image

Zum Buch:

Einmal muss es sein. Das weiß Moi. Aber noch ist es nicht so weit. Im Altersheim besucht sie ihr ehemaliger Pflegesohn Federico und sie nimmt ihn mit auf eine Reise in die Vergangenheit: Moi erzählt von ihrem etwas unheimlichen Start in die Welt, von ihrem entbehrungsreichen Leben auf einem Bergbauernhof, von ihrer Neugier und ihrer Schuld von allem Anfang an, von den Sonnenseiten des Schattendaseins, von Lust und Verlust. Sie vertraut Federico ihre Geheimnisse an, die bisher unter Scham verschlossen waren oder überhaupt vergessen schienen, und sie erfährt endlich, warum Federico damals über Nacht verschwand.

In einer poetisch dichten Sprache und mit viel leisem Humor kommen an Mois Sterbebett Frühling, Sommer, Herbst und Himmel zusammen.

Zur Autorin:

image

Maria Thaler, geboren und aufgewachsen auf einem Bergbauernhof in Ulten. Studium der Erziehungswissenschaften und Psychologie in Innsbruck. Seit 1978 in Bozen wohnhaft, zwei erwachsene Söhne, arbeitet als Psychotherapeutin.

Bei Edition Raetia erschien 2007 ihre Erzählung „Märzschnee“, genau zehn Jahre später erscheint nun ihr erster Roman. Für ihre Kurzgeschichten erhielt sie Preise u.a. beim Ötztaler Literaturwettbewerb.

Maria Thaler:

Moi

Roman

image

Inhalt

Eins

Kapitel 1.1

Kapitel 1.2

Kapitel 1.3

Kapitel 1.4

Kapitel 1.5

Kapitel 1.6

Kapitel 1.7

Zwei

Kapitel 2.1

Kapitel 2.2

Kapitel 2.3

Kapitel 2.4

Kapitel 2.5

Kapitel 2.6

Kapitel 2.7

Drei

Kapitel 3.1

Kapitel 3.2

Kapitel 3.3

Kapitel 3.4

Kapitel 3.5

Kapitel 3.6

Kapitel 3.7

Vier

Kapitel 4.1

Kapitel 4.2

Kapitel 4.3

Kapitel 4.4

Kapitel 4.5

Kapitel 4.6

Kapitel 4.7

Fünf

Kapitel 5.1

Kapitel 5.2

Kapitel 5.3

Kapitel 5.4

Kapitel 5.5

Kapitel 5.6

Kapitel 5.7

Sechs

Kapitel 6.1

Kapitel 6.2

Kapitel 6.3

Kapitel 6.4

Kapitel 6.5

Kapitel 6.6

Kapitel 6.7

Sieben

Kapitel 7.1

Kapitel 7.2

Kapitel 7.3

Kapitel 7.4

Kapitel 7.5

Kapitel 7.6

Kapitel 7.7

Dank

Für meine Schwestern
Im Gedenken an unsere Eltern

Eins zwei drei vier fünf sechs sieben

Wo ist meine Welt geblieben?

Acht neun zehn

Sie war schön

1.1

In dem Augenblick, als der Rabe vor meinem Fenster landete, läutete das Telefon.

Wir fühlten uns gestört, der Rabe und ich.

Nach kurzem Zögern nahm ich den Hörer ab.

Mein Herz hörte einen Moment auf zu schlagen, dann hämmerte es in meinem Hals.

Es war Moi.

Nach fünfzig Jahren erkannte ich ihre Stimme nicht wieder.

Woher hat sie meine Nummer?

Als ich auflegte, waren der Hörer und meine Hände nass.

Solange Moi auf dem Hof war, wusste ich meine Vergangenheit dort in guten Händen. Ich hatte meine Kindheit zurückgelassen und wollte nicht mehr daran erinnert werden. Ich habe ein Leben dazwischengeschoben, das nichts mehr mit meinem Aufwachsen auf dem Bauernhof zu tun haben sollte.

In dem Moment, als Moi anrief, merkte ich, dass der Faden immer mitgelaufen war. Er ist nicht abgebrochen, als ich aus dem Tal aufgebrochen bin. Er ist nicht abgerissen, auch wenn ich ausgerissen bin.

Moi sagte, dass sie ins Dorf ziehe.

Was geschieht mit mir, wenn Moi vom Hof geht?

Wie Äpfel hat sie uns Kinder und unsere Leiden in ihrer großen Schürze gesammelt und zusammengehalten. Wenn sie jetzt geht, falle ich wie der Apfel bis ins Tal und weiter. Sie hat immer gesagt: Bei uns fällt der Apfel sehr weit vom Stamm, wenn er fällt. Ob vom Baum oder aus ihrer Schürze, es gibt kein Aufhalten.

Das kann man doch nicht zulassen, dass man aus ihrer Schürze fällt.

Ich muss zu ihr fahren.

Meinen Nachbarn Karl bat ich, auf meinen Kater zu schauen und auch den Raben zu füttern.

Wollte den Faden wieder aufnehmen, der im Untergrund mit mir durch die halbe Welt gewandert und mit mir in der Großstadt sesshaft geworden war.

Ich fuhr zu Moi.

Als mich die Dame vom Altenheim in Mois Zimmer begleitete, zitterten mir die Knie.

Ich hatte Moi schon am Telefon versprochen, dass ich sie besuchen würde. Sie würde mich aber nicht mehr erkennen. Da lachte sie. Beim Lachen erkannte ich ihre Stimme sofort wieder. Also ist ihr das Lachen nicht vergangen, wie sie ihr immer angedroht haben. Sie war die erste, die ich auf dem Hof habe lachen hören, und sie war lange die einzige der Erwachsenen dort, die gelacht hat.

Ich freute mich wie ein Kind und zitterte wie ein Greis, als ich hinter der Dame ins Zimmer trat.

Monika, Besuch ist da!

Sie drehte sofort den Kopf in der ihr eigenen Schnelligkeit und schaute mich durchdringend an.

Wirklich? Du? Wirklich du?

Meine Augen füllten sich mit Wasser, während in ihren der vertraute Schalk aufblitzte. Dann musterte sie mich von oben bis unten mit ihrem anderen Blick: Wie schaust denn du aus?

In ihren Augen war ich nicht salonfähig. Da hätte ich mir noch so viel Mühe geben können, einen Fehler hätte sie immer gefunden.

Jetzt aber musste sie mich nicht mehr erziehen und sie musste sich nicht mehr für mich schämen. Jetzt schaute sie mich wohlwollend und neugierig an.

Jetzt bist ja fast gleich breit wie hoch! Sind das die Jahresringe?, und schon lachte sie hell auf. Ich musste immer noch an meinen Tränen schlucken.

Mit der Moi, die ich in Erinnerung hatte, hat dieses kleine geschrumpfte Geschöpf nichts mehr gemeinsam. Eine arme Gestalt, wie sie selber sagt. Ihre unbändige und mitreißende Energie hat sich zurückgezogen bis in ihre Augen. Dort ist sie ungebrochen. Sie musterte mich weiter, neugierig und augenzwinkernd: Ist das jetzt modern, Tätowierungen statt Haare?

Und dann erzählte sie.

1.2

Es ist gut, dass du gekommen bist.

Dich lebend wiederzusehen, darum hab ich immer gebetet.

Dass du nun dableibst, das ist ein Segen.

Nicht, dass ich sonst alleine wäre. Ich kann mich nicht beklagen.

Es wird gut auf mich geschaut.

Jeder trägt seinen Teil dazu bei. Jeder auf seine Art. Und es ist viel geworden, was ich brauche. Wenig ist geblieben, was ich selber machen kann.

Aber für das, was nur ich selber machen kann, ist es gut, dass du bleibst und mir zuhörst.

So haben meine vielen Geschichten Zeit, hervorzukommen und sich zu versammeln zu dem, was mein Leben ist und war. Und bald gewesen sein wird.

Bevor man weggehen kann, will alles noch einmal zum Vorschein kommen. Besonders das, was man vergessen wollte. Es drängt hervor und klagt an, als wäre ich jetzt schon vor dem Letzten Gericht.

Deswegen ist es ein großes Glück, dass du neben mir bleibst.

Du hast viel gesehen und erlebt in der weiten Welt und bist doch nicht hart geworden. Ich sehe es in deinen Augen. Ein wohlwollender Blick, der einlädt und aufnimmt wie die starken Arme eines barmherzigen Vaters.

Dir kann ich das erzählen, was gut war, und das weniger Schöne, das noch brennt. Dann wird es vielleicht leichter.

Es geht mit mir zu Ende. Wenn ich dir davon erzählen kann, dann ist es, als ob nicht alles zu Ende ginge, es geht dann nicht ganz verloren.

Das Ende dann noch mit dem Anfang zu verbinden, das wäre schön. Weil es vielleicht doch wichtig ist, wie der Anfang war. Kein Baum beginnt in der Mitte zu wachsen. Jedes Gewebe beginnt mit einem Faden, an dem entlang es weiterwächst.

Wenn ich nun meine Fäden mit deinen zusammenbringe, das muss doch einen dicken farbigen Zopf abgeben. Mit dem ich mich dann hinüberschwingen kann. Und später auch du.

Ein bunter Zopf.

Du kamst in einem großen Spital zur Welt, ich in einer winzigen Kammer. Deine Wiege stand nie neben deiner Mutter. Aber sicher hat sie dir ihren Segen mitgegeben. Und einen schönen Namen. Das ist wenig, ich weiß. Aber du bist doch stark geworden und lebst noch. Das ist viel.

Du kamst als Federico auf den Hof. Als ich dorthin kam, warst du nur mehr der dumme Fritz. Was zwischen damals und heute war, davon wirst du mir noch erzählen.

Jetzt jedenfalls bist du wieder Federico und es ist ein großes Glück, dass du da bist.

Jetzt darf ich dir erzählen von meinem Anfang und dem, was daraus geworden ist.

Kann sein, dass es länger dauert.

Deswegen ist es gut, dass du Zeit hast.

Bei mir ist Zeit jetzt das einzige, was ich in Fülle habe.

Ich hätte ein Peter werden sollen.

Ich wurde aber die Moi.

Man weiß nicht, warum Vater auf dem Weg zur Gemeinde einen Strich durch den Namen machte, den er auf einem Stanitzel geschrieben im Hosensack trug. Mit seinem roten stumpfen Tischlerbleistift zog er einen dicken Strich zwischen das O und das N und setzte einen Punkt darauf. Als er in der Gemeinde gefragt wurde: Monika?, zeigte er nur auf den Zettel: So wie es da steht. Man widersprach Vater nicht.

Auf dem Papier bin ich bis heute die Moinika.

Nur während der italienischen Schuljahre musste ich Monica schreiben.

Genannt hat man mich immer Moi.

Die einzige Moi landauf, landab.

Lange hat es mich gewundert, was hinter Vaters Strich in meinem Namen steht. Aber man stellte keine Fragen an Vater. Vielleicht hätte er es selber nicht gewusst.

Einmal hatten wir Gäste auf dem Hof, die sagten, dass moi bei ihnen schön heißt. Und gut. Ich glaube nicht, dass Vater das gewusst hat. Doch seitdem gefiel mir mein Name besser.

Aber meine Geschichte beginnt schon vor dem Namen.

An dem Frühsommertag, als Mutter im Garten die Gelbrüben säte, rann es ihr plötzlich warm an den Beinen hinunter. Sie lief ins Haus und schickte unsere älteste Schwester Maria um die Hebamme. Maria ist sicher gerannt, sie kannte den Weg gut. Mena, so hieß die Hebamme, ist wohl sofort aufgebrochen. Viel früher als erwartet stand sie mit ihrem Köfferchen in der Tür, verschwitzt und schnaufend.

Aber bei Mutter bewegte sich nichts mehr. Den ganzen Tag passte man her, bereitete Tücher und warmes Wasser vor und kochte einen Topf voll Suppe mit der alten Henne, die die Nachbarolga gebracht hatte. Alle waren aufgeregt. Niemand wollte schlafen gehen, aber es ging noch die Nacht vorbei. Erst am Vormittag schlüpfte ich. Ich schrie schon, bevor man mich richtig sah. Ich schrie, während mich die Hebamme abwusch und wickelte. Ich hörte erst auf, als man mich an Mutters Brust legte. Ich saugte so gierig, wie noch keines ihrer vier Kinder getrunken hatte.

So hat man es mir erzählt.

Danach legte mich die Hebamme in die winzige Wiege, die Vater schon für das erste Kind gezimmert hatte. Das aber war nie darin gelegen. Es starb während der Geburt. Die Wiege kam ins Unterdach bis zum nächsten Kind. Auch für mich wurde sie wieder heruntergeholt, gespült und mit den frisch gewaschenen alten Tüchern neu eingebettet.

Als die Hebamme auch bei der Mutter alles getan hatte, was zu tun war, ging sie heim.

Da begann ich wieder zu schreien. Mutter nahm mich aus der Wiege und stillte mich noch einmal. Ungern. So ein gieriges Kind. Dann legte sie mich wieder zurück. Erleichtert und erschöpft von der ewig langen Geburt legte Mutter sich nun auch ins Bett und schlief auf der Stelle ein.

So erzählte es Mutter oft.

Aber was dann geschah, daran erinnere ich mich selber und ganz genau. Auch wenn mir das nie jemand glauben wird.

Mutter war also eingeschlafen. Vater war mit den älteren Geschwistern zur Messe gegangen. Die zwei kleineren hatte er bis zur Nachbarolga mitgenommen, er würde sie nach der Messe wieder dort abholen.

Mutter und ich waren allein im Haus.

Dann geschah es.

Ich glaube, dass es bis heute niemand weiß. Mutter hat es sicher niemandem erzählt. Ich bin mir sicher, dass sie sich geschämt hätte. Und ich habe es niemandem erzählt, weil es mir niemand geglaubt hätte.

Du bist der Erste, dem ich das erzähle. Vielleicht morgen.

Ich weiß, dass du am ehesten etwas damit anfangen kannst. So ist es nicht ganz verloren, wenn ich gehe.

Dann wird das Weggehen vielleicht auch leichter.

Denn man muss weggehen können.

1.3

Hast du die dicke kleine Frau gesehen, die immer im Wintergarten sitzt? Neben dem Eingang. Sie ist ein paar Monate nach mir hierhergekommen. Sie grüßte niemanden. Sie wurde an unseren Tisch gesetzt, aber sie wollte nicht bei uns bleiben. Eine Woche lang dauerte es, bis sie an einem Tisch sitzen blieb. Sie kommt sich zu gut vor fürs Heim. Ich kann sie verstehen. Aber man darf doch nicht so garstig sein. Sie macht immer ein Gesicht wie tausend Regenwetter. Aber sie hat immer schöne farbige Kleider an.

Das gefällt mir.

Schöne farbige Stoffe haben mir immer gefallen. Wenn der Krämer kam, zu uns heim oder später auf den Hof, konnte ich es kaum erwarten, bis er die Stoffe auspackte. Aber sie waren alle so kleingemustert. Man kannte keine anderen Stoffe, es waren weiche Hemden- und Schürzenstoffe oder schwere Trachtenstoffe, alle kleingemustert. Oder die grob gewirkten einfarbigen Hosenstoffe. Seit ich Stoffe gesehen habe mit großen Blumen und bunten Mustern, seitdem kann ich diese kleingemusterten nicht mehr sehen. Je farbiger und größer die Muster, desto besser gefallen sie mir. Es war wie im Märchen, als ich das erste Mal in ein Stoffgeschäft kam. Wände voller Stoffballen, ich ließ mir viele davon zeigen. Einer schöner als der andere. Einmal hab ich einen Stoff gekauft und für die Mädchen und mich Schürzen daraus gemacht. Lina, unsere jüngste Tochter, war noch so klein, dass nicht einmal eine ganze Blüte auf ihrer Schürze Platz hatte, so groß waren die Rosen auf dem Stoff.

Heut Nacht wollte ich mir eine Bluse kaufen. Ich ging in ein bekanntes Geschäft. Ich suchte lang allein und probierte einige. Da kam ein Verkäufer, ein sehr eleganter Herr. Er ließ mich eine weiße Bluse anprobieren. Ich sagte: Weiß steht mir nicht. Der vornehme Herr sagte: Doch, ich solle sie probieren. Sie war mir zu eng. Nein, die passt. Dann sagte er, ich solle mit ihm kommen. Ich dachte, er bringe mich zum Spiegel, damit ich sehen könne, dass mir die Bluse nicht zu eng war und dass sie mir stand. Er aber führte mich in einen Stadelturm. Er legte sich aufs Heu und schaute zum Dach hinauf. Er tat es ohne Worte, aber es war klar, dass ich das auch tun sollte. Ich legte mich also neben ihn und schaute nach oben. Im Dach war eine runde Öffnung, durch die man den Nachthimmel sah. Es war wie ein Wasserspiel, nur Sterne statt Wasser. Es war wunderschön. Noch nie hatte ich so etwas Schönes gesehen. Nicht einmal die Feuerwerke vom letzten Silvester, ich hatte mich extra von der Schwester wecken lassen, um sie ja nicht zu versäumen. Sie waren dann auch wunderschön, nie hatte ich sie so nahe gesehen. Aber die Himmelsternenspiele von heut Nacht waren noch schöner. Ich war dem Verkäufer dankbar, dass er mir das gezeigt hat. Dann stand er auf, ohne Worte, und ging wieder in den Geschäftsraum zurück. Es war inzwischen längst finster und ich staunte, dass das Geschäft auch nachts geöffnet hatte. Ich hatte immer noch die weiße Bluse an und mich immer noch nicht damit im Spiegel gesehen. Aber sie engte mich nicht mehr ein. Auf dem Hintergrund des Sternenwunders war die Bluse nicht mehr zu eng und ich war schön damit. Ich würde sie also kaufen.

Inzwischen gingen die Geschäftsangestellten zu einer Versammlung und ich ging heim, ich hatte meine Leutchen zum Essen eingeladen und musste noch viel vorbereiten. Auf dem Hinweg traf ich einen Mann. Ihm wollte ich zeigen, wo ich wohne. Da kam eine Unsicherheit in mir auf: Wer ist der Mann, dem ich mein Daheim zeige? Ein Zweifel: Müsste ich nicht zuerst meinen Mann Lenz fragen, bevor ich einen anderen Mann mitheimnehme? Da kamen noch andere Männer dazu, alle gingen mit in Richtung Fest, das ich noch vorbereiten musste. Auch mich selber musste ich noch herrichten, ich hatte eine Schürze über meiner weißen Bluse an, die ich immer noch nicht gekauft hatte. Sie fühlte sich jetzt fein an und erinnerte mich an die Himmelsspiele. Da war es nicht mehr ganz so wichtig, dass ich noch nichts für das Fest vorbereitet hatte. Man würde mir helfen. Wir kamen zum Stadeltor. Ich sah, dass aus dem Holz des Tores ein Himmelschlüssel und zwei Vergissmeinnicht herauswuchsen und eine Stimme sagte: Die Welt ist ein Wunder.

Die Stimme beruhigte mich.

Aber beruhigt ist nicht ruhig. Das merkte ich, als ich lange vor dem ersten Hahnenschrei aufwachte. Ja, es gibt wirklich zwei Hähne hinterm Heim! Aber krähen darf nur einer. Als ich noch gehen konnte, bin ich oft zum Hennenstall spaziert, so schöne Hennen in allen Farben und Größen und mit verschiedensten Federn. Ich hab ihnen gern zugeschaut, wie sie herumstolzierten. Es hat lange gedauert, bis ich auch den zweiten Hahn entdeckt habe, er hatte eben nichts zu melden und hat sich immer versteckt. Wahrscheinlich aus Scham. Er hat mir leidgetan.

1.4

Zurück zum Anfang.

Kaum hatte Mutter mich in die Wiege zurückgelegt, war sie, wie gesagt, eingeschlafen. Und kaum war sie eingeschlafen, hörte ich ein Läuten und Klingen und Schellen. Hell und heiter. Zuerst weit weg, leise und schön. Dann immer näher und lauter. Zuerst vertraut, dann unerträglich schön. Dann schrill. Für meine Ohren schrecklich.

In dem Augenblick kam ein Lichtstrahl durch das einzige Guckloch der Kammer, schräg über meine Wiege. Langsam erhob sich ein Köpfchen nach dem anderen und beugte sich über mich. Hinter den Köpfchen rauschten Flügel aus der Dunkelheit auf, zu hell für meine jungen Augen. Ich musste blinzeln. Die Augen konnten sich schließen. Die Ohren nicht. Keine Mutter weit und breit. Mein Mund ganz stumm. Die Stimmen schrill. Die Augen öffneten sich wieder. Die Köpfchen noch näher und ein Geheddere und Gegreife, Gekreische und Geschlurfe. Nun ein Zurren und Zerren an mir, als würde ich auseinandergerissen. Ein dunkler Fleck zwischen all dem Hellen, Grellen. Eine Wohltat für meine Augen, der dunkle Fleck. Ich ruhte mich darauf aus und nickte weg. Erwachte wieder von dem Geschirre und Geschwirre über mir und hinter mir und in mich hinein. Kein Schutz und Schirm, der dunkle Fleck noch näher, schwarz jetzt, schwarz in meinen Augen. Warm, wohlig warm. Dann kalt, kälter, eisig. Dann ein Kuss. Mein Mund befreit, ein Schrei von ganz unten, von tief drinnen. Er ging direkt von meinem Hals in Mutters Ohr über und riss sie aus ihrem Ohnmachtsschlaf: Das Kind! Das Kind ist blau!

Sie riss mich an sich und steckte mich in ihr Bett, unter ihr Nachthemd, zwischen ihre Brüste. Bitte, bitte, all ihr heiligen Nothelfer! Bitte, ich werd euch heiligen und ehren mit all meinen Kräften, mein ganzes Leben, besonders am Sonntag, bitte, lasst mir das Kind hier! Heilige Mutter Anna, Beschützerin aller Gebärenden, steh uns bei! Heilige Monika hilf!

Der Atem kam wieder. Zögernd. Langsam.

Tagelang kein gieriges Saugen mehr, Ohnmachtsschlaf jetzt bei mir, und Mutter immer wach. Die Hebamme musste oft kommen, bis unsere Mahlzeiten uns nicht mehr zermürbten und zerwühlten. Die Milch oft gesalzen mit Mutters Tränen.

Es dauerte dann noch sehr lange, bis ich gern gegessen habe. Jahre. Meine Geschwister waren froh, dass ich nie ums Mus raufte. Ich hatte lieber nur gesalzene Milch. Mutters misstrauisch ängstlicher Blick während der Mahlzeiten blieb. Ab und zu steckte sie mir heimlich ein Süßchen zu. Manchmal erschien dann der dunkle Fleck, ein schwarzer Schelm. Er nahm mir das Süßchen aus der Hand und zeigte es meinen Geschwistern. Meine Brüder fielen dann über mich her und meine Schwestern rannten zu Mutter und es gab wieder ein Geheddere und Gekreische, bis irgendwann Vater erschien und ein Machtwort sprach. Oder die Rute holte. Er konnte das Gestreite nicht ausstehen. Schuld war immer ich. Anfangs habe ich mich damit getröstet, dass die Rute irgendwann aufgebraucht sein würde. Aber der Nikolaus hat jedes Jahr eine neue gebracht. Der Nikolaus gehörte nicht zu den heiligen Nothelfern. Aber vielleicht, wahrscheinlich, zu Vaters Nothelfern. Die Rute hat immer mich getroffen, nicht den Schelm. Vater konnte den ja nicht sehen. Er konnte ihn auch nicht hören, wie er gelacht hat darüber, dass er ihn wieder nicht getroffen hat. Ich aber sah ganz genau sein schadenfrohes Grinsen. Noch jetzt seh ich es vor mir und höre den Satz: Mich kriegst du nie! Und so ist er geblieben. Zwar war er nicht immer laut und lästig, manchmal meldete er sich lange Zeit nicht, so lange, bis ich ihn vergessen hatte. Dann tauchte er wie neugeboren wieder auf und tanzte vor mir her. Manchmal war er auch schwächer als ich, da konnte ich ihm alle Schuld aufladen. Das waren die feinen Zeiten. Da war der gute Geist auf meiner Seite.

1.5

Bei uns daheim war alles winzig.

Nur die Armut und das Eingangstor waren groß.

Durch das Eingangstor kugelte fast jeder herein außer Kaiser und Papst.

Anderes kam durch Ritzen, Fugen, Löcher, Sprünge, durch den Boden, über die Erde, durch die Luft, vom Wald her, vom Bach herauf, von der anderen Talseite her.

Wir waren unterhalb der Straße und am Taleingang.

Es kamen Hausierer, Kriegsheimkehrer, Kriegsgefangene, Kesselflicker, Krämer, Flüchtlinge, Bettler, Pater.

Was irgendwo im Tal unterwegs war, tauchte irgendwann bei uns auf.

Wir merkten die Spuren von Bären, Wölfen, Gämsen, Hirschen.

Uns begegneten Füchse, Dachse, Marder, Siebenschläfer.

Wir sahen Vipern, Nattern, Ottern, Spinnen, Skorpione.

Über uns flogen Adler, Geier, Flugzeuge, Engel und Luftballone hinweg.

Es war winzig bei uns daheim, aber es gab Öffnungen in alle Richtungen.

Hinaus und hinein.

Man weiß nicht, wer oder was von dem allen sich an meine Wiege schlich, als Mutter eingeschlafen war.

Das Dunkle, das über mein Gesicht kroch oder strich oder schlich oder flog.

Das Kalte, das über meine Haut hauchte oder blies oder fegte oder kratzte.

Das Eisige, das nach mir griff und in mein frisches weiches weißes Fleischchen stach.

Es griff nach meinem Herzen.

Es hat mich seitdem im Griff.

Mein Herz stand schon still, als Mutter erwachte.

Damals haben sich Schutzengel und Tod mein Leben brüderlich und schwesterlich geteilt.

Tod und Teufel haben sich zusammengetan. Der Schutzengel hat sich mit den Nothelfern und anderen Schutzpatronen verbündet.

Sie haben mein ganzes Leben aus dem Hintergrund mitbestimmt, waren dabei bei meinen Entscheidungen, Freuden, Leiden. Von oben. Von unten. Von innen. Einmal die einen, dann die anderen.

Es gab die hellen Zeiten. Die Zeiten, in denen der gute Geist auf meiner Seite war. Sie schienen mir immer zu kurz.

Ich blieb schreckhaft.

Dann wieder vergaß ich die Vorsicht.

Als ich das erste Mal mit meiner zweitältesten Schwester Theresia in die Kirche ging, durfte ich neben sie in die Kinderbank. Ich zuerst, direkt neben die Mauer. Sie daneben.

Ich sah mir die Gemälde über dem Altar an. Die Figuren auf dem Seitenaltar. Den Pfarrer, die Ministranten. Die Engel mit sechs Flügeln auf der Wand daneben. Die Bilder am Oberboden. Da stupste mich meine Schwester. Man schaut nicht so auffällig nach oben während der Messe. Ich schaute wieder nach vorne. Dann links neben mir auf die Mauer.

ES.

Ich sah direkt in die Augen des Höllenhundes. Er streckte die Zunge nach mir aus, ich spürte schon die Krallen in meiner Haut.

Rauschen. Dunkel. Kälte. Schweiß.

Ich wachte auf in einem duftenden Bett im Widum nebenan. Ob mich meine Schwester aus dem Höllenschlund gerettet hat oder die Häuserin, die mir wunderbaren Tee einschenkte, weiß ich nicht. Das war nicht wichtig. Hier und heute würde es mich schon mehr interessieren.

Jedenfalls war ich wieder auf der Hut. Blieb schreckhaft.

Aber ES war auch spannend. Lustig. Listig. Giftig.

ES führte mich in Versuchung.

Der schwarze Schelm, seine Süßchen.

Aber als ich ins Altersheim kam, da war ES plötzlich überhaupt nicht mehr lustig.

ES überfiel mich, genauso wie an meinem Lebensanfang.

ES schleuderte mich wieder in Höllenschlünde, in unbeschreibliche Schrecken. Ich war nie auf einem Gletscher, aber es war, als fiele ich in eine bodenlose Gletscherspalte. Finster, immer finsterer, eng und zerdrückend.

Ich lag auf Motorradrennbahnen und unter fahrenden Zügen, ich landete in Waschmaschinentrommeln, zwischen Löwenzähnen und in Bärenbäuchen.

Mein Herz stand schon still, als mich die Ärzte endlich untersuchten.

Da wurde mein Herzmedikament abgesetzt.

Seitdem ist ES nicht mehr aufgetaucht.

Ich lebe wieder und der Tod hat jetzt einen friedlicheren Ton angeschlagen.

Jetzt ist er nicht mehr so teuflisch und gewalttätig.

Ich kann mit ihm reden.

Nein, geantwortet hat er noch nicht.

1.6

Am Telefon wollte ich dir nicht gern sagen, dass ich ins Altersheim gehe. Ich fürchtete, dass dich das abschrecken könnte. Du warst nie gut zu sprechen auf Heime.

Ich hätte früher auch nicht geglaubt, dass es eine Zeit gibt, in der man froh ist, dass man ins Altersheim kann.

Ins Altersheim? Nie und nimmer! Wir zwei nie! Da geht man nur hin, um zu sterben. Meine Freundin Tilda, meine älteste Freundin, die schwerhörig ist und der man immer alles dreimal schreien muss, bis sie versteht, hat sofort protestiert, als man mir mitgeteilt hat, dass ein Platz frei geworden sei.

Tilda ist nicht ins Altersheim gekommen und ist trotzdem gestorben. Neben dem Zebrastreifen wurde sie angefahren, ins Krankenhaus eingeliefert und drei Tage darauf war sie tot. Ich konnte sie nicht mehr besuchen. Sie mich auch nicht mehr. Ich bin froh, dass ich noch Krapfen gebacken habe zu unserer siebzigjährigen Freundschaft.

Wir sind zusammen in die Schule gegangen. Danach haben wir uns länger nicht gesehen. Sie ging nach Rom in den Dienst, von dort kam sie mit einem Kind zurück. Sie hat dann hier geheiratet und noch zwei Töchter bekommen. Da haben wir uns auch noch nicht oft gesehen. Aber seit ihr Mann gestorben ist und die Kinder weggeheiratet haben, ist sie mich öfters besuchen gekommen, und seit ich allein bin, ist sie auch oft länger geblieben. Ich hab mich immer gefreut, wenn sie gekommen ist, und bin auch wieder froh gewesen, wenn sie gegangen ist. Man kann dann tun und lassen, was man will. Ich hab sie oft bei ihr daheim besucht, sie hatte eine schöne Wohnung, aber so vollgestopft mit Sachen, die sie beim Chinesen gekauft hat oder vom Katalog bestellt, schöne Vasen und Deckchen und Töpfe und Tücher. Sie hatte dann oft kein Geld mehr für den Strom. Ich kaufe auch gern schöne Sachen, aber ich hab immer zuerst die Schulden bezahlt. Eine von ihren Töchtern hat die Stromrechnung dann beglichen und mit Tilda geschimpft und eine Weile nicht mehr mit ihr geredet. Das ist öfters passiert. Tilda ist dann zu mir gefahren und nach einigen Tagen oder vielen hat sie die Tochter dann wieder geholt und heimgebracht. Ich hätte nicht sein können mit so einem Streit. Wenn es mir einmal nicht gelungen ist, einen Streit vor dem Schlafengehen zu beseitigen, bin ich in der Nacht mehr auf dem Klo gesessen als im Bett gelegen. Dann habe ich gebetet und am nächsten Morgen die Person, mit der es die Unstimmigkeit gegeben hat, aufgesucht. Mit mir hat Tilda nie gestritten, es gab nie ein unrechtes Wort zwischen uns. Aber ich musste ja nicht mit ihr leben.