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BURKHARD DRIEST

 

DIE VERROHUNG DES FRANZ BLUM

 

 

 

Ankunft

Name? Blum. Vorname? Franz. Geboren? Am 29. 4. 39. Wo? Berlin. Staatsangehörigkeit? Deutsch. Wohnort, Straße? Abitur. Beruf? Versicherungskaufmann. Größe, Haarfarbe? Eins neunzig, dunkelblond. Farbe der Augen? Blau. Besondere Kenn/eichen? Narbe auf dem linken Handrücken. Beschuldigung: Gemeinschaftlich begangener schwerer Raub, als einziger gefasst.

Sie kommen nachts im Untersuchungsgefängnis an. Zwei Mann in grüner Uniform schieben ihn durch ein riesiges Gittertor und bringen ihn in die Schreibstube.

Noch mal: Name, Alter, Beruf.

Taschen ausleeren, Schlips und Gürtel abgeben. Die Schnürsenkel kann er behalten. Er fragt warum. Der Beamte hebt den Kopf, auf der rot glänzenden Nase ein entzündeter Pickel.

„Damit kannst du die Wanzen fesseln.”

Er bekommt drei Decken, Bettzeug, Nachthemd, Zahnpulver, ein Stück Kernseife, ein blechernes Essgeschirr, einen Blechteller, Messer, Gabel und Löffel (auf dem Löffel ein Hakenkreuz), eine Blechtasse.

„Fünfzehn.“

Blum versucht die Sachen zu verstauen. Der Beamte zeigt ihm, wie man's macht. Eine der Decken wird auf den Boden gelegt, das ganze Zeug kommt da drauf, dann wird die Decke an vier Ecken zusammengebunden und als Bündel über die Schulter gehievt. Er wird wieder durch eine Gittertür geschleust. Während der Beamte hinter ihm abschließt, wartet Blum mit seinem Pack auf dem Rücken in der Halle des großen Zellenhauses, in die von den oberen Galerien eine freischwebende Treppe führt. Die Schritte des abgehenden Beamten. Zelle fünfzehn ist unten, gleich links.

Die Tür wird hinter ihm verriegelt. Er tastet sich vor zur Pritsche und breitet seine Decken aus. Er zieht sich aus, legt die Sachen auf die Erde. Er schlurft an der Wand entlang bis zur Ecke, weiter, die nächste Wand, tastet mit dem rechten Fuß immer vorsichtig nach vorne, stößt gegen den Kübel, nimmt den Deckel ab und hebt ihn hoch. Dabei fasst er mit dem Daumen in den eingelassenen Deckelrand, fasst in etwas Nasses, Klebriges, von dem er nicht weiß, ob es die Pisse des Vormannes oder dünnflüssige Scheiße ist. Aus dem Kübel steigt ein Duft nach Mandeln.

Eine Klingel schrillt. Blum reißt die Augen auf. Licht flammt an. In einem rechteckigen Mauerdurchbruch über der Tür hängt eine nackte Glühbirne.

Blums Zelle: zwei mal drei Meter, die schmale Holzpritsche, ein

kleiner Tisch, der Schemel, an der Wand ein Holzkasten. In der Ecke der Kübel, daneben eine Wasserkanne, eine Waschschüsse!. Eine Viertelstunde nach dem Klingelzeichen hallen Rufe und Schritte durch das Gefängnis. Messingkübel klappern. Wenig später das von Tür zu Tür wandernde Geräusch des ins Schloss gestoßenen Schlüssels.

Das Geräusch nähert sich Blums Zelle.

Blum steht auf und wäscht sich. Das Wasser spritzt. Er muss sich tief bücken. Er versucht, das Wasser unter seine Achseln zu schaufeln. Die Waschschüssel kippt um. Blums Zellentür fliegt auf. Ein Gefangener in blauer Anstaltskleidung schreit:

„Kübeln!”

Blum steht da mit nacktem Oberkörper und den Füßen in der Pfütze. „Was ist los? Wollen Sie nicht kübeln?”

In der Tür grüne Uniform mit blauen Augen.

„Was soll ich?”

„Kübeln, Mensch! Den Kübel ausschütten! Oder sind da Erinnerungen drin, von denen Sie sich nicht trennen können?”

Blum nimmt den Kübel in beide Hände und geht damit zur Tür. Die Zellen längs des Gangs stehen auf, aber es ist keiner zu sehen. Er dreht sich um. Von der anderen Seite des Gangs kommen jetzt die Gefangenen mit ihren Kübeln. Sie gehen in schnellem Schritt an ihm vorüber, Blum folgt ihnen. Am Ende des Zcllengangs ist ein Spülraum, da stehen sie mit ihren Kübeln Schlange. Der vorderste schüttet in das Spülbecken, spült unter fließendem Wasser aus, tritt nach rechts zur Seile und füllt mit einer Büchse aus einer Tonne gelbes, flüssiges Desinfektionsmittel in den Kübel. Langsam rückt die Schlange vor. Es stinkt. Keiner redet.

Blums Vordermann ist schmal und winzig, etwa vierzig. Geschoben von hinten, stößt Blum ihm den nassen Kübelrand in den Nacken.

Blum ist vorne. Er weiß nicht, wie er den Kübel packen soll, ohne dass ihm der Inhalt beim Auskippen über die Finger läuft.

„Los mach hin!” schnauzt sein Hintermann und stößt ihn an. Blum greift in den Kübel, und die braune Soße fließt ihm über die Hände. Er tritt an die Tonne, nimmt die Büchse, taucht sie ein. Seine Hand verschwindet im gelben Desinfektionsmittel.

Zurück zur Zelle, die Flüssigkeit im Kübel schaukelt. Blum merkt, dass der Deckel fehlt. Blum dreht um, zum Spülraum zurück. Nach einigen Schritten die brüllende Stimme des Beamten: „He, wo wollen Sie hin?”

„Ich habe den Deckel vergessen.”

Blum ist stehengeblieben. Der Beamte kommt schnell heran.

„Sie sind mir vorhin schon aufgefallen.”

„Ich habe den Deckel im Spülraum vergessen.”

„Ja mei, was stehen Sie dann hier rum.”

Blum holt den Deckel. Er ist rot im Gesicht, leichter Schweiß auf der Stirn.

Der Beamte bringt ihn zur Zelle.

„Was ist denn da los?”

„Mir ist die Schüssel umgekippt.”

„Gestern eingeliefert? Sie waren wohl besoffen, was?”

Blum steht mit runterhängenden Armen. Der Beamte grinst.

„Dann sehen Sie mal zu, wie Sie die Schweinerei wieder wegkriegen. Die Zelle muss sauber sein. Pieksauber.”

Die Tür fällt zu.

Blum setzt sich auf den Hocker.

Die Tür wird aufgerissen. Blum geht und blickt in den Zellengang. Der Esstrupp in weißen Kitteln. Einer zieht den Wagen, auf dem drei Kübel stehen. Ein anderer verteilt daraus mit der Kelle in die ausgestreckten Blechnapfe. Blum holt seinen Blechnapf.

„Über den Kübel halten!”

Mit der großen Kelle ein Schlag Haferschleimsuppe.

„Den anderen Napf-, schreit der Kalfaktor.

Blum müde zum Tisch, holt den anderen Blechnapf. Er wird mit heißem Ersatzkaffee gefüllt. Zurück zum Tisch, setzt ab, wieder zur Tür. Ein anderer Gefangener mit einem Bauchladen voll Brotscheiben.

„Hol den Blechteller!..

Holt den Blechteller. Der letzte der Esskolonne schmeißt ihm mit einer zweizinkigen Gabel ein flaches Stück vorgeformter Margarine drauf. Die Tür wird verschlossen und verriegelt.

Blum isst.

Die Tür geht auf.

„Packen Sie Ihre Sachen zusammen und kommen Sie mit.”

Sie gehen durch die zentrale Kuppelhalle, steigen die freischwebende Treppe zum ersten Zellengang hoch. Der Beamte öffnet Zelle Nummer 31. Blum fragt, wie's weitergehen soll.

Achselzucken.

Der Beamte schließt hinter ihm zu. Blum schmeißt sein Bündel aufs Bett. Die Zelle ist größer und heller, etwa vier mal vier Meter, aber genauso möbliert wie die vorige (genauso wie alle folgenden). Rechts ist ein Waschbecken mit fließendem Wasser, links ein Spülklo.

Blum stellt den Hocker unters Fenster und steigt drauf. Jetzt kann er durch Gitter und Scheibe sehen. Weiter nicht. Vor dem Fenster ist eine Plastikblende angebracht, die die Sicht versperrt.

Der Fußboden, aus braunen, breiten Holzbohlen, ist gut eingewachst und gebohnert. In der Mitte sind die Bohlen abgetreten.

Drei Stunden, dann hört er vom Gang das Geräusch der fallenden Riegel. Der Esstrupp kommt näher. Kessel klappern. Er knotet sein Bündel auf, entnimmt ihm die zwei Blechnäpfe. Die Tür geht auf. Er tritt raus.

Sein Nachbar zur Linken beugt sich über den Kessel. Blum sieht nur den Rücken.

Blum setzt sich und starrt in die Suppe. Er schüttet sie in die Toilette und spült den Napf mit kaltem Wasser aus. Eine Schicht von klebrigem Talg bleibt im Napf zurück.

Er geht zur Pritsche, legt das Bündel an das Kopfende. Er kratzt sich, blickt auf seine Fingernägel. Er kippt um und streckt die Beine aus. An der geweißten Zellendecke ist ein großer, ockerfarbener, braungeränderter Fleck. Daneben sind ein paar kleine wie Blasen von diesem großen Fleck abtreibende Flecken.

Auf dem Gang wieder das Pötte- und Füßeklappern. Jemand schreit vor seiner Zelle: „Nachschlag?”

Die Klappe vor dem Spion außen an der Tür wird zurückgeschoben. Das Auge des Wärters erscheint.

Blum will keinen Nachschlag. Trotzdem wird die Tür aufgeschlossen und der Wärter:

„Am Tag auf dem Bett rumflözen, gibt's nich! Sitzen auch nich! Runter da!”

Blum setzt sich auf den Schemel.

„Wenn ein Beamter in die Zelle kommt, und solange er in der Zelle ist, hat der Gefangene zu stehen!“

Blum steht auf.

Nachmittags holen sie ihn ins Vernehmungszimmer. Hinter dem Schreibtisch hockt ein kleiner dicker Mann, der Amtsrichter. Er sei beauftragt, einen vom Amtsgericht Langden erlassenen Haftbefehl, die sogenannte Überhaft, zu verkünden, sagt er.

„So”, sagt Blum.

„Ja, so!” schreit der Amtsrichter. Er fiept durch die Lippen.

„Sie werden beschuldigt, im Zuständigkeitsbereich des Amtsgerichts Langden Anfang dieses Jahres mit einem oder mehreren Mittätern eine Bank ...”

Der Amtsrichter hat rötliche Flecken im Gesicht.

Wieder in der Zelle. Der Beamte, der Blum gebracht hat, zeigt auf den Tisch. „Da liegt Papier. Sie haben als Neuzugang das Recht, Ihren Angehörigen Mitteilung zu machen.”

Blum sitzt am Tisch und starrt auf das Papier, ein einziges DIN-A-5- Blatt, liniert, bräunlich mit Holzfaserungen und auf dem Kopf ein Stempel mit dem Datum, daneben ein grüner Umschlag.

Nach dem Abendessen noch zweieinhalb Stunden, bis das Licht ausgeht, ohne Klicken und ohne Vorankündigung. Auf dem Zellengang die langsamen schweren Schritte des wachhabenden Beamten. Vor Blums Tür bleibt der Beamte stehen. Die Klappe des Spions schabt und fällt zurück. Es ist Ende Mai.

Ein Beamter brüllt: „Freistunde.” Die Zellen werden aufgeriegelt, und die Gefangenen stellen sich davor auf. „Ausrücken –!” Die Gefangenen gehen hinunter in den Hof. Jeweils dreißig Mann. Ein Beamter bezieht Posten an der Hoftür, ein anderer auf der Gegenseite. Drei Seiten des Hofes werden von den Zellenblocks, die vierte von einer hohen Mauer gebildet. Über der Mauer Stacheldrahtrollen. Die Gefangenen gehen einzeln und hintereinander. Sprechen ist verboten, ebenso der Austausch von Zetteln.

Blum gehört zur Gruppe der Untersuchungsgefangenen, die noch Zivilkleidung tragen. Manchmal wird ein Gefangener, der sich nicht an das Sprechverbot gehalten hat, vor Ende der Freistunde in den Block zurückgeführt. Die meisten sind unter dreißig. Vor Blum geht einer, der etwa einundzwanzig ist, sportlich und zuversichtlich. Er versucht, mit Blum zu reden.

„Heiße Schröder. Liege auf 32, gleich neben dir.”

„Schnauze da!”

Einmal in der Woche, am Freitagnachmittag, Duschen. Der Kalfaktor lässt die Dusche vier Minuten laufen. Die Gruppen treten geschlossen unter das strömende Wasser. Neben Blum zieht sich Schröder aus.

„Wie lange bist du hier?”

„Ein paar Tage.”

„Weswegen?”

„Bankraub.”

Wechsel. Blum muss unter die Brause. Er schließt die Augen. Vier Minuten unter heißem Wasser, plötzlich reißt der Strom ab. Mittags will Schröder ihm eine alte Bild-Zeitung zustecken. Der Versuch scheitert.

Einmal in der Woche, am Montag, Einkauf. Blum wird in einem kleinen bewachten Bus in ein anderes Gefängnis gefahren.

Auf der Fahrt dorthin sieht er: Bäume, grüne Felder. Mädchen in Kleidern und bunten Röcken, Spielkinder. Blühende Büsche.

Blum beißt mit den Zähnen in die Fenstervergitterung.

Es kommt ein Schlagloch, er verliert eine Plombe.

 

Station

Mit Zahnschmerzen und entzündeten Augen wird Blum in den untersten Gang in Zelle 11 eingewiesen. Dort wartet er in fast vollkommener Abgeschiedenheit vierzehn Monate auf seinen Prozess.

Morgens um sechs nach dem Klingelzeichen steht er auf und baut sein Bett. Er wäscht sich, zieht sich an, fegt die Zelle, empfängt Kaffee und Brot, manchmal Milchsuppe, wird hinausgeführt in den kleinen Hof, geht eine halbe Stunde im Kreis, allein mit dem Beamten, der ihn bewacht.

Danach Gymnastik in der Zelle. Das hat ihm sein Anwalt geraten. Es sei gut, den ganz natürlichen Aggressionsstau auf eine vernünftige Weise loszuwerden. So übt Blum Fußtritte.

Blum darf Bücher ausleihen, er liest bis zum Mittagessen, an hellen Tagen auch am Nachmittag und am Abend. Um neun Uhr verlischt das Licht.

Oft geht Blum hin und her und fuchtelt mit den Armen, schlägt mit der Faust gegen die Tür des Wandschränkchens, gegen die Wand, steht Stunden vorm Spiegel, zieht Grimassen. Als er seinem Anwalt, der zweimal in der Woche kommt, erzählt, er befürchte, dass all die kleinen Äderchen im Kopf und Gehirn platzen und ihm das Blut aus Mund, Nase und Augen schießen könnte, meint der, den dunkelblauen Hut in der Hand:

„Versuchen Sie's mit Schreiben, das lenkt ab.”

Blum überlegt. Nachts träumt er von Gerta. Sie trägt das Essen auf und zuckt lachend mit dem Hintern zurück, weil er ihr unter den Rock greift. Sie sitzt nackend in der Badewanne, wäscht ihre Brüste und bespritzt jemanden ihr gegenüber, den Blum nicht sehen kann. Er steht auf, öffnet die Hose und holt seinen Schwanz raus. Er hängt. Er zieht an ihm, schnippt ihn mit zwei Fingern, klopft und dreht ihn, feuchtet ihn an und wichst zehn, zwanzig Schläge. Der Schwanz bleibt schlaff. Seit Monaten hat Blum keinen Ständer mehr gehabt.

Erschreckt geht er zur Heizung und hält den Schwanz zwischen die Heizungsrippen. Er blickt nach oben, auf Gerta konzentriert. Er kriegt ihn auf Halblatte. Er bewegt den Hintern vorsichtig hin und her, die Hände über der Heizung verkrallt. Die Heizung ist grau gestrichen, wie die Wände auch, aber die Ölfarbe hat die raue, körnige Oberfläche des Metalls.

Nach zehn Minuten tritt Blum zurück. Er ist geschlagen. Er befühlt seinen Schwanz. Der ist rot, wundgescheuert und schlapp. Die Klappe vor dem Spion schabt. Das Auge des Wärters lugt.

„Leisetreter”, sagt Blum zum Auge. „Adlerauge.”

Eines Tages kommt der Anstaltsleiter und sagt, er werde demnächst einige Male in der Woche zu seinem Mitgefangenen Müller nebenan in die Zelle geführt, um diesem Gesellschaft zu leisten.

„Müller ist Ingenieur. Er hat seine Frau umgebracht. Seit vier Tagen verweigert er jede Essensannahme. Er sieht nicht ein, dass er letztlich dem Steuerzahler schadet. Wenn er den Hungerstreik fortsetzt, müssen wir ihn ins Krankenhaus bringen, und das kostet ja alles eine Menge Geld. Lenken Sie ihn ein wenig ab.”

So verbringt Blum gelegentlich seine Nachmittage bei Müller auf Nummer 12.

Blum baut langsam die Schachfiguren auf, vorsichtig und leise, denn wenn Müller es merkt, wird er ausrufen:

„Ach, lass uns doch noch ein bisschen erzählen!”

Womit er die Fortsetzung seiner Monologe meint.

„Wir haben doch nur diese Wochenenden dazu.”

Blum schiebt seine Hände mit den Figuren heimlich unter Müllers Augen durch. Blum weiß, so stoppt er den Redefluss mit dem Eröffnungszug. Er hat diese Möglichkeit nicht gleich erkannt. An welcher Stelle eines Satzes Müller auch ist, er dehnt das letzte Wort, gedankenlos den Blick auf die aufgebaute Partie gerichtet, bricht ganz ab, als wolle er nur einen kurzen Moment überlegen, aber dieses Loch, das Blum geschlagen hat, reißt weiter auf und das, was Müller eben noch beschäftigte, versinkt darin: Sie spielen. Blum konzentriert sich, und manchmal übt er in seiner Zelle nach einem Schachbuch, ohne seinem Gegner das jemals zu gestehen. Er nimmt ihm den Läufer. Müller sagt:

„So ist es schon besser”, oder: „So wollte ich das haben.” Hätte Blum ihn nicht gekannt, würde er sich den Kopf zerbrochen haben, was für einen Fehler er gemacht hat.

Müller verliert nicht eine Partie, sondern fünf hintereinander. Auf dem lautlosen Schlachtfeld, auf dem er kämpft, gibt es keinen Sieg. Es ist die unheimliche Silhouette des Kampfes, den Müller Tag für Tag um seine Freiheit führt: an die Regeln gebunden, die er nicht erfunden hat, und an denen er nichts ändern kann, erlebt er die Ohnmacht aller seiner Bewegungen. Jeder Angriff, den er unter mühevollen Anstrengungen aufbaut, stößt ins Leere oder verengt seine Position.

Er baut hastig die Steine wieder auf, und in der Art seiner Züge, in der Art, die Figuren vorwärts zu stoßen (manchmal fällt eine vom Tisch), zeigt sich sein Hass. Er kann es alles nicht mehr ertragen; nur schnelle und schreckliche Zerstörung würde ihm Erlösung bringen. Deshalb haut Müller manchmal mit einer einzigen heftigen Bewegung die Schachfiguren vom Tisch und schreit: Sieg! Sieg! –? Einmal musste Blum sogar einen Bauern aus dem Lokusbecken fischen.

Blum wühlt in den Briefen seiner Verlobten. Sie kommen aus Schweden, deshalb fehlen auf den Umschlägen die Marken. Schwakowski holt sie immer, er sammelt. Erst bringen sie den Brief, und eine halbe Stunde später ist er da, er ist ungeduldig. Der gereizte Ausdruck verschwindet erst von seinem Gesicht, wenn er die Marken eingesteckt hat. Er erzählt, dass es Gefangene gibt, die die Marken nicht hergeben. Er begreift nicht, was die damit wollen. Blum sucht einen bestimmten Brief. Er hat ihn gefunden. Während er liest, schlägt er sich an die Stirn, stöhnt, lacht, nimmt einen Rotstift und unterstreicht jede Zeile eines Absatzes:

‚Warum bist Du soweit gegangen? Ich kann es nicht verstehen. Du warst immer voller Hass gegen Deinen Vater und dann gegen die Bürger. Du siehst, wie weit Du damit gekommen bist. Ach, ich bin so unglücklich! Du hattest davon gesprochen, dass wir immer hier leben wollten, wenn Du erst eine Position hast. Aber gut, das ist jetzt vorbei, doch bitte antworte endlich.’

Antworten und Missverständnisse verdoppeln. Nein, nicht schreiben, nicht antworten. Hab keine Zeit, muss das Bett bauen.

Blum stellt einen Besuchsantrag für seine Verlobte in Schweden. Zwei Wochen dauert die Prüfung, dann lässt der Untersuchungsrichter ihm einen Besuchsschein aushändigen, in dem Gertas Name steht. Blum liest, dass die Dauer des Besuchs auf höchstens eine halbe Stunde festgesetzt ist. Der Beamte, der den Schein übergeben hat, geht in der Zelle herum und prüft mit dem Zeigefinger hier und da den Staub. Mit einem Holzstab klopft er gegen die Gitterstäbe.

„Noch nich anjesächt, wie?”

„Hören Sie mal”, sagt Blum. „Das Mädchen reist mehr als tausend Kilometer heran, damit wir uns läppische dreißig Minuten sehen können?”

„Das is Ihre Sache, wenn Sie sich kein deutsches Mädchen suchen. Mehr als dreißig Minuten gibt's für keinen.”

Wenig Später erkrankt Blum an Hautausschlag. Rötliche Stellen und kleine eitrige Entzündungen an Hals und Gesicht. Ständig schneidet er sich beim Rasieren.

Er meldet sich zum Arzt, der zweimal in der Woche aus der Stadt in die Anstalt kommt. Der sagt, er könne da nichts machen, vielleicht 'ne Allergie. Er ist kein Hautarzt.

Blum stellt Antrag auf einen Hautarzt. Nach drei Tagen lässt ihn der Anstaltsleiter kommen.

Er hat hellblondes, kurz geschnittenes und gescheiteltes Haar, blaue Augen, sehr glatt rasiertes, gut durchblutetes Gesicht und fleischige Hände. Wenn er von Südländern spricht, sagt er „diese Völker”. Er liebt es, seine Erfahrungen im Krieg und im Strafvollzug in allgemeinen Zusammenhängen darzustellen.

„Ihre Geschichte da, die kommt vom vielen Rauchen”, sagt er. „Sehen Sie mein Gesicht, ich rauche nicht, trinke nicht. Nur Lindenblütentee. Alles Selbstzucht. Früher gab es für den Gefangenen im ganzen Monat nur ein Päckchen Tabak. War besser für die Leute. Schließlich sollte das Gefängnis dem gestrauchelten Menschen Gelegenheit geben, seine Laster beherrschen zu lernen.”

Blum nickt.

„Sie wollen einen Hautarzt? Können Sie den selbst bezahlen? Sie wissen, als Untersuchungsgefangener haben Sie das Recht.”

„Nein.”

„Nun ja, für so eine kleine Anstalt ist das zu teuer. Wir alle, auch Sie und ich, dürfen die Verantwortung gegenüber dem Rechnungshof und dem Steuerzahler nicht vergessen.” „Es muss aber etwas geschehen.”

„Ja, ja, also nach Lingen ins Gefängnislazarett. Guten Morgen.”

Durch den Dampf im Duschraum am Freitag sagt er zu Müller: „Jetzt

wollen sie mich ins Lazarett abschieben. Wenn die mich auf Transport schicken, bevor Gerta kommt, war ihre Reise umsonst.”

Müller hat gute Laune heute. Er seift erst seinen Nacken gründlich ein, dann den Sack.

Zu Schwöppes, dem Beamten, der ihn vom Duschraum zur Zelle führt, sagt Blum, er müsste telegrafieren, heute noch.

„Wat musste heute noch?”

„Ein Telegramm abschicken.”

„'n Telegramm? Ja, sach ma, hör ich richtig, 'n Telegramm?”

„Ja. Die wollen mich ins Lazarett schicken. Gerade jetzt wollte mein Verlobte kommen. Hat tausend Kilometer Anreise.”

„Ah, dat schwedsche Mädchen aufm Bild?”

„Ja.”

„Also, will ich sehen, wat sich da tun lässt, woll. Weißt ja, dat ich nix gejen euch Jungs hab, woll.”

Die Treppe runter kommt eine Gruppe Gefangener zum Duschen. Schwöppes schiebt Blum schnell weiter. Er darf mit keinem anderen Gefangenen außer Müller zusammenkommen.

Nachmittags ist Schwöppes wieder da. Er verzieht sein Gesicht. Er hat wässrige blaue Augen. Blatternarben und Knollennase. Schwöppes ist ruhig und gemütlich. Er hat stets ein oder zwei Schnaps drin. „Tja, min Dschung, wenn de telegrafieren willst, musste 'n Antrag stellen. Dat jeht dann über'n Alten oder über'n U-Richter. Und 'nen Antrag hättste gestern beantragen müssen. Nun kannste erst wieder am Montag.”

„Gut, dann will ich meinen Anwalt sprechen. Und zwar sofort.”

„Mensch, Junge, da musste an ihn schreiben, dass er kommen soll.”

„Dann geben Sie mir einen Brief her.”

Schwöppes sieht Blum nachdenklich an und schüttelt den Kopf, als zweifle er an Blums Verstand. Mit schwacher Stimme sagt er: „Haste denn keinen beantragt? Da musste doch den Brief zusammen mit dem Antragsformular am Montagfrüh bestellen.”

„Bin ich irre oder was? Dann gehen Sie eben zum Anstaltsleiter und sagen ihm, dass ich meinen Anwalt sofort sehen will. Er soll telefonisch benachrichtigt werden. Will ein Geständnis machen.

Brummend und Kopf kratzend geht Schwöppes. Nach einer Weile kommt er zurück.

„Zieh dir ’ne Jacke an. Sollst zum Vorstand.”

Der Anstaltsleiter schnippt mit dem Finger, um Schwöppes zu bedeuten, dass er verschwinden soll.

„Setzen Sie sich”, lehnt sich zurück im Sessel, verschränkt die Hände vor der Brust.

„Rauchen Sie nur, bitte, hab immer ein paar für Besucher, obwohl ich Nichtraucher bin, wie Sie wissen. Also Sie wollen ein Geständnis ablegen? Das ist sehr vernünftig. Sehen Sie mal, die anderen, die Sie decken, die sitzen draußen und bringen die Beute durch. Auch denen helfen Sie nur. Wie sollten Sie und Ihre Freunde mal vor Ihren Kindern stehen und ihnen in die Augen blicken können, wenn Sie mit solcher Schuld beladen sind.“

„Sagen Sie, Herr Oberinspektor, angenommen, es sei ein Freund von mir, der jetzt studiert, in etwas verwickelt. Er würde also später als Hilfsarbeiter statt als Arzt vor seinen Kindern stehen. Und die würden ihn fragen, Vater, warum bist du Hilfsarbeiter, und er würde antworten, Kinder, weil ich fünf Jahre im Zuchthaus gesessen habe, was würden die Kinder wohl denken?”

„Na, na, Blum, Hilfsarbeiter! Es gibt wohl auch noch andere Beschäftigungen!”

„Welche?”

„Wer etwas erreichen will und ein ganzer Kerl ist, der wird es auch zu etwas bringen. Also Sie wollen ein Geständnis machen?”

„Ich will meinen Anwalt sprechen.”

Der Oberinspektor beugt sich weit vor, um Blum zu mustern. Lehnt sich zurück und lächelt.

„Hören Sie, Blum, wir wissen doch genau, dass Sie Verbindung aufnehmen wollen mit Ihrer Verlobten in Schweden ...”

„Von der Verlegung ins Lazarett benachrichtigen, damit sie die Reise nicht umsonst macht.”

„Nun, warum auch immer. Wir können solche Extratouren nicht einreißen lassen. Es sei denn, es geben besondere Umstände dazu Anlass.”

Sie sitzen und starren sich an.

„Dann geben Sie mir einen Brief für den Anwalt.”

„Ich bin Anstaltsvorstand. Das machen meine Beamten zu bestimmten Zeiten. Sie wissen das. Ich glaube, damit wäre die Sache erledigt.”

In der Zelle geht Blum auf und ab.