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Friederun Pleterski

Adria Blues

Nimm das Leben, wie es kommt

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DRAVA VERLAGZALOŽBA DRAVA GMBH

Alle Rechte vorbehalten

© Drava Verlag/Založba Drava GmbH Klagenfurt/Celovec 2017

Coverfoto © Friederun Pleterski

www.drava.at

ISBN 978-3-85435-820-6
eISBN 978-3-85435-851-0

Der Katamaran Princ Zadra liegt im Hafen von Zadar vor Anker. Er fährt zu den Inseln Premuda, Silba und Olib. Am Pier herrscht Geschäftigkeit. Die Passagiere stehen mit ihren Koffern, den Taschen und Rucksäcken vor der Landebrücke und warten. Um vierzehn Uhr ist Abfahrt, um Punkt halb zwei dürfen wir an Bord. Bis dahin sollten alle Hunde und Katzen, Blumengebinde und das unbegleitet reisende Gepäck am Boot gut verstaut sein. In der Menschenmenge, die am Pier steht, erkenne ich nur wenige bekannte Gesichter. Seit vierzehn Jahren komme ich in dieses Land –vier volle Jahre, rechnet man die Monate, die ich hier war, zusammen. Vor vierzehn Jahren kaufte ich mein wunderbares Inselhaus auf Olib. Seit sieben Jahren ist es der Princ, der mich verlässlich von Zadar auf die Insel bringt, in eine andere Welt, in die Welt einer kleinen Insel, auf der von Jahr zu Jahr weniger Menschen leben.

„Slobodno?“ - „Ist der Platz frei?“, frage ich und setze mich zu Joan, einer Inselfrau. Sie hat graue Löckchen, trägt Bluse und Strickjacke, sie ist eine Freundliche mit schneeweißer Haut und roten Bäckchen, auf Olib geboren und in Queens aufgewachsen. In New York heiratete sie einen Jungen, der einige Jahre vor ihr ausgewandert war und der, wie kann es auch anders sein, auch aus Olib stammte. Vor zwanzig Jahren kamen die beiden auf die Insel ihrer Kindheit zurück, um hier ihre Rente zu genießen. Den Ehemann traf bald der Schlag, und bis man ein Boot fand, das ihn nach Zadar ins Krankenhaus hätte bringen können, war er schon tot. Sie freut sich so, dass ich wieder hier bin. Ja, sie weiß, dass ich im letzten Sommer sehr krank war. Sie hat mich vermisst. „Dein Haus war so leer. Und wie geht es Dir jetzt?“ - „Ich bin gesund. Vor einem Jahr dachte ich noch, meine Zeit sei abgelaufen. Und nun bin ich Zeitmillionärin.“ Sie lacht, sagt, sie sei „auch so eine“. Sie findet, ich sei wieder ganz die Alte. Die bin ich, oder auch nicht. Ich bin achtsamer geworden. Langsamer. Ich genieße den Augenblick, freue mich über Kleinigkeiten. Ein Inselsommer liegt vor mir. Ich werde die meiste Zeit allein sein, ohne Zeitung, Radio und Fernsehen, und ohne Partner, der war mir abhanden gekommen. In das Mail, das ich an alle Freunde verschickte, bevor ich abreiste, schrieb ich: „Besuche sind willkommen. Anmeldung am Festnetz erbeten.“

Kaum daheim im Inselhaus, sitze ich schon am Küchentisch und putze die grünen Bohnen. In Wien heißen sie Fisolen, fazoli auf Olib. Nirgendwo sind sie so gut wie hier. Sie sind dick, und sie sind fest, und sie haben selten Fäden. Ich darf beim Putzen nachlässig sein. Es ist Mitte Juni, Fisolenzeit. Ich kaufte sie am Markt in Zadar bei der Marktfrau meines Vertrauens. Auch sie hat den Krebs überwunden, es ist über zehn Jahre her. Sie ist eine Art Gemüsedoktorin und trug mir auf, täglich rotes und grünes Gemüse zu essen: „Iss rot und iss grün. Das ist die beste Medizin.“ Einen Bund Knoblauch schenkte sie mir dazu.

Ich habe alle Fenster geöffnet, so kann sich der feuchte Mief aus dem Haus ins Freie verziehen. Ich war im März hier gewesen, um bei den Tischlern zu sein, die im Haus arbeiteten und schliefen. Über die Hälfte der Balken wurde ausgetauscht, sie waren morsch, die Scharniere verrostet. „Das kommt davon“, rügte Krešo, „wenn man Fenster aus Holz kauft und nicht aus Kunststoff, so wie wir alle.“ Kann schon sein, dass Kunststoff nicht verrottet. Ich mag ihn nicht, außer als Ersatzteil, zum Beispiel als Backenzahn. Ich nahm wieder Holz: Lärche im Direktimport aus Österreich. Diese Balken sollten länger halten. Nachdem die Tischler fertig waren, blieb das Haus drei Monate lang zu.

Ich kappe den Fisolen die Enden ab. Einer nach der anderen. Die Kartoffeln stehen am Herd. Auch die Erbsen, von der Marktfrau höchstpersönlich frisch ausgelöst. Keine Erbse sieht wie die andere aus, und weil jede einzelne Erbse eine andere Form hat, wird jede einzelne eine Nuance anders als ihre Schwester schmecken, und jeder Löffel voll Erbsen anders als der nächste. Die Hälfte der Erbsen werde ich heute verspeisen, aus der anderen Hälfte morgen bizirisi zubereiten. Der Erbsenreis heißt im dalmatinischen Inseldialekt nicht wie in Italien risipisi sondern bizirisi. Die Hälfte der Fisolen lasse ich für Salat übrig. Mein Einstandsgericht auf der Insel: Fisolen, Erbsen und Kartoffeln natur mit etwas Olivenöl, dazu škuta, das ist fetter, frischer Topfen vom Schaf, als Nachspeise eine Schüssel voll festfleischiger, schwarzer Kirschen.

Auf der einzigen Bank am Strand sitzt ein Herr aus Zagreb, einer, der schon viel länger auf der Insel ist als ich. Ein immer gut gelaunter Mann, dessen Namen ich mir bis heute nicht merkte. Er ist Schwimmer, damit meine ich, dass er weite Strecken sportlich schwimmt. Er krault, durchpflügt wie ein Pfeil das Wasser, bis er dem Blick seiner Frau entschwunden ist, die auf der Bank im Schatten des riesigen, weiß blühenden Oleanderbusches sitzt und auf ihn wartet. Nach ungefähr einer Stunde kehrt er mit derselben Dynamik, mit der er gestartet ist, an den Strand zurück. Er ist schon älter und hat eine gut durchtrainierte Figur. Breite Schultern, schmale Hüften. Seine Frau hat schmale Schultern und breite Hüften. Während er unterwegs war, hat sie ein paar Zigaretten geraucht, das Päckchen liegt am Handtuch bereit für ihren Sportsmann, der sich, sobald er aus dem Wasser gestiegen ist, auch eine Zigarette anzündet. Danach wird er noch eine rauchen. Und noch eine. Er raucht ununterbrochen, es scheint, als hielte ihn nur das Schwimmen vom Rauchen ab. Aber was schreibe ich hier? Ich beschreibe ihn so, wie er war, nicht so, wie er ist.

Denn jetzt ist er nicht wieder zu erkennen. Seine Haut ist fahl, der Körper bis zu den Rippen abgemagert. Zwei Operationen hat er hinter sich, erzählt seine Frau, er hat Lungenkrebs. „Es wird schon wieder“, haucht er und ringt nach Atemluft. Dann steht seine Frau mit ihm auf, stützt ihn beim Hineingehen ins Wasser. Vorsichtig steigen sie über die Stufen hinunter, klammern sich am Geländer fest. Hand in Hand waten sie durchs Seichte, bis er sie loslässt. Langsam, ganz langsam schwimmt er eine kleine Runde. Mir scheint, dass er in diesem Moment glücklich ist.

Johnny steht am Pier und hält die Schlange am Schwanz. Er hält seinen gestreckten Arm hoch in die Luft, das muss er, denn das Tier, eine Äskulapnatter, ist ausgewachsen und einen Meter und achtzig Zentimeter lang und Johnny ein kleiner Mann. Die Schlange ist ein einziger Muskel, der sich dreht und windet, der Kopf sucht einen Weg nach oben. Johnnys fünfjähriger Sohn, ein blondgelocktes, kapriziöses Kind, beobachtet Vater und Schlange gelassen aus der Nähe, ganz ohne Furcht. Mit Tieren kennt der kleine Nikolaj sich aus. Sein Vater hat auf der Insel ein ganzes Häuschen mit Trophäen geschmückt, ein ausgestopfter Grizzly ist darunter. In Amerika war er ein großer Jäger vor dem Herrn. Jetzt ist er unser Bürgermeister. Zwei Wahlen hat er schon gewonnen, zweimal bekam er drei Stimmen mehr als der Gegenkandidat.

Er war fünfzig, als er seine Arbeit in New York nach einem schweren Unfall aufgab und seine Familie zurückließ. Er kehrte zu seinen betagten Eltern nach Olib zurück, wo er bald eine zweite Familie gründete, denn er hatte vor zu bleiben. Und auf der Insel Geld zu verdienen. In Containern importierte er aus den Staaten, was der Mensch auf Olib bis dahin nicht brauchte: Fahrzeuge, Sportboote, Gasgrillgeräte und Werkzeuge. Bis zu diesem Zeitpunkt war man hier mit Fahrrädern, mit Hammer und Sichel, Nussschalen mit 1,5 PS Motor und einem Holzkohlengrill ausgekommen.

Eine Jachttouristin mittleren Alters starrt auf das sich windende Tier. Angst und Schrecken sind ihr ins Gesicht geschrieben. „Don´t worry“, sagt Johnny, „sie ist nicht giftig.“ „Eine Natter“, mische ich mich ein. „Nema problema.“ Die Szene zieht Neugierige an. Stipe, ein Inselwirt, der aus Bosnien, steigt von seinem alten Traktor und macht mit der Hand eine eindeutige Bewegung, die „Kopf ab“ bedeutet. Johnny schüttelt den Kopf: Er werde das Tier an den Dorfrand bringen und in die Freiheit entlassen, es sei nützlich, aber am Pier am falschen Platz. Stipe zeigt sich damit nicht einverstanden. In seiner Heimat hält man Schlangen für lästig und überflüssig, egal ob sie nun giftig oder ungiftig, nützlich oder nicht sind. In Bosnien geht es ums Überleben, da ist man nicht zimperlich. Zu viele Schlangen gibt es heuer, davon weiß er zu berichten. Sie sind überall. Aus irgendeinem Grund haben sie sich vermehrt. Vielleicht weil die Raubvögel fehlen? Früher gab es bei uns Eulen, Habichte und Seeadler, ich selber habe sie gesehen, seit einigen Jahren vermisse ich sie. Aber wer weiß, vielleicht kehren die Raubvögel eines Tages wieder zurück. Ich erkundige mich nach dem Wildschwein, das uns im letzten Jahr auf Olib besuchte. Ich hatte gehört, dass die Wildschweine auf der Insel Sestrunj bereits eine Plage sind, sie durchwühlen die Gärten, laufen durch die Gassen und fallen den sechs Inselbewohnern auf die Nerven. Keine angenehme Zukunftsvision für Olib. Die Schweine kommen vom Festland, schwimmend. „Das Wildschwein?“ Stipe zeigt in Richtung Nachbarinsel. Man habe es tot an einem Strand in Silba aufgefunden. Auf Olib behagte es ihm offenbar nicht.

Welche Invasionen habe ich auf Olib schon erlebt? Die Vermehrung der Kaninchen und ihr Sterben an der Pest, als sie zu viele wurden. Das Erscheinen der Eichenspinner, sie fraßen die Wälder kahl, dann ihr plötzliches Verschwinden. Im Jahr danach waren die Bäume wieder grün. Die Märsche der herzigen Erdkröten, in warmen Regenperioden kriechen sie aus ihren Löchern und bevölkern die Straßen, wohl um einander kennen zu lernen. Tausendfüßler fressen sie leider nicht, auch diese tauchen in feuchten Zeiten in Massen auf. Einmal waren Tausende winzige Quallen im Wasser. Streifte man eine beim Schwimmen, entstand an der Berührungsstelle eine Brandblase, man konnte ihr beim Wachsen und Platzen zusehen. Nach einer Woche waren die Quallen wieder verschwunden, die Verbrennungen auf der Haut nicht. Und wie ist es mit den Menschen auf Olib? Hier ist keine Vermehrung in Aussicht. Im Gegenteil. Die Einheimischen werden von Jahr zu Jahr weniger. Im Jahr 2001, dem Beginn meiner persönlichen Inselzeitrechnung, waren es noch 180, jetzt, wo ich diese Zeilen verfasse, sind es 120, und ich wette, am Ende des Jahres werden es ein Dutzend weniger sein. Die Zahl der Saison-Gastronomen hingegen nimmt zu. Aber nur zwischen dem 20. Juli und dem 20. August, wenn die Touristeninvasion eintrifft, wenn Pommes frites, Eis und Pizza die beliebtesten Früchte Olibs sind, und wenn Wein, Schnaps und Bier fließen. Ab September ist es wieder ruhig hier. So ruhig wie jetzt im Juni.

Es ist Ebbe. Sterne funkeln am tiefschwarzen Himmel, ihr zarter Widerschein lässt das dunkle Meer an seiner Oberfläche glänzen. Ein Motor tuckert, ein zweiter, noch einer. Dann wird es still, die Fischer stellen die Motoren ab. Jeder fischt an einer bestimmten Stelle. Für die älteren Fischer ist das Meer in ideelle Reviere aufgeteilt, die Jungen wissen davon nichts mehr. „An dieser Stelle“, sagte Stanley, als er mich noch zum Fischen mitnahm, „hat schon mein Vater gefischt. Und sein Vater.“ Stanley hatte seine Verbindungen nach Amerika abgebrochen, um auf der Insel seiner Kindheit seinen Lebensabend zu verbringen. Er ist ein leidenschaftlicher Fischer, der nur auf große Fische aus ist und diese nur mit der Angel fängt. Den Oktopus jagte er mit einer Harpune, einem altertümlichen Mordinstrument, das schon sein Vater benutzte. Sie besteht aus einem Widerhaken am Ende eines langen Stocks. Über die Jungen, die sich in Neopren-Anzüge zwängen, tauchen und mit der Gas betriebenen Harpune schießen, verlor er nie ein gutes Wort. Er stellte den Oktopus im Mondlicht, glitt in einem Ruderboot behutsam das Ufer entlang, beobachtete den Meeresgrund, die Höhlen im Fels und die Dellen im Sand, Orte, an denen das Tier wohnt und zur Jagd aufbricht. In dem Moment, in dem es den Kopf aus der Höhle streckte, um wie eine Rakete los zu starten, stach Stanley blitzschnell zu. Ob er es immer noch so streng mit seiner Art zu fischen, dem „slow fishing“, hält?

Vom Fischfang konnten seine Eltern nicht leben, sie waren auf das Geld, das ihnen die Kinder aus Amerika schickten, angewiesen. Die großen Fische wurden verkauft. Die kleinen gab es zuhause. Es gab sie frittiert, auch zum Frühstück, dazu selbst gebackenes Brot und Eier. Mit den Eiern kamen die Ärmsten durch. Und die Ärmsten, das waren die Fischer. Auch ein Oktopus war ein Armeleuteessen. Ein ländliches Paradies, wie es manche schildern, war Olib nie. Es war ein Dorf auf einer sechs Kilometer langen und einen halben Kilometer breiten Insel ohne direkte Anbindung zum Festland. Der Beginn der Dampfschifffahrt gegen Ende des 19. Jahrhundert veränderte Dalmatien und natürlich auch Olib. Die ersten, die nach Argentinien und etwas später in die USA auswanderten, das waren die besten der jungen Männer. Sie suchten in Übersee Arbeit, sparten das Geld, kamen damit zurück, heirateten ein Inselmädchen, zeugten Kinder und fuhren wieder weg. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg packten auch die Frauen und die Mütter ihre Koffer und kamen nach Amerika mit. Heimat, so sagt man im Süden, Heimat ist dort, wo die Mütter sind.

„Hey“, flüstert Leona mir ins Ohr. Wir sitzen in der bocvica bei Saša und trinken Kaffee. „Schräg hinter dir sitzt sie, die Freundin von deinem Ex. Die Neue.“ Ich drehe mich um und tue so, als würde ich etwas bestellen wollen - und sehe einen Haarschopf, der wie ein Reisbesen aussieht. Der Besen sitzt ganz allein am Tisch. Stanley sitzt zwei Tische weiter und spielt Karten. Sie spielen hier jeden Tag Karten und zwar von fünf bis sechs am Nachmittag. Der Besen sitzt ruhig da, liest ein Buch und raucht.

Ich bin seit Jahren mit Stanley nur noch auf Facebook befreundet. Ungefähr einmal pro Woche postet er ein Foto, das ihn mit einem Riesenfisch im Arm zeigt. Meist ist es eine Zahnbrasse, ein subatac. Ich denke daran, wie dieser prächtige Fisch in der Natur aussieht. Ein subatac wird bis zu zehn Kilo schwer. Am Körper schimmern seine Schuppen in allen Farben, am Kopf leuchten sie golden, sobald der Fisch an der Angel aus dem Wasser auftaucht. Wie ein Regenbogen vergeht das Farbenspiel nach kurzer Zeit an der Luft.

Stanley fängt auch Meeraale, mächtige Tiere: Sie sind glatt, schleimig und grün und schmecken nicht besonders, eher trocken. Man gibt sie am besten in die dicke Fischsuppe, sie heißt brodet. Er trägt einen gestutzten, weißen Vollbart nach Kapitän-Iglo-Art, ich finde, dass er immer noch gut aussieht, auch wenn er zu dick geworden ist. Das hätte ich nicht zugelassen, täglich hätte ich ihm vorgehalten, er bewege sich zu wenig. Ich kapierte es einfach nicht, dass Fischer ihre Beine ungern gebrauchen und dass Zufuß-Gehen nur zwischen Boot und fahrbarem Untersatz üblich ist. Ich wollte es nicht wahrhaben, dass Fischer keine Wanderer wie die Menschen aus den Bergen sind, zu denen ich mich immer noch zähle. Wir hatten uns ineinander verliebt. Zusammen kamen wir nie. Ich war ihm zu „bossy“, und dann hatten wir unterschiedliche Auffassungen vom Inselleben. Ich wollte die Insel retten, die runden, alten Steinhäuser, in denen keiner mehr wohnt, davor bewahren, von eckigen Neubauten verdrängt zu werden. Ich wollte die Frauen als Hüterinnen der Gärten dazu animieren, es auch mit anderem mediterranen Gemüse zu versuchen, nicht nur mit Petersilie, Kraut und Mangold. Den Wirt des ersten Fast–Food-Restaurants wollte ich davon überzeugen, dass Slow Food die besseren Gäste bringt. Ich wollte mit Sonnenkollektoren warmes Wasser erzeugen und mit Photovoltaik Strom. Sogar ein Kulturprojekt schwebte mir vor, ein feines und leises Musikfestival in der geräumigen Kirche. Als ich bei der Hypo-Alpe-Adria-Bank vorsprach, die damals die Konzerte in der Kirche Sv. Donat in Zadar großzügig finanzierte, und um etwas Geld für ein Trompetenkonzert bat, fragte man nur nach der Zahl der möglichen Besucher im Hochsommer. Ich übertrieb und sagte, es könnten fünfhundert werden. Schnell war ich unverrichteter Dinge wieder draußen bei der Tür. Stanley wusste es, von Anfang an. Er wollte nichts aufbauen, er wollte nur wieder in seine glückliche Kindheit zurück. Drüben, am Pazifik, war das Leben Plackerei, er hatte sich den Ruhestand in Frieden verdient. Er trägt immer noch dieselben T-Shirts wie vor zehn Jahren, heute eines in blassem, verwaschenen Rosa. Er trägt es mit khakifarbenen Shorts aus denen braun gebrannte Waden lugen. Seine Füße stecken in FlipFlops, mit denen kein Mensch laufen kann. Aber das wollen auf Olib nur ein paar Verrückte, zum Beispiel ich.

Durch die Loggia streicht ein kühler Wind. Die Loggia, eine überdachte, nach drei Seiten zum Meer hin offene Terrasse liegt über dem Billard-Zimmer des Café Grobak. Schon vor vielen Jahren gab es im Magazin des Cafés einen Computer mit Internetanschluss. Den zweiten hatte ich. Heute haben alle Cafés und Restaurants ihr WLAN. Das Gerücht, dass bald alle kleinen Inseln Dalmatiens über ein „gratis Insel WLAN“ verfügen werden, hält sich seit Jahren. Man will damit die starke Abwanderung stoppen. Die jungen Leute wollen alle weg. Um junge Familien zu halten, installierte man auf den Inseln ein System des Fernunterrichts via Internet, der soll recht gut funktionieren. Und damit das Internet besser und schneller ist, hat man auf Olib die letzten der alten und hohen von der Bora gebeugten Schirmkiefern umgeschnitten, sie standen dem Internetempfang im Schulgebäude im Wege. Jetzt sind die Bäume weg, ihr Schatten ist weg und ihr Duft. Und die Schule ist immer noch geschlossen.

Die Sonne hat den vorderen Teil der Loggia erreicht, wo die Touristen sitzen, sie lieben die Sonne. Die Einheimischen sitzen eine Reihe weiter hinten im Schatten. Der rückwärtige Teil der Terrasse ist frei von Tischen und Stühlen, das Gebälk darüber ist für die Schwalben reserviert, die seit Generationen ihre Kinder in dieser Loggia aufziehen. Ohne Scheu segeln sie über die Gäste hinweg, um ihre Jungen zu füttern, die ihre Köpfchen aus den Nestern recken.

„Take it easy. What else can you do?“ Mein Nachbar Frane hat die Ruhe weg. Mal werkelt er vor dem Haus, mal in seiner Garage herum, mal putzt er kleine Fische oder Karotten, mal sticht er den alten Kartoffen die Augen aus oder flickt ein altes Netz. Es kommt selten vor, dass er nur da sitzt, ohne etwas zu tun. In einer überschaubaren Umgebung kommt man mit Langsamkeit ans Ziel. Im Grunde braucht ein alter Mensch nichts anderes als eine Insel. Und wenn er sie nicht hat, dann schafft er sich eine. Auch in der Stadt.

Auf Franes Grundstück, auf dem noch die Hundehütte steht, in der kein Hund mehr schläft, mäht ein Mann das Gras mit der Motorsense. Es ist Ferdo, er trägt Ohrenschützer und einen Tarnanzug, den er noch vom Militär hat, das ihm monatlich eine winzige Rente überweist, eine, mit der er am Festland nicht auskommen würde. Auf Olib schon. Er ist Kriegsveteran.

Frane mäht nicht mehr selbst, er ist weit über achtzig. Er sei einmal sehr fesch gewesen, erzählt man sich. Ein mutiger, ein richtiger Mann eben. Er fuhr zur See. In einem Kutter fuhr er von Seattle aus den Pazifik hinauf in den Norden bis nach Alaska zum Krabbenfang. Eisiges Wasser rollte übers Deck, schwere Stürme peitschten ihm um die Ohren, und manchmal waren die Wellen so hoch wie Berge. Dieser Beruf hat ihn abgehärtet und seiner Familie bescheidenen Wohlstand gebracht.

In zweiter Ehe heiratete er Marija, ein paar Jahre älter als er. Als sie in Pension ging, zogen sie von Amerika auf die Insel und kauften die Villa. Marija wäre lieber ins urbane Mali Lošinj gezogen, woher sie stammte, wo viel mehr los ist und die Erinnerung an das italienische Lussinpiccolo noch lebendig. Wir redeten miteinander immer Italienisch. Ich setzte mich manchmal auf einen Plausch zu ihr, wenn sie unter der Laube vor der Villa saß und ihre Füße in einer emaillierten Waschschüssel badete. „Aaaah“, seufzte sie dabei wohlig, während Frane mit seinem 3-PS-Außenbordmotor vor der Küste herumtuckerte, um die Reusen zu kontrollieren und die Netze einzuholen.

Netze flicken, etwas, das er nun nur zum Zeitvertreib macht, war vor Jahren noch eine seiner Hauptbeschäftigungen. Fische putzen auch. Marija stand in der Küche. An der schönen, 1928 erbauten Villa, die einen quadratischen Grundriss hat, zarte Ornamente an der Fassade und einen Balkon mit einer Balustrade aus Schmiedeeisen, änderten sie nur wenig. So blieb die Villa im typisch italienischen Adria-Stil jener Zeit im Original erhalten: der Boden in der Halle im zart gemusterten, braun-weißen Terrazzo, die Türen mit Laibungen und Messingschnallen, der Stiegenaufgang aus dunkel lackiertem Holz, die Luster aus Murano-Glas, weiße Spitzenvorhänge, die schweren Möbel im Kaffeehausstil der Jahrhundertwende. Im Winter wärmt eine Zentralheizung das ganze Haus, eine Rarität auf Olib. Es gibt vier Villen dieser Art auf der Insel, die sich vom Rest der bäuerlichen Häuser deutlich unterscheiden. Es waren die Villen der feinen Leute. In der schönsten Villa wohnte der Insel-Arzt. Ja, auch so einen hat es früher hier gegeben. „Wir brauchen einen Arzt hier“, fordern die Rentner. Für hundertzwanzig Menschen?

Als ich nach Olib kam, hatten Frane und Marija zwei hübsche Hündinnen, istrische Bracken, die an der Kette hingen. Das war auf der Insel die übliche Art, Hunde zu halten. Frei laufende Hunde kamen erst mit den Touristen hierher, frei laufend oft zu ihrem Schaden, da überall im Dorfgebiet Rattenköder ausgelegt sind, an deren Genuss ein kleiner Hund sofort stirbt und ein größerer qualvoll dahin siecht. Die Kettenhaltung ist in den letzten Jahren aber ganz abgekommen. Franes Hündinnen wurden immer wieder trächtig, und versorgten die ganze Insel mit Hundenachwuchs, der immer hübsch war, mal glatthaarig, mal struppig, meist semmelblond oder weiß mit blonden Flecken.

In den letzten Jahren bekam Marija Probleme mit den Hüften und musste öfter ins Krankenhaus. Als sie nicht mehr zum Friseur nach Zadar fahren wollte, war sie wirklich alt. Frane kümmerte sich liebevoll um sie. Sobald Milivoj sein Cafe für die Saison aufsperrte, meist zu Ostern, kleidete er sie hübsch, half ihr über die Stufen vor das Haus und auf seinen Quad und fuhr mit ihr am Rücksitz die fünfhundert Meter hinunter an die Mole zum Kaffeetrinken. Im März starb sie an Altersschwäche. Bald nach ihr starb auch Beliza, die letzte der Hündinnen, die Frane mit der Zeit gehend in den letzten zwei Jahren von der Kette gelassen hatte. „Das hätte mir früher auch einfallen können“, sagte er einmal. „Jetzt merke ich erst, dass Beliza auch ohne Kette brav vor der Tür liegt, wenn sie an einem Knochen nagen darf.“

Die Landschaft hat sich verändert. Die Legsteinmauern entlang der alten Wege bröckeln, an manchen Stellen hat man sie mit einem Bagger durchbrochen, um dem Traktor Platz zu machen. Nach der Brennholzernte wird die Mauer nicht mehr repariert. Auch, weil es niemand kann. Das Aufschlichten von Feldsteinen zu Mauern, die allein durch ihr Gewicht zusammenhalten, ist altes, vergessenes Handwerk. Aber noch stehen viele Zeugen vergangener Zeit. Noch kann man sehen, mit welchem unerschütterlichen Überlebenswillen die Vorfahren der letzen Olibianer aus einer Wildnis Kulturland gewannen.

Die Steine hatte man aus dem Boden gegraben, um Weideland für die Schafe und Esel, auch um Ackerland zu gewinnen. Den Schafen baute man Schlupftore. Ein Schlupftor war V-förmig, so dass sowohl ein Hirte, wenn er einen Fuß vor den andern setzte, wie auch ein Schaf, das vorsichtig durch dieses Tor stieg, der Mauer keinen Schaden zufügte. Waren alle Schafe auf ihrer Weide angekommen, verschloss der Hirte das schmale Tor kunstvoll mit Zweigen, so dass kein Schaf auf die Idee gekommen wäre, hier alleine durchzusteigen. Die meiste Sorgfalt widmete man den Mauern dort, wo hinter den Wegen die Olivengärten lagen. Schafe ließ man in diese Gärten nur unter Aufsicht hinein, weil sie die Oliven gerne anknabbern. Oliven brauchen, will man gutes Öl gewinnen, Pflege. In die Mauern baute man auch Überstiege, man steckte einzelne, große und flache Steinen in die Mauer, so dass sie aus dieser herausragen und Stufen bilden. Einige dieser schönen Mauerstufen sind noch heute erhalten. Die Landschaft ist grün und üppig, der schwere Duft blühender Büsche begleitet mich bis zur kleinen Kirche des Heiligen Nikolaus, Sv. Nikola.

Am grauen Himmel schiebt der Südwind eine schwarze Wolkenbank vor sich her, in unsere Richtung. Frane werkelt in seiner Garage. „Rain is coming“, sagt er, „you will see“.

Als erstes werde ich den Ameisen zu Leibe rücken. Es sind winzige Ameisen, die mitten in der Wiese in einem tiefen Loch ihren Bau haben. Von diesem Bau aus führt eine Ameisenstraße quer über das Grundstück hin zur einer hohen Mauer und auf dieser durch die Sommerküche hinauf in den First des Sommerküchendachs. Ich sprühe. In ein paar Tagen werden sie ihre Straße wieder benutzen. Was sie am Ende derselben suchen, ist mir ein Rätsel. Sie richten keinen Schaden an, und Speisereste liegen keine herum. Vielleicht mögen sie das Harz im Holz?

Als zweites kommen die Schlupfwespen dran, die ihre Nester aus Ton zwischen die Dachbalken kleben. Von außen sehen die Nester wie unförmige, braune Klumpen aus rötlichem, gebrannten Ton aus. Zerteilt man einen Klumpen, so offenbart sich in seinem Inneren ein Labyrinth, von Röhren durchzogen, an deren Enden je eine Made lebt, die sich von je einer toten Spinne ernährt.

Die Wespen sehen aus wie Wesen von einem fernen Planeten. Ihre Körper bestehen aus zwei langen, schlanken Teilen, die durch eine hauchdünne Taille miteinander verbunden sind. Sie fliegen von ihrer Brut in den Tonkugelhäusern hinaus in die Natur und suchen dort nach Spinnen, die sie mit einem Stich lähmen. Mit ihren langen Beinen und Armen greifen sie das Opfer und fliegen damit zu einer der Röhren, um die Spinne hineinzustopfen. Sie machen sich so viel Mühe! Schon wenn sie ein Nest bauen, schleppen sie die Erde heran, vermischen die Erde mit ihrem Speichel und kleben das Material an Mauer oder Holz. Und nun komme ich, nehme einen Besenstiel, schlage die Tonklumpen aus dem First, so dass sie zu Boden fallen und in einer Staubwolke in tausend Stücke zerbersten. Sorry. Ob es die Wespen nach so vielen Kleinkriegen mit mir immer noch nicht kapiert haben und sich woanders ein sicheres Plätzchen für die Aufzucht suchten? Nein, bis jetzt nicht.

Die Nester im First sind immer noch da, doch sie sind leer. Die Schwalben hatten mir immer solche Freude bereitet, ich konnte Stunden damit verbringen, sie beim Großziehen ihrer Jungen zu beobachten und den Melodien ihres Gesanges zu lauschen. Wie dann die Jungen, eines nach dem anderen, die ersten Flugversuche machten, sich immer weiter vom Haus weg wagten, während ein Hinterling immer noch im Nest saß und den Schnabel aufsperrte! Schließlich lernte auch er das Fliegen. Ich wünschte, die hübschen Vögel würden bei mir wieder einziehen. Schwalben bringen Glück. Den Schwalbendreck unter dem Nest, den kann ich doch wegputzen! Oder Papier über den Tisch breiten und entsorgen. Mit dem Putzen nahm es jemand einmal zu gründlich. Das haben die Schwalbeneltern nicht vergessen und weitererzählt.

Zum ersten Mal seit meiner Ankunft speise ich im Freien. Die Zikaden singen, die Schwalben sitzen am Telefondraht, sie zwitschern und haben woanders ihre Nester. Vom Strand her höre ich die Wellen an die Ufermauer schlagen.

Vom Markt liegen noch Gurken, Zucchini, Kartoffeln und zwei grüne Gemüse, die mir unbekannt sind, im Kühlschrank. Ich brate die Zucchini in der Pfanne, mache mir von den Gurken, Joghurt, Pfeffer, Salz und Knoblauch Tsatsiki und koche zwei Kartoffeln. Die Wildgemüse, eines ist eine Art Zichorie von der Wiese, das andere eine Art Fenchel, sollte ich kochen, das hatte mir die Marktfrau in Zadar empfohlen. Eine Offenbarung ist das Grünzeug nicht, und so gesund muss Ernährung auch nicht sein. Es wird am Komposthaufen landen. Aber gekostet hab ich´s! Und vor dem Teller mit Stängeln, die wie Gras ausschauen, muss ich an den venezianischen Autor Alberto Fortis denken, der im 18. Jahrhundert die dalmatinische Küste bereiste und sich über jene Menschen wunderte, die, wie er schreibt, „vergorene Milch und Gras essen”. Der alte Fortis hätte heute mein Gast sein können.

Frane sagte den Regen voraus. Also lasse ich das Gartengießen sein und schlendere durch das Dorf. Ich komme nicht weit. „Wie geht es, und was machen die Kinder? Denkst du, morgen wird es regnen?“ Der Himmel am Horizont ist schwarz, nur nicht über Olib. Über Olib klafft ein azurblaues Loch. Am Weg ins Dorf begegne ich Emil, er ist ärgerlich. Die Zisterne, drüben bei den Appartements, die sie vermieten, ist leer. Er sagt: „Diese Touristen, die duschen sich viel zu oft!“ Ja, wollt ihr hier die Touristen oder wollt ihr sie nicht? Und wenn ihr sie wollt, dann welche? Die ersten Anzeichen einer Fehlinvestition zeichnen sich schon ab. Vierzig Appartements gibt es auf der Insel. Als ich herkam, vermietete man vier. Und die Touristen, die duschen halt gern, länger und öfter als es der Wasservorrat der Insel erlaubt. „Wasser sparen!” Ein Schild mit diesem Schriftzug käme bei Touristen nicht gut an. Ich denke an die Jahre zurück, in denen meine Zisterne Wasser verlor. Jahre, in denen wir die gebrauchten Trinkwasserflaschen mit Meerwasser füllten, um Wasser fürs Klo zu haben. Als wir auch das Geschirr mit Meerwasser spülten, wurden die Gläser trüb. Und blieben auch so, bis heute. Jedes Mal, wenn ich eines in die Hand nehme, erinnere ich mich an die wasserlosen Sommer. Überall an der Küste war das Wasser knapp. Wasser wurde aus Zadar per Schiff gratis auf die Inseln geliefert. Von der Stadtregierung wurde jedoch angeordnet, zuerst die Tourismusbetriebe mit Wasser zu versorgen, danach, wenn etwas übrig bleibt, die privaten Haushalte. Einer sagte, man könne die Wasserlieferanten aber schmieren. Ich zahlte also brav hundert Euro dem Vermittler in die Hand. Was ich dafür bekam? Nichts. Denn für mich war beim besten Willen kein Wasser mehr im Tank. Das Geld bekam ich vom Vermittler wieder zurück. Bestechung ist hier üblich, nicht aber Betrug.

Ich begann also über eine Möglichkeit, zu mehr Wasser zu kommen, nachzudenken. Die obere Adria ist keine trockene Gegend, übers Jahr gesehen regnet es reichlich, nur nicht im Sommer. Im Herbst und im Winter könnte man aus dem Regen, der übers Dach und durch die Dachrinne in die Zisterne rinnt, leicht zwei Zisternen füllen. Na eben! Eine zweite Zisterne, das war die Lösung des Problems. Seit ich sie bauen ließ, haben wir auch im Hochsommer genug Wasser zum Duschen. Und zum Gartengießen.

Emils Frau tritt aus der Haustür. In der Hand hält sie ein Paket, in dem sich tiefgefrorenes Lammfleisch befindet. Sie schenkt es mir als Entschuldigung für ihre Schafe, die regelmäßig auf meiner Wiese grasen, und das trotz eines Zaunes. Ein kleines Paket mit Lammfleisch! Das ist nicht besonders großzügig. Ich denke an die arme Alte, die in einem uralten Steinhaus wohnte, in dem der Müll fensterhoch lag. Sie hatte keine eigene Wiese und trieb ihre Schafe frei im Wald und im Dorf herum. Sie war eine Zugereiste aus der Zagorje und fand nie Anschluss an die Dorfbevölkerung. Am liebsten fraßen ihre Tiere die grünen Paprika aus meinem Garten. Ich schimpfte freundlich mit ihr, weil mir das Weiblein leid tat. Am nächsten Tag stand es vor meiner Tür, mit zehn Kilo Kartoffeln in einem Plastiksack und unterm Arm ein Lämmchen, das sie mir schenken wollte, um den Schaden wieder gut zu machen - ein Geschenk das ich nicht annehmen konnte. Auch eine andere Frau bewies Anstand. Auch sie lebte eher in ärmlichen Umständen. Ihren Ziegen war es gelungen, auf das Dach der Sommerküche zu springen und dabei solchen Rabatz zu machen, dass ein paar Dachziegel locker wurden. Um sich dafür zu entschuldigen, brachte sie mir den ganzen Sommer über Säcke voll Gemüse. So sind eben die Leute. Freigiebig sind oft die, die selbst wenig haben.

Als ich den Sack mit der bescheidenen Portion Lammfleisch in Empfang nehme, schicke ich einen begehrlichen Blick hinüber zu einem Stock blühender Nelken. „Willst du?“, fragt Emils Frau. „Oh, ja.“ Etwas zögerlich bricht sie mir vier Nelken ab. Vier! Den ganzen Nelkenstock hätte sie mir schenken sollen, rechnete ich beim Nachhausegehen nach. Der Schaden, den die Schafe an meinen jungen Olivenbäumchen anrichteten, ist beträchtlich, zwei der Bäumchen haben gar keine Äste mehr, sie tun sich schwer mit dem Aufkommen. Ich ärgere mich. Aber was würde mein Nachbar Frane dazu sagen? „Take it easy! Du wirst dich doch nicht streiten.“

Der Regen hat der Landschaft gut getan, sie wirkt frisch und grün. Die Gräser stehen steil in die Höhe. Ein Kaninchen hoppelt über die Wiese. Ich gieße den Tee von gestern Abend auf, trinke ihn am Morgen sehr dünn. Was habe ich hinein gegeben? Eine Mischung aus Minzenblättern, einen Zweig Majoran. Majoran beruhigt und lässt mich gut schlafen, verdünnt wird er mich sanft in den Tag tragen. Der Wind von gestern, den ich bei weit offenen Fenstern herein ließ, half, auch den letzten noch feuchten Mief aus dem Haus zu vertreiben. Ich will heute noch aufräumen, den Medizinschrank von abgelaufenen Medikamenten befreien und die Lade mit den Badanzügen und den Bikinis der letzten zehn Jahre ausmisten. Die Gummis leiern aus, werden steif und klebrig. Weg damit. Aus zwei alten Bikinis mache ich einen neuen, das Oberteil ist blau, die Hose violett gemustert, alles ist möglich. „Das ist jetzt modern“, sagt Leona. „Bei H&M kannst du die Teile getrennt kaufen und kombinieren wie du willst.“ So wird wohl auch H&M seine Restbestände los.

Der alte Schrank aus einer Speisekammer, zum Badezimmerschrank umfunktioniert, quillt vor Fläschchen und Tuben über: Duschgels, Sonnencremen, Insektenschutz, After Sun Lotions, Gesichtsmilch zum Abschminken, Haarsprays. Die meisten der Behälter sind nur noch zu einem Viertel oder weniger voll. Ich werde alles wegwerfen. Der Werbespruch einer Drogeriekette fällt mir jetzt ein: „Hier bin ich Mensch, hier kauf ich ein.“ Wem, zum Teufel, kann so ein Spruch einfallen? Bedeutet Mensch sein Konsument sein? Ich will Mensch sein, nicht Konsument. Auf Olib ist es noch möglich.

Kaum auf der Insel brauche ich nicht mehr, was ich in der Stadt unbedingt haben muss. Ich brauche kein Geld für den Fahrschein, das Auto, das neue Kleid, das Theater, die hübsche Tasche, den Lippenstift, die Himbeertorte aus der Konditorei, wo ich, kaum habe ich das winzige Stück konsumiert, sieben bis acht Euro los bin und ein schlechtes Gewissen des Zuckerkonsums wegen habe. Alles Schaumschlägerei! Was kostet der Schaum am Cappuccino, was der Schaum in der kalorienarmen Torte? Ich zahle für die Luft in den Speisen und liefere Steuern gegen die schlechte Luft in der Stadt ab. Die Stadt: eine Geldvernichtungsmaschine. Will ich dort noch dabei sein?

Was eigentlich wollte ich heute? Ah, ja. Aufräumen. Eingetrocknetes, nie Benutztes, Ausgelaufenes, Abgelaufenes wegwerfen. Der Medizinschrank kommt dran, die Bikinis und die Badeanzüge werden auf die Hälfte reduziert und erst die Schuhe! Sie stapeln sich unter der Stiege, Sandalen, Laufschuhe in allen Größen. Man bringt sie mit, weil sie in der Stadt nicht mehr schick genug sind, oder irgendwo ein Loch haben. Für die Insel reichen sie immer noch, solange sie funktionieren. Aber auch damit ist jetzt Schluss. Die Kiste mit den Taucherbrillen quillt über. Raus damit, mit den zerkratzten oder jenen, bei denen das Gummiband eingerissen ist. Man bringe, was man auf der Insel braucht, ob Taucherbrille, Badehose oder Sandalen, bitte mit und nehme es bitte wieder mit nach Hause. Man entsorge bitte dort, wo man es her hat. Heute kommt das Containerschiff, das von allen Inseln den Abfall einsammelt. Glas, Papier und Plastik trennen wir seit vier Jahren. Für den Rest gibt es irgendwo im Hinterland von Zadar eine Mülldeponie. Verbrannt wird nichts, seit zehn Jahren ist die Müllverbrennung im Gespräch, seit zehn Jahren gibt es keine Entscheidung seitens der Politiker. Die italienischen Firmen waren schon im Rennen, die deutschen, die österreichischen, jetzt kommen die Chinesen und erst nachdem alle gezahlt haben, wird man sich entscheiden und jammern, dass schon wieder die Ausländer in Kroatien abkassieren.

Marijužica trägt Schwarz. Seit vierzig Jahren trägt sie ihr Witwengewand. Und jedes Mal, wenn ich sie sehe, erinnert sie mich an die füllige, sittenstrenge Queen Victoria. Gestern lag sie ausnahmsweise einmal nicht am Sofa in der Küche sondern saß in einem Rollstuhl bei Tisch. Krešo, ihr Sohn, nennt sie liebevoll Prinzessin. Ein kleiner Vorwurf schwebt in seiner Liebe immer mit. Schließlich teilte er mit der Mutter sein ganzes Leben. Er geht auf die sechzig zu, er versorgt seine Schafe mit Wasser und Pflege und macht nur noch den Garten. Käse, den wunderbaren Käse, produziert er schon seit Jahren nicht mehr. Das ging nur so lange gut, so lange er und die Mama sich die Arbeit teilten. Sie stand in der Küche und versorgte den Haushalt. Er kümmerte sich um die Landwirtschaft. Im Frühsommer erzeugte er aus der frisch gemolkenen Schafsmilch pro Tag einen Laib Käse.

Vorbei.

Der Stammbaum der beiden ist uralt. Rund fünfhundert Jahre ist ihre Familie schon auf Olib. Mutter und Sohn sind ein lustiges Paar, bei all dem Leid, das Marijužica traf, vergaß sie nie ihren Witz. Ihre Knie sind voll Wasser, das rechte misst im Umfang achtzig Zentimeter. Wenn sie das Bein auf den Boden setzt, sagt ihre Betreuerin, dann wird das Knie innerhalb von einer Minute ganz steif. Also sitzt sie, oder sie liegt als unbewegliche Masse von knapp einhundert Kilo in ihrem alten Küchenreich, das sie vom Diwan aus regiert. Es begann mit einer Knie-Operation, danach kam die zweite, von Mal zu Mal wurde sie unbeweglicher. Krankenhausaufenthalte, Kuren, nichts half. In der Zeit der beginnenden Beschwerden half ihr der Sohn beim Gehen, beim Aufstehen, beim Niedersetzen. Er ruinierte sich das Kreuz. Irgendwann entschied man sich, eine Betreuerin aufzunehmen.

Olga, die letzte von Marijužicas Betreuerinnen, ist schon länger als ein Jahr hier. Sie kommt aus der Zagorje, dem kroatischen Waldviertel im Norden von Zagreb. Von dort stammen viele Kroaten, die an der Küste in der Saison arbeiten, auch die meisten Betreuerinnen im privaten Pflegedienst sind von dort. Wenn Olga mal ein paar Tage Urlaub von der Insel macht, um in ihre Waldheimat zu fahren, wird Marijužica von ihrer Schwiegertochter oder einer anderen weiblichen Verwandten gepflegt. Die in Dalmatien noch existierende Großfamilie mit ihrem Hausfrauennetzwerk entlastet bis heute das kroatische Sozialsystem. Und weil Olga nicht so kocht, wie es Prinzessinnen wünschen, ist es Krešo, der in der Küche steht. Was er kocht, ist immer auf einfache Art fürstlich und aus eigener Produktion. „Slow food“ vom Feinsten.

Als ich während meiner Chemotherapie einmal Kurzurlaub bekam, reiste ich zur Erholung für eine knappe Woche auf die Insel. Was ich denn essen dürfe, war das erste, das Krešo mich, nachdem er mich am Katamaran abgeholt hatte, fragte. „Fisch, Gemüse und Käse“, sagte ich. „Komm gleich heute vorbei“, war seine Antwort, „und sei in dieser Woche unser Gast“. Es gab Fisch, von Krešos Bruder frisch gefangen, dazu blitve, also Mangold, und Krešos Familie. Das zähe Grünzeug, das bis heute der traditionelle Vitaminlieferant auf der Insel ist, stammt aus dem kroatischen Hinterland, von wo es die Bauern auf ihrer Flucht mit im Gepäck hatten. Es wächst dauerhaft: Lässt man die Wurzeln im Boden, so treiben die Pflanzen jedes Jahr neu aus.

Ich mochte es schon früher, das einfache, ehrliche Essen. Doch jetzt mag ich es umso mehr. Ich will keine raffinierten Geschmäcker, keine „Cuvees der Haute Cuisine“. Ich will Karotten, die süß sind, Paradeiser, die duften. Weingarten-Pfirsiche und Isabella-Trauben halte ich für ein Geschenk des Himmels.

Als die Krankheit sich entwickelte und noch keiner ahnte, dass sie in mir steckt, graute mir oft vor dem Essen. Gerüche nahm ich intensiv wahr. Sechs Wochen dauerte die Zeit der Untersuchungen vor der Diagnose, die meine Welt in Trümmer legte. Ich hatte doch so gesund gelebt! Und nun traf es gerade mich! Ohne zu ahnen, wie die Chemotherapie ablaufen und ob sie mein Leben verlängern würde, wusste ich nur eines: Ich muss da durch! Während der Zeit der Behandlung entstand ein Muster: Am Tag der Infusionen und drei Tage danach minderten die starken Gaben von Antihistaminen und Cortison die unangenehmen Begleiterscheinungen der Therapie. Ließ die Wirkung der beruhigenden Mittel aber nach, dann reagierte der Körper auf das Gift. Wie schlimm es war, daran will ich mich nicht mehr erinnern.

Rein pragmatisch betrachtet, zerstörten die Gifte nicht nur die bösen Krebszellen, die sich schnell teilen, sondern auch die guten Zellen, wozu die Zellen an den Haarwurzeln ebenso gehören wie die Geschmacksknospen auf der Zunge. Knapp nach den Infusionen schmeckte ich nichts. Aß ich etwas Scharfes oder Unverträgliches, bildeten sich auf der Zunge und am Gaumen lästige Bläschen. Ich sollte aber darauf schauen, kein Gewicht zu verlieren. Also kochte ich mir Hafersüppchen, Brei, Gemüse, Huhn und Suppe aus Kalbsknochen. Alles bio, versteht sich.

Wer nichts mehr schmeckt, und das über viele Monate, darf am Einheitsbrei aber nicht verzweifeln. Es gilt, die Zunge als Tastorgan zu entdecken. Es gibt runde Erbsen, längliche Fisolen, Kirschen mit Kern, Nudeln in allen Formen, Reiskörnchen, Kartoffeln mehlig oder fest, knackige Radieschen und die Bröselkruste am Wienerschnitzel. Die tat mir gut. Es waren aber nicht alle Geschmacksempfindungen weg. Was blieb, war der Geschmack frischer Dille. Dillfisolen oder Dillgurken wurden mein Leibgericht.

Ich bemühte mich wirklich, meinem geschwächten Körper verträgliche Nahrung zuzuführen. Die Lust am Essen verging mir dabei dennoch, ich musste mich dazu zwingen. Jetzt, bei Krešos einfacher Küche, hatte ich wieder Freude am Essen, auch wenn ich wenig schmeckte. Aber ich hatte gelernt, den Tastsinn der Zunge und des Gaumens zu benutzen. So schmeckte jeder Fisch, den Krešo kredenzte, anders, weil jede Fischart ihre eigene Konsistenz hat. Dabei waren es keine Luxusfische, die auf den Tisch kamen; keine Rede von Branzin und Skarpina, die sind längst schon für die Restaurants reserviert. Es waren kleine Fische, meist in der Pfanne in Pflanzenöl gebraten. Das Olivenöl gibt man erst beim Anrichten frisch drauf. Mit dem Olivenöl sparte ich nicht. Und nicht mit der Petersilie. Die schmeckte mir, davon streute ich viel auf die Speisen.

Marijužica sitzt im Rollstuhl, dunkle Schatten unter den Augen, ihre Haut ist welk, sie ist weit über achtzig. Bei jedem meiner Besuche am Anfang des Sommers stellt sie dieselben Fragen in derselben Reihenfolge. „Wie geht es dir? Wie geht es den Kindern? Haben Sie Arbeit? Woran arbeitest du?“ Arbeit war wichtig in ihrem Leben, sie war früh verwitwet, zog ihre Söhne alleine auf und arbeitete nebenher noch in der Käserei. „Bei uns war es nur solange schön“, sagt sie, „solange es auf der Insel für alle genug Arbeit gab.“

In ihrer Küche habe ich mein Kauderwelsch aus Deutsch, Kroatisch und Olibianisch gelernt. Sie prüft mich jedes Mal ab und ist nie zufrieden. Wir reden auch jedes Mal über Geld. Sie will immer wissen, wie viel etwas in Österreich kostet. Sie ist immer mit ihrem Geld ausgekommen, weil sie gespart und keinen Kuna zuviel ausgegeben hat. Früher brachte ich für die beiden aus Österreich immer mit, was es in Kroatien noch nicht gab: ein Messer zum Scheren der Schafe, ein spezielles Salz für den Käse, vor allem aber Medikamente. Jetzt gibt es alles auch in Zadar. Alles.

Erst gestern war Krešo mit seinem Bruder in Šibenik um dort Olivenöl einzukaufen. Es gibt dort eine neue Ölmühle! Ich war baff. Dass sie die Trauben für den Wein, den sie selber keltern, in Šibenik kaufen das weiß ich, aber nun kaufen sie auch das Öl dort. Olib steht doch voller Olivenbäume, das Olivenöl von Olib wurde einst sogar an die Wiener Hofburg geliefert! Und jetzt? Jetzt ist keiner mehr da, der die Bäume pflegt.

Seit Jahren tragen sie nicht mehr. „Auf sieben fette Jahre folgen sieben magere und jetzt sind eben die mageren dran“, sagt Marijužica. Ob ich gerne fazoli esse, fragt sie. „Sehr gern“. „Dann komm doch morgen zu Mittag vorbei. Krešo wird fazoli kochen und noch etwas dazu“.

Auch wenn man auf dieser Insel so viel Zeit zur Verfügung hat, dass man sie in alle Richtungen dehnen darf, so muss man wissen: Es gibt Gelegenheiten, bei denen man auf die Minute pünktlich sein muss. Erstens bei der Abfahrt des Katamarans, denn er wartet niemals auf zu spät Kommende. Und zweitens beim Mittagessen. Für diese beiden Termine braucht man eine Uhr. Die für heute genannte Uhrzeit ist zwölf Uhr dreißig. Ich starte um zwölf Uhr zwanzig. Es ist nicht anzunehmen, dass ich um die Mittagszeit jemanden auf der Straße treffen werde. Alle sind zwischen zwölf und drei Uhr zuhause. Ein paar Steh-Minuten plane ich jedoch ein.