Calypso





Roman



Digitale Originalausgabe



 

Impressum

Ein Imprint der Arena Verlag GmbH

Digitale Originalausgabe
© Arena Verlag GmbH, Würzburg 2017
Covergestaltung: Sarah Buhr
Alle Rechte vorbehalten
E-Book-Herstellung: Arena Verlag 2017

ISBN: 978-3-401-84021-5

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Widmung

Für Cornelius und Julius …
und für alle, die ihren Weg gehen, auch wenn es nicht immer einfach ist. Ihr könnt stolz auf euch sein :)


»Ich wünsche Dir keinen Weg ohne Wolken,
kein Leben auf einem Bett voller Rosen.

Nicht, dass Du niemals bereuen sollst,
oder keinen Schmerz empfinden müsstest.

Nein. Das wünsche ich Dir nicht.
Was ich Dir wünsche ist:

Dass Du tapfer bist in Stunden der Prüfung,
wenn Berge zu erklimmen und Klüfte zu überwinden sind.

Dass jede Gabe, die Dir geschenkt ist, mit Dir wachse,

und Dir ermöglicht, jenen Freude zu schenken, die Dir nahe sind.

Dass Du immer einen Freund hast, der diesen Namen verdient,
und dem Du vertrauen kannst.

Der Dir Hoffnung gibt, wenn Du traurig bist,

und der gemeinsam mit Dir den Stürmen des Lebens trotzt.

Das ist mein Wunsch für Dich,
heute und alle Tage.«

Freie Übersetzung eines alten, irischen Segens

#1 – Zeit des Aufbruchs

 

Ich laufe durch den Wald ohne mich noch einmal umzusehen. Einfach immer weiter. Keine Ahnung wohin, es spielt auch keine Rolle. Hauptsache weg von hier. So schnell und so weit ich kann. Am liebsten würde ich diesem verfluchten Ort endgültig den Rücken kehren. Ich beginne, Braam zu verstehen. Seinen unbezwingbaren Fluchtimpuls. Noch nie bin ich so tief in den Wald vorgedrungen wie heute. Weil ich mich hier draußen kaum auskenne, folge ich einem wilden Fluss bergaufwärts. In der entgegengesetzten Richtung mündet er vermutlich in die Trinkwasserseen. Und die wiederum befinden sich in unmittelbarer Nähe zur Siedlung. Von dort aus würde ich jederzeit den Heimweg finden. Aber im Moment will ich einfach nur weg.

Ich weiß gar nicht genau, wie lange ich schon so durch die Wildnis streune. Unter rauschenden Baumkronen hindurch, über morsches Geäst und trockene Blätter. Keine Ahnung, wie viele Kilometer ich zurückgelegt habe. Sogar den Wald lasse ich irgendwann hinter mir. Ich finde mich auf einer Anhöhe wieder, die den Blick auf ein beeindruckendes Gebirge freigibt. Gewaltige Formationen aus Stein erheben sich in den Himmel. Sie erinnern an die tobende See, deren Wellen mitten im Sturm erstarrt sind. Atemlos klettere ich auf einen moosüberwachsenen Vorsprung und ziehe die Beine an. Mein Blick schweift über graue Felsketten, deren Gipfel von Zeit zu Zeit in den vorüberziehenden Wolken verschwinden. Über dem Tal ziehen stolze, große Vögel ihre Kreise. Immer wieder stoßen sie aus dem Schatten der scharfkantigen Felsen hinab ins warme Sonnenlicht, das über der Steppe flimmert. In unmittelbarer Entfernung zum Wald strotzt das Gras noch vor sattem Grün. Doch je weiter sie sich in die anderen Täler hinaus erstreckt, umso karger wird die Landschaft. Die Vegetation wirkt ausgedünnt, erdige Farbtöne dominieren das Bild. Die Berge im Hinterland wirken wie zerbrechliche Riesen aus Sandstein. Alles was ich jenseits dieser Sandriesen noch erkennen kann, ist ein schmales flimmerndes Band. Ich habe noch nie einen Horizont unter dem Himmel gesehen, der nicht an den Ozean grenzte. Der Anblick ist neu für mich – faszinierend und wunderschön: Durch das Flimmern scheint der Himmel mit dem sandfarbenen Streifen unter ihm zu verschmelzen.

Es muss die Wüste sein. Denn genau so wurde sie in den Büchern beschrieben, die ich in Calypso gelesen habe. Lange bevor ich ahnen konnte, dass ich eines Tages tatsächlich hier oben stehen würde. Noch immer atemlos starre ich hinaus in die Ferne.

Und plötzlich fühlen meine Lippen sich furchtbar trocken an. Innerlich danke ich der angenehm kühlen Brise, die meine verschwitzte Stirn kühlt. So beeindruckend die Aussicht ist – sie erinnert mich leider auch an Braam und sein Vorhaben, das Seifenblasental zu verlassen. Aus Angst vor wilden Tieren haben die Menschen sich bisher nie weit von der Siedlung entfernt. Uns fehlten passende Waffen zur Verteidigung und für die Jagd. Sie fehlen noch immer. Und ich bezweifle, dass die Pioniere ahnen, worauf sie sich da einlassen. Wie wollen sie dort draußen überleben – ohne Landkarten, ohne Ausrüstung und ohne jedes Wissen über die Gefahren, die vor ihnen liegen? Dieses Vorhaben ist der reinste Wahnsinn.

Nachdenklich blicke ich zurück, in die Richtung, aus der ich gekommen bin. Ich sehe den breiten Fjord, der zum Meer führt. Sogar die Brücke und die zerbrochene Statue sind von hier oben zu erkennen. Am Ostufer des Fjords erstreckt sich ein graues Trümmerfeld. Die Geisterstadt, Celonia. In westlicher Richtung ist eine Ansammlung runder Bauwerke zu sehen: Etwa einhundertsiebenundfünfzig Kuppeln, die friedlich in der Sonne schimmern wie Seifenblasen. Dort unten wirkt alles so klein. Fast schon unbedeutend. Die Siedlung ist alles, was uns geblieben ist. Und „alles“ ist in diesem Fall leider nicht genug – vor allem nicht für Braam und die Pioniere. Einerseits kann ich verstehen, warum ihn hier nichts mehr hält. Seit der Bedrohung durch die unautorisierten Plünderungen sinken unsere Überlebenschancen immer weiter. Auch mir fällt es schwer, dieses ganze Elend mit anzusehen. Trotzdem werde ich diesen Ort nicht verlassen. Ich kann einfach nicht. Dort unten im Seifenblasental lebt meine Familie. Mein kleiner Bruder Beek und all meine Freunde. Sie ahnen, wie schlecht es um die Siedlung steht. Doch sie sind machtlos. Immerhin gibt es seit gestern erste Hinweise auf den Drahtzieher der unautorisierten Plünderungen in Celonia. Alles deutet auf Tosca hin. Uns fehlen nur noch ein paar offizielle Beweise – dann könnte der Fall schon bald geklärt sein. Mein Seufzen verliert sich im Wind, der über das Plateau fegt. Im Gegensatz zu den Böen am Strand ist er trocken, warm und weich. Was mache ich mir vor? Braam wird das alles nicht interessieren. Er hat sich bereits entschieden.

Die Stille hier oben tut gut – auch wenn sich die Fassungslosigkeit und Wut in meinem Inneren kaum besänftigen lassen. Es geht ja nicht nur um General Tosca und die abtrünnigen Khimaara – seine mordende Sippe. Ich kann einfach nicht glauben, dass Baran versucht hat, mich zu erpressen. Gerade als ich beschlossen hatte, ihm zu vertrauen. Er hat angekündigt, meinen Bruder aus dem Kreis der Khimaara zu verbannen, wenn ich mich nicht zur Gemeinschaft der anderen bekenne. Ausgerechnet Ashek, der sein ganzes Leben lang um einen festen Platz im Leben kämpfen musste. Und ausgerechnet jetzt, wo er glaubte, einen solchen Platz gefunden zu haben.

Von allen Dingen, mit denen er mir hätte drohen können, benutzt Baran ausgerechnet Ash. Weil er genau weiß, dass er mich damit am effektivsten verletzen kann. Die ganze Situation ist so absurd, dass mir die Worte fehlen. Wenn ich nur an diesen scheinheiligen Prediger denke, kocht die Wut in mir wieder hoch. Ich sehe sein Gesicht noch immer vor mir. Dieses selbstgefällige Grinsen, kurz bevor ich ihn einfach stehen gelassen habe. In Mutters Hain, seinem Heiligtum. Vielleicht wäre ich eines Tages sogar dorthin zurückgekehrt. Im Grunde hatte ich das vor – jetzt bin ich mir da nicht mehr so sicher. Es ist ein ekelhaftes Gefühl, so hintergangen zu werden. Noch schlimmer ist nur die Tatsache, dass ich den größten Traum meines Bruders zerstören werde, wenn ich mich nicht Barans Willen beuge. Ash würde mir das nie verzeihen. Und ich wüsste auch nicht, wie ich meine Entscheidung vor ihm rechtfertigen sollte …

Resigniert stütze ich den Kopf in die Hände. Am liebsten würde ich schreien. Nein, Bäume ausreißen. Hier oben würde das wahrscheinlich gar niemanden stören. Der Gedanke, mich so richtig auszutoben, fühlt sich gut an. Verstohlen sehe ich mich um – lausche in die Stille hinein. Ich bin ganz alleine hier oben. Und irgendwie muss ich diese Wut loswerden. Also probiere ich es einfach aus: Ich hole tief Luft und schreie.

Aus tiefster Seele, und so laut ich kann. Ich schreie bis hinauf in den unendlichen Himmel und hinab in das mattgrüne Tal. Ich schreie, bis mir die Luft ausgeht. Nur ein Vogel antwortet mir mit seinem schneidenden Ruf. Als wollte er mir zustimmen. Ich lasse mich gerne ermutigen, fülle meine Lungen erneut, bis ich einen kleinen Stich in der Brust spüre – und schreie meine elende Wut in die Welt hinaus. Ich schleudere sie dem Horizont entgegen und hoffe, sie landet in der Wüste. Genau da, wo sie hingehört. Und Baran auch.

Ich muss lachen. Das ist verrückt. Aber es tut gut und wirkt tatsächlich befreiend. Erst nach dem dritten Mal macht sich ein unangenehmes Kratzen in meinem Hals bemerkbar. Wütend bin ich leider immer noch. Ich rutsche von meinem Felsen, verschränke die Arme vor der Brust und sehe mich um. Ich bin ziemlich sicher, dass niemand mir gefolgt ist. Und wenn Schreien nicht ausreicht, dann muss ich vielleicht etwas anderes ausprobieren.

Was soll schon passieren? Abwägend betrachte ich meine Handflächen. Sofort ist die Erinnerung an den Nebel wieder da. Es war so einfach diese Wolke zu beschwören. Viel zu einfach. Ich musste nur an das Gefühl des kühlen Schleiers auf meiner Haut denken. Und an seine Atmosphäre. Ich unterbreche die Gedankenkette, weil ich genau weiß, wohin sie führen wird. Aber ich muss gestehen, dass ich neugierig bin: Ich wüsste gerne, ob es mit dem Feuer genauso einfach ist – Hitze, prasselnde Funken, Rauch. Immerhin habe ich schon einmal Flammen erzeugt, und zwar ganz ohne mich in Gedanken auf dieses Element zu konzentrieren. Knisterndes Strandgras, Asche, Schmerz. Der blaue Funke in meinem Inneren reagiert sofort. Es fällt mir leichter, ihn wahrzunehmen. Seit ich weiß, worauf ich achten muss. Das habe ich Nicon zu verdanken. Und Franja.

Ich lege die Handflächen aufeinander und schließe die Augen. Als hätte er meine Absicht bereits wahrgenommen, flackert der blaue Funke in mir auf. Es ist kein visueller Eindruck. Ich kann ihn spüren. Ich fühle, dass er eisblau sein muss. Heiß und kalt zugleich. Und aufgeregt. Genau wie ich. Kaum beschwöre ich das Bild einer Flamme vor meinem inneren Auge herauf, schwillt der Funke schlagartig an. Er reagiert schnell, wie ein Raubtier, das zum Sprung ansetzt – und ich reagiere mit ihm. Intuitiv schlage ich meine Handflächen aufeinander. Die dabei entstehende Rußwolke lässt mich husten. Genau wie beim Training, oder auch beim Schwimmen im Meer, scheint mein Körper die notwendigen Bewegungen bereits zu kennen. Sie sind in meinem Unterbewusstsein verankert, wie der Reflex zu atmen. Ich kann darauf vertrauen, dass alles da ist … und ich es nur zulassen muss.

Für einige Sekunden reibe ich meine Handflächen aneinander. Fest und schnell, bis ich die Hitze spüre. Dann reiße ich sie auseinander. Der blaue Funke in meinem Inneren nimmt Kontakt zu einer größeren, elementaren Kraft auf. Und im gleichen Moment wirbelt eine rauschende Feuerwolke in den Himmel hinauf. Die abstrahlende Hitzewelle zwingt mich in die Knie. Ich muss die Augen zusammenkneifen, so heiß und hell sind die Flammen. Blinzelnd beobachte ich, wie die Wolke verpufft. Der blaue Funke in meinem Inneren tut es ihr gleich. Na super.

Nicon könnte mir jetzt bestimmt einen Tipp geben, worauf ich beim nächsten Versuch achten sollte. Er würde diesem Gefühl einen Namen geben, alles erklären, und mir helfen dieses Element zu kontrollieren. Aber Nicon ist nicht hier. Und seine Schwester auch nicht. So bald werde ich die beiden wohl nicht wiedersehen. Also versuche ich es noch einmal. Alleine. Der Vorteil daran ist, dass ich mich nicht zurückhalten muss. Denn weit und breit gibt es niemanden, der verletzt werden könnte. Solange ich nicht wieder eine Gewitterwolke erzeuge und mich von meinen eigenen Blitzen erschlagen lasse, kann nicht viel schiefgehen. Und selbst wenn, wäre mir das im Moment egal. Ich will einfach nur irgendetwas brennen sehen.

Mein Blick schweift zurück in die Richtung, aus der ich gekommen bin. Na gut, einen Waldbrand will ich doch lieber nicht verantworten. Um der Siedlung willen – und weil ich Respekt vor diesen Bäumen habe. Mehr als vor so manch menschlichem Wesen. Oder Khimaara. Meine Augen verengen sich zu nachdenklichen Schlitzen, als ich eine Wand von circa fünfzehn Metern Höhe und mindestens der gleichen Breite entdecke. In der näheren Umgebung gibt es nichts, das leicht in Brand geraten könnte … also beschließe ich, es auf einen Versuch ankommen zu lassen. Ich platziere meine Füße fest auf dem steinigen Boden und gehe leicht in die Knie. Dann hole ich mit beiden Armen aus und klatsche in die Hände. Explosionsartig bildet sich Hitze, und der Geruch von verbrannter Erde zieht mir in die Nase. Noch immer halte ich die Energie zwischen meinen Handflächen, wo sie sich in Form einer Kugel konzentriert. Dieses Mal entlade ich sie mit einem gezielten Schlag in Richtung der Felswand. Wow! Der Rückstoß ist heftig. Ich muss beide Fersen in den Boden stemmen, als zwischen meinen Handflächen eine Feuersäule materialisiert und sich schlagartig entlädt. Ich kann nur dabei zusehen, wie die Flammen auf die Felswand prallen und sie mit einem lodernden Film aus Glut und Rauchschwaden überziehen. Die abstrahlende Hitze ist so gewaltig, dass ich mein Gesicht mit den Armen schütze und die Augen zusammenkneifen muss. Als ich sie wieder öffne, knistert die Luft. Auf der Wand prangt ein Brandfleck, dessen Durchmesser mindestens doppelt so groß ist wie ich selbst. Hätte Baran vor dieser Wand gestanden, wäre nicht viel von ihm übrig geblieben. Zufrieden atme ich durch. Die Flammen haben sich zwar längst in der kühlen Bergluft verloren, doch ich habe noch immer das Gefühl, von innen heraus zu glühen. Das reicht für heute. Ich weiß nicht, ob es der Anblick der verkohlten Wand ist, der mich Abstand nehmen lässt. Es ist nicht mehr so, als würden meine Kräfte mir Angst machen. Im Gegenteil: Sie faszinieren mich. Aber den Umgang mit ihnen zu erlernen, bedeutet für mich auch zu wissen, wann es genug ist.

Ich wende mich von der Felswand ab und ziehe mich in den Schatten des Waldes zurück. Mein Atem geht schwer. Nicht einmal nach dem Training mit den Khimaara habe ich mich so erschöpft gefühlt. Es muss mit diesem Feuer zu tun haben. Die Tatsache, dass ich alle Elemente beherrsche, bedeutet wohl nicht, dass mir alle gut liegen. Über trockenes Gebüsch und Äste stolpere ich in den Wald hinein. Ich finde den kleinen Bach und knie am Ufer nieder. Hier oben ist die Natur noch unberührt und sauber. Das Wasser aus dem Fluss ist kühl und erfrischend. Ich vermute, dass ich mich nicht weit entfernt von der Quelle befinde. Aber für heute habe ich schon genug neue Entdeckungen gemacht. Ich trockne meine Lippen und atme noch einmal tief durch, bevor ich mich auf den Rückweg mache. Zurück ins Seifenblasental. Ich muss zugeben, dass ich Angst vor dem Gespräch mit Ash habe. Wenn er noch nicht von Baran informiert wurde, werde ich ihm meine Entscheidung selbst mitteilen müssen. Und dann ist da noch die Sache mit meinem Vater. Ich weiß gar nicht, was von beidem schlimmer ist. Seit ich mich im Regierungskreis mit General Tosca angelegt habe, wirkt Papa so schrecklich resigniert. Was nicht heißt, dass ich bereue, den Mund aufgemacht zu haben. Oh nein. Tosca soll ruhig wissen, dass ich ihn im Visier habe. Ich werde hoffentlich schon bald beweisen können, dass er mit den unautorisierten Plünderungen zu tun hat und seine vollkommen unausgereiften Pläne hinter dem Rücken des Regierungskreises umsetzen lässt …

Als ich mich umsehe, finde ich mich auf einem steinernen Vorsprung wieder. Ich habe nicht aufgepasst und bin vom Weg abgekommen. Links von mir ragt eine raue Felswand auf. Ein leichter Überhang scheint den Vorsprung über die Jahre hinweg vor Wind und Wetter geschützt zu haben. Obwohl aus jeder noch so kleinen Spalte wilde Pflanzen sprießen und der restliche Stein von einer staubigen Erdschicht bedeckt ist, hebt sich ein kunstvoll gestaltetes Bodenrelief deutlich vom Naturstein der Wände ab: Ich erkenne ein rechteckig angelegtes Muster, dessen Innenleben an Blumenranken und geometrische Formen erinnert. Was für ein wunderschöner, merkwürdiger Ort. In meinem Kopf entstehen sofort Bilder von Menschen, die sich in längst vergangenen Zeiten hier oben eingefunden haben, um die Aussicht zu genießen. Bestimmt haben sie hier lange gesessen, viel gelacht, etwas getrunken oder geplaudert. Liebespaare. Beste Freunde. Ganze Familien. Vielleicht wird es eines Tages wieder so sein.

Mein Tagtraum verblasst und lässt mich in der verwilderten Realität zurück. Wo bin ich hier überhaupt gelandet? Nicht allzu weit entfernt schimmern die Kuppeln unserer Siedlung zwischen den Baumkronen. Als der Wind für einen kurzen Moment nachlässt, höre ich den plätschernden Bach und finde meine Orientierung wieder. Eigentlich sollte mich das beruhigen. Doch ich habe noch etwas entdeckt: Unten in der Siedlung, auf dem gut einsehbaren Platz vor dem Regierungskreis, hat sich eine Gruppe zusammengefunden. Ein unbehagliches Kribbeln bricht in meinem Bauch aus, als mir klar wird, was da unten los ist: Die Pioniere. Braam. Sie machen sich tatsächlich zum Aufbruch bereit. Wir haben uns zwar an Bord der Acheron voneinander verabschiedet, aber ihn endgültig gehen zu lassen, ist etwas anderes. Auf einmal muss ich wieder an die Wüste denken – diesen flimmernden Streifen, der womöglich das einzige ist, was am Horizont auf Braam und die anderen Pioniere warten wird. Als die Gruppe sich in Bewegung setzt, verwandelt mein Herz sich in einen Eisblock. Nein. So einfach kann ich Braam nicht gehen lassen. Ich will wissen, ob ihm klar ist, was ihn da draußen erwartet. Ich muss wenigstens noch einmal mit ihm sprechen. Und viel Zeit bleibt mir dazu nicht mehr. Vermutlich werden die Pioniere dem Fjord hinauf ins Landesinnere folgen. Der Weg entlang der Küste ist zu gefährlich.

Ohne zu zögern laufe ich los. Ich folge dem Fluss abwärts, bis ich die Trinkwasserseen erreiche. Aber anstatt den Weg zur Siedlung einzuschlagen, laufe ich weiter durch den Wald. Durch dichtes Unterholz, morsche Äste und über dorniges Gestrüpp. Dieser Weg ist nicht bequem, aber er führt direkt zum Ufer des Fjords – wo ich prompt über die Karawane der Pioniere stolpere. Die Männer rufen sich muntere Parolen zu, die Stimmung wirkt ausgelassen und fast eine Spur zu optimistisch – so voller Hoffnung auf ein besseres Leben jenseits des Seifenblasentals. In meinen Ohren klingt das ganze Spektakel nur aufgesetzt. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Pioniere finden werden, wonach sie suchen. Sie tragen ihre geschnürten Bündel an improvisierten Riemen auf dem Rücken. Und während ich in jedes einzelne Gesicht blicke, wächst meine innere Unruhe. So werde ich Braam nie finden. Ich beschleunige meine Schritte und wende mich an zwei Frauen, die die Last ihres Bündels gemeinsam tragen.

„Braam? Ich kenne niemanden, der so heißt“, lautet die knappe Antwort der jüngeren. Ihre Freundin, Schwester, oder was auch immer, schaut mich nicht einmal an. Bei dem Gewicht ihres geschnürten Bündels und der Anzahl an Töpfen, die sie mitschleppen, müssen sie wohl jeden Atemzug sparen.

„Warum kommst du nicht mit uns?“, ruft ein Glatzkopf, der ungefähr so alt ist, wie die beiden zusammen. „Die hübschen Mädchen im Tal sind zu schüchtern um mit uns zu kommen. So eine wie dich könnten wir gebrauchen.“ Schallendes Gelächter.

Ich wende mich kommentarlos von ihm ab, da ruft jemand: „Von wegen. Die ist doch zur Hälfte ein Fisch! Was wollt ihr mit so einer?“

Jemand rempelt mich von der Seite an. Ob es Absicht war oder nicht, kann ich nicht beurteilen. Mein Herz pocht vor Anspannung, und ich bin froh, dass keine dieser vorlauten Gestalten genug Zeit hat, um stehen zu bleiben. Ich muss mich auf meine Suche konzentrieren. Die hämische Frauenstimme verblasst jedoch nur langsam aus meinem Gedächtnis. Ich befürchte schon fast, dass Braam sich ganz vorne an der Spitze der Gruppe befindet. Da entdecke ich ihn endlich, zwischen einem alten Karren und einer Familie mit zwei kleinen Kindern. Ich schnappe nach Luft und bahne mir mühsam einen Weg durch die Menge. Erst als ich direkt vor ihm stehe, erkennt Braam, dass ich es bin. Seine Augen werden groß. Und seine Stimme klingt ganz rau.

„Emi! Was machst du hier?“ Er scheint nicht damit gerechnet zu haben, mich noch einmal zu sehen. Wir entfernen uns ein Stück von den anderen. Klapperndes Geschirr und schwere Schritte ziehen an uns vorbei. Wie soll ich es ihm nur sagen?

„Ihr könnt nicht gehen“, stoße ich hervor. „Braam, ich war oben auf dem Berg. Ich habe bis zum Horizont gesehen. Da draußen ist … nichts.“ Flehend sehe ich ihn an. „Nichts. Verstehst du? Nur Wüste. Kein Mensch kann dort draußen überleben.“

Schwerfällig zuckt Braam mit den Schultern. „Hier werden wir auf Dauer auch nicht überleben.“ Ich sehe, dass er keine Lust auf Diskussionen hat. Vermutlich hat er genug davon geführt. „Glaubst du wirklich, Makash hätte sich das nicht gut überlegt?“ Casim Makash, der ehemalige Anführer der APEC II, ist nicht nur für seine unerschütterliche Ruhe und Entschlossenheit bekannt, sondern auch für sein Kalkül. Ich bin mir sicher, dass er niemanden von seinen Leuten ins Ungewisse führen würde, wenn er nicht überzeugt davon wäre, dass es sich lohnt.

„Casim war selbst dort oben, auf dem Plateau. Er hat gesehen, was hinter dem Tal liegt. Genau wie du.“

Da hat Braam sicher recht. Nur leider reicht das noch lange nicht aus, um meine Bedenken zu zerstreuen. „Aber ohne Karten, und ohne Ausrüstung – wie wollt ihr das schaffen?“

„Wir können es uns nicht leisten, solche Fragen zu stellen. Emi, bitte …“ Sein gequälter Blick bricht mir das Herz. Ich versuche, den Knoten in meinem Hals herunterzuschlucken, doch stattdessen wird er immer größer. Auf einmal schäme ich mich. Indem ich seine Entscheidung infrage stelle, mache ich alles nur noch schwerer für ihn. Braam weiß ganz genau, was ihn und die anderen Pioniere erwartet. Und die einzige, die das nicht akzeptieren kann, bin ich. Stumm stehen wir einander gegenüber. Inzwischen haben uns selbst die Nachzügler der Gruppe überholt. Braam wendet sich zum Gehen. Ich kann ihn nicht aufhalten, das weiß ich. Trotzdem hebe ich hoffnungsvoll den Blick, als er noch einmal stehen bleibt. Die Stimmen der anderen entfernen sich immer weiter. Es wird Zeit. Ich gebe mir alle Mühe, um die Tränen zurückzuhalten. Braam legt einen Arm um meine Schulter und ich drücke ihn noch einmal an mich. Es wird keinen Zeitpunkt geben, an dem es sich richtig anfühlt, ihn gehen zu lassen. Wahrscheinlich muss ich das einsehen – und ihn einfach trotzdem gehen lassen.

„Danke“, flüstere ich. „Für alles.“

„Sag das doch nicht so – als ob wir uns nie wiedersehen würden“, erwidert er rau, mit einem schiefen Lächeln im Gesicht, und blinzelt, um den merkwürdigen Glanz aus seinen Augen zu verdrängen.

„Nein, so habe ich das nicht gemeint. Wir werden uns ganz bestimmt wiedersehen.“ Ich warte darauf, dass er noch etwas erwidert, meine Hoffnung bestätigt. Aber das tut er nicht. „Pass auf dich auf“, füge ich deshalb rasch hinzu.

„Du auch.“ Sein Lächeln verschwindet, als er mir den Rücken zuwendet, und ich sehe Braam noch eine Weile nach. Ein Teil von mir wartet darauf, dass er sich noch einmal umdreht. Aber natürlich tut er das nicht. Er ist zu beschäftigt damit, die anderen wieder einzuholen. Irgendwann wende auch ich mich ab und trotte am Waldrand entlang, zurück zur Siedlung. Meine Beine fühlen sich schrecklich schwer an, fast schon taub. Als ich die Hängebrücke über dem Fjord erreiche, drehe ich mich noch einmal um. Doch die Pioniere sind bereits hinter dem gebogenen Waldrand verschwunden.

Ich seufze und lasse meinen Blick am anderen Ufer entlang zurückschweifen. Bis zu den Trümmern der Statue. Gestern hat Zevions Leiche auf diesem Weg den Fjord überquert. Sie haben ihn zurück in die Siedlung gebracht. Mit mehreren gebrochenen Rippen und offenen Wunden. Neyk konnte nicht feststellen, ob die Todesursache nun die durchtrennte Kehle war, oder der Schlag ins Genick, der Zevions Schädel und Teile der Halswirbelsäule zertrümmert hat. Wie auch immer – er ist tot. Und obwohl ich nicht dabei war, sind die Bilder in meiner Vorstellung so klar und eindeutig, als hätte ich alles mit eigenen Augen gesehen: Ich kann nicht aufhören, mir seine weit aufgerissenen blauen Augen vorzustellen. Und das Brandzeichen der Abtrünnigen auf seiner Brust.

Am liebsten würde ich gar nicht weiter darüber nachdenken. Doch ich bin zu fassungslos, zu erschüttert, um meine Gedanken von dieser Sache loszureißen. Vor allem aber stecke ich selbst mittendrin. Und in meinem Kopf ziehen quälende Fragen ihre Kreise. Sie lassen mich nicht los: Was müssen das für Wesen sein – diese Abtrünnigen? Und wie sehr unterscheiden sie sich wirklich von den Khimaara? Die Antworten darauf kann ich im Moment nur erahnen. Und sie machen mir Angst.

Als ich die Kuppel meiner Familie erreiche, atme ich tief durch. Endlich wieder daheim. Selbst das verschafft mir inzwischen kaum noch Erleichterung. Ich beschließe trotzdem, mich kurz hinzulegen. Einfach nur, um zur Ruhe zu kommen. Die Welt dort draußen zu vergessen. Wenigstens für ein paar Stunden …

In unserem Apartment ist es vollkommen ruhig. Um diese Zeit sind meine Eltern selten daheim. Mama wird Beek von der Lerngruppe abholen und vielleicht bringen die beiden sogar etwas zu essen mit. Der Vorratsschrank ist schon wieder leer. Aber ich bin die letzte, die das Recht hat, sich darüber zu beschweren. Immerhin habe ich meine Arbeit in den Ruinen aufgegeben. Und selbst wenn ich das nicht getan hätte, würden Ash und ich uns jetzt einen neuen Job suchen müssen. In die Ruinen traut sich keiner mehr. Ich könnte meiner Mutter auf dem Markt helfen, oder mich freiwillig bei den Wracks auf dem Schiffsfriedhof melden. Die Schwarzplünderer wären auch noch eine Möglichkeit. Aber ich bezweifle, dass meine Eltern das erlauben würden. Ich schließe den Schrank und mache mich auf den Weg in mein Zimmer. Ashek scheint noch nicht zurück zu sein, was ich ausnahmsweise als gutes Zeichen deute – denn wahrscheinlich ist er noch bei den Khimaara. Es würde mich nicht wundern, wenn Baran davon ausgeht, dass ich früher oder später nachgebe und seine Bedingungen erfülle. Aber davon bin ich weiter entfernt, als dieser Mistkerl sich vorstellen kann.

Ich spanne das Segeltuch unter meinem Kuppeldach und lasse mich auf das Bett neben der Tür fallen. Die Sonne sinkt unerträglich langsam und ihr intensiv rotes Licht verstärkt den Druck hinter meiner Stirn. Ich vergrabe mein Gesicht im Kopfkissen und sehe Braam noch immer vor mir. Sind sie deshalb erst so spät aufgebrochen? Haben sie vor, die Wüste bei Nacht zu durchqueren? Auch wenn ich schon lange keine Kraft mehr habe, mich mit dieser Gedankenflut auseinanderzusetzen, lasse ich sie weiter durch mein Gehirn toben. Ich weiß, dass ich sie nicht abschalten kann. Also liege ich einfach nur regungslos da – lasse die Gedanken kommen und gehen, bis sie sich endlich beruhigen.

Vorübergehend muss ich eingeschlafen sein. Denn als ich die Augen öffne, ist es draußen dunkel geworden. Von unten höre ich ein leises Wimmern, dann Schritte. Ich habe keine Ahnung, was los ist. Benommen richte ich mich auf und lausche in die Stille hinein. Auf ein ersticktes Schluchzen antwortet die beruhigende Stimme meines Vaters. Ich verstehe nicht, was er sagt. Also schlüpfe ich aus dem Bett, hinaus auf den Flur. Mein Herz hämmert wie verrückt. Ich bin auf das Schlimmste gefasst, aber nicht auf das, was ich dann höre: „Er wird nun mal erwachsen … den Strand oder Wald zu erkunden.“ Es geht um Beek. Ich weiß es sofort. „Das ist ganz normal in seinem Alter …“

Langsam stolpere ich die Stufen hinab. Als meine Eltern mich bemerken, verstummen sie schlagartig. Aus ihren Augen spricht eine Angst, die meinen Atem stocken lässt. Der Abgrund, der sich in den letzten Tagen unter mir ausgebreitet hat, bekommt eine neue Dimension. Bitte nicht. Alles, nur nicht Beek. Mein kleiner Bruder.

„Was ist mit ihm?“, frage ich panisch. Meine Mutter kann ein weiteres Schluchzen nicht unterdrücken, und mein Vater senkt schweigend den Blick, als er mir einen sauber gefalteten Umschlag in die Hand drückt. Ich erkenne das Papier sofort. Es stammt aus Beeks Ordner, den er immer mit zur Lerngruppe nimmt. Die ordentliche Handschrift darauf bildet allerdings Worte, die ganz sicher nichts mit dem Unterricht in Mathematik oder Biologie zu tun haben. Ohne nachzudenken drehe ich mich um und stürme die Treppe wieder hinauf. Die Tür zu Beeks Zimmer steht einen Spaltbreit offen. Es ist leer. Das Bett ordentlich gemacht. Meine Knie geben nach. Ich lasse mich neben dem Bett auf den Boden sinken und öffne den Umschlag mit aller Behutsamkeit, die ich aufbringen kann. Meine Finger zittern, als ich den Brief auseinanderfalte. Inzwischen stehen auch meine Eltern in der Tür. Die Hände ineinander verschränkt. Mein Herz setzt einen Schlag aus, als ich die Zeilen überfliege. Es ist nicht viel, was da steht. Aber es ist genug.

 

Bitte seid nicht wütend. Ich komme wieder, so wie Noemi damals. Ich weiß genau, dass ihr in der Siedlung gebraucht werdet. Und ich weiß, dass ihr mich nicht hättet gehen lassen, egal wie nutzlos ich hier bin. Deshalb konnte ich euch nichts sagen. Das tut mir leid. Und dass ich die Vorräte mitgenommen habe auch.

Gemeinsam mit den Pionieren werde ich einen Ort finden, an dem wir alle in Frieden leben können. Und dort werden wir uns eines Tages wiedersehen. Hoffentlich bald.

Euer Beek

 

Ich bin fassungslos. Vor meinen Augen verschwimmen die Zeilen. Wie konnte er nur auf so eine dumme Idee kommen? Einfach abzuhauen. Ich überfliege die ersten Zeilen noch einmal. Sie brechen mir beinahe das Herz. Wie Noemi damals, hat er geschrieben. Verdammt noch mal. Ich habe immer versucht, ein Vorbild für meinen kleinen Bruder zu sein. Warum musste er sich den einzigen Fehltritt in meinem Leben zum Vorbild nehmen? Meine Eltern stehen inzwischen auch im Zimmer. Schuldbewusst sehe ich meine Mutter an, als sie mir den Brief aus der Hand nimmt. Paps, der die Zeilen über meine Schulter hinweg gelesen hat, scheint sofort zu wissen, was ich denke.

„Es ist nicht deine Schuld, Noemi“, versichert er mir sofort. Aber das ändert nichts. Beek hat sich auf eine gefährliche Expedition eingelassen, dessen Konsequenzen er unmöglich abschätzen konnte. Genau wie ich es damals getan habe. Natürlich habe ich meinem kleinen Bruder die dunklen Details meines Abenteuers erspart – weil ich ihn damit nicht belasten wollte. Ich habe ihm nicht erzählt, dass mich dieses Himmelfahrtskommando beinahe das Leben gekostet hätte. Beek hat keine Ahnung, worauf er sich da eingelassen hat. Noch immer am ganzen Körper zitternd, verberge ich das Gesicht in den Händen.

„Wenn Makash davon gewusst hat …“, knurrt mein Vater.

„Nein“, murmle ich ohne aufzusehen. „Das kann ich mir nicht vorstellen.“ Beek muss sich der Karawane heimlich angeschlossen haben. Er war schon immer sehr geschickt. Fassungslos schüttle ich den Kopf. Aber was machen wir denn jetzt? Was machen wir nur? Ohne ein weiteres Wort verschwindet Papa im Flur. Ich höre, dass er seine Schuhe anzieht, tausche einen besorgten Blick mit meiner Mutter und wir laufen ihm nach.

„Was hast du vor, Schatz?“

Mein Vater zieht seine Jacke an, nimmt den Rucksack und packt eine Flasche frisches Wasser ein.

„Ich hole unseren Sohn zurück“, erklärt er tonlos. „Was sonst?“

„Ich komme mit“, erkläre ich und will schon in meine Jacke schlüpfen, doch er hält mich zurück.

„Noemi, du bleibst hier. Bei deiner Mutter.“

„Aber da draußen gibt es unwegsames Gelände, wilde Tiere, Unwetter!“, protestiere ich.

„Ganz genau.“ Er besiegelt seinen Entschluss, indem er erst mir und dann Mama einen Kuss auf die Stirn drückt.

„Besonders weit können sie ja nicht gekommen sein. In spätestens zwei Tagen sind wir zurück“, erklärt er. „Bitte nimm solange meinen Posten im Regierungskreis ein, Noemi.“

Ich wage nicht zu widersprechen. Natürlich werde ich tun, was nötig ist. Aber der Zeitpunkt ist mehr als ungünstig. Außer meinem Vater gab es nie jemanden, der Tosca etwas entgegenzusetzen hatte. Und seitdem er mich vor sämtlichen Abgeordneten blamiert hat, bin ich dazu weniger geeignet denn je. Doch ich beiße mir auf die Zunge. „Mach deiner Mutter keine unnötigen Sorgen. Ihr müsst jetzt zusammenhalten.“

Im Flur raschelt die Plane, einen Augenblick später steht Ashek in der Tür. Eine nachdenkliche Falte bildet sich zwischen seinen Brauen, als er uns so dastehen sieht. Doch bevor mein Bruder den Mund aufmachen kann, legt Papa eine Hand auf seine Schulter.

„Du passt auf meine Mädels auf, alles klar?“ Sein Tonfall duldet keine Widerrede. Für Nachfragen bleibt auch keine Zeit mehr. Ash kann gerade noch nicken und zur Seite ausweichen, als unser Vater sich an ihm vorbeischiebt. Dann ist er verschwunden. Draußen raschelt die Plane noch einmal. Dann bleibt es still. Schweigend stehen wir im Flur. Keiner von uns hat die Kraft noch einmal auszusprechen, was passiert ist. Das alles in Worte zu fassen macht es nur noch endgültiger.

Beek hat sich den Pionieren angeschlossen, teile ich meinem Bruder schließlich über unsere Gedankenverbindung mit. „Hast du davon gewusst?“, ergänze ich dann aber doch, weil es sich nicht richtig anfühlt, unsere Mutter von diesem Gespräch auszuschließen.

„Nein, ich hatte keine Ahnung“, murmelt Ash und schüttelt fassungslos den Kopf. „Liegt das bei euch irgendwie in der Familie?“

Wenigstens scheint er nicht zu erwarten, dass ich darüber lache. Mama starrt eine Weile lang regungslos vor sich hin. Dann schlägt sie die Hände vor das Gesicht. Ihre Schultern beginnen unkontrolliert zu beben. Wir bringen sie ins Wohnzimmer und setzten uns auf das kleine, improvisierte Sofa. Es hat den Umzug nicht ohne Salzflecken überstanden, die Federung quietscht und es riecht noch immer ein bisschen nach Meer. Aber es ist weich und vertraut genug, um darauf Zuflucht zu suchen. Für Tage wie diese. Und die schlaflosen Nächte, die folgen.

„Paps wird zurückkommen und Beek mitbringen“, versichere ich meiner Mutter und lege einen Arm um ihre Schultern. Vielleicht sage ich es auch nur, um mich selbst zu beruhigen. Ich tausche einen erschöpften Blick mit Ash.

Geh ruhig ins Bett, sagt er schließlich. Ich bleibe hier.

Obwohl ich mich lieber selbst um meine Mutter kümmern würde, nehme ich sein Angebot dankend an. Meine Angst davor, dass Ash irgendwann auch die anderen Gedanken in meinem Kopf wahrnimmt, ist einfach zu groß. Ich bin froh, dass er hier ist – und will ihm die Geschichte mit Baran nicht auch noch gestehen müssen. Nicht heute Abend. Am liebsten gar nicht, wenn es nicht sein muss. Benommen reibe ich mir die Augen.

„Geh ins Bett, Liebes“, fordert mich nun auch meine Mutter auf. „Es gibt ohnehin nichts, was wir jetzt noch tun können.“ Ausnahmsweise gehorche ich gern. Ich drücke sie kurz und fest.

„In Ordnung. Ihr beiden kommt klar?“, erkundige ich mich noch einmal, bevor ich aufstehe. Mama nickt tapfer und Ash lächelt zuversichtlich. Es ist einer dieser Momente, in denen ich ihm so unendlich dankbar bin. Und gleichzeitig habe ich mich noch nie in meinem Leben so schuldig gefühlt. Aber all das wird warten müssen. Bis zum nächsten Sonnenaufgang, der uns früh genug daran erinnern wird, dass die Zeit rücksichtslos voranschreitet. Und niemals zurück. Niemals.

 

 

#2 – Längst vergangene Zeiten

 

Die kaum wahrnehmbare Dämmerung zeichnet sich in einem zarten Rosa auf dem Segeltuch vor meinem Kuppeldach ab. An Schlaf ist nicht mehr zu denken. So schlecht wie in dieser Nacht habe ich schon lange nicht mehr geträumt, auch wenn ich mich kaum an die wirren Details erinnern kann. Obwohl mir alles wehtut, rapple ich mich auf und löse das Tuch vom Kuppeldach. Am Himmel funkeln noch die Sterne. Sofort denke ich an Papa und frage mich, ob er die Pioniere wohl schon eingeholt hat. Meine Gedanken beginnen zu wandern. Ich sehe Mama noch immer weinend auf dem Sofa sitzen, Ashek neben ihr. Zum Glück war mein Bruder gestern Abend zu abgelenkt, um zu ahnen, dass es noch ein ganz anderes Problem gibt. Ich werde Ash nicht ewig aus dem Weg gehen können – das will ich auch gar nicht. Aber noch viel weniger will ich ihm erklären müssen, warum Baran vorhat, ihn aus der Gemeinschaft der Khimaara zu verstoßen.

Ich werfe mir einen abgetragenen, aber gemütlichen Pullover über und schlüpfe in meine kurze Hose. Dann schleiche ich auf Zehenspitzen hinab in den Flur. Normalerweise würde ich einen Blick in den Vorratsschrank werfen. Aber der ist seit gestern leer. Ich bin froh, dass Beek so frech war, alles mitzunehmen. Hoffentlich reicht sein Proviant, um Papa und ihn auf dem Rückweg zu versorgen.

Ich nehme meine abgetretenen schwarzen Stiefel mit hinaus vor die Tür, wo ich sie in Ruhe anziehen kann. Frische Luft. Genau das brauche ich jetzt. Ich freue mich schon auf eine salzige Meeresbrise, die mich von bedrückenden Gedanken befreit. Eigentlich funktioniert das immer. Doch als ich über die Dünen steige, liegt der Strand vollkommen still da. Nicht einmal das Wasser bewegt sich. Der Wind ist einfach verschwunden. Merkwürdig. Ich war fest davon überzeugt, das Meer und der Wind gehörten zusammen. Auf einmal wirkt der Strand so fremd. Ich vermisse den frischen Duft und die Brise in meinem Haar. Nachdenklich lasse ich meinen Blick über den hellen Sand streifen, bis zu den Klippen, hinter denen die Acheron