Wahrscheinlich ein kaputter Gasherd


Ich kann mich noch an meinen zweiten Schreibworkshop erinnern, den ich 1996 als junger und – wie ich hoffte – talentierter Schreibanfänger mit anderen Autoren bei einem Deutschprofessor in Berndorf absolviert habe.

Ich wollte schon damals Schriftsteller werden und habe mich im Rahmen dieses Workshops intensiv mit den Biografien klassischer Autoren auseinandergesetzt und dabei etwas Interessantes herausgefunden: Die Selbstmordrate unter Schriftstellern ist enorm hoch.

Das hat mich aber nicht abgeschreckt, selbst schreiben zu wollen. Denn ich überlegte mir: Liegt es an diesem Beruf, dass viele den Freitod wählen? Oder liegt es vielmehr daran, dass sensible und suizidgefährdete Menschen diesen Beruf wählen?

Ich habe versucht, diesem Phänomen auf den Grund zu gehen, und herausgekommen ist dabei eine Geschichte, die den Auftakt dieser Sammlung bilden soll.

Viel Spaß damit.


Guten Abend! Kommen Sie herein, die Wohnungstür ist offen. Behalten Sie die Schuhe ruhig an. Folgen Sie mir ins Arbeitszimmer, aber erschrecken Sie bloß nicht vor den Gedichten, Notizen und Gedankensplittern, die hier überall kleben. Diese Zettel sind mein Lebenswerk – dreißig Jahre Schriftstellerei sozusagen –, als Fragmente an den Wänden verewigt.

Ja, dort steht der Schreibtisch. Wie Sie sehen, arbeite ich gerade an einem Roman, meinem ersten. Dieses Manuskript wird mir den Durchbruch bringen. Es wird ein Meisterwerk, was Dramatik, Handlung und Charakterzeichnung betrifft. Der Titel? Tja, es ist die Geschichte eines Autisten, Titel habe ich noch keinen – um die Wahrheit zu sagen, habe ich nicht einmal ein richtiges Konzept für die Geschichte. Aber Ideen spuken genug in meinem Kopf herum, ich brauche sie nur noch zu Papier bringen – nichts leichter als das.

Etwas vorlesen? Ja gern, aber bis auf den ersten Satz ist der Papierblock noch leer, und selbst dabei handelt es sich um ein Bruchstück, an dem ich bereits seit mehreren Wochen arbeite. Ich weiß, was Sie jetzt denken, aber ein Künstler kann seine kreative Phase nicht erzwingen. Kreativität kommt, wenn die Zeit reif dafür ist, bis dahin muss man eben abwarten und sich in Geduld üben … aber bitte, kommen Sie getrost einen Schritt näher und lesen Sie selbst. Nein, wo denken Sie hin! Ich möchte mich da noch nicht festlegen, ob das Buch tatsächlich mit diesem Satz beginnen wird: Als der autistische Maler heute Morgen aus dem Fenster blickte, schien ihm, als wolle ihm das Leben etwas mitteilen … Ich sagte ja, der Anfang ist bloß ein Fragment, er ist noch nicht ausgegoren, dient lediglich als Gedankenstütze für das fabelhafte Kapitel, das noch folgen wird.

Aber selbstverständlich, öffnen Sie ruhig ein Fenster. Allerdings finde ich nicht, dass es hier muffig riecht. Wie ich mich hier konzentrieren kann? Ich verstehe nicht … ja, Sie haben natürlich recht. Auf meinem Schreibtisch sieht es aus, als würde ich bereits seit Monaten an fünf Erzählungen gleichzeitig arbeiten, und in der Tat sind schon mehrere Monate vergangen, seit ich mich an das Pult gesetzt habe, um mein Buch zu schreiben … oder war es bereits im letzten Sommer, als ich nach meiner Lesung …? Ja richtig, es war im Juli letzten Jahres, bei meiner Dichterlesung im Wiener Literaturhaus, bei der ich einige Gedichte aus meinem Lyrikband vortrug. Die anwesenden Kritiker lobten meine Arbeit, die sie als experimentelle Selbstverarbeitung bezeichneten, mit intertextuellen Bezügen und spielerisch literarischen Ausdrucksmitteln. Einige wenige, die etwas von ihrem Fach verstehen! Jedenfalls gab ich nach jener Lesung bekannt, dass ich mit der Arbeit an einem neuen Projekt beginnen würde.

Stimmt, seit damals ist über ein Jahr vergangen, ein mehr als deprimierender Winter und ein ereignisloser Frühling, um genau zu sein. Aber unterschätzen Sie nicht die belebende Kraft einer schöpferischen Pause. An diesem Morgen habe ich mir allerdings vorgenommen, mich endlich mit dem nötigen Ernst in meine Aufgabe zu stürzen. Die vielen kleinen Zettel, die hier überall kleben, sehen zwar chaotisch aus, doch ich bin gerade mittendrin, meine Gedanken und Ideen zu ordnen. Irgendwo zwischen dem alten Wurstsemmelpapier, den Medikamenten, Weingläsern und leeren Flaschen muss sich eine handgeschriebene Inhaltsangabe verstecken, in der ich vor Monaten einige Gedanken festgehalten habe. Allerdings fürchte ich, dass selbst dort nicht viel mehr zu finden ist, als dieser Satz, den Sie ja bereits kennen. Ich muss gestehen, diese Unordnung ist mir unangenehm, und obwohl ich mir täglich vornehme, das Zimmer aufzuräumen, habe ich mich bis heute nicht dazu aufraffen können. Es ist kräfteraubend, aber das ständige Warten auf die Muse lässt mir kaum Zeit für andere Aktivitäten.

Früher musste ich mir über solche Dinge wie ein sauberes Schreibpult keine Gedanken machen, doch meine Mutter, nun, wie soll ich sagen … kümmert sich schon lange nicht mehr um diese Wohnung. Natürlich gibt es auch Putzfrauen, aber es ist erschreckend … die kosten ein Vermögen, und im Moment könnte ich selbst einen kleinen Nebenverdienst gut gebrauchen. Ach, kommen Sie! Das habe ich doch alles probiert. Tantiemen gibt es keine mehr, meine Förderungsansuchen wurden abgelehnt, sämtliche Beihilfen und Literaturstipendien gestrichen, und selbst meine Sozialrente wurde letztes Jahr auf ein Minimum reduziert. Scheinbar ist es wichtiger, Geld für andere Dinge auszugeben, als Kunst zu fördern. Die Stadt Wien hat mir sogar das Wasser abgedreht! Aber keine Sorge, ich komme schon über die Runden.

Möchten Sie übrigens etwas trinken? In der Küche müsste noch eine Wasserflasche stehen. Nein? Nun, wie dem auch sei, ich war schon lange nicht mehr im hinteren Teil der Wohnung. Vor der Eingangstür steht sicherlich eine Flasche Rotwein. Ein Nachbarjunge hilft mir manchmal dabei, die Wohnung zu verlassen, da mich in letzter Zeit Schwindelanfälle plagen. Er stellt mir fast jede Woche eine neue Flasche vor die Tür, die er heimlich aus dem Keller seines Großvaters … nun, wie soll ich sagen … entlehnt? Später einmal werde ich selbstverständlich alles von meinen Honoraren zurückzahlen.

Wie meinen Sie das, ich hätte mich in letzter Zeit verändert? Sie haben mich doch eben erst kennengelernt. Ach so, Sie meinen das Foto aus jener Zeit, als ich noch Lesungen hielt! Welcher Vollbart? Ich trage auch heute keinen Vollbart. Ich habe mich wohl seit einigen Tagen nicht mehr rasiert, das ist alles. Ich bin keineswegs blass. Nein, wie kommen Sie darauf? Also bitte, ich habe kein Fieber! Es ist nur so, dass ich in diesem Sommer wegen der vielen Arbeit kaum aus der Wohnung gekommen bin. Doch, einmal war ich mithilfe des Jungen draußen, um den Müll rauszutragen.

Abgemagert? Das täuscht. Der Pullover ist mir bloß einige Nummern zu groß, das ist alles … obwohl … letztes Jahr hat er mir noch gepasst. Wahrscheinlich hat er sich im Lauf der Zeit ausgeleiert; der müsste mal wieder heiß gewaschen werden, aber ohne Strom … wohin gehen Sie?

Ach, da ist ja der Wein, ein Côtes du Rhone. Wie das klingt! Darüber könnte man doch glatt ein Gedicht verfassen. Vielen Dank. Einen kleinen Schluck noch, danach werde ich mit meinem großen Roman beginnen … nein, nicht beginnen, sondern ich werde ihn fortsetzen. Jawohl! Wenn ich es mir recht überlege, ist dieser erste Satz doch nicht so schlecht … er ist gewissermaßen ausbaufähig. So etwas erkenne ich auf den ersten Blick! Warum sehen Sie mich so nachdenklich an? Conrad Ferdinand Meyer schrieb sein Gedicht vom Römischen Brunnen innerhalb von zwölf Jahren mehrmals um, und auch Hemingway feilte jahrelang an ein und demselben Satz, bis er endlich damit zufrieden war. Das zeichnet eben ein wahres Genie aus. Von Schriftstellern, die im Akkord ihre Manuskripte runtertippen, halte ich nichts. Wie können die kreativ sein, wenn sie sich dazu zwingen, pro Tag eine ganze Manuskriptseite zu schreiben? Eine Seite! Stellen Sie sich das einmal vor! Wahre Kunst braucht Zeit. Aber davon haben die ja keine Ahnung.

Kommen Sie doch näher, ich zeige Ihnen etwas … hoppla. Vorsicht! Sie können die Pizzakartons ruhig unter die Couch zu den anderen schieben. Hier, werfen Sie einen Blick auf Hemingways In einem anderen Land. Das Ende hat er Neununddreißigmal umgeschrieben. Stellen Sie sich das einmal vor? Neununddreißigmal! Aber ja, legen Sie das Buch getrost auf die Untertassen dort drüben … schieben Sie ruhig die Schachteln und Beipackzettel beiseite.

Wie meinen Sie das? Ich verstehe nicht. Meyer starb an den Folgen seiner psychischen Krankheit, und Hemingway hat sich erschossen! Na und? Wo sehen Sie da einen Zusammenhang? Wollen Sie etwa behaupten, dass … aber ich bitte Sie! Fritsch, Mann, Zweig, Burger, Kräftner, Raimund, Trakl, Stifter, Tucholsky und von Saar … ja, ja, sie alle haben ihrem Leben ein Ende gesetzt – und wenn schon! Aber sie waren unvergleichliche Künstler der Lyrik und Prosa, oder etwa nicht? Hören Sie auf damit! Ja, natürlich – es fällt auf, dass Selbstmord unter Dichtern relativ häufig vorkommt. Wen wundert es, haben doch Schriftsteller bekanntlich eine höhere Sensibilität als Menschen anderer Berufsgruppen. Vergleichen Sie doch nur mal einen Dichter mit einem Kraftfahrer … eben! Damit meine ich: Das Leben eines Schriftstellers ist ein einsames … glauben Sie mir, ich weiß das! Vielleicht hatte Tucholsky das Gefühl, sich nicht mehr weiter entfalten zu können. Und in seiner Ruhe und Abgeschiedenheit, in seiner Melancholie und Traurigkeit … na ja! Vielleicht bedeutet Schreiben auch, sich irgendwann umbringen zu müssen! Weshalb sehen Sie mich so an? Aber ich bitte Sie … der Satz stammt nicht von mir, er ist lediglich ein Zitat. Ja, bloß ein Zitat. Aber ich habe vergessen, von wem. Entspannen Sie sich!

Weshalb fragen Sie mich schon wieder, ob ich Fieber habe? Aber nein, mir geht es gut. Ich habe zuvor bloß ein paar Tabletten gegen die ständigen Kopfschmerzen genommen, aber ich glaube, sie beginnen erst jetzt zu wirken. Nein, Veronal ist nichts Starkes. Machen Sie sich keine Sorgen, und vielen Dank, dass Sie mich besucht haben. Ich hoffe, Sie sind mir nicht böse, aber ich fürchte, Sie müssen mich jetzt verlassen … ich werde an meinem Roman weiterarbeiten.

Die Jalousien? Die lasse ich immer runter, wenn ich schreibe. Die Dunkelheit inspiriert mich, wissen Sie! Die Weinflasche können Sie gern mitnehmen. Ich glaube nicht, dass ich noch etwas daraus trinken werde.

Das hier auf der Kommode? Ach ja, danke, dass Sie mich daran erinnern. Diesen Brief habe ich vor einigen Monaten an meine Frau geschrieben. Sie wohnt schon lange nicht mehr hier. Dürfte ich Sie bitten, ihn bei der Post für mich aufzugeben? Vielen Dank.

Sie entschuldigen mich jetzt bitte! Ich schließe nur noch die Fenster. Die frische Luft … oh, verzeihen Sie bitte, dass ich gähne, aber ich werde plötzlich unheimlich müde.

Wohin ich gehe? Bloß in die Küche, um ein wenig aufzuräumen. Ach, ich glaube, das bilden Sie sich ein. Hier riecht es überhaupt nicht nach Gas. Der Geruch kommt wahrscheinlich aus dem Treppenhaus. Wahrscheinlich ein kaputter Gasherd. Leben Sie wohl!

Bauernopfer


In einem späteren Vorwort zu einer anderen Story werde ich noch näher darauf eingehen, dass ich in Wien aufgewachsen und mit siebzehn Jahren mit meinen Eltern in einen kleinen Ort nach Niederösterreich übergesiedelt bin. Ich kenne also beide Seiten: Die Großstadt und das Land.

Jedenfalls möchte ich Ihnen an dieser Stelle gern erzählen, dass ich mit Leib und Seele ein Niederösterreicher bin. Ich liebe das Land, die Berge und Wälder, die Landstraßen und kleinen Ortschaften, auch wenn man dort als gebürtiger Wiener – und dieser Makel haftet einem für den Rest des Lebens an – nicht überall mit offenen Armen empfangen wird.

Von daher verstehe ich die Vorurteile mancher Großstädter, die sie gegenüber der ländlichen Bevölkerung haben. Aus der Sicht der Großstädter besteht die Landbevölkerung aus inzüchtigen Bauerntölpeln – aus Sicht der Landbevölkerung bestehen die Großstädter aus grantigen Volltrotteln, die nicht Autofahren können und sich für etwas Besseres halten. So viel zu den Vorurteilen. Vermutlich steckt in beiden davon nicht das kleinste Körnchen Wahrheit.

Wie gesagt, ich liebe es, auf dem Land zu leben, dort zu arbeiten, und fahre nur äußerst selten nach Wien, in eine Stadt, von der ich überzeugt bin, dass sie die meisten Baustellen und Einbahnstraßen der Welt hat.

Jedenfalls habe ich in Bauernopfer versucht, die Vorurteile aus der Sicht eines Großstädters in eine kleine unheimliche Story zu verpacken. Betrachten Sie es also als ironischen Beitrag in dieser Sammlung – oder, falls Sie Großstädter sein sollten, eben als festgeschriebene Wahrheit.

Viel Spaß damit.


Ständig liest man in den Zeitungen über die schrecklichen Dinge, die auf dem Land passieren. Minderjährige Mädchen werden von ihren Onkeln geschwängert, Babys am Bauernhof auf dem Plumpsklo zur Welt gebracht, woraufhin ihre Körper für immer in der Jauchegrube versinken, und Kinder werden jahrelang in Kellern gefangen gehalten, bis ihnen schließlich als Erwachsene die Flucht gelingt. Es ist eine schreckliche Welt, in der wir leben.

Übrigens glaube ich alles, was in der Zeitung steht, und in Wirklichkeit ist es vermutlich noch viel schlimmer, als die Medien schreiben. Aber in Wien ist das Leben noch erträglich. Darum kann ich nicht verstehen, warum die Stadtflucht immer mehr zunimmt. Haut doch ab, wenn ihr glaubt, dass es euch auf dem Land besser geht!

Ich kenne sogar einige Städter, die ihren Job an den Nagel gehängt haben, in ihr Haus aufs Land gezogen sind, dort aber mit den Dorfbewohnern in Streit gerieten und schließlich nach einer Auseinandersetzung im Wirtshaus unter den Rädern eines Traktors oder im Fressnapf eines Saustalls ihr Leben ließen. Ich habe noch nie eine ländliche Gegend besucht – und nach den Ereignissen der letzten Tage werde ich mich auch davor hüten. Niemals würde ich die Stadt verlassen.

Ach ja, neben den Jobs wurde auch noch etwas anderes an den Nagel gehängt, jedoch weniger symbolisch. Die 8cm-Schlagbolzen haben meinen Körper nicht völlig ruiniert: zwei Finger meiner linken Hand haben die Ärzte retten können. Das genügt, um meine Geschichte, wenn auch etwas krakelig, niederzuschreiben … doch alles hübsch der Reihe nach.

 

Es begann damit, dass ich an einem Freitagnachmittag in Wien Meidling an der Straßenbahnhaltestelle ausstieg und in die Tivoligasse ging, wo ich wohne. Ich trug meinen Einkauf vom Supermarkt in den dritten Stock – keuchend, da man in meinem Alter nicht mehr so fit ist – lehnte die Tüten an den Türstock und klimperte mit dem Schlüsselbund vor der Wohnungstür, die bereits so verzogen war, dass die Zugluft wie durch die zerrissene Plane eines Beduinenzeltes pfiff. Vor fünfzehn Jahren, als ich noch Zeitschriften und Bücher in meinem kleinen Verlag herausgab, hatte die Stadtgemeinde die Altbausanierung zum letzten Mal abgelehnt, doch für einen Abriss war das Haus zu alt, da es irgendjemand unter Denkmalschutz gestellt hatte. Ein ziemliches Dilemma. Und einen Fahrstuhl gab es natürlich auch keinen.

Ich wischte mir den Schweiß von der Stirn, strich mir das graue Haar nach hinten und putzte meine Brille, die von der Anstrengung angelaufen war. Jedes Mal zitterten meine Knie ein wenig mehr nach diesem Marsch, und mir kam es vor, als würde die Anzahl der Stufen von Woche zu Woche zunehmen.

Nachdem ich mir das Hemd in den Hosenbund gestopft hatte, hob ich den Kopf. Seltsam! Normalerweise roch es im Treppenhaus nach Kalk, feuchtem Holz, Kacheln und Stiegengeländer, hin und wieder mischte sich der Geruch der defekten Toilette vom Gang hinzu, und manchmal verirrte sich vom Dachgebälk eine Taube in das Treppenhaus, die in irgendeinem Winkel verendete und danach wochenlang vom Hausmeister nicht entfernt wurde. Doch diesmal vernahm ich etwas anderes. Den Geruch von Hühnersuppe, eingemachter Marmelade und gekochtem Kohl.

Der Dunst kam aus der Nachbarwohnung. Das Küchenfenster zum Gang, das normalerweise staubig und grau aussah, war gekippt und neue Vorhänge mit Blumenmuster hingen an der Gardinenstange. Ich näherte mich ein paar Schritte. An der Tür glänzte eine moderne Türklinke aus Messing, darunter ein neues Schloss. Unter dem Türspion befand sich ein Schild: Kornbeisser Gitti.

Die war wahrscheinlich vom Land hergezogen. Woher ich das weiß? Ich bitte Sie! Jeder Städter hätte Gitti Kornbeisser auf sein Türschild geschrieben, aber nicht Kornbeisser Gitti.

Diese Typen vom Land nennen immer zuerst ihren Nachnamen. Das weiß ich aus dem Fernsehen. Dabei ist es der Nachname, das sagt ja schon das Wort. Aber wenn man zu einem dieser Bauerntölpel sagt, ob er wisse, wer der Karl Stoisser ist, sieht man nur lange, ratlose Gesichter. Probieren Sie es aus! Noch nie gehört, den Namen. Aber kaum sagt man, dass man den Stoisser Karl meinte, erhellen sich die Gesichter. Ah, der Stoisser Karl, klar, den kenne ich. Na, der Stoisser Karl, der wohnt doch gleich dort hinten, bla, bla, bla …

Meine neue Nachbarin war also die Kornbeisser Gitti. Wie schön! Vor ihrer Tür lag ein Schuhabstreifer, Gott segne dieses Haus, in geschwungenen Lettern, die man nur schwer entziffern konnte. Türnummer 9 war demnach bewohnt, nach so langer Zeit. Und anscheinend hatte meine neue Nachbarin einen miserablen Geschmack, was das Essen anbelangte, und ich hoffte, ihr niemals im Treppenhaus begegnen zu müssen. Ich wollte gar nicht daran denken, als Willkommensgruß mit heißer Hühnersuppe abgespeist zu werden.

 

Abends saß ich in meinem Lehnstuhl, der beim Fenster stand – mit Aussicht auf die Tivoligasse – und blätterte im Licht der Stehlampe durch die Post der letzten drei Tage: Stromrechnung, die zweite Mahnung samt der Aufforderung, einen Abbuchungsauftrag zu unterschreiben – Klar doch, ihr Idioten!, Telefonrechnung, wiederum keine Gespräche, nur die Grundgebühr – Wucher!, das Wiener Bezirksblatt, der Selbstmord dreier Pensionisten als Schlagzeile – geschmacklos!, eine Benachrichtigung der Stadtgemeinde über die Erhöhung des Mietzinses – Halsabschneider!, ein Angebot über eine Zusatzversicherung für Rentner – woher haben die überhaupt meine Adresse?, und schließlich ein Rubbelgewinnspiel, das den einzigen angenehmen Zeitvertreib dieses Abends versprach.

Mit der Wolldecke um meine Beine, der Pfeife im Mundwinkel, der Lesebrille auf der Nase und dem Rubbelspiel in der Hand, wäre ich um ein Haar eingeschlafen, als mich laute Musik aus der Wohnung über mir aus meinem Dösen riss – vermutlich aus einem Fernsehgerät. Von dort oben war schon lange nichts mehr zu hören gewesen. Und was jetzt zu mir herunterdrang spottete jeder Beschreibung. Ich hörte Akkordeon, Zither, Maultrommel und einen zweistimmigen Gesang. Der blanke Horror! Wahrscheinlich stammte das Gejaule von einem Geschwisterpaar mit Sommersprossen und blonden Zöpfen, hineingequetscht in ein rotes und ein grünes Dirndl … Heimat, Herzklopfen, Heuschober und Hüttengaudi … danach der Applaus des Publikums. Anscheinend war es vorbei mit der Ruhe, denn auch im Stockwerk über mir war jemand eingezogen. Wer zum Kuckuck auch immer das sein mochte, hatte jedenfalls einen miserablen Geschmack, was das Fernsehprogramm betraf; vermutlich war es Gitti Kornbeissers Bruder … ach, Verzeihung, ich wollte sagen, der Bruder von der Kornbeisser Gitti! In Gedanken sah ich mich schon, wie ich im Treppenhaus auf den Kerl traf. Wasserkopf, hochroter Schädel, dicke Lippen, leicht hervortretende basedowsche Augen und Kropf im Hals vom Jodmangel seiner Kindheit, sowie einen etwas dümmlichen Blick, weil er als Baby von seiner Mutter mit einem Mohnschnuller ruhig gestellt worden war. Dazu trug er ein kariertes Holzfällerhemd und eine abgewetzte Lederhose mit langen Stutzen über den Waden.

»Guten Morgen, sind Sie vielleicht Gitti Kornbeissers Bruder?«

»Was? Nö? Noch nie gehört.«

»Haben Sie überhaupt Geschwister?«

»Ja, eine Schwester.«

»Ist das vielleicht die Kornbeisser Gitti?«

»Ja, das ist sie!« Dämliches Lächeln.

»Dachte ich mir.«

Ich schreckte aus meinem kurzen Tagtraum hoch. Mühsam erhob ich mich aus dem Lehnstuhl, klopfte die Pfeife aus und ging zu Bett. Im Schlafzimmer war der Lärm erträglich. Bevor ich die Augen schloss, legte ich mein Gebiss ins Glas und steckte mein Hörgerät aus.

 

Drei Tage später war die letzte Packung Haltbarmilch aufgebraucht, die Wurst im Kühlschrank gelb und die Semmeln in der Brotdose so hart, dass sie nicht einmal die Tauben im Treppenhaus aufgepickt hätten. Die Pensionszahlung für Mai hatte ich noch nicht erhalten, und in der Zuckerdose auf der Küchenkommode fand ich noch zwanzig Euro und ein paar Cents. Nach Sonnenuntergang würde es zwar immer noch rasch kühl werden, doch für den kurzen Weg zum Supermarkt an der Ecke würde ich keinen Mantel brauchen.

Nur mit Hose, Hemd und Weste bekleidet, stieg ich die Stufen im Treppenhaus hinunter. Im zweiten Stock fiel ein trüber Lichtschein durch den Türspalt und das daneben mit Sprossen zugenagelte Gangfenster. Das Schild der Türnummer fünf hing nicht mehr länger schief, sondern war an die Wand geschraubt worden. Ein Häufchen Kalk und ein verzogener Dübel lagen noch neben der Hausmauer auf dem Boden. Einen Schuhabstreifer gab es nicht, doch lehnte eine Mistgabel an der Wand. Eine Mistgabel? Ich strich mit der Fingerkuppe über die Zinken. Sie waren scharf. Erst jetzt fiel mir der Gestank auf, der wie eine nebelige Dungwolke im Treppenhaus hing und rasch zunahm.

Die neuen Nachbarn waren Dreckschweine! Im übertragenen Sinn natürlich.

Rasch lief ich weiter nach unten. Im Erdgeschoss konnte ich das Haustor zuerst gar nicht weit genug öffnen, um auf die Straße zu gelangen. Dutzende Strohballen waren an der Mauer bis zur Decke gestapelt, und Fliegen schwirrten durch den Gang. Es stank nach Kuhdung. Ich würde ein Wörtchen mit der Stadtverwaltung reden müssen. Zu lange hatte ich schon den Mund gehalten, doch nun reichte es mir.

Draußen war es bereits dunkel. Aber ich wusste, der Supermarkt hatte um diese Uhrzeit noch geöffnet. Und ich würde nicht lange brauchen. Mit nur zwanzig Euro in der Tasche war man gleich fertig.

Trotzdem lief ich schneller, als wollte ich den Gestank abstreifen, der sich in meiner Kleidung eingenistet hatte. Schließlich erreichte ich die Straßenecke, sah mich um – und da stockte mir der Atem.

Solange war es doch noch gar nicht her gewesen, seitdem ich das letzte Mal die Wohnung verlassen hatte, und dennoch gab es den Supermarkt an der Ecke nicht mehr. Wo war die automatische Glastür? Wo die Schaufenster? Wo die Reihe mit den Einkaufswagen? Stattdessen befand sich ein heruntergekommener Krämerladen in dem Gebäude, Irmis Hausmannskost, der Ziegenkäse führte, Wein, Freilandeier, Marillenmarmelade, eingelegte Zwiebeln, geräuchertes Fleisch und herben Traubenmost. Meinen Diabetiker-Joghurt von Nestlé gab es dort natürlich nicht, und anstelle von Presse und Kurier steckten der Landbote und die Niederösterreichische Rundschau im Zeitungsständer. Und statt den Bestseller-Taschenbüchern gab es Heimat-Heftromane in Großschrift. Sissi, Bianca, Julia, Der Bergdoktor und Der Dorfpfarrer. Ich hätte kotzen können.

Ratlos starrte ich auf die Bauernprodukte, die Honiggläser, den Liptauer, das Bratenfett im Glas und die gehäkelten Platzdeckchen für die Küche. Mir wurde übel.

Rasch kaufte ich einen Liter Milch und machte mich auf den Heimweg. Da erst bemerkte ich, dass vor meinem Gemeindebau die Gleise der Straßenbahn nicht mehr existierten. Wo ist die verdammte Straßenbahn hingekommen? Hatte die Stadtgemeinde die Linie eingestellt? Ich ging mitten auf die Gasse und blickte mich um. Wo einst die Schienen verlaufen waren, befand sich jetzt ein durchgehendes Kopfsteinpflaster. Aber es war nicht neu, sondern ziemlich schäbig, als wären die Steine schon seit Jahrzehnten nicht mehr ausgetauscht worden. Mit knirschenden Knien und einem schmerzhaften Ziehen in der Hüfte ging ich in die Hocke und berührte die Steine mit den Fingerkuppen. Feucht! Sie waren alt und brüchig, Moos und Unkraut wucherten zwischen den Rillen. Das kann doch nicht sein! War ich in der falschen Straße?

Da schreckte mich das Röhren einer altersschwachen Hupe auf. Ich sah hoch und bemerkte einen Traktor, der hinter mir in der Gasse auf mich zufuhr. Die rote Farbe an der Seite war abgeblättert, und Rostflecken kamen darunter zum Vorschein. Ein fetter Mann mit Hut saß im gefederten Sitz und drückte ein weiteres Mal auf die Hupe.

»Ja, doch!« Ächzend quälte ich mich hoch und stolperte noch rechtzeitig zur Seite.

Der Traktor mit den breiten Reifen und dem alten schwarzen Kennzeichen mit der weißen Schrift, das ich schon seit vielen Jahren nicht mehr gesehen hatte, fuhr an mir vorbei und hielt direkt vor dem Eingang meines Gemeindebaus, wo er den Zugang versperrte, als stünde er vor dem Tor einer Scheune.

So geht das nicht, meine Herren! Mit meinen neuen Nachbarn würde ich ein Wörtchen reden müssen! Die sollen ihren Kuhmist woanders abladen! Nicht vor meiner Haustür!

Zornig drückte ich mich an dem Traktor vorbei und stieg die Treppe hinauf. Im zweiten Stock fand ich sie. Alle waren sie dort versammelt – und ich stellte sie zur Rede.

Sie waren nicht besonders nett zu mir, die Irmi, die Kornbeisser Gitti und besonders der Huber Franz. Er hatte kräftige Arme, und der Freiler Sud aus dem vierten Stock hatte einen Scherner Bolzenschussapparat ohne Rückzugsfeder, mit dem er normalerweise Schweine abschlachtete, und mit dem er aber nicht besonders gut umgehen konnte.

 

Stunden später hoben mich zwei Rot-Kreuz-Helfer auf eine Trage, Schläuche lagen auf meiner Brust, das Gestänge der Infusionsflasche klapperte neben mir, und in meiner Armbeuge steckte ein mit Klebeband fixierter Butterfly.

Obwohl die Saugnäpfe an meiner Stirn mit den Kabeln daran spannten, versuchte ich den Kopf zu drehen. Zuerst sah ich die Stuckdecke des Treppenhauses, dann die Hauswand, danach einen Sanitäter und den Mann im dunklen Anzug.

»Wie sind Sie durch die Polizeiabsperrung gekommen?«, hörte ich die Stimme des Rot-Kreuz-Helfers.

Der Mann stand am Treppengeländer, griff in die Brusttasche seines Sakkos, zog einen Ausweis hervor und klappte ihn auf.

»Entschuldigen Sie, Herr Kommissar«, murmelte der Junge im rot-weißen Hemd.

»Wird er es überstehen?«

»Möglicherweise. Er hat viel Blut verloren.«

Ich wollte etwas sagen, aber meine Kehle war trocken und ich bekam keinen Ton heraus.

Der Mann im Anzug machte eine weite Handbewegung über die Trage. »Wie viele Bolzen sind es?«

»Wir haben sieben aus seinem Körper entfernen müssen, um ihn überhaupt erst einmal von der Wand lösen und aufs Krankenbett legen zu können. Genügt Ihnen das als Antwort?«

Merkwürdigerweise hatte ich keine Schmerzen. In dem Venentropf, der neben mir an dem Gestänge hing, gluckste es. Was immer sie mir gaben, vermutlich Morphium, tötete jedes Empfinden ab.

»Kann er uns hören?«

Der Pfleger schüttelte den Kopf.

»Aber seine Augenlider flattern.«

»Ein Reflex, er ist vollkommen ruhig gestellt.«

Natürlich kann ich euch hören! Und tut nicht so, als wäre ich nicht hier, ihr Arschgeigen!

Der Mann nickte. »Wo ist sein rechter Arm?«

»Der hängt noch an der Tür.«

»Ach, du Scheiße!«

Was?

Der Sanitäter trat näher an den Kommissar heran und senkte die Stimme. »Wissen Sie, um wen es sich hier handelt?«

Der Kommissar nickte. »Ja, aber Sie brauchen nicht zu flüstern. Ist kein Geheimnis. Ein verbitterter Pensionist. Hat früher einen kleinen Verlag geleitet und ein paar gute Magazine herausgegeben. Meine Eltern kannten ihn noch. Ist mittlerweile geschieden, seine Exfrau ist aufs Land gezogen.«

Meine Exfrau? Was erzählst du da? Eine Frau? Ich konnte mich gar nicht mehr an sie erinnern.

Da wurde die Bahre hochgehoben, schaukelte einen Moment, neigte sich, und ich wurde durch das Treppenhaus hinuntergetragen. Es ging nur ruckweise, und die beiden Sanitäter schnauften völlig außer Atem.

Als das Haustor geöffnet wurde, spürte ich einen kühlen Luftzug. Über mir funkelten die Sterne, und im nächsten Moment wurden meine Augen von dem Blaulicht eines Ambulanzwagens geblendet. Ich wollte den Kopf erneut zur Seite drehen, diesmal in die andere Richtung.

»Stillhalten!«, zischte ein älterer Mann im weißen Kittel. »Erik, wir erhöhen die Dosis. Ziehen Sie fünfzehn Milligramm auf!« Der Rot-Kreuz-Helfer nickte, eine Klammer an meinem Körper wurde gelockert, ich roch den Alkohol, danach folgte der Einstich einer Nadel. Das Gestell unter mir klappte zusammen, und ich wurde in den Krankenwagen geschoben.

»Das ist jetzt schon das dritte Mal«, sagte er Arzt.

»Ich weiß«, antwortete der Kommissar. »Die ersten beiden Male waren aber nicht so schlimm. Aber das hier … sieht echt übel aus. Werden Sie ihn diesmal auch wieder hinbekommen?«

Der Arzt wiegte den Kopf. »Kommt darauf an.«

»Wäre schade um ihn, war angeblich mal ein guter Verleger.«

»Sie kennen ihn?«, fragte der Arzt.

»Nur aus den Akten. Hin und wieder haben wir mit ihm zu tun. Dienstlich. Wegen der beiden vorangegangenen Unfälle.«

»Verstehe. Hat wahrscheinlich schon zu lang allein in dem Haus gelebt«, vermutete der Arzt.

»Kann sein.« Der Kommissar blickte an der Hausfassade entlang hinauf zum Dach. »Vermutlich wird das Gebäude jetzt abgerissen, die anderen Wohnungen stehen seit vielen Jahren leer und sind ohnehin nur noch Bruchbuden.«

Bruchbuden? Ich wollte den Mund öffnen. Sie sind unter uns! Wir werden heimlich unterwandert. Doch meine Lippen blieben bewegungslos. Ich wollte mich hochstemmen. Die drei Pensionisten! Die Schlagzeile aus der Zeitung. Das waren keine Selbstmorde!

Es gelang mir, ein Bein von der Trage zu schieben.

»Er bewegt sich! Eine Ampulle Alodan, schnell!«, brüllte jemand.

Ein Mann sprang ins Wageninnere. Ich spürte einen Stich in der Halsschlagader.

Dann riss mir der Arzt die goldene Folie vom Körper und tastete nach meinem Handgelenk, um den Puls zu fühlen.

»Was ist denn das?«, fragte der Kommissar.

»Ach, das hier?«, wollte der Arzt wissen. »Anscheinend Briefe. Die hält er schon die ganze Zeit umklammert.«

Ich hörte, wie der Kommissar in den Wagen kletterte, und spürte, wie er mir die Papiere aus der Hand wand. Kurz sah ich sein Gesicht, danach verschwand er aus meinem Blickfeld. Ich hörte nur noch das Rascheln von Papier und danach sein Murmeln.

»Stromrechnung, Telefonrechnung, das Wiener Bezirksblatt, ein Brief von der Stadtgemeinde …« Erneutes Rascheln. »… über die Erhöhung des Mietzinses, ein Schreiben von der Versicherung und ein begonnenes Rubbelgewinnspiel. Merkwürdig.«

»Was ist daran merkwürdig?«, fragte der Arzt.

»Die Post stammt aus den späten 70er Jahren. Sehen Sie sich mal den Stempel und das vergilbte Papier an.«

Regungslos schielte ich zum Heck des Fahrzeugs. Der linke Türflügel des Ambulanzwagens fiel ins Schloss und der Rot-Kreuz-Helfer hatte seine Hand bereits auf dem Griff des zweitens Flügels.

Nun standen der Arzt und der Kommissar wieder unmittelbar vor dem Wagen und blickten hinein.

»Er gehört in eine Anstalt«, sagte der Kommissar. »Dort wäre er sicher.«

»Laut unseren Unterlagen war er bereits in einer.«

Was? Ich in einer Anstalt? Niemals! Ihr seid verrückt! Außerdem ist die Post ganz neu, heute gekommen. Und von einer Frau weiß ich auch nichts.

»In welcher?«

»Bachmann Nervenheilanstalt für Paraphilie.«

»Paraphilie?«, wiederholte der Kommissar.

»Ein Überbegriff. Da gibt es viele Ausprägungen. Fetischismus, Transvestismus, Exhibitionismus, Voyeurismus, Pädophilie, multiple Persönlichkeitsstörungen«, zählte der Arzt auf.

Ihr seid doch alle krank!

»Trifft etwas davon auf ihn zu?«

»Davon nicht, außer vielleicht einer Sache … Masochismus.«

»Wurde er behandelt?«

»Ja, einen Monat lang, und danach kam er wieder in seine Wohnung.«

»Und warum glauben Sie, hat er sich immer wieder selbst verstümmelt? Diesmal wäre er ja fast dabei zu Tode gekommen.«

»Wenn wir das wüssten.« Der Arzt seufzte. »Anscheinend kommt er mit seinem Leben nicht klar.«

Ihr Spinner! Das habe ich mir doch nicht selbst angetan! Das waren die Irmi, die Kornbeisser Gitti, der Huber Franz und der Freiler Sud aus dem vierten Stock. Die solltet ihr in Behandlung stecken! Nicht mich!

Ich sah, wie ein junger Mann mit Brille aus dem Haus kam und an die Seite des Kommissars trat. Sein Gesicht war genauso blass wie der Kalk im Treppenhaus. In der Hand hielt er eine rote Plastiktüte mit dem Bolzenschussapparat darin.

Nehmt doch die Fingerabdrücke auf dem Gerät. Dann wisst ihr es!

»Eine ziemliche Schweinerei, das in der Wohnung«, sagte der junge Mann.

Der Kommissar nickte, dann deutete er auf die Plastiktüte. »Fingerabdrücke?«, brummte er.

»Seine eigenen.« Der Bursche deutete auf die Bahre. »Merkwürdig, nicht wahr?«

Verdammt, nein! Das hat der Freiler Sud eingefädelt. Ihr müsst ihn finden! Genauso war es mit den Selbstmorden der Pensionisten. Die stecken dahinter! Ich bin doch nicht verrückt. Sie sind es, die unseren Lebensraum verändern! Seht Ihr das denn nicht? Sie verändern die Realität!

»Falls er die Sache übersteht, kommt er vermutlich wieder in die Nervenheilanstalt. Diesmal für immer.«

»Ist wohl besser für ihn.«

Nein! Ich will nicht!

Der junge Mann blickte plötzlich in die andere Richtung und deutete die Gasse hinunter. »Gab es früher an der Ecke nicht mal einen Supermarkt? Und da ging doch eine Straßenbahnlinie durch, oder?«

Ja, genau! Und ob es die gab!

»Keine Ahnung«, sagte der Kommissar.

»Weiß auch nicht.« Der Arzt blickte plötzlich nach oben. »Haben Sie das gesehen?«

»Was?« Die Männer sahen nach oben.

»Für einen Moment dachte ich, ich hätte im zweiten Stock Licht hinter einem der Fenster gesehen und die Umrisse einer Gestalt.«

»Bestimmt nur ein Lichtreflex von der Straße«, sagte der Kommissar. »Die Wohnungen sind versperrt.«

Sind sie nicht!

»Ja, wahrscheinlich.« Der Arzt zuckte mit den Achseln und wischte mit der Schuhspitze über den Boden. Dann wurde der zweite Türflügel ins Schloss geworfen. Im Wageninneren war es dunkel. Nur das Blaulicht fiel durchs Fenster.

»Schauen Sie mal!«, hörte ich die dumpfe Stimme des Arztes, bevor der Motor des Ambulanzwagens ansprang. »Woher kommen denn das Stroh und die Traktorspuren?«

In Gedenken an meinen Bruder


Diese Story erschien bisher in keinem Magazin, sondern wird in dieser Sammlung erstmals veröffentlicht. Der Grund ist einfach: Ich hatte nicht den Mut, sie einem Magazin anzubieten. Das Thema dieser Story ist zu schrecklich. Aber ich musste mir die Geschichte trotzdem von der Seele schreiben.

Ich bin zwar ein Einzelkind und habe keine Geschwister, aber hätte ich einen Bruder, wäre diese Geschichte mein persönliches Worst-Case-Szenario.

Willkommen in der Welt meiner persönlichen Albträume …


Meine Schritte hallen wie Stockhiebe über den gekachelten Boden im Korridor, während ich – wie in der Zeitlupenaufnahme eines Albtraums – Tür um Tür passiere, bis ich endlich dort ankomme, wo ich um keinen Preis der Welt hin möchte.

Sein Zimmer.

Die Tür gleitet langsam auf, Kälte schlägt mir entgegen. Erst jetzt bemerke ich, dass mich eine Schwester am Arm berührt und neben mir hergeht. Der vertraute Geruch von Phenol und Antiseptika dringt in meine Nase, erinnert mich an Wundinfektion und blutgetränkte Bandagen, beschwört verdrängte Erinnerungen in mir herauf und lässt mich hoffen, dass er – Gott sei ihm gnädig – nur dieses eine Mal nicht zu weit gegangen ist.

Vor dem Gestänge des Krankenbettes bleiben wir schließlich stehen. Ein hohes, weißes Laken ist um das Bett gespannt, aber das Bett … es ist so klein. Das ist ein Irrtum, ich bin im falschen Zimmer! Das ist ein Kinderbett! Ich bewege die Lippen, bringe aber keinen Ton heraus.

Wie durch ein Wattekissen höre ich das Klappern der Metallringe, das Laken gleitet vor meinen Augen zur Seite. Unwillkürlich senkt sich mein Blick, ich erkenne, dass mich nichts, was ich in den letzten Jahren erlebt habe, auf diesen Anblick hätte vorbereiten können.

Ich spüre den morbiden Geschmack des Todes auf den Lippen, ein Hauch engelsgleicher Schwingen streift meine Wangen. Er liegt vor mir im Krankenbett, den Kopf auf einem weißen Kissen, die Augen geschlossen, der Atem flach. Er sieht so schrecklich aus, und ich kann meinen Blick nicht abwenden.

Schließlich beginne ich zu schreien. Ist es die Erleichterung, die ich mir aus dem Leib brülle? Habe ich diesen Moment nicht seit Jahren herbeigesehnt? Mein Blick trübt sich, und durch einen Tränenschleier sehe ich …

 

… meinen Bruder. Er steht neben mir. Gemeinsam blasen wir das Feuer der fünf Kerzen jener Torte aus, die Mutter mit so viel Liebe für ihn gebacken, mit einer Schokoladenglasur überzogen und mit Haselnussstreusel verziert hat. Der Rauch steigt spiralförmig zur Decke auf, wo er sich im Zimmer verliert. Der Geruch erinnert mich an Holzspielzeug, Tannenzweige und Weihnachten.

Ich höre meinen Bruder neben mir atmen. Seine schmale Brust hebt und senkt sich beim Anblick der Torte, der bunten Servietten und der dampfenden Becher. Sein Mund öffnet und schließt sich, doch er bringt keinen Ton heraus. Er strahlt Mutter mit glänzenden Augen an, aber von einer Sekunde auf die andere verfinstern sich ihre Gesichtszüge. Abrupt wendet er den Blick von ihr ab und starrt zu Boden. Seine dünnen Arme beginnen zu zittern. Da rieche auch ich hinter meinem Rücken die Schweißausdünstung und den Biergestank.

Vater.

Gemeinsam drehen wir uns um. Als wir zu Vater aufblicken greife ich instinktiv nach der Hand meines Bruders. Wieder einmal glasige Augen! Sie nehmen uns kaum wahr. Wankend steht er vor uns und brüllt Mutter an. Noch bevor wir ihn begrüßen, und ich ihm sagen kann, dass sie nicht wieder streiten sollen, gibt er meinem Bruder sein Geburtstagsgeschenk: Er holt aus und schlägt Mutter ins Gesicht. Rasch wende ich den Blick ab, doch mein Bruder kann die Augen nicht schließen … wie damals, als wir Mutter die Treppe hinunterstürzen sahen und Vater sie anschrie, endlich aufzustehen.

Diesmal steht Mutter nicht wieder auf. Sie hat das Tischtuch samt der Torte, den Servietten und den Kakaobechern mit sich zu Boden gerissen. Regungslos, obszön verrenkt, der Rock bis zu den Oberschenkeln hochgerutscht, liegt sie vor unseren Füßen. Diesmal schreit Vater sie nicht an, sondern starrt nur auf die dunkelrot gefärbte Tischkante. Um Mutters Kopf breitet sich eine immer größer werdende dunkle Pfütze aus, die langsam unsere Filzpantoffeln erreicht. Bestimmt ist es der Kakao, der sich auf dem Holzboden verteilt. Ich suche nach den Plastikbechern, doch sie sind zu weit entfernt. Wie in einem religiösen Bild liegen die weißen Kerzen im Halbkreis um Mutters Kopf in der Lache.

Während Vater in die Küche taumelt, stehe ich wortlos da, spüre meine Beine tonnenschwer werden und starre in Mutters lebloses Gesicht. Aus der Brust meines Bruders dringt ein leises Wimmern. Ich drehe den Kopf und schaue ihn an. Seine Schultern zucken, er kann die Szene nicht begreifen, möchte mit seinen kleinen Händen alles ungeschehen machen, naiv und vergebens, als wäre er mit seinem Geburtstag schuld an allem.

Nachts höre ich, wie er sich selbst unter der Decke Schmerzen zufügt, während er die Zähne zusammenbeißt und sich in den Schlaf weint. Stunden später wälzt er sich noch im Bett herum. Ich höre, wie er Vater im Traum anfleht, er möge doch ihn bestrafen und nicht Mutter, als wollte er Vaters Schläge auf seinen eigenen Körper übertragen. Ich weiß, er würde sich nur zu gern opfern, um Mutter zurückzugewinnen. Ich weiß es deshalb, weil es mir nicht anders geht.

Am nächsten Morgen versteckt er seine Hände unter einem langen Wollpullover, doch als er über den Frühstückstisch nach der Tasse greift, sehe ich sie für einen kurzen Moment … ich schrecke vor den zerkauten Nägeln und blutigen Fingerkuppen zurück. Abends steht er im Badezimmer neben mir auf dem Holzhocker. Wir putzen uns die Zähne. Ich bemerke dunkelblaue Zwickmale auf seiner schmalen Brust, möchte ihn danach fragen, doch wir haben seit seinem Geburtstag nicht mehr miteinander gesprochen. Von da an wendet er sich immer öfter von mir ab, verkriecht sich abends wortlos in seinem Bett. Ich höre ihn unter der Decke weinen, und am nächsten Morgen sind erneut rotgeränderte Bissspuren auf seinen Unterarmen zu erkennen … ewige Narben, die niemals verblassen.

 

Einige Wochen später dringt aus dem Treppenhaus das Gemurmel der Nachbarn durch die Wohnungstür. Vater wird von zwei uniformierten Beamten in einem Wagen weggebracht, und mein Bruder und ich werden getrennt. Während ich in ein Heim für schwer erziehbare Jungen gesteckt werde, kommt er in eine psychiatrische Anstalt für verhaltensauffällige Kinder. Während mir andere Kinder mein Essen und meine Kleidung stehlen und mir ein Jugendaufseher einmal wöchentlich die Seele aus dem Leib prügelt, führen Frauen in weißen Kitteln stundenlang Gespräche mit meinem Bruder. Womöglich durchlebt auch er eine schreckliche Kindheit, allerdings habe ich in meinem Heim vergeblich nach einem hellen, beheizten und trockenen Zimmer mit Bilderbüchern, Filzstiften und Wasserfarben gesucht.

Mein Zorn stumpft ab. Ich begreife, dass ich es im Gegensatz zu meinen Kameraden noch gut erwischt habe, weil ich von den Aufsehern nur verprügelt werde. Wenn sie mitten in der Nacht leise die Tür zu unserem Schlafsaal öffnen, und ihre Absätze träge über den Fliesenboden wandern, liegen wir starr in unseren Betten und hoffen, dass die Schritte – Gott, nur dieses eine Mal – nicht ausgerechnet am Eisengestänge unseres Betts haltmachen. Erleichtert atme ich aus, wenn der Junge neben mir aus dem Bett geholt und ins Nebenzimmer gebracht wird. Auf dem Rücken liegend, den Blick zur Decke gerichtet, halte ich den Atem an und lausche. Hin und wieder schleudern Autoscheinwerfer die Schatten der Fensterkreuze an die Wand … und das Wimmern hört nicht auf. Es hallt oft stundenlang durch die Korridore und das Treppenhaus. Danach öffnet sich die Tür zu unserem Schlafraum, und mit nackten Füßen läuft der Junge über den Kachelboden, um sich in sein Bett zu verkriechen. Am nächsten Morgen wagt er keinem von uns in die Augen zu sehen.

Hinter den Heimmauern sind wir stumme Opfer, die von der Gesellschaft ignoriert werden. Wer würde uns Kindern schon glauben? Stattdessen ernten wir Spott und Hohn.

»Geschieht den kleinen Verbrechern recht …«, höre ich die Erwachsenen sagen, die bei Wahlveranstaltungen von unserem Direktor durch das Heim geführt werden. Jenseits der milchigen Glasscheiben sehen wir sie im Speisesaal bei Kaffee und Kuchen sitzen, plaudern und lachen. »Wer nicht hören will, muss fühlen!«, sind die Worte, an die viele von uns allmählich selbst schon glauben.

Aber ich bin nicht daran zerbrochen. Jahre später werde ich schließlich als junger Mann aus dem Heim entlassen, in eine Gesellschaft, die kein Verständnis für mich aufbringen kann – und will.

 

Als ich meinen Bruder viele Jahre nach unserer Trennung wieder zu Gesicht bekomme, ist es ein trauriges Bild, das von keiner Wiedersehensfreude geprägt ist. Das ist nicht mein Bruder, ich hatte ihn doch völlig anders in Erinnerung! Er war so viel kleiner, hatte ein zartes Gesicht und nicht diesen gefährlichen Ausdruck in den Augen – Himmel, diese Augen! Ich erkenne ihn kaum wieder, sein Haar ist schütter, das Gesicht glänzt in einem kränklichen fiebrigen Farbton und sein zurückgebliebener Körper steckt in einem weißen Overall. Sein abwesender Blick, der sagen möchte, dass er sich nicht in dieser Welt befindet, starrt durch die kahle Wand. Mit einer Hand umklammert er einen Filzstift. Sein Arm fährt mit trägen Bewegungen über das Papier. Noch immer ist er in psychiatrischer Behandlung, und an seiner rechten Hand fehlen bereits zwei Finger.

Leise schließe ich die Zimmertür und blicke zum Ende des Flurs, von wo mir Schuheklappern entgegenkommt. Eine Frau mit hochgesteckten, grauen Haaren stürzt auf mich zu, ein Buch an die Brust gepresst, welches das Namensschild auf ihrem Kittel verdeckt: Dr. Cornelia Pf… – mehr ist nicht zu erkennen. Die Pupillen hinter den dicken Gläsern der Hornbrille sind kaum zu sehen. Trotz ihres Alters sind ihre Hände anmutig und schlank. Sie berührt mich am Arm, führt mich den Korridor entlang, vorbei an Getränkeautomaten und vergitterten Fenstern zum Hof. Wie ein Wasserfall redet sie auf mich ein, bis wir vor der Fahrstuhltür stehen bleiben.

»Endlich hat man Sie ausfindig gemacht. Ich bin so froh darüber. Wie es scheint, sind Sie sein einziger Angehöriger, seitdem Ihr Vater vor zwei Jahren diesen tragischen Unfall im Gefängnis hatte.«

»Es war kein Unfall!«, unterbreche ich sie.

Sie runzelt die Stirn. »Ihr Vater ist nicht beim Duschen gestürzt?«

»Doch, aber bei seinem Genickbruch hat jemand nachgeholfen.«

»Das tut mir leid.« Betroffen blickt sie zu Boden.

»Es braucht Ihnen nicht leidzutun.« Kinderschänder und Frauenmörder haben im Knast nicht immer eine hohe Lebenserwartung. Wäre ich damals kein Kind gewesen, hätte ich es selbst getan. »Wie geht es meinem Bruder?«

Sie schaut auf. »Kann er bei Ihnen wohnen?«

Ich lache gequält auf. »Ich lebe in Untermiete, und mein Job reicht kaum aus, um …«

»Ja, ich verstehe. Wenn wir Glück haben, bekommt er vom niederösterreichischen Hilfswerk eine eigene Wohnung in Stockerau zugewiesen. Das Programm Betreutes Wohnen vom Sozialamt sieht vor, dass er …«

»Wie geht es ihm?«

Sie zuckt mit den Achseln. »Er liest viel und malt gern. Haben Sie seine Gemälde gesehen? Er hat Talent, sie sind …«

»Sie wissen, was ich meine!«, unterbreche ich sie. Das Licht an der Fahrstuhlanzeige leuchtet auf.

»Nun, lassen Sie es mich so formulieren: Ihr Bruder denkt schon lange nicht mehr an seine Mutter. Er kann sich kaum noch an die Tortur erinnern, die sie regelmäßig vor seinen Augen durchmachen musste. Immerhin ist er damals erst fünf gewesen. Er bestraft sich längst nicht mehr für die Schuldgefühle, die er empfindet … wenn Sie das meinen?«

»Aber seine Finger?«

»Zumindest nicht bewusst!«

»Was heißt bewusst?«, entfährt es mir in einem groben Ton. Der Fahrstuhl klingelt, hinter mir öffnet sich die Tür mit einem scheppernden Geräusch.

»Nun, er hat im Lauf der Zeit gelernt, Lust, Freude und sogar Ekstase aus den ihm zugefügten Schmerzen zu gewinnen. Der Prozess der Bestrafung hat sich – so paradox das für Sie klingen mag – in einen Prozess der Belohnung gewandelt.«

»Was?« Mit zusammengepressten Augen schüttle ich den Kopf.

»Jahrelang war er passives Opfer und musste Demütigung und Schmerzen durch seinen Vater ertragen«, fügt sie rasch hinzu, das Buch weiterhin fest an ihre Brust gepresst. »Aber nun schlüpft er selbst in die Rolle des Peinigers.«

»Aber er quält sich selbst!«

»Ja, damit hat er die Situation unter Kontrolle. Aber mittlerweile ist es nicht länger der immer wiederkehrende Drang, Ruhe und Frieden zu erlangen, sondern Lust und Befriedigung auf eine schrecklich pervertierte Art und Weise.«

Ich verstehe das Gerede der Ärztin nicht, lasse von ihr ab und betrete die Kabine.

»Warten Sie! Wo wollen Sie hin?« Sie legt die Hand auf den Sensor des Lichtbalkens.

»Sie kennen die wahren Zusammenhänge genauso wenig wie ich«, sage ich.

»Wie können Sie das behaupten? Immerhin ist er schon seit drei Jahren bei mir in Behandlung, und wenn ihn jemand kennt, bin ich es!«

Sie zieht die Hand zurück, die Tür gleitet zu.

»Und warum haben Sie ihn nicht geheilt?«, rufe ich durch die Fahrstuhltür, während die Kabine nach unten ruckelt.

 

Nachdem mein Bruder entlassen wurde, besuche ich ihn häufig in seiner kleinen Wohnung. Stockerau ist eine angenehm ruhige Stadt, in die ich mit der Wiener Schnellbahn und dem Bus in weniger als einer Stunde gelange. Genauso wie ich meidet er den schrillen Lärm aufgebrachter Menschenmengen in Cafés, Supermärkten und bei Veranstaltungen. Am Liebsten bleibt er zu Hause und liest. Oft sitzen wir stundenlang in seiner Küche still nebeneinander, während ich die Wand bewundere, die er mit seinen Gemälden tapeziert hat. Sonst scheint die karge Einrichtung seines Wohn- und Schlafzimmers außer einer Couch nur aus Zeitungen und übereinandergestapelten Büchern zu bestehen, die sich mangels Regalen zu bizarren Türmen erheben.

Wenn ich ihm von meinem Job als Paketzusteller oder von meinen langen Spaziergängen am Wochenende erzähle, blickt er nur selten von seinen Bildern auf. Er wippt auf dem Stuhl vor und zurück und schmiert mit dunklen Ölkreiden auf dem am Küchentisch ausgebreiteten weißen Packpapier herum. Wenn er den Mund öffnet, was selten genug der Fall ist, spricht er über seine Bücher: Düsteres und verworrenes Zeug über Käfer, Kübelreiter, Hungerkünstler und Strafkolonien, das mich eigentlich gar nicht interessiert. Manchmal plaudern wir über unsere Kindheit, doch sobald ich das Thema anschneide, zieht er sich zurück. Aber ich merke, dass es zumindest mir guttut darüber zu reden. Offensichtlich arbeite ich dabei meine verdrängten Ängste auf, die ich als Kind nie begriffen habe. Schon bald glaube ich, dass es auch ihm nach diesen Gesprächen besser geht.

Was für ein Irrtum!