Twins


 

 

 

 

 

 

 


Digitale Originalausgabe

 

 

Impressum


Ein Imprint der Arena Verlag GmbH

Digitale Originalausgabe
© Arena Verlag GmbH, Würzburg 2017
Covergestaltung: Alexander Kopainski
Alle Rechte vorbehalten
E-Book-Herstellung: Arena Verlag 2017

ISBN: 978-3-401-84017-8

www.arena-verlag.de
www.arena-digitales.de

Folge uns!
www.facebook.com/digitalesarena
www.instagram.com/arena_digitales
www.twitter.com/arenaverlag
www.pinterest.com/arenaverlag

Erster Teil

Die Lücken,
die gerissen wurden
füllt er mit seiner eigenen Version
der Geschichte.

Kapitel 1

Rotgolden flutete das Sonnenlicht über den See – ein kraftvoller Gruß am Ende eines langen Frühsommerabends. Der laue Wind wirbelte die stickige Hitze des Tages auf, verschaffte ihnen Luft zum Atmen. Wellen rollten über die weite Wasserfläche, schlugen Purzelbäume über die sacht ansteigenden Ufer. Der dunkle Sand in der kleinen Bucht hatte die Sonnenwärme in sich aufgesogen. Nell grub ihre Zehen hinein, fand auf diese Weise Halt.

Der Weg hierher war nicht leicht gewesen. Sie war davor zurückgeschreckt, die Nachricht zu überbringen. Doch seit ihrer Ankunft im Lager der Jäger vor gut einem Monat war ihre Ruhelosigkeit stetig gewachsen und ihr war klar gewesen, dass der Gang nicht leichter wurde, indem sie ihn aufschob. Jetzt saßen sie am Großen See unweit der Stätte der Handwerker. Die Bucht hatten sie nur durch einen sumpfigen Birkenwald erreichen können. Die Hütten der Dorfbewohner lagen im samtigen Licht der Abendsonne zu ihrer Linken. Fast schlimmer, als die Botschaft von Luks Tod zu überbringen, war es gewesen, einzugestehen, dass sie nicht wusste, was aus Tobin geworden war. An dem Tag, als die Kundgebung in der Systemstadt Varsavinis von Soldaten gestürmt worden war, hatte es Tote unter den als Sicherheitskräften verkleideten Aufständischen gegeben. Ein paar hatten sich zurück ins Archiv retten können, manche waren verhaftet worden. Tobin schien sich unter keiner der drei Gruppen befunden zu haben.

Die Fragen von Luks älterer Schwester, der Clanführerin im Handwerkerdorf, hatte Nell beantworten können - wenn auch anders als gehofft. Wie gerne hätte sie positivere Nachrichten überbracht. Tobins Mutter hingegen, die auch Aidans Tante war und seit ihrer Heirat im Dorf der Handwerker lebte, hatte sie im Ungewissen lassen müssen.

»Aidan ist noch im System«, hörte sie das Echo ihrer eigenen Worte. »Ihr könnt euch sicher sein, dass er alles tut, um euch zu retten.«

Schmerz und Angst hatten in den Gesichtern der Handwerker gestanden. Von beidem hatte Nell zu viel erleben müssen in den letzten Monaten. Ihr Kopf summte von dem Wunsch zu vergessen.

Tief atmete sie ein. Das Wasser roch nach dem Sumpf, in den der See überging. Sie tastete nach Jake, der sie begleitet hatte und nun neben ihr saß. Seine Finger schlossen sich um ihre.

Sie hatte Luk versprochen, für ihn in dieser Bucht zu sitzen, ehe er in ihren Armen gestorben war. Dieses Versprechen hatte sie einlösen müssen. Auch wenn alles in ihr sich wund anfühlte von den Dingen, die sie gesehen hatte, die sie getan hatte, die sie nicht hatte verhindern können.

Sie gab sich Mühe, die lichtdurchflutete Stille über dem See und im Dorf mit Luks Augen zu sehen, etwas Vertrautes im Anblick der Dorfgemeinschaft am Ende des Tages zu finden – so, wie es für Luk ein vertrauter Anblick gewesen war. Sie wusste, dass Luk tot war und es ihm nichts mehr bedeutete. Doch ihr war längst klar geworden, wie wichtig dieser Besuch für sie selbst war. Mit seinem letzten Wunsch hatte Luk ihr die Möglichkeit gegeben, ihm Respekt zu zollen, sich an ihn zu erinnern – an seine geduldige, verständnisvolle Art, die Verbundenheit mit seinem Zuhause, das er immer bei sich getragen hatte.

Ein Seufzen entwich ihr. Jakes Daumen strich sacht über ihren Handrücken. Sie hielt ihren Blick weiter auf das Dorf gerichtet, wo sich die Bewohner entlang der drei ins Wasser reichenden Stege versammelten.

Im Westen sackte die Sonne hinter den Horizont, warf ihre letzten Strahlen in den Himmel, ließ ihn lilafarben aufleuchten. Das letzte Gold reflektierte sich im Wasser. Luks Schwester stand in einem schlichten weißen Leinenkleid, das ihr bis zu den Füßen fiel, ganz vorne auf dem mittleren Pier. Ihre dunkelbraunen Haare lagen ihr lose auf den Schultern. Sie warf Blumen ins Wasser, die auf den schwappenden Wellen tanzten.

Im Lager der Jäger wurden die Toten auf einem Felsen hoch über dem Dorf verbrannt. Die Bewohner erwiesen den Verstorbenen die Ehre, indem sie warteten, bis der Wind die Asche über das Land verteilt hatte. Bei den Jägern glaubte man, die Verstorbenen würden von den Tiergeistern erwartet, die ihnen im Leben Kraft geschenkt hatten.

Im Lager der Handwerker schien es andere Rituale zu geben. Luks Schwester stimmte nun eine sanfte Melodie an, in die nach und nach andere einfielen – ein Lied ohne Worte; stattdessen ruhige, langgezogene Töne, die langsam von einem in den nächsten glitten.

»Zuerst singen die engsten Verwandten«, erklärte Jake – seine Stimme leise, ein wenig rau. »Nach und nach stimmen andere mit ein, bis das ganze Dorf das Lied singt.«

Die Melodie schwoll an, stieg über dem See auf, drückte Nell auf den Brustkorb. Der Moment, in dem das Leben aus Luks Augen gewichen war, kam ihr so deutlich in Erinnerung, dass ein Beben ihren Körper durchlief. Auch in den letzten Monaten noch hatte sie solche Erinnerungen stets unterdrückt, bevor sie den Schmerz in ihr hatten wachrufen können. Jetzt ließ sie alles zu, tauchte sogar ganz bewusst noch tiefer. Trotzdem kamen keine Tränen.

»Warst du schon einmal auf einer Bestattung bei den Handwerkern?«, wollte sie stattdessen von Jake wissen.

»Ich war zwölf oder dreizehn Jahre alt«, antwortete er. »Keldon ist mit Aidan und mir hergekommen, nachdem Tobins Schwester am Fieber gestorben war.« Er legte den Arm um ihre Taille, zog sie dichter zu sich heran. Sie lehnte den Kopf an seine Schulter. Aidan, Jake, Tobin und Luk – so viel hatte sich geändert. Als Nell ins Getto gekommen war, hatten sie wie eine unzertrennbare Einheit gewirkt. Jetzt war davon nichts mehr übrig.

»Die Handwerker bestatten ihre Toten normalerweise in den Wäldern, aus denen sie das Holz für ihre Arbeit holen«, erklärte er. »Aber Luk ist nicht hier. Sie können ihn nicht bestatten. Sie lassen die Blumen schwimmen, weil er den See so geliebt hat. Und das Lied, das sie sonst während der Bestattung singen, wird ihn auch so erreichen. Daran glauben sie.« Sein Arm drückte schwer auf ihren Brustkorb. Sie ertrug den Schmerz – vielleicht vor allem aus Trotz. Es wäre leicht gewesen, sich abzulenken, ihre Erinnerungen zu überlagern. Seit sie wusste, wie das System sie manipuliert hatte, damit sie bereitwillig auf ihre Erinnerungen und Gefühle verzichtete, ließ sie jedoch jede einzelne Empfindung in sich aufblühen, erkundete sie in allen Nuancen.

»Lass uns morgen früh aufbrechen«, bat sie Jake, als die Handwerker sich nach und nach wieder von den Stegen zurückzogen.

Er nickte sofort, wirkte fast erleichtert. Lass uns früh aufbrechen und nie irgendwo ankommen, dachte sie, als sie seine Rastlosigkeit, für die er immer einen Ruf gehabt hatte, ganz plötzlich verstand. Am liebsten würde sie einfach in den Wäldern zwischen der Stätte der Handwerker und dem Lager der Jäger verloren gehen. Denn ihre Rückkehr ins Getto hatte vor allem eines bewiesen: Wenn es im System keinen Platz für sie gab, gab es ihn im Getto noch weniger.

 

Langsam ließ der Schlaf sie los. Noch versuchte sie, ihn zu halten, aber er zog sich unaufhaltsam zurück. Sie lag auf dem Bauch – eine dicke Pferdedecke zwischen sich und den Holzbohlen der Schutzhütte, in der sie übernachtet hatten. Die Hütte war einfach – nicht mehr als zwei Wände, die ein spitzes Dreieck über ihren Köpfen bildeten, und ein einfacher Holzboden, der gerade lang genug war, um sich darauf auszustrecken. Zur einen Seite gab es eine Rückwand, nach vorne hin war sie offen. Ihre Pferde schnaubten ganz in der Nähe. Als Nell blinzelnd die Augen öffnete, sah sie als erstes Ragans gespitzte Ohren. In alter Gewohnheit lag der Hund vor der Hütte und beobachtete die beiden Pferde, die auf der nahen Lichtung grasten. Sonnenlicht filterte durch die dicht belaubten Baumkronen, ließ das Grün der Blätter leuchten. Nell lächelte, während sie sich genüsslich räkelte. Sie hatten mit dem Kopf in Richtung der Öffnung geschlafen. Seit ihrer Zeit im Archiv konnten sie beide nicht genug von frischer Luft bekommen, in geschlossenen Räumen fühlte sich Nell schnell eingesperrt.

Jake hatte das Leibchen, das sie zum Schlafen anbehalten hatte, noch höher geschoben und verteilte Küsse entlang ihrer Wirbelsäule. Als er spürte, dass sie wach war, streckte er sich mit einem schelmischen Grinsen neben ihr aus, küsste ihre Stirn und fuhr mit der Hand durch ihre dichten, schwarzen Haare. »Das tun zu können, kommt mir manchmal noch wie ein Traum vor.«

»Jake«, protestierte sie scherzhaft, indem sie ihr Gesicht in der Armbeuge vergrub. »Ich wünschte, es wäre ein Traum, denn das hieße, dass ich noch schlafe.«

Mit einem Lachen rollte er sich auf den Rücken und zog sie auf sich. »Was bist du so eine Schlafmütze? Die Sonne ist längst aufgegangen.«

»Wir haben doch Zeit, oder?« Sie schlang ihre Arme um ihn, spürte seinen schlanken muskulösen Körper unter sich, seinen Herzschlag an ihrer Wange.

»Wolltest du nicht nach Hause?«, erkundigte er sich.

»Ich habe es nicht eilig«, murmelte sie.

Er entspannte sich unter ihr. Die Morgenluft war frisch und er zog die zweite Decke über sie.

»Vieles ist anders, als es früher war, oder?«

Nell schlug endgültig die Augen auf. Die schrägen Wände der Schutzhütte waren mit Lehm verputzt. Früher war gar nicht lange her – etwas mehr als ein halbes Jahr. Nach welchen Momenten hatte sie sich eigentlich zurückgesehnt, als sie entschieden hatte, ins Getto zurückzukehren? Als sie bei Althea die Heilkraft der Pflanzen studierte? Als sie zum ersten Mal beim gemeinsamen Abendessen das Gefühl gehabt hatte, Teil einer lauten und fröhlichen Familie zu sein? Als sie zusammen mit Jake und Ragan in den Weiten der Wiesen und Wälder zum ersten Mal ein Gefühl der Freiheit verspürt hatte? Als Aidan und Jake noch Brüder und Freunde gewesen waren und Nells Herz nur heimlich für Jake schlug?

Während sie im Archiv festgesessen hatten, war die Sehnsucht nach einem Zuhause immer stärker geworden, aber jetzt fragte sie sich, ob dieses Zuhause jemals so existiert hatte wie in ihrer Vorstellung aus der Ferne.

»Erinnerungen sind etwas Trügerisches«, erwiderte sie auf Jakes Bemerkung. Sie glättete die Pferdedecke, die sie auf den rohen Dielenboden gelegt hatten und die ihnen notdürftig als Matratze diente. Dann schob sie sich zum Rand der Schutzhütte, stützte das Kinn in die Hände und blinzelte zwischen den Baumkronen hindurch in den Morgenhimmel. »Meine Erinnerungen vielleicht ganz besonders«, fügte sie mit einem Seufzen hinzu.

Jake drehte sich vom Rücken auf die Seite und musterte sie prüfend. »Was meinst du?«

Sie warf ihm einen schrägen Blick zu. »Ich habe dir doch erzählt, was der Oberste Experte gesagt hat. Bei einer von uns beiden – Julianne oder mir - haben sie etwas am Gehirn verändert, damit das Löschen von Erinnerungen besser funktioniert. Sie nennen es ZIPen

Jake beobachtete die Pferde. »Es gibt aber von hier aus keine Möglichkeit herauszufinden, wer von euch beiden verändert wurde, oder?«

»Nein«, stimmte Nell zu, »die gibt es nicht. Aber die Snips sollen für eine stark verringerte Emotionalität sorgen. Man muss doch Julianne und mich nur ansehen, um zu erkennen, bei wem das der Fall ist – bei mir.«

Jake musterte sie einen Moment lang und lächelte schließlich. »Ich finde, es ist dir trotz meiner Warnung über den Zeitpunkt recht gut gelungen, deine emotionale Seite zu entdecken.«

Sie lachte leise. Das ist nicht der richtige Moment, deine emotionale Seite zu entdecken. Das waren seine Worte gewesen, bevor sie sich im System getrennt hatten. Trotzdem war sie sich manchmal nicht sicher, ob diese Gefühle tatsächlich tief aus ihr selbst entsprangen oder ob sie sich das Fühlen nur antrainierte, indem sie die Menschen im Getto beobachtete. Vielleicht war sie niemals vollkommen in der Lage zu empfinden wie sie. Nicht nur, weil sie im System groß geworden war, sondern weil man die entsprechenden Gene in ihr unwiederbringlich ausgeschaltet hatte.

»Ich wünsche mir, es ist Julianne«, entfuhr es ihr. »Nicht nur, damit ich es nicht bin«, fügte sie hastig hinzu, »sondern auch, weil es entschuldigen würde, was sie getan hat.«

Er zog die Augenbrauchen hoch. »Sie hat auf dich geschossen, Nell. Sie wollte dich töten. Ihre eigene Schwester! Wie ist das zu entschuldigen?«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe ihr den Rücken zugekehrt und sie hat mich nur gestreift. Ich glaube nicht, dass sie mich treffen wollte, sonst hätte sie es getan.«

Jake gab ein Schnauben von sich. »Wahrscheinlich hat sie schlecht gezielt.«

Nell wandte sich ab. Er hatte recht. Wahrscheinlich redete sie sich nur etwas anderes ein, weil sie nicht wahrhaben wollte, was Julianne getan hatte. Julianne war immer noch ihre Schwester. Natürlich standen sie inzwischen auf verschiedenen Seiten. Aber Nell hatte den Schmerz in ihren Augen gesehen. Und er weckte in ihr, was sie schon immer für ihre Schwester gehabt hatte: ihren Beschützerinstinkt. Es gab etwas wie eine Grenze in ihr, die sie nicht überschreiten konnte, wenn es darum ging, Julianne zu schaden. Und sie wollte einfach glauben, dass es umgekehrt genauso war.

»Selbst wenn ihr diese Snips eingesetzt wurden«, überlegte Jake, »wäre das wirklich eine Entschuldigung für die falschen Entscheidungen, die sie getroffen hat?«

»Findest du nicht?«, gab sie zurück.

Zögernd hob Jake die Schultern.

»Wenn sie etwas in mein Gehirn eingebaut haben, um meine Emotionalität zu verändern und mich für bestimmte Trigger empfänglicher zu machen, bin ich dann noch verantwortlich für das, was ich tue?«, hakte sie nach. »Bin ich dann noch ich? Oder bin ich eine Marionette des Systems? Ist dann nicht das System schuld an dem, was ich tue?«

»Das System ist nicht an allem schuld«, meinte Jake entschieden, indem er sich hochstemmte und nur in Leinenwäsche aus der Schutzhütte kroch. Er streckte sich kurz und beugte sich dann zu Ragan, der schwanzwedelnd aufsprang. »Mach es ihr nicht zu leicht«, sagte er über die Schulter.

Auch Nell streichelte Ragan, als er zu ihr gelaufen kam und ihr mit seiner kühlen Nase ins Gesicht stupste. »Denkst du nicht, sie leidet am meisten unter der Situation? Bisher hast du die Meinung vertreten, sie sei unglücklich.«

»Ja, aber vielleicht habe ich mich geirrt.« Jake wandte sich ab. »Mach es auch dir selbst nicht zu leicht, Nell.« Er ging auf die Pferde zu und Ragan rannte ihm nach.

Nell blieb liegen und beobachtete die beiden. Jake bückte sich zu den Sätteln, die ein Stück entfernt unter einer Tanne lagen und holte zwei Mohrrüben aus den Satteltaschen. Sein Hengst Tempest hob als erster den Kopf, als er sich der Lichtung näherte. Sobald die schokoladenbraune Stute Morgan bemerkte, dass Tempests Aufmerksamkeit belohnt wurde, trat auch sie näher, um sich ihren Leckerbissen abzuholen. Mit gespitzten Ohren saß Ragan am Rande der Lichtung und wartete, während Jake die Hufe der Pferde kontrollierte, ihre dichten Mähnen entwirrte. So hatte Nell ihn immer gesehen – früh am Morgen bei den Tieren, am liebsten immer unterwegs. In der Schutzhütte fühlte sie sich, als sei sie nicht Teil dieses Bildes, als sehe sie nur von außen zu.

Jake war doch auch nicht hier geboren. Warum fiel es ihm so viel leichter, auszusehen, als gehöre er hierher? Ihn hatten ihre Erkenntnisse über das System so viel weniger aus dem Gleichgewicht gebracht als sie. Vielleicht, weil er sich nie hatte manipulieren lassen. Er hatte bereits als Kind seine Entscheidung getroffen, nicht dazuzugehören. Woher hatte er die Weitsicht und Stärke genommen, dem Sog des Systems zu widerstehen, dem sie sich blind ergeben hatte?

Sie stand auf und lief barfuß hinter ihm her. Der weiche Waldboden federte unter ihren Schritten. Sie tauchte unter einem tiefhängenden Ast hindurch und schlang ihre Arme von hinten um Jake, als er gerade dabei war, einen Zweig aus Morgans Schopf zu entwirren.

Mit einem Lachen versuchte er, sich zu ihr umzudrehen, aber sie hielt ihn fest an sich gepresst. Morgan schnoberte mit ihren rauen Lippen in der Hoffnung auf Rüben-Nachschub über ihren bloßen Arm. Die Sonne wärmte bereits, küsste ihre Haut.

»Ich will es mir aber einfach machen, Jake«, erklärte sie. »Es gibt genug Dinge, die mir das Leben schwer machen – ganz ohne dass ich nachhelfe.«

Es machte sie glücklich, ihr Herz klopfen zu spüren. Wenn sie ein wenig den Kopf reckte, konnte sie seinen Hals küssen. »So, wie ich es mir mit dir leicht gemacht habe und mich nur noch an die guten Dinge erinnere.«

Er lachte auf und es gefiel ihr, wie sie es in seinem Bauch vibrieren spürte. Irgendwie machte es den jungen Morgen zu einem schöneren Tag. Er trat von der Stute zurück und drehte sich in ihren Armen um.

»Mir ist es nicht so vorgekommen, als hättest du es dir leicht gemacht, mir zu verzeihen.« Er strich durch ihre vom Schlafen wirren Haare. »Oder als hättest du es mir leicht gemacht.«

Nell musste in sein Lachen einstimmen und er küsste sie so heftig, dass sie rückwärts taumelte, bis sie mit dem Rücken gegen den Stamm eines Ahorns stieß. Sie zog ihn fester an sich. Ihre Hände glitten über seinen Rücken. Ihr Herz hämmerte mit jedem Schlag Erregung durch ihr Blut und in diesem Moment wollte sie nirgendwo anders sein – einfach hier, irgendwo mit ihm.

 

Mehrere Tagesritte lagen zwischen der Stätte der Handwerker und dem Lager der Jäger. Nell genoss die Zeit allein mit Jake, die Stille nach dem morgendlichen vielstimmigen Vogelgesang, das Stampfen der Pferdehufe auf dem Waldboden, die Rasten in der größten Mittagshitze, das Baden im kühlen Flusswasser und den Geschmack des frisch über dem Feuer gegarten Kaninchens, das Jake erlegt hatte.

Einige Male grummelte es im Untergrund der Erde. Es war jedoch nie mehr als ein kurzes Vibrieren, das schnell ausrollte und verebbte. Trotzdem erinnerte es sie an die Bedrohung durch den Vulkan.

Als sie die Ufer des Nebelsees erreichten, erinnerte Nell sich an das warme, belebende Gefühl, das sie durchströmt hatte, als Jake und sie vor etwas über einem Monat zu Fuß ins Jägerlager zurückgekehrt waren. Es war das Gefühl, nach Hause zu kommen. Warum blieb es diesmal aus?

Das Wasser leuchtete jedoch nicht mehr, wie sie es in Erinnerung hatte, wirkte eher grau und abweisend. Eine mittlerweile nur noch dünne Rauchsäule stieg über dem Feuerberg auf, die eine kompakte Wolke über dem Gipfel bildete. An der vom Dorf abgewandten Nordseite des Berges, waren einige Lavaflüsse in die Tiefe geflossen. Sie hatten sich im feuchten Frühjahr in sumpfiges Gebiet gewälzt. Die Waldbrände hatten zwar den Baumbestand und Lebensraum im Norden in aschiges Ödland verwandelt, aber immerhin keinen Feuersturm ausgelöst, der sich rasend über das ganze Getto ausbreitete. Zusammen mit Tarik und Jake war Nell vor ihrem Aufbruch ins Handwerkerdorf hingeritten, um sich die Auswirkungen anzusehen – selbst für die Verhältnisse im Getto ein urtümlich wilder Anblick. Die häufigen Beben und das glühende Gestein hatten die Landschaft verändert. Abgründe waren gerissen, scharfkantige Felsmauern errichtet und die Überreste verkohlter Baumstämme zurückgelassen worden.

»Die Geister im Berg scheinen uns zu verschonen«, hatte Tarik gemeint.

Nell hatte sehen können, dass Sorgen ihn bedrückten. Auch im Dorf war vieles anders, seit Aidan fehlte.

Als sie dieses Mal zurückkehrten, lenkte Jake seinen rotbraunen Hengst zuerst auf den schmalen Uferpfad. Die Hütten des Dorfes tauchten vor ihnen auf. Ganz vorne an der Dorfstraße wohnte Darren mit seiner Familie. Aidan hatte ihn aus dem Jägerlager verbannt, nachdem er Nell angegriffen hatte. Mittlerweile wurde er wieder in der Gemeinschaft geduldet.

»Jake!« Aidans jüngste Schwester Mira löste sich aus einer Gruppe Mädchen, die auf einer der Veranden hellblaue Beeren entsteinten, und kam ihm entgegen gerannt. Ihre schulterlangen blonden Haare waren wie immer verstrubbelt. Mittlerweile elfjährig war sie noch größer und dünner geworden. Ihre blauen Augen strahlten, als sie zu Jake aufsah. Sie hatte nie einen Unterschied gemacht. Für sie war er genauso ihr Bruder wie Aidan.

Er lächelte und strich ihr vom Pferd aus über den Kopf. »Alles klar bei dir?«, fragte er.

Sie nickte, während sie neben ihm herlief, sich aber zu Nell umdrehte. »Althea möchte, dass du zu ihr kommst, sobald du hier bist.«

Augenblicklich stellte sich Unbehagen bei Nell ein. In dem einen Monat seit ihrer Rückkehr ins Dorf hatte sie die alte Heilerin einige Male besucht. Doch auch das war nicht wie früher. Althea lag im Sterben. Und Safira, die kaum von ihrer Seite wich, hatte nichts als feindselige Blicke für Nell.

Sie fing Jakes fragenden Blick auf und beantwortete Miras Frage: »Ich gehe zu ihr. Nimmst du Morgan mit?«

»Ich helfe Jake.« Mira griff nach den Zügeln der Stute, als Nell sich vor Altheas Hütte zu Boden gleiten ließ.

Einen Augenblick blieb sie in der Nachmittagssonne stehen. Drei Frauen hatten in den Waschzubern vor ihren Hütten riesige Wäscheberge in Angriff genommen. Irgendwo am anderen Ende des Dorfes wurde Holz gehackt. Im Schatten des überhängenden Daches zwei Häuser weiter saßen der alte Just und drei andere Männer über einem Spiel, bei dem sie Kiesel über ein Brett schoben.

Erst als Jake und Mira mit den beiden Pferden das Zentrum des Dorfes erreichten und über das Rondell verschwanden, atmete Nell noch einmal tief ein und betrat nach einem kurzen Klopfen Altheas Hütte.

Nach dem hellen Sommerlicht draußen, war sie im ersten Augenblick fast blind. Die Luft im Raum ließ sich kaum atmen. Die Muffigkeit staute sich unter der niedrigen Decke, als sei seit Tagen nicht gelüftet worden.

»Althea?« Nell atmete durch den Mund, tastete sich seitwärts zum Fenster und suchte den Hebel des Holzladens.

Nur ein krampfhaftes, trockenes Husten verriet, dass sie nicht allein im Raum war.

»Warum ist es denn so dunkel hier drin?«

»Nicht das Fenster öffnen!« Die alarmierten Worte stammten nicht von der alten Heilerin, sondern von Safira. Mit einem Seufzen ließ Nell die Hände sinken.

»Warum nicht? Althea braucht Sauerstoff und Licht.«

»Woher willst du wissen, was sie braucht?« Safiras Stimme war in den freundlich interessierten Singsang zurückgefallen, den sie sich offenbar angewöhnt hatte. »Du hast dich im letzten Herbst auch nicht dafür interessiert, wie es ihr geht.« Ihre Gestalt löste sich aus dem hinteren Teil des Zimmers. Ihr helles Leinenkleid hob sich vom dunklen Holz der Einrichtung ab. Langsam gewöhnte Nell sich an das Zwielicht.

»Althea wollte mich sprechen, hat Mira mir gesagt«, erwiderte sie statt einer Antwort.

»Sie braucht Ruhe«, beharrte Safira. »Das weißt du sicher.«

»Lass gut sein.« Altheas Stimme war rau. Jeder Laut kratzte über ihre Stimmbänder wie Stein auf Stein. Husten folgte wie ein Beben. »Ich habe auf sie gewartet.«

Kurz entschlossen klappte Nell den Hebel vor dem Fensterladen zurück und ließ Luft und Licht in die Hütte.

»Nicht«, protestierte Safira, »du vertreibst die Geister.«

Sie eilte zu Altheas Lager ganz hinten in dem einfachen Zimmer. Die alte Frau war auf Grasmatten und Decken gebettet. Lange Girlanden in der Hitze welkender Anemonen hingen über ihrem Bett von der Decke herab. Safira zog ein geflochtenes Bastband über ihre Augen.

Nell trat näher. Das faltige Gesicht der alten Frau war eingefallen, ihre Lippen aufgesprungen. Im Licht wirkte ihre Haut papierdünn und trocken. Ihre weißen Haare lagen über das Kissen ausgebreitet. Es erschreckte Nell, wie schnell die Lebenskraft sie verließ.

»Was machst du mit ihr?«, verlangte sie von Safira zu wissen.

Safira, die neben Althea kauerte, blickte auf. Anemonen waren locker in ihre weißblonden Haare geflochten. »Die Geister entscheiden, ob sie mit ihnen gehen soll. Wir dürfen sie darin nicht beeinflussen«, erklärte sie.

Nell schüttelte den Kopf. Sie wusste mittlerweile, dass Safira unter Altheas Büchern einen handschriftlichen Text über Geisterbeschwörungen gefunden hatte, der ihr einen Weg in die Heilkunde geöffnet hatte, der sich ihr durch den Unterricht nicht geboten hatte.

»Ich weiß, du kannst damit nichts anfangen«, fuhr Safira nachsichtig fort. »Du musst lernen, dass du nicht alles kontrollieren kannst. Das hat dir doch Althea früher schon gesagt.«

Ihre betonte Höflichkeit kam als Herablassung bei Nell an. Sie atmete jedoch über ihren Ärger hinweg und stellte erleichtert fest, dass die Luft bereits besser schmeckte, obwohl die Anemonen noch immer intensiven Modergeruch verströmten.

»Ich glaube, sie ist eingeschlafen«, flüsterte Safira.

»Ich bin wach«, widersprach Althea jedoch. In ihren auf der Brust gefalteten Händen entdeckte Nell noch mehr lilafarbene Blüten mit hängenden Blättern. »Und ich will allein mit Nell sprechen.« Obwohl sie nur leise sprach, ließen ihre Worte keinen Widerspruch zu. »Sei so gut und lass uns einen Moment allein, Safira. Die Geister können mich später holen.«

»Überanstreng dich nicht.« Safira beugte sich vor, küsste die runzelige Wange. »Ich bleibe in der Nähe.«

»Ist gut, ist gut.« Althea hob in einer winzigen, beschwichtigenden Geste die linke Hand.

Safira wich Nells Blick auf dem Weg nach draußen aus. Nell wartete, bis die Tür hinter ihr zuklappte.

Dann holte sie in einem der groben Tongefäße Wasser aus der Küche und kniete sich zu Althea. Sie zog den geflochtenen Bast von ihren Augen und half ihr, sich aufzurichten. Geduldig flößte sie ihr in kleinen Schlucken das Wasser ein.

»Du trinkst zu wenig.«

»Ich weiß«, entgegnete Althea, indem sie zurück in die Kissen sank. »Safira entwickelt ihre eigene Lehre.«

»Hiermit?« Mit hochgezogenen Augenbrauen zupfte Nell an den Blumenranken, die von der Decke hingen.

Altheas Gesicht verzog sich zu einem beinah zahnlosen Lächeln. »Genau damit.«

»Ich verstehe nicht, warum du dir das gefallen lässt.« Nell stellte das Tongefäß zur Seite.

»Ich bin alt, Wildkatze. Die Geister warten tatsächlich auf mich.«

»Aber muss man im Dunkeln sitzen, bis sie einen holen?«, hielt Nell dagegen.

Altheas schwaches Lachen ging in ein Husten über. Nell kehrte in die Küche zurück und griff nach den zu Bündeln geknoteten Zweigen, die von den dunklen Balken hingen. Sie entfachte das Feuer unter dem Kessel, um Weißdorntee aufzukochen, der kreislaufstärkend wirkte.

Althea war eingeschlafen, als sie mit dem Tee wiederkam. Sanft weckte sie die alte Frau und stopfte ihr einen ledernen Sitzsack in den Rücken, sodass sie sich aufrecht halten konnte.

Ein Lächeln tauchte in Altheas Gesicht auf. »Das Heilen liegt dir im Blut, Wildkatze, das habe ich von Anfang an gewusst. Aber du kannst noch immer nicht loslassen.«

Ich musste so viel loslassen - Luk, Aidan, so viele Erinnerungen. Sie machte Althea nicht darauf aufmerksam. Die Augen der alten Frau wirkten trüb, waren nur halb geöffnet.

»Weshalb wolltest du mich sprechen?«, erkundigte Nell sich.

Altheas knochige Hand schloss sich wie eine Kralle um ihre. »Du bist zurückgekommen, Wildkatze.« Ihre Stimme klang heiser. »Versprich mir, dass du diesmal bleibst.«

Nell zwang sich, ihre Hand nicht zurückzuziehen, obwohl ihr der Klammergriff unangenehm war.

»Wo sollte ich denn hin?«

»Ich will, dass du es mir versprichst«, beharrte Althea.

»Warum ist dir das so wichtig?« Sie fühlte sich in die Enge getrieben.

»Weil noch immer gilt, was im letzten Herbst schon galt.« Mühsam lehnte Althea sich vor, griff mit beiden Händen nach ihrem Arm. »Dieses Dorf braucht dich. Es mag nicht danach aussehen. Vielleicht wissen sie es selbst nicht, aber sie brauchen dich. Safira ist anders als du. Sie hat eine Verbindung zu den Geistern. Sie kann Trost spenden und Ängste lindern, aber nicht einmal einen Husten heilen.«

Nell seufzte. »Ich kann die Dorfbewohner nicht zwingen, mich zu akzeptieren.« Sie hatte schon vor ihrem Ausbruch daran gezweifelt, ob Safira die Richtige war, um bei Althea in die Lehre zu gehen. Einer der Jungen im Lager war ihr durch seine Neugier und Nachdenklichkeit geeigneter erschienen, aber Althea hatte Alec abgelehnt, weil er kein Mädchen war.

»Aber du kannst geduldig bleiben«, erwiderte Althea.

Endlich machte Nell sich sanft los und die alte Heilerin sank zurück gegen das Lederkissen.

»Was bleibt mir sonst übrig?«, erwiderte Nell. »Es gibt anscheinend keinen anderen Platz für mich in der Welt.«

Althea musterte sie einen Moment lang schweigend. Die Iris leuchtete kraftvoller als vor wenigen Augenblicken. »Du bist in dem Glauben aufgewachsen, dein Platz in der Welt würde dir eines Tages zugeteilt, andernfalls seist du wertlos.«

Nell wich ihrem Blick aus, indem sie den Becher erneut mit Tee aus dem Tongefäß füllte. Diesmal war Althea in der Lage, selbst danach zu greifen, auch wenn ihre Hände zitterten.

»Mach die Augen auf, Wildkatze. Du kannst dich entscheiden, deinen eigenen Regeln zu folgen oder dich einer Gemeinschaft anzuschließen. Du kannst dich entscheiden, wo du leben möchtest und wie. Und dann kämpfst du dafür«, fuhr sie fort, als Nell noch immer nicht antwortete.

»Entscheidungen treffen«, erwiderte Nell nachdenklich. »Was ist richtig, was ist falsch? Planen erfordert so viel Kraft und Umsicht. Es ist doch verständlich, dass viele sich lieber den Regeln anpassen, die andere aufstellen.«

Althea machte eine wegwerfende Bewegung mit ihrer altersfleckigen Hand. »Manche sehen nur bis zur Nasenspitze. Du siehst bis über den Horizont und weiter. Verantwortlich sind wir trotzdem alle gleich – jeder für sich.«

Nell lächelte, als sie sich erinnerte, wie die bildhafte Sprache der Heilerin sie bei ihren ersten Begegnungen verwirrt hatte.

»Was, wenn man nie gelernt hat, Entscheidungen zu treffen und Verantwortung zu tragen?«, wandte sie ein, zog die Knie an und schlang ihre Arme darum.

»Dann muss man es lernen«, antwortete Althea rigoros. »So, wie du es gelernt hast.«

Unwillkürlich glitten Nells Gedanken zurück zu den ersten Wochen im Getto. Hatte sie nicht vor allem das getan, was Aidan ihr gesagt hatte? Komm zum Essen, setz dich zu uns, geh zu Althea in die Lehre. Wann hat das aufgehört? Wann habe ich begonnen, selbst zu entscheiden? Die Arbeit bei Althea hatte sie gezwungen, vorauszuplanen, Entscheidungen zu treffen. Diese hatte sie zunächst auf Grundlage ihres im Systems gesammelten Wissens gefällt, mit der Zeit aber auch aufgrund der Erfahrungen, die sie im Getto sammelte. Ihre Erinnerung an den Husten eines Kindes hatte ihr verraten, dass sie bei einem anderen mit ähnlichem Leiden als nächstes mit starkem Fieber zu rechnen hatte.

Aber hatte sie nicht bereits im System vereinzelt Entscheidungen getroffen? Ihre Mutter zu besuchen, einen Plan zu entwickeln und notfalls zusammen mit Julianne ins Getto zu gehen – das hatte sie entschieden. War sie jemals ein normaler Systembürger gewesen?

»Ich bin kein Maßstab dafür, wie Systembürger Entscheidungen treffen«, meinte sie leise. »Sie haben an mir herumexperimentiert und möglicherweise mein Gehirn verändert.«

Altheas Augenbrauen hoben sich leicht. Sie hatte ihren Becher mit beiden Händen umfasst und in kleinen Schlucken getrunken. »Was hat das mit deinen Entscheidungen zu tun?«

Nell hob die Schultern. »Wenn sie mein Gehirn verändert haben, damit es so funktioniert, wie sie es wollen, bin das dann noch ich, die Entscheidungen trifft? Oder entscheide ich mich so, wie das System mich programmiert hat?«

»Kind.« Althea schüttelte den Kopf. »Dinge, die andere zu uns sagen, Dinge, die wir beobachten, Dinge, die wir tun – alles verändert uns. Trotzdem sind es immer noch unsere Entscheidungen, die wir treffen. Du bist viel mehr als irgendein Teil in deinem Kopf.«

»Aber die Gene bestimmen doch, wer wir sind, oder nicht?« Sie hörte selbst die Hoffnung, die ihre Stimme heller klingen ließ. Worauf jedoch hoffte sie? Dass Althea die richtigen Worte fand, um die Veränderungen in ihrer DNA unbedeutend zu machen? »Wenn meine Erinnerungsfähigkeit und meine Emotionalität verändert sind, dann bin ich doch anders.«

Althea lachte auf – ein heiseres Kratzen, von dem Nell im ersten Moment nicht sicher war, ob es Lachen oder Husten signalisierte. »Anders als wer denn? Wir sind doch alle anders.« Als Althea jetzt nach ihrer Hand griff, war die Berührung sanft. »Wenn sie irgendwas an dir verändert haben, macht sie das zu grausamen Verbrechern, aber dich nicht zu einem schlechteren Menschen. Unsere Erfahrungen verändern uns, wenn wir es zulassen. Und unsere Erinnerungen speichern wir nicht nur hier oben.« Ihr knotiger Finger tippte gegen ihre Stirn. »An was erinnerst du dich besonders intensiv?«

Darüber musste Nell nicht nachdenken. Sie erinnerte sich an den Schock, als Julianne im Gericht nicht mehr an ihrer Seite stand. Daran, von Jake geküsst zu werden. An die Gewissheit zu sterben, als der Sicherheitsmann im Anglia-Park sie würgte. An das schreckliche Gefühl, Luk zu verlieren. An Aidan, der ihr nicht mehr vertraute.

»Wo fühlst du diese Erinnerungen?«, hakte Althea nach. »In deinem Kopf?«

»Ja«, antwortete Nell spontan, »aber nicht nur.«

Julianne – alles in ihr zog sich zusammen, bis sogar ihre Haut sich taub anfühlte. Jake ließ ihr Herz klopfen und Wärme in ihren Bauch strömen. Ihre Kehle zog sich wie von selbst zusammen, wenn sie sich in den Anglia-Park zurückversetzte. Luk – ihr Brustkorb verengte sich schmerzhaft. Jeder Gedanke an Aidan versetzte ihr einen Stich im Bauch, weil er sie so enttäuscht hatte.

»Siehst du«, meinte Althea mit einem wissenden Lächeln. »Erinnerungen sind mehr als Bilder in unserem Kopf. Unser ganzer Körper erinnert sich.«

Unser ganzer Körper erinnert sich. Ob es stimmte? Denken und Erinnern waren für Nell immer Kopfsache gewesen.

»Und deshalb«, schloss Althea, indem sie ihr noch einmal die Hand tätschelte, »wirst du kein ganz anderer Mensch, nur weil sie an einem kleinen Rädchen drehen. Wir entscheiden alle selbst, wer wir sind.«

Einen Augenblick lang sah die alte Frau sinnend in ihren Becher, ehe sie ihn leerte und Nell zurückgab. »Kann ich mich auf dich verlassen?«

Nell musste an die Versprechen denken, die sie gegeben hatte – die sie gehalten, die sie gebrochen und diejenigen, die sie viel zu unbedacht ausgesprochen hatte. Jetzt umfasste sie Altheas Hände mit ihren. »Ich verspreche dir, ich werde alles versuchen, solange ich hier bin. Ich werde nicht einfach aufgeben. Aber ich kann dir nicht versprechen, dass ich für immer bleibe. Ich weiß nicht, wer ich bin und welche Entscheidungen ich in Zukunft treffen muss.«

Einen Augenblick lang erwiderte Althea stumm ihren Blick. Eine erlösende Brise wehte herein, ließ ihre feinen weißen Haare auffliegen.

»Eine kluge Antwort, Kind«, urteilte sie schließlich. »Damit werde ich leben müssen.« Sie legte den Kopf zurück. »Lange wird es ja wohl nicht mehr sein.«

Nell drückte noch einmal ihre Hände. »Sag mir, wenn ich irgendetwas für dich tun kann.« Sie blickte an die Decke mit den welkenden Blumengebinden. »Dieses Zeug hier entfernen zum Beispiel.«

»Und unsere Geisterbeschwörerin verärgern?«, gab Althea zurück. »Lass den Menschen ihren Glauben, Wildkatze. Safira meint es gut. Und sie hilft vielen, die sich vor den Feuergeistern im Berg fürchten, ruhiger zu schlafen.«

Nell wartete noch, bis sie eingeschlafen war und leise zu schnarchen begann, bevor sie die Hütte verließ. Safira war nirgends zu sehen. Dafür stand Vera, eine von Altheas Nachbarinnen, auf der Veranda und zupfte an ihrer ausgefransten Schürze, die sich über ihren üppigen Leib spannte. Ein dicker hellbrauner Zopf lag über ihrer Schulter und ihr volles Gesicht mit den freundlichen Lachfältchen um die Augen hatte sich in der Mittagssonne gerötet.

»Soll ich mich für eine Weile zu ihr setzen?«, bot sie an. »Ich habe auch noch etwas Gemüsesuppe. Denkst du, sie kann davon essen?«

»Wenn du das Gemüse ganz weich kochst und zerstampfst, wäre das sicher gut für sie.«

Nell sah Vera kurz nach, als sie sich mit einem geschäftigen Nicken abwandte. Sie hatte sie ganz selbstverständlich um Rat gefragt. Safira würde das nicht gefallen.

Langsam ging Nell die Dorfstraße hinauf. Die Hitze stand dicht zwischen den Hütten. Staub wehte ihr um die Füße.

Erinnerungen sind mehr als Bilder im Kopf. Unser ganzer Körper erinnert sich. Vielleicht war das der Grund, warum das System solche Probleme hatte, Erinnerungen dauerhaft zu löschen. Aber woher sollte eine alte Heilerin im Getto es besser wissen, als die Forscher des Systems?

Kapitel 2

Die Sonne brannte ihm auf den Rücken. Schweiß lief über seinen bloßen Oberkörper. Die Arbeit war anstrengend, aber die Hitze war der größere Gegner.

Nachdem Mira ihm geholfen hatte, die Pferde zu versorgen und ihn über den Ritt zu den Handwerkern ausgefragt hatte, war sie zu den anderen Mädchen im Dorf zurückgekehrt. Jake war Tarik zu Hilfe gekommen, der den Paddock vor dem Stall erneuerte. Das morsche Holz war bereits abgetragen worden. Das neue Material war vor dem Stallgebäude gestapelt. Tarik hatte es im Tausch gegen zwei junge Stuten von den Handwerkern liefern lassen. Die ersten Pfosten hatte er bereits eingeschlagen, als Jake sich zu ihm gesellte. Mit abwechselnden Hammerschlägen trieben sie einen nach dem anderen nun gemeinsam tief in die Erde. Irgendwann bemerkte Jake, dass Safira an einem der neuen Pfosten lehnte und ihnen zusah.

»Ich habe noch keine Antwort von dir gehört«, bemerkte sie, als sie innehielten und sich den Schweiß von der Stirn wischten.

Jake drehte sich zu ihr um. »Auf welche Frage?«

Unter ihrem weiten, fast bis zum Boden reichenden Leinenkleid war ihre zierliche Figur nur zu erahnen.

»Ich habe gesagt, ich möchte, dass du mit Nell sprichst«, wiederholte sie sanft, indem sie langsam über den Paddock auf ihn zukam. Ihre nackten Füße hinterließen schmale Stapfen im lockeren Sand.

Jake wandte sich ab. »Das verstehe ich nicht als Frage.«

Tarik bückte sich nach einer Querlatte und gab Jake Hammer und Nagel. Seine hellbraunen Haare waren dunkel vor Schweiß, sein sehniger Oberkörper von der Sonne tief gebräunt.

»Es war auch keine Frage«, bestätigte Safira.

»Wozu brauchst du dann eine Antwort?«, entgegnete Jake, indem er sich bewusst von ihr abgewandt hielt, als sie neben ihm stehen blieb.

Er sah, dass Tarik sich auf die Lippe biss, um sein Lachen zu unterdrücken.

Sie achteten darauf, die Latte auf eine Höhe mit den anderen zu bringen und Jake setzte den Nagel an. Safira wartete, bis das Metall ins Holz getrieben war. Dann legte sie ihre Hand auf Jakes Rücken. Er spürte sie kühl unter seinem linken Schulterblatt.

»Bitte tu das für mich. Ich denke nicht, dass Nell mich ernst nimmt. Aber die Dinge haben sich geändert. Sie hat keinen Sinn für das, was ich tue, und ich möchte nicht, dass sie sich einmischt.«

Mit einem Schnauben schüttelte Jake ihre Hand ab. »Da ich nicht glaube, dass Nell dir bei der Geisterbeschwörung Konkurrenz machen wird, solltest du nichts zu befürchten haben.«

»Wenn sie sich doch einmischt, redest du aber mit ihr«, beharrte Safira.

Tarik, der die Querlatte am zweiten Pfosten in Position brachte, sah auf. »Wenn es Probleme gibt, kommt ihr zu mir. Dann spreche ich mit ihr.«

Safira warf ihm einen abschätzenden Blick zu. »Sicher. Ich dachte nur, dass Jake auf sie einwirken kann, bevor die Harmonie gestört wird.«

»Die Harmonie.« Jake hob die Augenbrauen. Sie stand vor ihm – schmal und mit schlaffen Blüten in ihrem weißblonden Haar, das ihr glatt auf den Rücken fiel. Schon früher hatte sie ein wenig wie aus einer anderen Welt gewirkt – so still und zurückgenommen, dass sie ihm oft gar nicht richtig aufgefallen war. Einen leicht entrückten Eindruck machte sie noch immer auf ihn. In ihrer Freundlichkeit lag jetzt jedoch etwas Forderndes.

Kommentarlos drehte er sich um und schlug den nächsten Nagel ein. Als er sich wieder aufrichtete, stand Safira nicht mehr neben ihm. Sie hatte bereits die Buche erreicht, an der ein schmaler Pfad über die grasbewachsenen Hügel ins Dorf führte. Fragend sah er Tarik an.

»Was sollte das denn?«

Tarik seufzte tief. »Du hast ja bereits mitbekommen, dass Safira jetzt mit den Geistern kommuniziert.«

»Ich wusste aber nicht, dass sie es so ernst nimmt«, brummte Jake, indem er auf den Stall zuging, wo ihr Material lagerte. Tarik folgte ihm, um beim nächsten schweren Pfosten mit anzufassen.

»Ihr wart weg, Althea krank und sie wurde zu einer komplizierten Geburt gerufen«, berichtete Tarik. »Sie wusste sich wohl nicht zu helfen, hatte bei Althea aber ein altes Buch zur Geisterbeschwörung gefunden und um Hilfe gebeten. Frau und Kind haben die Geburt gut überstanden.«

»Ein Zufall natürlich.« Jake warf einen scharfen Blick über die Schulter, um Tariks Reaktion abzuschätzen.

»Sicher«, stimmte er mit einem Schulterzucken zu. »Aber Safira war die Einzige, die wir rufen konnten, wenn jemand krank war, und die unsere Fragen beantwortet hat. Und dann ist da der Feuerberg.«

Jeder ihrer Schritte wirbelte staubigen Sand auf, der ihnen auf der Haut klebte, als sie den Pfosten quer über den Paddock trugen.

»Einige haben das Dorf verlassen, aber da das Fischerdorf erst seit diesem Frühjahr wieder aufgebaut wird und die Feldbauern niemanden aufnehmen, gibt es kaum Möglichkeiten, irgendwo unterzukommen. Die meisten mussten bleiben und damit leben, dass niemand diesen Berg kontrollieren kann.« Tarik hielt inne, als sie den Pfosten an der richtigen Stelle aufsetzten und griff wieder nach seinem Hammer. »Safira hat ihnen das Gefühl gegeben, etwas tun zu können.«

Singen und tanzen gegen einen ausbrechenden Vulkan. Jake würde nie verstehen, woher Menschen die Kraft nahmen, an so etwas zu glauben.

»Es hat mehrfach so ausgesehen, als würde es zur Explosion kommen«, fuhr Tarik fort. »Zweimal hat es schwere Erdbeben gegeben und wir haben das Dorf geräumt. Aber Safira hat die Geister besänftigt und es ist nichts passiert.«

Jake hielt den Pfosten, damit Tarik ihn im richtigen Winkel einschlug. Dann nahm er seinen eigenen Hammer und Tarik und er fanden schnell ihren Rhythmus, mit dem sie den Pfosten in die Tiefe rammten, bis er stabil stand.

»Du glaubst aber nicht daran, oder?«, wollte er wissen, nachdem sie beide mit dem Ergebnis zufrieden waren.

Tarik hob die Schultern. »Nicht alle im Dorf glauben daran«, erklärte er. »Den meisten sind die alten Tiergeister wichtig. Trotzdem sind viele befremdet davon, dass Safira plötzlich erzählt, sie sei auserwählt, mit den Geistern der Jenseitswelt zu kommunizieren.«

»Aber es gibt genug, die daran glauben«, schlussfolgerte Jake.

»Richtig.« Tarik stemmte die Arme in die Hüften. »Genug, dass ich sie nicht einfach ignorieren kann.«

Der Geisterglaube war für Jake untrennbar mit dem Getto verbunden. Deshalb konnte er nicht begründen, woher sein Unbehagen gegenüber Safira rührte. Irgendetwas störte ihn jedoch daran. Er war sich sicher, dass Aidan sie nicht einfach hätte gewähren lassen. Vor allem hätte er nicht zugelassen, dass Darren sich wieder im Dorf einnistete.

»Hat sie irgendetwas damit zu tun, dass Darren zurück ist?«, erkundigte er sich.

Tarik hob die Schultern. »Im Laufe des Winters wurde er mehrmals rund um das Dorf gesichtet. Safira hat irgendwann bekannt gegeben, die Geister seien erbost über die Unstimmigkeiten unter den Jägern. Sie hat dafür plädiert abzustimmen, ob Darren wieder aufgenommen werden soll.«

»Früher hat es Beratungen gegeben, aber nie Abstimmungen«, warf Jake ein.

»Was hätte ich machen sollen?«, gab Tarik zurück. »Sie hatte jede Menge Leute, die sie unterstützt haben.«

Du hättest die Abstimmung wenigstens gewinnen können, dachte Jake, erwiderte jedoch nichts darauf. Es passte ihm nicht, dass Darren mit so finsterer Miene wie früher durchs Dorf lief und ihn, aber besonders Nell, herausfordernd anstarrte. Dass er zurückkehren durfte, war eine Entscheidung gegen Aidan gewesen. Und Aidan war es, der im System sein Leben für diese Menschen riskierte.

»Wie funktioniert es mit Darren im Dorf?«, wollte er wissen, wobei er die nächste Querlatte aufhob. »Ben und Lorie sind doch auch noch hier und er hat immerhin versucht, sie umzubringen.«

Diesmal schlug Tarik die Nägel ein.

»Bisher hält er sich von ihnen fern.« Er ließ seinen Hammer sinken und sah Jake an. »Es gab genug Leute, die dagegen waren, ihn zurückzuholen oder sich rausgehalten haben«, beruhigte er ihn. »Ich glaube, dass Nell hier sicher ist.«

Jake fuhr sich mit der Hand durch die Haare. Heimlich wünschte er sich aber, er könne nur halb so sicher sein wie Tarik.

 

Aidans Mutter Risa hatte sämtliche Türen und Fenster offen gelassen, damit sich die stickige Hitze aus dem Wohnraum verflüchtigte. Zum Abend hin war ein kühlender Wind aufgekommen, der sacht durch den Raum strich. Aidans ältere Schwester Lou saß mit ihrem Kind auf einem der Stühle am alten Holztisch und zerdrückte gekochte Frühkartoffeln in einer Schale. Als Tarik und Jake hungrig hereindrängten, verzog sie missbilligend das Gesicht.

»Wie seht ihr denn aus? Konntet ihr nicht noch baden?«

Sie wechselten einen Blick, um den eigenen Anblick am Zustand des anderen zu beurteilen und lachten auf. Tariks Haare klebten ihm am Kopf. Sein Gesicht war gerötet. Schmutzige Streifen hatten sich auf seinen Wangen gebildet. Das Leinenhemd, das er wieder übergeworfen hatte, hing ihm unordentlich aus der Hose und gab den Blick auf sandige Unterarme frei.

»Bei allen Geistern«, rief auch Risa aus, als sie aus der angrenzenden Küche hereinkam. »Was seid ihr für Schweine!«

Hastig trollte sich Ragan auf seinen Lieblingsplatz nahe des Kamins.

»Wir haben hart gearbeitet«, protestierte Tarik.

»Ihr seht aus, als hättet ihr euch im Sand gewälzt«, bemerkte Risa, indem sie eine Schüssel mit dampfendem Fleischeintopf geräuschvoll auf dem Tisch abstellte.

»Nur ganz kurz.« Mit einem Grinsen verteilte Tarik Küsse erst auf Lou, dann auf seiner Tochter, die wild mit den Armen in seine Richtung ruderte.

»Deckt den Tisch«, befahl Risa. »Und versucht, nicht alles schmutzig zu machen. Wo ist Nell?«

»Mira sucht sie«, antwortete Lou. »Heute Nachmittag war sie eine Weile bei Althea.«

Nell und Mira kamen erst hereingestürmt, als die anderen bereits vor ihren gefüllten Schalen Platz genommen hatten – Tarik gegenüber von Risa am Kopfende auf Aidans früherem Platz, Jake gegenüber von Lou. Der zehnjägrige Lark, Aidans jüngster Bruder, schaufelte sich bereits sein Essen in den Mund, bevor die anderen richtig saßen. Endlich hatte er begonnen zu wachsen. Sein Appetit schien ihm allerdings bei Weitem voraus.

»Wo warst du denn?«, verlangte Risa zu wissen, als Nell sich auf ihren Platz fallen ließ. Ihr ausgelassenes Lachen, das zu hören gewesen war, während sie Mira hereingejagt hatte, erstarb im gleichen Moment.

»In der Bibliothek über der Schule«, antwortete sie. Als sie Jake ein kurzes Lächeln zuwarf, sah er, dass ihr Gesicht von der Hitze auf dem Dachboden gerötet war. Ihre langen Haare hatte sie in einem losen Knoten zusammengebunden.

»Es war nicht leicht, sie zu finden«, plapperte Mira aufgeregt. »Aber ich habe rumgefragt und der alte Just hatte sie gesehen.«

»Just?«, fragte Lou mit einem Lachen. »Der ist doch mittlerweile taub. Neulich habe ich ihn gefragt, ob er einen Moment auf Gretchen achten kann.« Sie wippte die Kleine auf ihren Knien auf und ab. »Da hat er kein Wort verstanden.«

»Du könnest Bescheid sagen, wohin du gehst, damit wir dich nicht ewig suchen müssen.« Risa klatschte Nell einen Löffel voll Eintopf in die Schale.

»Entschuldigung«, sagte Nell automatisch, während sie bereits nach ihrem Löffel griff. »Es war eine spontane Idee.«

»Wie geht es Althea?«, erkundigte sich Lou.

»Sie wird bald sterben«, erwiderte Nell. »Ob am Alter, dem mangelnden Sauerstoff in ihrer Hütter oder Flüssigkeitsmangel weiß ich nicht, aber lange wird es nicht mehr dauern.«

»Safira ist doch ständig bei ihr«, bemerkte Risa ungläubig. »Achtet sie nicht darauf, dass Althea genug trinkt?«

Nell rührte in ihrem Eintopf. »Sie wartet, dass die Geister eine Entscheidung treffen.«

Unwillig schüttelte Risa den Kopf. »Was ist nur mit diesem Mädchen los?«

Schon bevor Mira den Kopf wandte und Nell mit ihren großen blauen Augen ansah, wusste Jake, was sie sagen würde. »Zum Glück bist du ja wieder da. Du kannst Althea doch helfen, oder?«

Sofort bemerkte er Tariks auffordernden Blick in seine Richtung. Rasch beugte er sich über sein Essen und ignorierte ihn.

Tarik räusperte sich, aber als Jake sich nicht rührte, wandte er sich selbst an Mira: »Wir können nicht einfach so tun, als wäre Nell nie weg gewesen, weißt du? Safira hat ihre Aufgaben übernommen und ist jetzt unsere Heilerin.«

Verständnislos hob Mira die Augenbrauen. »Aber sie kann es doch nicht.«

In einer hilflosen Geste hob er die Schultern. »Sie hat nur einen anderen Zugang.«