Paradoxien. Diese sind nicht kathartisch auflösbar, sondern müssen immer wieder ins Gleichgewicht gebracht werden, im Extremfall durch einen Exorzismus, wie ihn der 11. September erneut in Gang gesetzt hat.

Schlussbetrachtung

Die tiefsten Wurzeln Amerikas reichen zurück in englischen Mutterboden. Von dorther kamen der Puritanismus und die aufgeklärte Staats- und Gesellschaftslehre John Lockes, von dort kamen die Vorstellungen von Freiheit und Individualismus sowie das Misstrauen gegen die staatliche Obrigkeit. Deshalb empfiehlt es sich, mit einem Vergleich des englischen und des amerikanischen Systems zu beginnen. Will man es auf eine einfache Formel bringen, könnte man sagen: Das englische System ist auf Ausgleich, das amerikanische auf Gleichgewicht angelegt. Auch in England stehen sich gegensätzliche Positionen gegenüber, die sich im Zweiparteiensystem widerspiegeln. Doch hier werden die Gegensätze durch eine Klammer zusammengehalten und damit zum Ausgleich gebracht. Diese Klammer ist die Krone. Der Monarch, so machtlos er de facto ist, hält die auseinanderstrebenden Kräfte zusammen. Er stellt zusammen mit den beiden Häusern des Parlaments jene Dreifaltigkeit dar, die als king bzw. queen in parliament den obersten Souverän repräsentiert. Die Königin spricht von my government und my opposition. Sie ist Oberhaupt sowohl der anglikanischen Bischofskirche als auch der gegensätzlichen presbyterianischen Church of Scotland. Historisch gesehen wurde England seit Jahrhunderten vom Kompromiss geprägt. Bereits die Staatsform ist ein Kompromiss zwischen Monarchie und parlamentarischer Republik, die Staatskirche ein Kompromiss zwischen Katholizismus und Protestantismus, die Gesellschaft im Ganzen ein Kompromiss zwischen hierarchischer Aristokratie und egalitärem Bürgertum. Dieses historisch tief verwurzelte Kompromisslertum hat die englische Politik seit dem Bürgerkrieg geprägt und prägt die Nation noch heute bis in die letzten Winkel des Alltagslebens. Das muddling through (Durchwursteln) empfinden die Engländer selber als die für sie typische Form der Problemlösung.

Ganz anders in den USA. Hier treten die Gegensätze viel radikaler zutage, da sie durch keine Klammer zusammengehalten werden. Und doch ist daraus seit dem Bürgerkrieg kein innerer Konflikt mehr hervorgegangen. Was die USA zusammenhält, ist nicht die abstrakte Verfassung, sondern ein durch sie verordnetes System von checks and balances. Es ist ein Gleichgewichtssystem, das von der höchsten bis zur untersten Ebene des politischen Lebens die genannten Paradoxien austariert. Der Präsident steht einem meist widerspenstigen Kongress gegenüber, so wie sich vor jedem Gericht Verteidiger und Staatsanwalt gegenüberstehen; und wie hier der Richter über die Einhaltung der Spielregeln wacht, so dort der Oberste Gerichtshof. Dabei ist der Supreme Court of Justice allerdings weniger unparteiisch als z.B. das deutsche Bundesverfassungsgericht, was zwei Gründe hat: zum einen werden die Richter auf Vorschlag des Präsidenten auf Lebenszeit eingesetzt, so dass sie der Partei des jeweils ernennenden Präsidenten nahestehen; und zum anderen lässt die amerikanische Verfassung weit mehr Interpretationsspielraum zu als die deutsche.

Im Vergleich mit dem englischen und dem amerikanischen Regierungssystem ist das deutsche durch ein obsessives Bemühen um Systematik und Konsens charakterisiert. Bei uns versucht jede Regierung, ihre Reformvorhaben in die Systematik eines aus der Verfassung abgeleiteten Rahmengesetzes einzupassen und eben dadurch größtmögliche Zustimmung zu finden. Das führte zu jenem Wildwuchs an Detailgesetzen, der inzwischen als eine deutsche Krankheit empfunden wird. Bei jedem Versuch, die Gesetze gerechter zu machen, werden um der Gerechtigkeit willen Detailregelungen getroffen, die sich dann wieder als Schlupflöcher für neue Ungerechtigkeiten erweisen. Oft glaubt die jeweilige Opposition schon bei der Verabschiedung eines neuen Gesetzes im Parlament einen Verstoß gegen die Rechtssystematik zu entdecken und ruft dann das Bundesverfassungsgericht an, jenen Übervater, von dem die Deutschen absolute Gerechtigkeit erwarten. Amerikaner begnügen sich mit relativer Gerechtigkeit, d.h. mit der Gewissheit, dass das Gesetz für alle das Gleiche ist. Auch wenn wir Deutsche längst nicht mehr so autoritär sind wie in früheren Zeiten, erwarten wir von Vater Staat immer noch Fürsorge und gerechte Behandlung. Deshalb neigen wir dazu, mit Argwohn oder gar Neid darauf zu achten, ob uns jemand vorgezogen wird. Grollen, Meckern und Jammern sind bei uns so selbstverständliche Äußerungen des Unmuts, dass wir gar nicht auf die Idee kommen zu fragen, wieso sie bei anderen Völkern wie z.B. den Amerikanern viel seltener vorkommen. Amerikanern würde es nie einfallen vom Staat zu erwarten, dass er für sie sorgt. Vielmehr erwarten sie von ihm, dass er sich nicht mehr als unbedingt nötig einmischt und nur als Schiedsrichter darüber wacht, dass jeder die Spielregeln einhält. Es würde ihnen auch nicht einfallen, über Misserfolge oder erlittenes Unglück zu jammern; denn dann würden sie ihre Erfolglosigkeit eingestehen bzw. zum Ausdruck bringen, dass sie vom Glück verlassen sind und damit nicht zu den Erwählten gehören, was bedeutet, dass sie nicht mehr an einen möglichen Erfolg glauben. Das aber wird ein echter Amerikaner nie zugeben.

Wie das vorliegende Buch zu zeigen versuchte, wird das amerikanische Denken und Fühlen noch heute aus seinen beiden ältesten Wurzeln, dem Puritanismus und der Aufklärung, gespeist, wobei im Puritanismus bereits die Tendenz zur Aufklärung und in der Aufklärung das Umschlagen in den Puritanismus angelegt ist. Aus der Spannung dieser Paradoxie bezieht Amerika seine Kraft. Selbst wenn irgendwann einmal China wegen seiner fünfmal größeren Bevölkerung das größte Bruttosozialprodukt erwirtschaften sollte, wird Amerika trotzdem die führende Wirtschaftsmacht bleiben, solange es aus diesem Kraftquell gespeist wird. Immer wieder haben Amerikagegner den Niedergang der USA prognostiziert, und selbst amerikanische Patrioten haben ihn als drohende Gefahr an die Wand gemalt. Doch jedesmal hat sich das Gleichgewicht von neuem stabilisiert. Jetzt steht Amerika erneut vor einer Herausforderung. Es muss sich gegen einen weltweit operierenden Terrorismus wehren, der weder personell noch regional zu packen ist. Das verschärft die latente Paradoxie von Freiheit und moralischem Rigorismus. Das Wort ‹Kreuzzug› kam dem Präsidenten nach dem 11. September nur einmal kurz über die Lippen und wurde danach sogleich aus dem Verkehr gezogen. Auch die Bezeichnung infinite justice als Name für die Operation gegen Osama bin Laden wurde nach kurzer Zeit durch enduring freedom ersetzt. Die amerikanische Regierung versuchte zunächst jeden Anschein zu vermeiden, als wollte sie den Weltmissionar und den Weltpolizisten spielen. Doch genau das ist die Rolle, zu der sie sich nicht nur durch die weltpolitischen Ereignisse, sondern durch ihr eigenes Wertesystem gedrängt sieht. Auch die Neigung George W. Bushs, den Kampf gegen die «Achse des Bösen» allein zu führen, entspricht dem hier Dargelegten. UNO und NATO wären wie Klammern, denen sich Amerika zum Zweck des Ausgleichs der Spannung zu unterwerfen hätte. Doch Amerika will nicht den ausgleichenden Kompromiss, sondern das Gleichgewicht. Da es sich des Gleichgewichts aber nur sicher sein kann, wenn es selber das Übergewicht hat, tendiert es zwangsläufig zu außenpolitischer Dominanz.

Im Innern hat das System des Gleichgewichts bisher gut funktioniert. Ob das anhält, bleibt abzuwarten. In der zweiten Hälfte des 21. Jahrhunderts werden die USA aufhören, eine von weißen Europäern dominierte Nation zu sein. Dann werden Schwarze, Asiaten und Hispanics die Mehrheit stellen. Schon jetzt sagen Schwarze im Rahmen der Multikultur-Debatte: «Was gehen uns Shakespeare und John Locke an? Unsere Vorfahren kamen aus Afrika». Wenn die Mehrheit der Bevölkerung einmal ihre Wurzeln außerhalb Europas sieht, werden wohl auch Puritanismus und Aufklärung ihre Prägekraft verlieren und Amerika wird eine ganz andere Ideologie entwickeln. Aber schon vorher ist das Gleichgewicht gefährdet, da es sich immer stärker nach außen verlagert. Wenn das Gegengewicht eine Milliarde Muslime sind, die der hedonistischen Utopie von Freiheit und pursuit of happiness den asketischen Traum des Gottesstaats auf Erden entgegenstellen, muss das auch Rückwirkungen auf die Innenwelt Amerikas haben. Dann wird sich entscheiden, welche Seite der amerikanischen Paradoxien die stärkere ist, die aufgeklärte oder die puritanische. Im ersten Fall wird Amerika die Ideale der Freiheit und Toleranz hochhalten und versuchen, die Gegner mit Zuckerbrot auf die Seite der Vernunft zu ziehen. Im zweiten Fall wird es die moralische Peitsche schwingen und den «heiligen Krieg» der anderen Seite mit einem Kreuzzug gegen das «Reich des Bösen» erwidern. Bisher gewann die erste Tendenz zuletzt stets die Oberhand. Doch ob das so bleibt, ist nicht gewiss.

Nachwort zur 4. Auflage
Amerika 2012 – eine polarisierte Nation

In den zehn Jahren seit Erscheinen dieses Buches ist der Begriff paradox, mit dem bis dahin viele amerikanische Autoren die Widersprüche in ihrer nationalen Mentalität zu fassen versuchten, zunehmend durch polarization ersetzt worden. In zahlreichen neueren Publikationen taucht das Wort bereits im Titel auf, wie sich am Schluss des aktualisierten Literaturverzeichnisses ablesen lässt. Mit dem immer tiefer werdenden Riss, der durch die amerikanische Gesellschaft geht, hatte sich bereits das Nachwort zur 3. Auflage von 2006 befasst, an dessen Stelle nun dieses neue tritt. Im alten, das die Verschärfung der Paradoxien unter George W. Bush aufzeigte, lautete der vorletzte Zwischentitel «Warten auf den neuen FDR». Diese Hoffnung schien zwei Jahre später mit der Wahl Obamas in Erfüllung zu gehen. Dabei hatte Bushs Nachfolger in seinem Wahlkampf den Namen Franklin Delano Roosevelts auffallend gemieden, obwohl er auf ökonomischem Gebiet vor einer ähnlichen Herausforderung stand wie seinerzeit FDR, der mit dem New Deal die Weltwirtschaftskrise der dreißiger Jahre zu bewältigen suchte. Doch Roosevelt gilt noch heute bei Republikanern als Linker, bei manchen gar als Sozialist. Deshalb berief sich Obama lieber auf Abraham Lincoln, dem als Republikaner und Sklavenbefreier Verehrung von beiden Seiten des politischen Spektrums entgegengebracht wird. Die Rechnung ging auf, und der neue Hoffnungsträger fuhr unter dem Jubel seiner Anhänger den erwarteten Wahlsieg ein. Damit, so schien es, war Amerika aus seiner puritanischen Kreuzzugsbesessenheit à la Bush auf den Pfad der Aufklärung zurückgekehrt.

Wie war es möglich, dass auf den Wahlsieg schon zwei Jahre später bei den Kongresswahlen eine schwere Niederlage und ein weiteres Jahr darauf mit dem drohenden Staatsbankrott der USA eine noch schlimmere Krise folgen konnte? Dabei hatte Obama doch so vielversprechend angefangen. Er verkündete die Schließung des verfassungswidrigen Gefangenenlagers in Guantánamo, packte den schweren Brocken der Gesundheitsreform an, nahm das von seinem Vorgänger sträflich vernachlässigte Gespräch mit Europa wieder auf und reichte in Kairo der islamischen Welt die Hand. Doch bereits mit Guantánamo scheiterte er am Widerstand des Kongresses; und die Reform des Gesundheitswesens brachte er erst nach zähem Ringen und einigen Zugeständnissen durch den Senat und das Repräsentantenhaus. Weshalb rief gerade diese Reform in breiten Schichten des Volkes einen so heftigen Widerstand hervor?

Der Streit um die Gesundheitsreform

Wie ist es möglich, dass dieselben Amerikaner, die die staatliche Krankenversicherung für alle Bürger über 65, genannt Medicare, als eine Segnung empfinden, in einer ähnlichen Versicherung für die 45 Millionen bis dahin nicht Versicherten aber das Gespenst des Sozialismus sehen? Ebenso verwunderlich ist, dass von all den klugen Journalisten und Journalistinnen, die aus Amerika für die deutschen Medien berichten, nach Kenntnis des Verfassers niemand den Lesern eine plausible Erklärung für dieses Phänomen gegeben hat. Dabei ist das Verhalten der Amerikaner gar nicht so schwer zu verstehen, wenn man die religiöse Überzeugung kennt, die bereits von den ersten Siedlern nach Amerika gebracht wurde und seitdem den Kern des amerikanischen Wertesystems bestimmt. Die Puritaner, die im 17. Jahrhundert Europa verließen, um in Amerika eine neue Gesellschaft zu begründen, waren gemäß der kalvinistischen Prädestinationslehre einerseits von der Hoffnung beseelt, zu den von Gott Erwählten zu gehören, während sie andererseits in der Ungewissheit lebten, ob das auch wirklich der Fall sei; denn sie selber konnten nach dieser Lehre nichts zu ihrer Erwählung beitragen. So bildete sich bei ihnen früh die Vorstellung aus, dass irdischer Erfolg ein göttliches Zeichen für Erwähltheit sei; denn weshalb sollte Gott Erfolg auf Menschen verschwenden, die er für die Hölle bestimmt hat? Diese Überzeugung war der Treibsatz, der den Puritanismus zum Motor der kapitalistischen Marktwirtschaft werden ließ, deren Wettbewerbscharakter nirgendwo so extrem ausgeprägt ist wie in den USA.

Wo irdischer Erfolg als Beweis von Erwähltheit gilt, beschränkt sich der Wettbewerb nicht auf den Gelderwerb, sondern erstreckt sich auf alle Lebensbereiche und wird von frühester Kindheit an geübt, vor allem im Sport, aber auch im Streben nach Popularität und gesellschaftlicher Achtung. Im Kapitel «Success – Der Glaube an den Erfolg» wurden die mit Siegestrophäen angefüllten Vitrinen erwähnt, die den Besucher einer amerikanischen Schule schon auf dem Flur empfangen. Viele Amerikaner haben auch zu Hause eine stattliche Sammlung von Orden, Pokalen und Anerkennungsurkunden. Der permanente Appell an den Leistungswillen der Bürger und dessen Förderung durch ein vielfältiges Belohnungssystem in Form von Preisen und Urkunden sind das Erfolgsgeheimnis der amerikanischen Wirtschaft.

Ein so universaler, das ganze Leben bestimmender Wettbewerb setzt aber voraus, dass keine menschliche Instanz und schon gar nicht der Staat in ihn eingreift und damit unfaire Bedingungen schafft. Der Staat hat nur darüber zu wachen, dass für alle die gleichen Wettbewerbsregeln gelten. Macht man sich diese historische Prägung klar, ist es nicht schwer, das Verhalten in Sachen Gesundheitsreform zu verstehen. Wenn der Staat mit Medicare allen Bürgern über 65 den gleichen Versicherungsschutz gewährt, greift er nicht in den ökonomischen Wettbewerb ein, da diese Menschen aus ihm ausgeschieden sind. Das Gleiche gilt für Kinder, die in den Wettbewerb noch nicht eingetreten sind. Auch sie werden vom Staat gleich behandelt, indem sie eine kostenlose Schulbildung und gegen ein geringes Entgelt den Transport zur Schule per Bus erhalten. Dort aber, wo Erwachsene sich im Wettbewerb befinden, darf sich der Staat nicht mehr einmischen, sonst wäre irdischer Erfolg Ergebnis staatlicher Fürsorge und kein Zeichen der Erwähltheit durch Gott.

Wer diese Argumentation liest, wird denken: wie soll eine religiöse Überzeugung von vor vierhundert Jahren heute noch eine Gesellschaft bestimmen, deren Mehrheit inzwischen aus den Nachkommen katholischer, lutherischer, orthodoxer, islamischer und anderer nicht-kalvinistisch geprägter Einwanderer besteht? Tatsächlich ist der ursprüngliche Kalvinismus weitgehend verschwunden, doch sein individualistisches Wettbewerbsdenken ist längst zu einer kollektiv verinnerlichten Wertnorm geworden, die jeder Amerikaner mit der Muttermilch aufnimmt. Ebenso tief verinnerlicht ist das kollektive Bewusstsein, eine erwählte Nation zu sein. Dieser ‹Exzeptionalismus›, den die Amerikaner als etwas Selbstverständliches für sich in Anspruch nehmen, ist ein zentraler Bestandteil ihrer Zivilreligion. Noch heute fordern Präsidentschaftsbewerber im Brustton der Überzeugung für ihr Land die Rolle einer «Stadt auf dem Berg» (a city upon the hill), und meist fügen sie noch das Wort shining hinzu; denn Amerika sieht sich als das neue «strahlende» Zion. Selbst Politiker, die dem Puritanismus fern stehen, berufen sich auf diese Formel, die der Puritaner John Winthrop, der erste Gouverneur von Massachusetts, 1630 noch vor dem Betreten amerikanischen Bodens in einer Predigt prägte.

Vom Puritanismus zur Tea Party-Bewegung

Das Besondere am Puritanismus der ursprünglichen Form lag darin, dass er trotz seiner Fundierung in striktem Bibelglauben offen blieb für Rationalität. Hatte man den irrationalen Akt des Glaubens an die Prädestination erst einmal vollzogen, konnte man danach seine ganze Intelligenz aufbieten, um durch Introspektion und Buchführung über das eigene Leben herauszufinden, ob man zu den Erwählten gehört. Deshalb konnte der Puritanismus im 18. Jahrhundert die für Amerika so charakteristische Symbiose mit der Aufklärung eingehen, aus deren Geist die Verfassung der USA gespeist wurde. Der Wettbewerb mit den Zielen der Selbsterkenntnis und Weltverbesserung, zu dem die Aufklärung aufrief, ließ sich problemlos mit dem puritanischen Wettbewerb um Erwähltheitsbeweise vereinbaren. Heute wurde daraus eine doppelte Paradoxie. Die puritanisch selbstgerechte Hälfte des amerikanischen Herzens lehnt im Vertrauen auf die unmittelbare Beziehung zu Gott den Staat ab, erwartet aber dennoch von ihm die Aufrechterhaltung von law and order, wobei dieselben Menschen, die den Staat entmachten wollen, von ihm verlangen, dass er die Abtreibung verbietet. Auf der anderen Seite verlangt die aufgeklärte, weltgerechte Hälfte nach individueller Freiheit, um ungehindert dem pursuit of happiness nachgehen zu können, während sie gleichzeitig vom Staat erwartet, dass er für mehr soziale Gerechtigkeit sorgt. Selbstgerechtigkeit und Weltgerechtigkeit sind Begriffe, die das Paradoxe der amerikanischen Seele vielleicht am besten zusammenfassen.

Das Fatale an der heutigen Situation ist, dass der Evangelikalismus, der über eine Reihe von Zwischenstufen aus dem Puritanismus hervorgegangen ist, nicht mehr dessen Intellektualität hat, sondern sich im Gegenteil durch eine erschreckende geistige Dürftigkeit auszeichnet. Das Gleiche gilt für die erst 2009 unter dem Eindruck der staatlichen Rettungsaktion für die Banken aufgekommene Tea Party-Bewegung, die mit ihrem Namen an ein Ereignis anknüpft, das aus dem emanzipatorischen Geist der Aufklärung heraus die Befreiung der Neuenglandstaaten von ihren englischen Kolonialherren einleitete. Am 16. Dezember 1773 hatten Bürger von Boston, die sich «Söhne der Freiheit» nannten, die Teeladungen englischer Schiffe ins Meer geworfen, weil sie sich weigerten, die darauf erhobene Steuer zu zahlen. Dieser Protest ist als Boston Tea Party in den Gründungsmythos der Vereinigten Staaten eingegangen. Wenn sich nun eine heutige politische Protestbewegung diesen Namen zulegt, dann bringt sie damit zum Ausdruck, dass sie in der eigenen Regierung eine der Kolonialverwaltung vergleichbare Zwangsherrschaft sieht.

In der Tat ist die Ablehnung des Staates das, was die drei Kerngruppen der Bewegung verbindet: bei den Rassisten ist es der Hass auf den schwarzen Präsidenten, bei den konservativen Republikanern das grundsätzliche Misstrauen gegenüber einem starken Staat und bei den Religiösen die Angst, dass sich der Staat die Rolle eines irdischen Gottes anmaßen könnte. Damit wird aus dem einstmals fortschrittlichen Impuls, der zur Befreiung Amerikas und zur ersten großen Demokratie der Neuzeit führte, ein rückwärts gewandter, reaktionärer und den Prinzipien der Aufklärung Hohn sprechender Affekt. Gänzlich absurd wird es, wenn diese dumpfe Protestbewegung jede staatliche Maßnahme zugunsten von Benachteiligten als Sozialismus anprangert. Selbst amerikafreundliche Beobachter in Europa haben ein mulmiges Gefühl, wenn das Zünglein an der Waage im Parlament der stärksten Militärmacht der Welt eine Gruppierung ist, in der religiöser Obskurantismus, politische Realitätsverweigerung und ein nur schwach verhüllter Rassismus sich zu einer gefährlichen Mischung verbinden.

Staatsfeindlichkeit

Staatsfeindlichkeit war von Anfang an ein Kernbestandteil des amerikanischen Denkens. Wer die Verfassung der USA liest und sie mit der deutschen vergleicht, muss den Eindruck gewinnen, dass es den amerikanischen Verfassungsvätern vor allem darum ging, festzuschreiben, was der Staat alles nicht darf, während die Väter und Mütter des Grundgesetzes dem Staat vorschrieben, was er zu tun hat. In dem Kapitel «Das Kind Amerika verwirft den europäischen Vater» wurde die These Geoffrey Gorers erläutert, der in der Lossagung vom Vater den eigentlichen Geburtsakt der Vereinigten Staaten sieht. Die Ablehnung väterlicher Aurorität ist in Amerika allgegenwärtig. In unzähligen Hollywoodfilmen taucht als stereotypes Motiv ein Vater auf, der sich vor seinen Kindern bewähren und rechtfertigen muss. Anders als in europäischen Filmen, wo das Kind ein schutzbedürftiges Wesen ist, erscheint es in amerikanischen als moralische Instanz, die zuletzt immer recht hat. Seit der Staatsgründung empfindet sich Amerika als das unschuldige Kind, das sich von seinem ungerechten Vater losgesagt hat. Aus dieser Autoritätsfeindlichkeit erklärt sich das amerikanische Insistieren auf der Gleichheit aller Bürger in einer als peer group verstandenen Nation. Die Nation ist den Amerikanern heilig, doch dem Staat misstrauen sie und möchten ihn so machtlos wie möglich halten. Ein oft gehörtes Witzwort sagt, dass der Staat nur zwei Aufgaben habe: Kriege zu gewinnen und die Post auszutragen. Da die Post mit 20 Milliarden so hoch verschuldet ist, dass sie als Privatbetrieb längst insolvent wäre, und der letzte Krieg, der klar gewonnen wurde, die Invasion der winzigen Insel Grenada war, sieht die Bilanz des Staates in den Augen der Amerikaner dürftig aus. Der Grund, weshalb diese Staatsfeindlichkeit früher nicht so krass hervortrat wie heute, ist leicht zu erkennen. Auch die Amerikaner brauchten einen starken Staat, solange ihr Land von äußeren Feinden bedroht war. Allerdings bremste selbst dann noch ein grundsätzliches Misstrauen von innen her den hegemonialen Druck der Supermacht, weshalb die USA in der westlichen Welt als ein gutwilliger Riese auftrat, der mit großen eigenen Opfern anderen Völkern die Segnungen der Demokratie brachte und deren Feinde in Schach hielt. Gerade Deutschland hat das nach dem Zweiten Weltkrieg positiv erfahren. Am Schluss des Nachworts zur dritten Auflage wurde Amerika als ein solcher Riese beschrieben, der, wenn er ins Taumeln gerät, mehr Schaden anrichten kann als ein boshafter Zwerg. Dass Amerika ins Taumeln geraten ist, lässt sich kaum übersehen. Die Gründe dafür liegen auf der Hand. Nach der Auflösung der Sowjetunion und dem Ende des Kalten Krieges fehlt den USA das Widerlager eines außenpolitischen Feindes, das in früheren Zeiten immer dafür gesorgt hat, dass selbst die Misstrauischsten im konservativen Lager den Staat als Beschützer gegen eine Bedrohung von außen akzeptierten. Heute aber ist der einzige Feind, den Amerikaner als solchen empfinden, der nichtstaatliche Terrorismus, der aus einem «Reich des Bösen» kommt und wie ein Virus ins Innere des Gemeinwesens eindringt. Gegen ihn ist die Zentralregierung machtlos; hier hilft in den Augen des rechten Lagers nur die moralische und waffentechnische Aufrüstung der Bürgerschaft.

Die Angst vor dem Bösen

In keinem Land der Welt sitzt die Angst vor dem Bösen so tief in der Seele des Volkes wie in den USA. Solange das Böse durch einen militärischen Gegner wie die Sowjetunion repräsentiert wurde, vertrauten die Amerikaner in ihrem grenzenlosen Optimismus auf ihre eigene Überlegenheit. Doch seit dem 11. September 2001 wissen sie, dass der Feind wie ein tödlicher Krankheitserreger über die Grenzen eindringen und jeden Menschen infizieren kann, der sich nicht hundertprozentig zum Amerikanismus bekennt. Das nagt an einem Grundpfeiler des amerikanischen Gemeinwesens: der Toleranz gegenüber Fremden. Wie allgegenwärtig diese Angst ist, lässt sich an den populären Katastrophenfilmen ablesen, die mit paranoider Besessenheit zeigen, wie echte Amerikaner gegen das Böse antreten und es in letzter Sekunde besiegen, wohlwissend, dass es schon wenig später wieder angreifen wird. In diesem Kampf hält die selbstgerechte Seite des amerikanischen Herzens auch das für erlaubt, was das Ethos der Aufklärung verbietet: z.B. Folter und Mord. In den Augen der Puritaner haben Agenten des Bösen keinen Anspruch auf Menschenrechte. Ein Filmheld, der diese Haltung exemplarisch verkörpert, ist Jack Bauer aus der Fernsehserie 24, von der bereits acht Staffeln mit je 24 Folgen erschienen sind. Jede Folge zeigt in Echtzeit den Ablauf einer Stunde in einer 24stündigen Handlung, in der Jack Bauer mit brutalsten Mitteln die Feinde Amerikas, darunter sogar einen korrupten amerikanischen Präsidenten, zur Strecke bringt, um sein Land zu retten. Dabei handelt er nach der Devise: der patriotische Zweck heiligt jedes Mittel. Psychologisch lässt sich der Wandel in der amerikanischen Psyche leicht nachvollziehen. Wenn der Staatshaushalt des Landes mit Anleihen finanziert wird, die größtenteils im Besitz Chinas, des unaufhaltsam aufsteigenden Rivalen, sind, dann ist es für Amerikaner nicht mehr so leicht, an den Exzeptionalismus der eigenen Nation zu glauben. Solche Situationen eines gefährdeten oder bereits erschütterten Selbstwertgefühls kompensieren Individuen nicht selten mit übersteigertem Stolz und verstocktem Irrationalismus, wie das bei Islamisten zu beobachten ist. Manchmal reagieren ganze Nationen so, man denke nur an die Deutschen nach dem als Schmach empfundenen Friedensdiktat von Versailles. Amerika spürt sein Schwächerwerden auf allen Gebieten. Der Staat ist hoch verschuldet, die Handelsbilanz weist ein riesiges Defizit auf, und auf den Bürgern lasten die Schuldenberge von einer Billion ausstehenden Studienkrediten und einem nicht ganz so hohen Fehlbetrag auf den Konten der Kreditkarten. Von einem Viertel aller Eigenheime heißt es, dass sie «unter Wasser» sind, was bedeutet, dass die vermeintlichen Eigentümer den Banken mehr schulden, als das Haus wert ist. Da kann es kaum verwundern, wenn das geschwächte ökonomische Rückgrat durch ein moralisches ersetzt wird, wie es die Evangelikalen anbieten.

Die Occupy Wall Street-Bewegung

Die Bankenkrise, die im rechten Lager zum Aufkommen der Tea Party führte, rief im linksliberalen Lager die Occupy Wall Street-Bewegung ins Leben, die im Namen der 99 Prozent Normalbürger gegen das eine Prozent der Superreichen antrat. Als das brennendste Problem wird gegenwärtig in der amerikanischen Öffentlichkeit die immer größer werdende Kluft zwischen Reich und Arm diskutiert. Da der Kommunismus als utopische Alternative versagt hat, konnte der Kapitalismus zu jener rücksichtslosen Gewinnmaximierung zurückkehren, die einst im 19. Jahrhundert den Marxschen Gegenentwurf erst auf den Plan gerufen hatte. Zu der schon immer sehr großen Disparität in der Vermögensverteilung kommt jetzt eine noch größere bei den Einkommensverhältnissen. Wo früher ein Spitzenmanager bis zum 40Fachen des Durchschnittseinkommens verdiente, bekommt er jetzt oft das 400Fache. Was die Kritiker besonders erzürnt, ist die Tatsache, dass die höchsten Einkommen in der Mehrzahl nicht als Lohn für risikobehaftete unternehmerische Leistungen erzielt werden, sondern durch geschicktes Spekulieren mit Wertpapieren, die zu undurchschaubaren Paketen geschnürt und als solche weltweit auf den Markt geworfen werden.

Obwohl die an der New Yorker Wall Street begonnene Bewegung bald auf andere Großstädte übersprang, ist daraus noch keine Massenbewegung geworden; und wenn der sich andeutende Aufschwung im Jahr 2012 anhalten sollte, wird ihr wohl bald der Wind aus den Segeln genommen sein. Anders als bei der Civil Rights- und Anti-Vietnam-Krieg-Bewegung haben es Amerikaner hier schwer, mit ganzem Herzen mitzumachen, da im Grunde jeder Bürger oberhalb der Armutsgrenze an der Spekulationswelle beteiligt war. Millionen von Hausbesitzern spekulierten auf die Wertsteigerung ihrer Immobilie, beliehen sie mit einer sub prime-Hypothek und finanzierten damit den Kauf von Konsumgütern. Da die allgemeine Sozialrente in aller Regel für den Lebensunterhalt im Alter nicht ausreicht, sind die Amerikaner darauf angewiesen, im Laufe ihres Arbeitslebens ein Portfolio von Wertpapieren anzusammeln. Auch hier wirkte sich das puritanische Vertrauen auf die eigene Erwähltheit als Treibsatz für spekulative Investitionen aus. Aus dem gleichen Grund spielt das Glücksspiel in Amerika eine viel größere Rolle als in Europa, was im Kapitel Pursuit of happiness näher ausgeführt wurde. Amerikaner sind risikobereite Spieler, die auf ihr Glück vertrauen. Davon profitierte in Zeiten einer ungebremsten Wachstumsideologie auch die übrige Welt, da die amerikanische Lokomotive stets mithalf, selbst ihre Konkurrenten aus der Stagnation herauszuziehen.

Intelligent design und der Kampf gegen Darwin

Parallel zum gesellschaftspolitischen Kampf des rechten Lagers, das sich als moral majority versteht, gegen das Lager der liberals, die in den Augen der Konservativen Mitschuld an der Schwächung Amerikas tragen, wird ein religiöser Kampf geführt, den Europäer mit noch mehr Kopfschütteln wahrnehmen. Es ist der Kampf der Kreationisten gegen die Darwinsche Evolutionslehre. Meinungsumfragen ergaben, dass bis zu 40 Prozent der Amerikaner an die Wahrheit der Schöpfungsgeschichte im ersten Buch Moses glauben. Dennoch dürfte es für die orthodoxe Form von Bibeltreue wohl nie eine Mehrheit geben. In einem Land, in dem Skelette von Sauriern gefunden werden und Erdöl gefördert wird, das vor Jahrmillionen entstanden ist, sträubt sich selbst bei frommen Christen der Verstand zu glauben, dass die Welt vor 6000 Jahren innerhalb von sechs Tagen geschaffen wurde. Angesichts solcher Schwierigkeiten hat sich der für Vernunft zugängliche Teil des religiösen Lagers für eine rationalere Form von Schöpfungsglauben entschieden, die unter dem Begriff intelligent design vertreten wird. Gemeint ist damit eine Lehre, die annimmt, dass die Entwicklung des Lebens zu immer komplexeren Formen bis hin zum Menschen nicht auf zufälligen Mutationen beruht, die sich nach dem Darwinschen Prinzip des survival of the fittest durchgesetzt haben, sondern dass dahinter eine göttliche Macht steht, die mit lenkender Hand nach einem «intelligenten Plan» die Artenvielfalt hervorgebracht und bis zur Krone der Schöpfung, dem Menschen, weiterentwickelt hat. Während die Kreationisten die Darwinsche Lehre ganz aus der Schule verbannen wollen – was ihnen in einigen Fällen vorübergehend gelang, bis der Supreme Court of Justice es verbot –, begnügen sich die Vertreter des intelligent design mit der Forderung, dass an Schulen und Universitäten neben der Evolutionslehre auch ihre christliche Sicht vorgestellt wird, damit Schüler und Studenten sich zwischen beiden entscheiden können.

Theoretisch ließe sich intelligent design ohne großen philosophischen Aufwand mit dem Darwinschen Modell vereinbaren, wenn man Intelligenz als ein evolutionär entstandenes Vermögen versteht, mit dem das Gehirn aus Sinnesdaten Hypothesen abstrahiert, von denen es dann die lebenstauglichsten, also «fittesten», als Erkenntnis abspeichert. Gute Ideen wären dabei ebenso zufällig wie günstige Mutationen im Erbgut. Das entspräche dem Darwinschen Ausleseprinzip. So verstanden ließe sich das gesamte Weltgeschehen als das Werk einer gottähnlichen Intelligenz ansehen, die zwar nicht plant, aber «intelligent» selektiert. Allerdings dürfte eine solche pantheistische Weltsicht den bibeltreuen Christen wenig behagen; denn das würde den Offenbarungsglauben durch eine Vernunftreligion ersetzen, wie sie schon einmal im 18. Jahrhundert durch die Aufklärung propagiert wurde. Immerhin lässt der Wechsel vom radikalen Kreationismus zum Konzept des intelligent design erkennen, dass selbst im evangelikalen Lager die Kräfte der Aufklärung untergründig am Werk sind.

Wie sehr Amerika die Aufklärung als eine seiner tiefsten geistigen Wurzeln empfindet, geht aus dem Titel eines Buches des angesehenen Historikers Henry Steele Commager hervor. Er lautet: The Empire of Reason. How Europe Imagined and America Realised the Enlightenment (1978: Das Reich der Vernunft. Wie Europa die Aufklärung erdachte und Amerika sie verwirklichte).