»Wer mein Buch kennt, wird es bestätigen,
daß dasselbe den Anspruch erhebt, den
Judenschmeichlern ebenso zu mißfallen
wie den Judenhassern.« (Mommsen)

An Theodor Mommsen

Verehrter Herr Professor,

nicht nur das Motto habe ich Ihnen entlehnt, ich bitte mir auch noch für einige Minuten Ihren Namen aus, um an seine Adresse die Betrachtungen knüpfen zu dürfen, die ich sonst als unpersönliches Vorwort hersetzen müßte.

Ihre Flugschrift über das Judentum kam mir in die Hand, als ich eines der letzten Kapitel dieses Buches niederschrieb. So mächtig war der Eindruck der wenigen Seiten Ihrer Schrift, daß mein Gedankengang in manchen Punkten beeinflußt wurde und daß ich mir einen der wichtigsten Begriffe derselben, den der Christenheit, in Ihrem Sinne anzueignen erlaubte.

Wenn Recht vor Macht ginge und wenn die Welt von edelgesinnten anstatt von gewalttätigen Männern gelenkt würde, so wäre die »Judenfrage« mit Ihrer Abhandlung aus der Welt geschafft. Gute Gründe kann man gegen Sie nicht ins Feld führen, eine höhere Autorität in historischen Dingen auch nicht. Für die Gesellschaft der anständigen Gebildeten sind die folgende Sätze unanfechtbar:

»Man vergegenwärtige sich jeden jüdischen Dichter und Romanschreiber von einigem Belang oder auch nur von einigem Erfolg; man wird wohl die Spuren ihrer Herkunft erkennen, wie denn kein Poet seinen Ursprung verleugnen kann und Goethe immer auch ein Frankfurter Kind bleibt; aber wie sie sind, trefflich, mittelmäßig, widerwärtig, sie haben keine Fühlung unter sich, und der deutsche Israelit steht ebenso mitten im deutschen literarischen Leben wie der englische mitten im englischen. Das ist der eigentlich Sitz des Wahnes, der jetzt die Massen erfaßt hat und sein rechter Prophet ist Hr. v. Treitschke. Was heißt das, wenn er von unsern israelitischen Mitbürgern fordert, sie sollen Deutsche werden? Sie sind es ja, so gut wie er und ich. Er mag tugendhafter sein als sie; aber machen die Tugenden den Deutschen? Wer gibt uns das Recht, unsere Mitbürger dieser oder jener Kategorie wegen der Fehler, welche im allgemeinen dieser Kategorie, es sei auch mit Recht, zur Last gelegt werden, aus der Reihe der Deutschen zu streichen?«

Wer diese Worte niedergeschrieben hat – und ihre Bedeutung greift weit über die törichte Judenfrage hinaus –, der verdient von den Juden auch dann gehört zu werden, wenn er ihnen unangenehme Dinge sagt.

Sie weisen mit Recht darauf hin, daß die Juden selbst daran mitschuldig sind, wenn die christlichen Deutschen den jüdischen mit einem Gefühl der Fremdheit gegenüberstehen. »Christenheit« sei noch immer das einzige Wort, welches den Charakter der heutigen internationalen Zivilisation zusammenfasse und in dem Millionen und Millionen sich empfinden als Zusammenbestehende auf dem völkerreichen Erdball. »Außerhalb dieser Schranken zu bleiben und innerhalb der Nation zu stehen ist möglich, aber schwer und gefahrvoll.« Sie wenden sich sodann gegen die Unsitte der spezifisch jüdischen Wohltätigkeitsvereine u. dgl.

Wir anderen haben das Recht, uns derber auszudrücken. Es gibt in Deutschland wenig Anstößigeres als diese Vereine mit unverständlichen hebräischen Namen, die durch ihre Frage nach der Abstammung des Notleidenden so intolerant sind wie irgendein Hofprediger. Ich kenne nichts Kindischeres als die Sitte, das Osterfest und das Pfingstfest nach einer seltsamen jüdischen Astronomie berechnen zu wollen und dadurch das Zusammenfallen der gemeinsamen Feiertage zu verhindern, nichts Verstockteres als die alte Gewohnheit, das saubere Hemd und das bessere Essen sich am »Sonnabend« zu gönnen, anstatt an dem allgemein üblichen Sonntage. Die Unterwerfung aller Juden unter die allgemeine deutsche Sitte scheint mir fast ebensosehr notwendig für die deutsche Einheit wie die Unterwerfung der kleinen Staaten unter die deutschen Reichsgesetze. Ich spreche natürlich nur vom Äußerlichen, nicht vom Glauben, welcher Gewissenssache jedes Einzelnen ist.

Sie begnügen sich jedoch nicht damit, verehrter Herr Professor, etwas Negatives zu fordern; Sie verlangen von den Juden etwas Positives, den Übertritt.

Wer soll übertreten? Tun es nur wenige, nicht alle Juden insgesamt, so bleibt die Judenfrage bestehen. Nicht wahr? Und Sie werden doch nicht glauben, daß der ›jüdische‹ Pöbel Vernunftgründen besser zugänglich wäre, als jeder andere? Nein – wie viele neidische Komplimente die Juden auch von ihren Feinden darüber hören müssen –, der Prozentsatz der Vollgebildeten ist unter den Juden ebenso gering wie unter den übrigen Menschen.

Diese Gebildeten jedoch, die das Judentum längst weitaus überwunden haben, welcher Konfession sollen sie beitreten? Ja, wenn sich der Übertritt einfach bei einem Standesamt anzeigen ließe – »wie ein Todesfall« würden die orthodoxen Juden, »wie eine Geburt« würden die orthodoxen Christen sagen –, dann zweifle ich nicht an einem großen Erfolge. Aber mit der Taufe des Erwachsenen ist ein Bekenntnis verbunden. Welche Konfession hat so weite Dogmen, daß sie derjenige zu bekennen vermochte, der durch Wissenschaft um seinen alten Glauben gekommen ist? Je größer der Inhalt eines Begriffs, desto kleiner sein Umfang! Das ist ein alter Satz der Logik. Und auch nur der Glaube, welcher sich durch die kürzeste Definition ausdrücken läßt, kann die größte Menge der Bekenner vereinigen.

Doch selbst, wenn diese Schwierigkeit nicht bestände, wäre in diesen Tagen die Aufforderung zum Übertritt unwirksam. Kein Deutscher übersiedelte während des Krieges nach Paris.

Mein Roman erzählt einen Fall, in welchem der Übertritt an der Wut der Judenhetzer scheitert.

Und nun muß ich noch entschuldigen, daß ich mich mit einem Roman an Sie, den großen Historiker, wende, der sicherlich nicht Muße hat, viele belletristische Bücher oder gar deren Vorreden zu lesen.

Aber mein Buch ist ein Tendenz-Roman. Ich denke gar nicht an den Beifall des Ästhetikers, ich will die Zustimmung des Ethikers, vor allem des Geschichtsschreibers.

Und ich erhoffe diesen Erfolg. Er ist mir in einer Beziehung schon zuteil geworden. Während dieser Roman in Tagesblättern veröffentlicht wurde, habe ich zahlreiche Urteile vernommen und – ich sage es mit Stolz – habe den Zorn der beiden extremsten Parteien auf mich geladen. Nicht nur der Pöbel höherer und niederer Stände, der sein Gift gegen den jüdischen Stamm verschwendet, auch diejenigen Juden, die so wahnsinnig sind, mitten im Herzen Deutschlands eine orientalische Enklave bilden zu wollen, beide Todfeinde haben mich verlästert. Ich ziehe daraus den Schluß, daß ich in manchen Dingen wohl das Richtige getroffen habe.

Sie aber, den Kenner einer Zeit, die der unseren so verzweifelt ähnlich war, bitte ich, dieses Buch zu lesen.


Berlin, den 21. Februar 1882

F. M.

I.

Inhaltsverzeichnis

Der Eisenbahnzug kam über die Moldaubrücke daher. Schon rafften die Reisenden ihr Handgepäck zusammen, da hielt der Zug plötzlich, kaum eine Minute vor der Einfahrt in den Bahnhof des alten Prag. Die vier Insassen eines Coupés zweiter Klasse kamen in Bewegung.

»Es geschieht gewiß ein Unglück«, rief in harter böhmischer Aussprache ein kahlköpfiger alter Herr. »Das beste ist, wir öffnen die Tür und springen hinaus.«

Sein Gegenüber gab sich Mühe, den ängstlichen Mann zu beruhigen. Die Bahnverwaltung wäre in diesen Tagen außerordentlich vorsichtig. Unaufhörlich gingen große Züge mit Soldaten und Kriegsbedarf nach dem Norden, und da müßte man froh sein, wenn die Privatleute überhaupt noch befördert würden. Der Krieg wäre kein Spaß. Und wenn in dem bevorstehenden Kriege niemanden ein größeres Unglück träfe, als einige Minuten zu spät am Ziele anzukommen, so könnten Preußen und Österreicher leichteren Mutes ins Feld rücken.

In diesem Augenblicke nahte vom Bahnhof wieder ein Militärzug, wie deren heute so viele vorübergeflogen waren. Gleich hinter der Lokomotive hatte in einem Lastwagen die Musikbande Platz genommen und wiederholte eben zum fünften Mal den letzten Vers des »Gott erhalte«. In unabsehbarer Reihe folgten Wagen aller Gattungen und aller Klassen, gefüllt mit schreienden, singenden, lärmenden Soldaten. Trotzdem nur zwei Regimenter vertreten waren, hörte man doch fast alle Sprachen der Monarchie durcheinander tönen. Niemand sang das Lied mit, welches die Instrumente vorn aufspielten; aus dem einen Wagen erklang ein recht wehmütiges slowakisches Volkslied, aus dem anderen surrte und knatterte, von hübschen Stimmen vorgetragen, ein italienischer Gassenhauer, dazwischen wetterten polnische und ungarische Flüche, und aus einem überfüllten Coupé dritter Klasse erklang gar zu den Tönen einer böhmischen Ziehharmonika die Weise »Es ist bestimmt in Gottes Rat« – dasselbe Lied, welches in diesem Augenblick, wer weiß wo überall, bei Freund und Feind, von deutschen Mädchenlippen emportönte zum graublauen Junihimmel hinauf.

Als der schwere Militärtrain unter furchtbarem Prusten langsam bis an den haltenden Personenzug herangekommen war, standen auch alle Passagiere an den Fenstern und winkten und riefen und jauchzten den Soldaten zu. Diese erwiderten die Begrüßung mit einem tollen Geschrei, riefen den Damen unter frechen Blicken und Gesten unverständliche Dinge ins Gesicht, und auch die Offiziere schienen von dem allgemeinen Rausche miterfaßt.

Selbst der alte Herr hatte plötzlich seine Angst wieder vergessen. Während sein Nachbar sich begnügte, durch eine grüßende Handbewegung an der Huldigung für die Truppen teilzunehmen, hatte der vorhin so Ängstliche seinen Kahlkopf weit herausgestreckt. Er schwang mit der Linken sein geblümtes Taschentuch, hielt in der Rechten die gefüllte Zigarrentasche hin und brüllte aus offenem Halse bald ein deutsches »Hurra«, bald ein tschechisches »Slawa«. Plötzlich zog er entsetzt den Kopf wieder herein. Aus einem der letzten Wagen hatten sich ein paar Hände vorgestreckt, das Taschentuch war ihm entrissen, die Zigarrentasche zu Boden geschleudert worden. Aber schon waren die Soldaten vorbei, ein greller Pfiff ertönte, der Personenzug fuhr langsam weiter.

Der Kahlkopf sank ärgerlich in das Kissen zurück.

»Verfluchte Kerls, habe ich ihnen doch nur gewollt zeigen, daß ich möchte geben Zigarren, wenn möglich wär. Schadet nix, wenn nur die Preußen verlieren.«

Und er warf einen bösen Blick in die entgegengesetzte Ecke hinüber, wo ein hübsch gewachsener, gut gekleideter junger Mann scheinbar teilnahmslos da saß und seine Augen nur liebevoll über die Moldau und die herrliche Höhe des Hradschin schweifen ließ. Es lag etwas in seinen offenen Zügen, seiner männlichen Haltung, seinen klugen und träumerischen Augen, was seine Reisegenossen wohl veranlassen mußte, ihn für einen Norddeutschen zu halten.

Der junge Mann hatte das ganze lärmende Schauspiel nicht unbeachtet gelassen, aber sein Gesicht zeigte einen Zug von Trauer, ja von Bitterkeit, als die wilden Rufe ertönten.

Ihm waren diese Uniformen, diese Lieder, diese Rufe vertraut, aber dennoch vermochte er nicht, seine Ecke zu verlassen und sich an dem kriegslustigen Auftritt zu beteiligen.

Hier in dem ehrwürdigen hunderttürmigen Prag war er geboren, hier hatte er sprechen und fühlen gelernt, hier in Böhmen kannte er die Wellenlinien jedes Gebirges, die Farbe und den Wellenschlag jedes Flusses. Aber draußen im Reiche, in Leipzig, hatte er seine Studien vollendet und eben gestern erst das alte Symbol des Doktorhutes erworben. Draußen im Reich hatte er hinter dem Biertisch gesessen, Ellenbogen an Ellenbogen mit guten Freunden aus Schwaben, aus der Mark und aus Westfalen, hatte mit ihnen um die Wette im Liede nach der Größe des deutschen Vaterlandes gefragt, hatte außer seinen medizinischen Kollegien noch manche Vorlesungen gehört, in welchen begeisterte Lehrer in kühnen Worten die Zukunft Deutschlands unter preußischer Führung priesen.

Auf welcher Seite stand er nun hier mit seinem Herzen? Wenn es sich nur, wie bei einer kindischen Rauferei, um die Gefahr und um die Ehre des Sieges gehandelt hätte, so wäre er gern mit dem niederösterreichischen Regimente marschiert, bei welchem einige seiner alten Schulkameraden standen. Aber es handelte sich um die Zukunft des großen Deutschlands – mußte das Vaterland nicht auch im Ernste und in der Prosa größer sein?

Freilich, was lag dem stolzen Deutschland an dem dreiundzwanzigjährigen Heinrich Wolff, den man erst seit vierundzwanzig Stunden Doktor Heinrich Wolff nannte? Wenn aber das Vaterland ihn entbehren konnte, er konnte des Vaterlandes nicht entraten, und deshalb war es ihm, als ginge die Grenzlinie, welche man jetzt zwischen Österreich und Deutschland aufrichten wollte, mitten durch sein junges Herz.

Der Zug war in die Halle eingefahren. Heinrich übergab sein Gepäck einem Dienstmann, der unterwürfig die Sachen in Empfang nahm. Heinrich nannte als Adresse ein Haus in der Zaikerlgasse und bemerkte nicht das enttäuschte, verächtliche Gesicht, das der Dienstmann dazu schnitt. Der Neuangekommene wollte zu Fuß und allein durch die Stadt wandern, die er seit nun sieben Jahren nicht gesehen hatte.

Verändert hatte sich da freilich nicht viel. Links schloß die mächtige Bastei die Straße ab. Oben wandelten bereits geputzte Spaziergänger hin und her. Auch auf dem Wege war der schöne Sonntagmorgen nicht zu verkennen. Alle Läden waren geschlossen, und von den entfernten Kirchen klangen die Glocken mehr freundlich als feierlich herüber. Von allen Seiten strömten festlich gekleidete Frauen, das Gebetbuch in der Hand, der Altstadt zu, wo die meisten und die ältesten Kirchen die Beter lockten.

Heinrich setzte seinen Weg fort und schlenderte unter all diesen Kirchgängerinnen und ihren verliebten oder mürrischen Begleitern selbst wie ein Spaziergänger mit dahin.

Vor dem grauen halbverwitterten Pulverturm teilte sich der Menschenstrom. Viele traten gleich rechts in die nächste Kirche, die Mehrzahl aber wandte sich links nach dem »Graben«, um ein Stündchen vor der Messe oder gar anstatt des Kirchgangs zu lustwandeln. Lächelnd blieb Heinrich Wolff stehen und blickte die breite schöne Straße hinab. Dort, nicht weit von dem großen Gasthof, stand ja das Klostergebäude der Herren Piaristen, bei denen er in die hohen Kenntnisse des Unter-Gymnasiums eingeführt worden. So wie damals gingen die Leute noch heute auf dem »Corso Prags« spazieren. Vor sieben Jahren war ihm hier fast kein Gesicht fremd gewesen. Heute würde er niemand wiedererkennen, und doch war der Anblick derselbe wie damals. So hatte er schon vom Viadukt aus den Fluß bewundert; es war dasselbe Bild wie einst und doch kein Wassertropfen der alte.

Munter schritt Heinrich unter den schwarzgrauen Spitzbogen des Pulverturms weiter; er betrat die seltsam gekrümmte, von alten, dunklen, stark profilierten Häusern eingefaßte Zeltnergasse, in welcher die geputzten Menschen im Gedränge herauf-und herunterzogen, während aus den zahlreichen Durchhäusern immer wieder neue Menschenströme sich ergossen.

Bei dem letzten dieser Durchhäuser, einem weitläufigen Gebäude, dessen Höfe und Flure die Verbindung zweier Parallelstraßen herstellten, mußte Heinrich doch stehenbleiben. Drüben lag der kleine Platz, an welchem das Haus seiner Eltern gestanden hatte. Dort war er geboren, dort hatte er auf der Straße mit dem Kreisel gespielt, hatte die ersten Schläge bekommen, an die er sich erinnern konnte; dort hatte er froh und unbewußt bis in sein sechzehntes Jahr gelebt, hatte nichts von der weiten Welt gekannt als seine Eltern, seinen uralten Großvater aus der Zaikerlgasse, seine Lehrer und seine Bücher – ja, noch jemand hatte er dort gekannt: den guten Onkel Kolliner und die kleine Tina, mit der er fortwährend in Zank gelebt und für die er hundert kleine Wege gemacht hatte. Wahrscheinlich war das seine erste Liebe gewesen. Sie war aber schwerlich von der rechten Art, denn Heinrich lächelte beinahe spöttisch bei der Erinnerung.

Mächtig zog es den jungen Mann, das Haus seiner Eltern wiederzusehen. Seit jenen furchtbaren Wochen, in denen fast alle Leute im Hause an der Seuche erkrankten und starben, bis schließlich auch seine Mutter und dann sein Vater sich krank niederlegten – bis man ihn eines Morgens plötzlich trotz seinem Weinen und Bitten zum Großvater in die Zaikerlgasse brachte, ihn ganz schwarz anzog und er dann im dumpfen Schmerze auf den jüdischen Friedhof mitging und bedeutet wurde, dem Großvater alle unverständlichen Worte nachzusprechen, alle unverständlichen Gebärden nachzuahmen – seit jenen Wochen hatte er das Haus nicht wiedergesehen.

Aber heute durfte er sich nicht aufhalten lassen. Der Lebendige hatte ein Recht an ihn, der alte Großvater selbst, dem zuliebe er nach Prag gekommen war.

Eben streifte ihn wieder einmal ein geschäftiger Küchenbäckerjunge mit seinem Warenkorbe. Heinrich schüttelte mit einer raschen Kopfbewegung die Erinnerung ab und schritt bewegten Herzens weiter die wohlbekannte Straße entlang.

Hier mündete sie in den großen Altstädter Ringplatz. Wahrhaftig, alles stand noch so da, als hätte Heinrich es gestern zum letztenmal gesehen. Hier die »Einhorn-Apotheke«, nach welcher er am Todestage seiner Eltern vier-oder fünfmal unter heißen Tränen gelaufen war – und dort an der Ecke die Buchhandlung, in deren Schaufenstern er so bequem die neuesten Bilder bewundern und die neuesten Büchertitel lesen konnte. Rechts ragten in steiler Pracht die Türme der Teyn-Kirche über den Dächern der umschließenden Häuser in die Höhe. Links ruhte in breiter Würde das gotische Rathaus, vor welchem die Hauptwache noch immer die beiden ungefährlichen Kanonen bewachte. Alles wie einst. Nur kleiner, niedriger erschien ihm alles. Aber fremd geworden war es ihm nicht.

Oder doch? Wo entlang ging er denn weiter zum Hause des Großvaters? Drüben führte sicherlich der Weg, dort, wo die Häuser sich so dicht aneinander schlossen, daß man zwischen ihnen nicht die Mündung einer neuen Gasse wahrnehmen konnte. Ging er da besser rechts oder links?

Er fragte einen Vorübergehenden nach dem Wege. »Die Zaikerlgasse? Das ist in der Judenstadt«, lautete die Antwort. »Da müssen Sie links über den Dreibrunnenplatz gehen.«

Und der Mann schritt hastig weiter. Heinrich stand betroffen da, die Antwort hatte ihn peinlich berührt und doch – was war ihm denn geschehen?

Freilich, seit sieben Jahren hatte ihn nichts, aber auch gar nichts daran erinnert, daß er kein schlichter Mensch sein sollte wie alle andern auch, und nun, kaum daß er in der Heimat angekommen, sagte ihm der erste beste Unbekannte: »Dein Großvater wohnt in der Judenstadt. Von dort bist auch Du hervorgegangen, da ist noch Dein Vater geboren.«

Der Mann hatte es gewiß nicht böse gemeint. Aber warum sagte er »Judenstadt«? Der Stadtteil hieß doch seit vielen Geschlechtern, dem guten Kaiser Josef mehr zum Dank als zur Ehre, die »Josefstadt«. Warum wollten sich die Leute nicht an die gebührende Bezeichnung gewöhnen? Warum klang es immer noch so ähnlich wie »Ghetto«?

Und wieder kehrte Heinrich die Frage gegen sich selbst. Er freute sich doch sonst, wenn er alte Sitten, alte Trachten, alte Namen im Wesen und in der Sprache des Volkes erhalten fand. War es da nicht abscheulich von ihm, daß er den guten wohlbegründeten Namen verachtete?

Unter solchen Gedanken hatte Heinrich den Ringplatz durchschnitten und war durch ein kleines Seitengäßchen bis an die Grenze des »fünften Stadtviertels« gelangt, den das Volk hartnäckig die »Judenstadt« nannte. Heinrich lachte bitter auf. Der sonnige Morgen mit seiner Weihestimmung lag hinter ihm. Er war wie durch die Künste eines Theatermaschinisten plötzlich in einer fremden Umgebung. Das Volk hatte so Unrecht nicht, wenn es die fremde Bezeichnung beibehielt.

Sichtbarlich war hier freilich das Proletariat der ganzen Stadt angesammelt. Schon übertraf sogar der tschechische Pöbel den jüdischen an Zahl; solange aber noch ein Stein dieser Häuser auf dem andern stand – solange die Gewohnheiten dieser Winkelgassen sich erhielten – solange hieß es mit Recht die Judenstadt, und wenn auch kein einziger Jude mehr in diesem Bezirk sich aufhielt.

Aus welchen Jahrhunderten stammten diese schmalbrüstigen, krummlinigen, triefäugigen Häuser und Häuschen, deren Dächer sich wie die Köpfe einer verschüchterten Schafherde übereinanderschoben, deren mißfarbene rissige Mauern allen Gesetzen der Baukunst zum Hohne noch aufrecht standen, deren winzige Fenster eher von feindlichen Kanonen hineingeschossen, als von einem vernünftigen Maurermeister vorbedacht erschienen? Aus welchen Jahrhunderten stammte das Holz der Haustüren und der Fenster, das keinen Nagel mehr in seinen morschen Fasern duldete? Aus welchen Ländern, aus welchen Zonen kamen die Formen und die Farben der unzähligen Lappen und Fetzen – man sah nicht, ob vor oder nach der Wäsche –, die auf unsäglich schmutzigen Stricken sich kreuz und quer von Winkel zu Winkel zogen?

Draußen ruhte die Stadt vom Treiben der Woche, und hier? Jeder Fußbreit Boden eine Trödelbude, jeder Mensch ein Schacherer, der kaufen oder verkaufen wollte. Als hätte sich der gesamte Geschäftssinn dieses Viertels auf die wenigen Stunden der Sonntagsfrühe beschränkt, so drängte sich hier alles auf dem engsten Raume zusammen.

Auf fliegenden Gerüsten hielten jüdische Männer und Frauen ihre unbeschreiblichen Waren feil. Mit einem widrigen Jargon lockten sie die Käufer – dem gräßlichsten Deutsch, das noch überboten wurde durch die Töne, mit denen sie sich untereinander verständigten. Da pries eine dicke schwarzhaarige Frau, der eine silbergestickte Festhaube schief auf den ungeordneten Zöpfen saß, ihre Gänse an. Neben ihr stand – nach den vertraulichen Schimpfnamen zu schließen, die sie einander zuriefen – ihr Mann und blickte mit stumpfem Gleichmut auf die vor ihm ausgebreiteten Handelsabfälle. Verbogene Lichtscheren, in deren Höhlung noch Talg saß, und kleine Nägel, mit und ohne Spitzen – Öllampen, deren abgebrochene Füße neben den zerbrochenen Kugeln lagen – Schlüssel ohne Bart – Schlüssel ohne Griff – Schlösser ohne Federn – Ofentüren ohne Angeln – durchlöcherte Kochtöpfe – Stricknadeln von ungleicher Länge und Dicke, und alles alt, ekelerregend und rostig.

Daneben hockte der Bücherhändler. Ungeordnet, die einzelnen Bände desselben Werkes hierhin und dorthin verstreut, lagen die Bücher da. Schmierige, zerlesene, veraltete Schulbücher, unaufgeschnittene Lagerhüter unbekannter Schriftsteller in zahlreichen Exemplaren, griechische und römische Klassiker in wohlfeilen und in wertvollen Ausgaben, Romane und einzelne Hefte von Prunkwerken. Dahinter saß der Verkäufer, ein blasser unreifer Judenjunge, der selbst in einem seiner Bücher eifrig las, während er ein zweites, schon aufgeschlagen, auf den Knien versteckt hielt, und fast zornig über die Störung die kleinen Ziffern nannte, wenn einer der Umstehenden, in den Büchern blätternd, nach ihrem Preise fragte.

Und daneben der Kleiderhändler mit seinem übelriechenden Knäuel von verschossenen Gewandstücken. Und weiter oben sein ärmerer Genosse, der sich mit dem Verkaufe von abgelegten schadhaften Wäschestücken, von unmöglichen Schuhen, von abgerissenen Knöpfen, fingerlosen Handschuhen, zahnlosen Kämmen, schrecklichen Zahnbürsten, zerbrochenen Brillen, unentwirrbaren falschen Zöpfen begnügen mußte.

Und Tausende von Käufern drängten sich in dem krummen Gäßchen umher, die Landbevölkerung, die des Sonntags zur Stadt gekommen, und die Städter selbst. Die Käufer benahmen sich nicht wie im Kaufmannsladen, sie stritten mit den Verkäufern wie Diebe um die Beute. Das war ein Schreien und Schimpfen, ein Schwören und Jammern, als ob von dem Kaufen eines haarlosen Maurerpinsels das Lebensglück abhinge.

Und zwischen den Verkäufern und Käufern hindurch drängten sich, ihre Waren ausbrüllend und stereotype Witze reißend, die Viktualienhändler. Kolatschen, Knödel, Würste, Krapfen, Buchten, in Schmalz gebackene Kuchen und Fische, geschmorte und gekochte Geflügelstücke wurden mit unsauberen Gabeln zugereicht, mit den Fingern ergriffen. Und der widerliche Geruch all dieser Speisen vermischte sich mit dem Moderduft, der aus allen Kelleröffnungen herauskroch, durchzog unbarmherzig die ganze schwere Schicht von unsichtbarem Dunst und Staub, die auf der Gasse lagerte, und wälzte sich wie eine Krankheit auf Heinrichs Brust.

Mit kräftigen Ellenbogen brach er sich Bahn. Jetzt war er nicht mehr weit von des Großvaters Hause und fand sich schnell zurecht. Noch hundert Schritte, und er stand in dem Gäßchen, dessen gleichen er nicht wieder gesehen, und das jetzt in der Wirklichkeit womöglich noch enger, noch finsterer, noch abenteuerlicher aussah, als in seiner Erinnerung. Und in dem kleinsten, schwärzesten Häuschen des Gäßchens lebte froh und munter, als gäbe es draußen nicht Licht, nicht Luft, nicht Feld und Wald – hier lebte seit mehr als neunzig Jahren der kluge milde Greis, sein Großvater.

Als Heinrich über die Schwelle trat, geriet der Großvater, der geraume Zeit wie träumend in seinem Lehnstuhl sitzen blieb, nicht in Aufregung.

»Das ist er. Babette, tragen Sie auf!« Das war alles, was er der alten, freilich erst siebzigjährigen Wirtschafterin zurief. Dann ließ er sich vom einzigen Enkel, den er seit sieben Jahren nicht gesehen, das Fahren auf der Eisenbahn wie etwas ganz Unglaubliches beschreiben.

Seit fünfzig Jahren war Großvater Witwer, und seit diesen fünfzig Jahren ging das Leben in dem alten Hause der Zaikerlgasse einen Tag um den andern gleichmäßig hin. Stundenlang nach Heinrichs Ankunft kamen die alten Leute noch auf ihre angefangenen Gespräche, die Heinrich nicht recht verstand, zurück, bevor sie ihre Gedanken dem Gaste zuzuwenden vermochten.

Aber aus hundert kleinen Zeichen konnte Heinrich dennoch merken, wie lieb ihn die Alten hatten. Ohne viele Worte wurde ihm jeder Wunsch von den Augen abgelesen; es wurde für ihn geschmort und gebacken wie für einen Feinschmecker, und das beste Zimmer des Hauses war für ihn eingerichtet.

Heinrich war nicht verwöhnt. Trotz der behaglichen Verhältnisse, in denen Wohlstand der Eltern und Liebe des Großvaters ihn hatten aufwachsen lassen, lebte er in Leipzig jahraus jahrein in demselben hochliegenden Studentenkämmerlein, bei derselben geschwätzigen bedürftigen Wirtin. Aber dort war doch Sonne, Luft; der deutsche Himmel schaute mehr oder minder freundlich, aber immer vertraut durch das Fenster herein. War er hier in der Prager Judenstadt noch unter deutschem Himmel? Was da hereinschielte – das bißchen Licht, das zwischen den hohen engen Häusern wie ein verirrter Vogel ängstlich umherhuschte, waren das Strahlen der deutschen Sonne? Wie in ewiger Dämmerung begraben erschien ihm das Haus des Greises, bald finster wie ein Kerker, bald abenteuerlich wie ein Märchen.

Und die Möbel und Geräte erst, welche die kleinen winkligen Zimmer so beengten, daß für die Lebendigen kaum Freiheit der Bewegung blieb! Daß alles alt und unmodern war, hätte er ja bei der Geschmacksrichtung der Zeit nur als einen Vorzug empfinden können. Aber das war nicht die stille, nachgedunkelte Pracht eines alten Patrizierhauses – das war Urväterhausrat, der Hausrat seltsamer Urväter. Sicherlich hatte Heinrich als Kind unbefangen oft in diesen Räumen gespielt, sicherlich war nur sein schlechtes Gedächtnis, am Ende gar seine Pietätlosigkeit Schuld daran, daß ihn die alten Gebilde nun störten, daß sie ihn in wirren Verbindungen bis in seine Träume verfolgten.

Über dem Tisch hing eine Lampe, deren phantastische weitausladende Formen die Neugier jedes Sammlers hervorgerufen hätte; sie mochte vor vielen hundert Jahren die Werkstatt eines italienischen Meisters verlassen haben. Es war wohl das älteste Stück der Einrichtung. Daneben gehörte jeder Stuhl, jedes Glas einer anderen Zeit, einem anderen Lande, einem anderen Geschmacke an. Hier hatten sicherlich seit manchen Geschlechtern Leute gehaust, denen der Sinn für behaglich harmonische Abstimmung der Umgebung fehlte oder die darauf wie ewige Reisende Verzicht leisten mußten.

Auch die Erklärung des Rätsels hatte ihre Symbole in der Stube. Auf der Kante eines schmalen hohen schnörkelhaften Silberschranks stand zwischen kalbsledernen Bücherbänden ein schlanker siebenarmiger Leuchter, wie ihn die fromme jüdische Sitte brauchte, und dahinter an der Wand hing ein absonderliches Bild. Es stellte den Moses mit seinen Gesetztafeln dar; aber nicht aus Linien war die Zeichnung entstanden, sondern aus geschickt zusammengestellten, in kleinster Zierschrift ausgeführten Buchstaben des hebräischen Alphabets – denselben Buchstaben, welche doch wieder auf den Tafeln des Bildnisses ganz natürlich die Zehn Gebote in der Ursprache mitteilten. Und, wie Heinrich diese Zeichen nicht verstand, so blieben ihm auch die Geister dieses Heims verschlossen; so viele Mühe er sich auch gab, sich in seine Kindertage zurückzuversetzen und Großvaters Behausung, seine eigentümliche Sprache und die lächerliche seiner Dienerin als das Natürliche zu empfinden – es gelang ihm nicht.

Tag um Tag verging in einförmigem Stilleben. Kein Laut des nahenden Kriegslärms drang von der böhmischen Grenze bis in die Zaikerlgasse. Wenn der Enkel einmal davon zu sprechen begann, so erzählte der Großvater bald von Napoleon, den er anno 13 ganz in der Nähe gesehen hatte. Und wenn Heinrich eine Zeitung nach Hause brachte, welche die Beschlüsse der Bundesmächte mitteilte, so hielt der Großvater das Blatt auf seinem Schoße fest und entrüstete sich über die Königsmörder des Konvents.

Der junge Arzt hatte nur selten Zeit, in die Stadt zu gehen. Immer wieder von neuem mußte er die kleinsten Begebenheiten aus seinen Studentenjahren, das Leben im Kolleg, in der Kneipe und die Freuden der Ferienreisen beschreiben.

Der Großvater mochte wohl die Entfremdung des Enkels bemerkt haben. Ohne Groll, aber mit nachdenklichem Lächeln ruhten seine Augen oft auf dem Jüngling, wenn dieser mit einem Buche am Fenster saß und der Alte ihn ungestört durch seine ungefüge Brille beobachten konnte. Auch bei Tische kicherte er oft hustend auf, wenn die lange Babette die fetten Wunderwerke ihrer jüdisch-rituellen Kochkunst anpries und der junge Mann mit sichtlicher Verlegenheit zweimal, dreimal zugreifen mußte.

Er wollte sich mit seinem Enkel endlich einmal aussprechen, und da Heinrich in Babettens Gegenwart sich nicht mit voller Offenheit gab, so versuchte der Alte einmal nach Tische, die Zeugin zu entfernen. Babette habe dem Gaste noch nicht die Krone ihrer Küche vorgeführt, ihren berühmten Blätterteig. Und Großvater fiel vor Husten fast vom Stuhle, so freute er sich über die treffliche List; Babettens Blätterteig brauchte vier Stunden zur Zubereitung.

Die Frau ging mit stolzem Lächeln in ihre Küche, und die Unterredung konnte beginnen. Es war dem jungen Arzte bänglich zumute, er wußte selbst nicht, warum.

»Bist Du getauft?« begann der Großvater nach langer Pause mit ruhiger Stimme, indem er unter seinen weißen buschigen Augenbrauen hervor die tiefliegenden Augen fest auf den Enkel richtete.

Heinrich sprang auf. Er fühlte, wie das Blut ihm in die Wangen schoß, und konnte in seiner Verwirrung nichts antworten als: »Wie kommst Du zu dieser Frage?«

»Weil Du kein Jude mehr bist«, antwortete immer gleich freundlich der Alte, »und ich frage Dich noch einmal: bist Du getauft? Du kannst es mir ruhig gestehen.«

»Ich versichere Dir, lieber Großvater, daß ich nie daran gedacht habe und nicht daran denke, mich formell vom Judentum loszusagen.«

»So, so! Formell! Ganz wie Dein Vater! Der hat auch immer sein Judentum vergessen wollen. Er hat am Ende gar keinen Glauben mehr gehabt. Dich hat er in christliche Schulen geschickt, zu den Geistlichen. Und zu Hause hat kein jüdisches Fest gefeiert, keine jüdische Speise gekocht, kein jüdisches Wort gesprochen werden dürfen. Er hat Dich erzogen wie einen Christenbuben, aber formell – sagtest Du nicht so? – hat er sich auch nicht losgesagt. Er war ein Phantast…«

Bevor der Alte weiter sprechen konnte, trat die lange Babette herein. Ohne viele Umstände stellte sie einen tiefen irdenen Napf hin, in welchem große Klumpen von Mehl, Eiern und Gänsefett durcheinanderlagen; alsdann begann sie erst mit der Kelle, dann mit ihren knochigen Händen einen festen Teig zu mischen und knetete ihn bald mit solcher Kraft, daß der Napf hin und her flog und bald da, bald dort auf der Tischplatte zu zerschellen drohte. So sehr Heinrich auch schon an das Verhältnis zwischen Babette und seinem Großvater sich gewöhnt hatte, so mußte er doch jetzt etwas verwundert dreingeschaut haben, denn der Großvater sagte, wie entschuldigend, mit lautem Lachen: »Die Babette werde ich nun bis zu meinem seligen Ende nicht mehr los. Kein Gegenstand! Ich leb’ jetzt schon so lange auf dieser Welt, daß mir es eigentlich leid tun müßt’, wenn’s heißt: wandern! Gott sei Lob und Dank, ich hab’ einen Trost. Wenn ich werde sterben müssen, werd’ ich fromm an Babette denken und an ihre Neugierde, und ich werde froh sein, daß ich sterben kann.«

Babette faßte den Teig nur noch grimmiger an.

»Du mußt wissen, Heinrich«, fuhr der Großvater fort, »wenn man bald hundert Jahre alt ist, steht man jeden Tag dicht vor der großen Revolution. Da hören die Standesunterschiede von selber auf, und man läßt’s alle Tag Jubeltag sein, wo Herren und Diener einander gleich sind. Ich werd’s in diesem Leben nicht mehr fertigbringen, vor der Babette Geheimnisse zu haben.«

»Habe ich doch gewußt, worum es sich wird handeln«, rief die lange Babette, »daß ich muß gehen, Blätterteig machen, wie für ein Regiment. Sie wollen dem Heinrich die Partie reden mit der Tina.«

Heinrich lachte ärgerlich: da bemerkte er, wie der Großvater sich anschickte, von derselben Sache weiterzusprechen. Er wußte, daß der Alte kein größeres Vergnügen kannte, als in seiner gutmütigen Art ein bißchen Vorsehung zu spielen und passende junge Leute miteinander zu verheiraten. Wie oft hatte der Großvater nicht schon arme Mädchen ausgestattet, um ihnen einen Mann zu schaffen; als Ehrengast bei Hochzeiten und als Pate war der Großvater ein vielbeschäftigter Mann. Um ihn nicht zu verletzen, sagte Heinrich jetzt gezwungen lustig: »An mir werdet Ihr einen schlechten Kunden haben. Vorläufig kann ich ja ans Heiraten nicht denken, erstens, weil ich zu jung, und zweitens, weil ich gar nicht ein bißchen verliebt bin. Wenn’s aber einmal so weit ist, dann hole ich mir meine Braut vom Monde. Großvater, Du sollst auch einmal etwas ganz Neues erleben und durch eine Heirat aus Liebe überrascht werden.«

»Überrascht!« rief Babette. »Heirat aus Liebe! Herr Wolff, hat man je so etwas erlebt! Ich will Ihnen was sagen, mein lieber Heinrich: Ihr Großvater und ich, wir sind alte Leute, auf uns kann man schon hören. Heirat aus Liebe! Sind mir in meinem ganzen Leben zwei Heiraten aus Liebe vorgekommen! Und wie sind sie ausgegangen? Ausgegangen sind sie, wie sie haben ausgehen müssen: daß Gott jedes Judenkind davor bewahren soll! War da, der Romio, der hat sich verheiratet, wo die Eltern nicht einig waren, und sind richtig alle an Gift gestorben. Und da war der Ferdinand mit der Luise. Gott, dieselbe Geschichte, daß ich acht Tage lang geweint hab’ und der Großvater mir hat einreden wollen, es wär’ alles erlogen. Heirat aus Liebe, wie heißt! Und die Tina werden Sie doch heiraten. Es ist schon alles fertig.«

Heinrich lächelte und sagte zum Großvater gewendet: »Nicht war, von solchen Plänen wird nicht mehr die Rede sein? Für Euch ist es ein Scherz, mich aber beleidigt es in tiefster Seele.«

»Ein Scherz? Ein Scherz, Herr Wolff!« rief Babette und schob den Topf energisch von sich fort. »Ein Scherz! Das soll wohl heißen: ein Spaß? Ein Spaß die Hochzeit, zu welcher Herr Kolliner mir versprochen hat ein schwarzes Seidenkleid? Die Sache ist fertig, sag’ ich!«

»Nun verbitte ich mir aber jedes weitere Wort!« rief Heinrich jetzt wirklich empört. »Der Großvater tut ja ganz recht daran, wenn er in allen Dingen auf den Rat einer so treuen Dienerin hört, ich aber bitte, mich und irgendein junges Mädchen nicht mehr in Ihrer Weise zusammen zu nennen. Verheiraten Sie Fräulein Tina Kolliner, mit wem Sie wollen, nur nicht mit mir!«

Die lange Babette warf einen giftigen Blick auf den jungen Mann. Sie faßte ihren Napf mit beiden Händen und stürmte in die Küche hinaus, dort setzte sie ihn heftig nieder, daß er klingend zerbrach. Nach einer Welle hörte man sie die Treppen hinunterlaufen und eifrig mit sich selber sprechen.

Der Großvater kraulte sich in seinem weißen Haar. »Du willst also wirklich nicht heiraten«? Willst mir kein Urenkerl schenken?«

»Aber liebster Großpapa, frage mich nach zehn Jahren wieder!

»Nach zehn Jahren? So lange kann ich warten, aber Tina nicht. Schade, schade! Es ist eine gute Familie, und die Tina braucht einen Mann, der studiert hat und was vorstellt. Sie kann schlecht geraten, wenn sie nicht an den Rechten kommt. In Dich ist sie verliebt. Schade! Jetzt ist’s aber doch vorbei. Lang Babette ist schon auf den Weg zu Kolliners, verlaß Dich darauf. Sie erzählt dort, daß Du nichts mehr von Tina wissen willst, und morgen hat der Kolliner eine andere Partie für sie. Und ich hab’ mich fest auf Dich verlassen. Hab’s ihm schon versprochen. Bah, kein Gegenstand. So erfährt er’s durch die Babette, und ich brauch’ nichts zu reden.«

Heinrich wollte für seine Heftigkeit um Entschuldigung bitten.

»Ich tat Unrecht, Deine Dienerin so aufzubringen. Du wirst unter ihrer schlechten Laune zu leiden haben.«

»Kein Gegenstand«, sagte er. »Wenn Jausenzeit ist, wird sie wieder da sein und uns einen guten Kaffee kochen. Lang Babette und Du, Ihr habt jedes geredet, wie ihr müßt. Narren ihr, Kinder Ihr! Werdet erst ein paar Jahre älter, so hört Ihr auf zu streiten.«

Der Großvater lehnte sich in seinen Lehnstuhl zurück und schloß die Augen. Heinrich glaubte, er schliefe. Da begann der Alte aufs neue, ohne die Augen zu öffnen: »Also getauft bist Du nicht. Es freut mich bei alledem. Aber Du mußt deshalb nicht glauben, daß Du noch ein Jude bist. Das scheint nur so. Du bist auch einer von den Neuen, die ihren Gottesdienst für sich haben wollen. Es freut mich aber doch, daß Du Dich nicht hast taufen lassen.«

Der Alte richtete seinen Blick in voller Liebe auf den Jüngling.

»Du bist mir keine Rechenschaft schuldig, ich bin nur Dein alter Großvater, nicht Dein Vormund. Dein schönes Geld liegt sicher angelegt und wird Dir bald ausgezahlt werden. Mein bißchen Vermögen wirst Du auch einmal bekommen – über hundert Jahr«, unterbrach sich der Alte hustend und kichernd. »Ich werde Dich nicht enterben. Du bist Dein eigner Herr. Ich werde mich aber freuen, wenn Du mit mir aufrichtig über Deine Zukunft reden willst.«

Heinrich rückte dicht an den Stuhl des Alten heran, faßte innig seine Hand und begann lebhaft seine Meinung darzulegen. Er sei entschlossen, draußen im Reich zu bleiben. in seiner Universitätsstadt Leipzig, am liebsten aber in der preußischen Hauptstadt wolle er als Arzt tätig sein. Da habe er seine Freunde, seine Lehrer, seine politischen Gesinnungsgenossen, seine Nation. Nun sei er aber noch zu jung und unerfahren, um mit gutem Gewissen Rezepte verschreiben zu dürfen. Er wolle daher vorerst einige Jahre seine Bildung und seine Kenntnisse durch Reisen ergänzen.

Der Großvater nickte nur immer mit geschlossenen Augen und hielt den gesenkten Kopf noch immer horchend dem Munde des Sprechenden zugewendet. Endlich sagte er: »Reisen kostet viel Geld. Kein Gegenstand. Reisen ist gut. Du sollst reisen, auf meine Kosten, nicht für Dein Geld. Und Du willst auch später nicht bei uns bleiben? Du hast draußen Deine Freunde, sagst Du? Du wirst Deine Freunde einmal im Jahre sehen und Dich dann jedesmal über sie wundern. Und die Lumpen unter ihnen werden Geld von Dir borgen. Kein Gegenstand. Du hast draußen im Reich Deine Lehrer, sagst Du? Lehrer kennen nur Schüler, und wenn sie Dir nichts mehr zu sagen haben, so sehen sie Dich nicht mehr an. Du hast politische Gesinnungsgenossen? Das versteh’ ich nicht. Steuern zahlen kannst Du auch hier, und rebellieren wirst Du auch dort nicht. Und dann hast Du draußen Deine Nation, die Deutschen? Ich will’s glauben, daß es draußen besser ist als bei uns. Wenn Du aber fünfzig Jahre lang mit einem von ihnen gegessen und getrunken, gelebt und gehandelt hast, wenn Du ihm zehnmal das Leben oder einmal das Kind gerettet hast und eines Tages gefällt ihm nicht der Zwirn, womit ist zugenäht der Knopf an Deinem Rock, wird er Dich an der Gurgel packen und schreien: Du Jud!«

Der Großvater hatte sich erhoben und ging unter einem heftigen Hustenanfall mit schweren Schritten auf und ab. Als Heinrich düster schwieg, setzte sich der Alte wieder nieder und fuhr fort:

»Es ist vor kurzem gewesen, Du warst acht Jahr alt und bist gekommen zu Deinem Vater gelaufen. Ein Gassenjunge hat Dir Mauschel nachgerufen. Du hast wissen wollen, was das heißt. Dein Vater hat Dir gesagt: Mauschel bedeutet einen kleinen Mann mit Stulpenstiefeln. Du hast nämlich an dem Tage hohe Stiefel angehabt. Und so hast Du es viele Jahre nicht anders gewußt, als daß Mauschel einen kleinen Mann mit Stulpenstiefeln bedeutet. Und Dein Vater hat immer laut aufgelacht vor Freude, wenn Du auf dem Spaziergang einen Bauern, einen Pfarrer oder einen Studenten gesehen und gerufen hast: Papa, ein Mauschel!«

Der Großvater lehnte sich wieder mit geschlossenen Augen zurück, und Heinrich wagte nicht, sein Sinnen zu stören. Nach einer Weile bewiesen die tiefen regelmäßigen Atemzüge, daß der Alte schlief.

Heinrich schlich sich fort und eilte, aus dem Banne der Judenstadt zu gelangen. Es trieb ihn durch die engen Straßen der Altstadt fort, an den heiligen Statuen der steinernen Brücke vorüber, über die bräunlich schimmernde Moldau hinweg auf die Burg empor. Erst dort, angesichts des ragenden gotischen Domes, vermochte er wieder über die schweren Gedanken des Großvaters zu lächeln, der ja einem vergangenen Jahrhundert angehörte. Heinrich schüttelte sein lockiges Haar, und die Schatten waren verschwunden. Nur Freude empfand er noch darüber, daß er seinem Großvater alles mitgeteilt und bei dem lieben Greise Teilnahme gefunden hatte.

Mit frischen Augen blickte Heinrich auf seine Vaterstadt hinunter. Der Punkt, auf welchem er stand, bot eine prächtige Rundschau. Neben ihm das alte düstere Landhaus, aus dessen Fenstern Slawata und Martinitz auf gut altböhmisch hinausgeflogen waren, und drüben der Brückenturm, in welchem noch heute die Schwedenkugeln aus dem dreißigjährigen Kriege stecken. Und jenseits der Stadt lag im grünen Sommerschmuck der Ziskaberg, der so viel Schreckliches von den Hussitenkriegen zu erzählen wußte. Krieg, Krieg und immer wieder Krieg! Der Widerschein der untergehenden Sonne strahlte aus den Fluten der Moldau rötlich zurück. Sollte der Fluß nicht für alle Ewigkeit rot fließen, ein Zeuge aller Glaubenskriege, die an seinen Ufern getobt hatten?

Langsam schritt Heinrich über die alte Steintreppe auf einsamem Wege den Berg hinunter und ließ sich von einem Fährmann übersetzen. Der alte Ruderer erzählte ängstlich, was heute die Gerüchte gebracht hatten: daß die Preußen zwei Stunden vor Prag standen, daß sie alle Dörfer auf ihrem Wege angezündet, die Frauen und Mädchen geschändet und die Männer und Knaben unters Militär gesteckt hatten.

Kaum war das Boot am andern Ufer angelangt, als Heinrich von einem Straßenjungen ein Extrablatt der »Bohemia« ausrufen hörte. Die Nachrichten der Zeitung waren unklar und verwirrend. Aber eins war deutlich zu ersehen: Die Preußen waren über die Grenze gegangen, der Krieg begonnen, das erste Blut geflossen.

Heinrich eilte noch an demselben Abende, in einem Spitale seine Dienste als Arzt anzubieten. Man wies ihn in ein zum Spitale eingerichtetes Kloster. Es war das Piaristenkloster, dasselbe Gebäude, in welchem er als kleiner Gymnasiast aus-und eingegangen war. Mit Freuden wurde sein Anerbieten angenommen; schon morgen sollten die ersten Verwundeten eintreffen, Heinrichs Dienstleistungen konnten gleich beginnen.

Die Überraschungen folgten einander rasch in diesem Kriege. Kaum hatten die österreichischen Berichterstatter gemeldet: »Sieg auf allen Linien«, so war die Schlacht von Königgrätz auch schon geschlagen, und wenige Tage später waren die Preußen in Prag.

Nur in den ersten Tagen hielten sich die Sieger mißtrauisch von den Einwohnern fern, dann ließen sich’s die wackeren Landwehrmänner wohl sein in den behaglichen Quartieren. Vor allen Haustüren konnte man sie sitzen sehen, die Pfeife im Munde und die Kinder des Hauses auf den Knien. Freilich nur die kleinen Kinder bekamen sie zu sehen, die Erwachsenen – Knaben wie Mädchen – waren fast alle fortgeschickt worden, und die wenigen, welche die letzte Verbindung mit dem Süden versäumt hatten, trauten sich nur selten ins Freie hinaus. Was der Fährmann von den schrecklichen Taten der Preußen erzählt hatte, das war bis zur näheren Bekanntschaft mit dem Feinde der allgemeine Glaube. Und als dann die eleganten oder doch gemütlichen Sieger ihren Einzug gehalten, als man die frühere Furcht vor ihren Brutalitäten belächelte, da freuten sich dennoch alle Väter und Mütter, die ihre schönen Töchter und herangewachsenen Söhne in der Ferne wußten.

Mit dem siegreichen Heere war ein seltsamer Troß von lustigen Damen nach Prag hereingeströmt. Alle Straße waren voll von ihren bunten Kleidern, ihren gemalten Wangen, ihren frechen Blicken und frechen Reden. Da hieß es für die wenigen Bürgerstöchter, die daheim geblieben, fein zu Hause sitzen, wenn sie nicht mit den fahrenden Fräulein verwechselt werden wollten. Und manche ehrsame Bürgersgattin, deren fünfzig und mehr Jahre sie wohl hätten kühn machen können, verzichtete auf jeglichen Ausgang, ja ließ sogar die betrügerische Köchin die Markteinkäufe besorgen, um nur nicht der Gefahr ausgesetzt zu sein, daß ein junger preußischer Leutnant sich an ihr verging.

Um so auffälliger war es für Heinrich, als er eines Abends – während der für die Ärzte gebotenen Ruhe-und Promenadenzeit – eine offenbar anständige junge Dame am Arme eines älteren Herrn vor sich hergehen sah. Die Dame mochte zwanzig Jahre zählen; sie war auffallend hübsch, die vollen Formen, die prächtigen schwarzen Haare, die glänzenden, langbewimperten Augen, der große feingeschnittene Mund, die scharf profilierte Nase ließen sofort die Jüdin erkennen. Aber dieser neugierige Blick, mit welchem sie den Kopf hin und her bewegte, alle Vorübergehenden rechts und links musterte, auch wohl einmal hinter sich schaute, dieser wogende Gang, dieser pfiffige Zug um die Augen? Wahrhaftig, das war Tina Kolliner, seine Jugendfreundin, und ihr Begleiter war kein anderer als der Onkel Kolliner.

Bevor Heinrich noch wußte, ob er das hübsche Mädchen ansprechen sollte oder nicht, hatte eine andere Gruppe sich genähert. Drei preußische Infanterie-Offiziere faßten Posto, und ihr Begleiter, ein blutjunger roter Husar, ein einjährig Freiwilliger, trat rasch auf das erglühende Mädchen zu. Heinrich, der überrascht zusah, konnte sich den Vorgang nicht erklären; zu sehr widersprachen sich Haltung und Tat des jungen Soldaten. Er legte die Linke, militärisch grüßend, an seine Mütze, stammelte, sich höflich verbeugend, ein paar Worte, kniff aber gleichzeitig mit einer gewissen geschäftlichen Ruhe das Mädchen in die Wange. Sie schrie auf; ihr Vater zog sie erblassend fort, aber schon war Heinrich zur Stelle, wies den kecken Kavalleristen zurecht, tauschte mit ihm die Karte aus und bot den Geängstigten seinen Schutz und seine Begleitung an.

Der Vater zitterte noch immer vor Aufregung. Tina jedoch hatte nicht im mindesten ihre Fassung verloren. Sie scherzte mit einer gewissen kindischen Freude über das Abenteuer; sie dankte ihrem Retter in wohlgesetzten Worten, aber es war nicht recht deutlich, ob der Angreifer oder der Befreier ihr mehr Interesse einflößte.

Herr Kolliner, in dessen Nähe es abscheulich nach Patchouli roch, lud den Fremden ein, in seine bescheidene Wohnung einzutreten. Er sei zwar nur ein schlichter Guanohändler, aber der tapfere Herr werde sicherlich zugeben müssen, daß Herr Kolliner seine Privatwohnung von seinen Geschäftsräumen fernhalte. Es rieche in seinem Wohnzimmer anders als in seinem Warenlager. Wie auf einer anderen Welt sei er, wenn er seine Wohnung betrete.

Als Heinrich endlich für angemessen fand, seinen Namen zu nennen, wurde der alte Herr verlegen. Auch Tina wurde rot, faßte sich aber schnell und begrüßte den Jugendfreund aufs herzlichste. Man trennte sich mit der Versicherung, einander in dieser schlimmen Zeit nahe zu bleiben; doch konnte es dem jungen Arzte nicht entgehen, daß Tina schon von seinem Gespräche mit Babette wußte und sich jetzt nicht mehr so unbefangen gab wie wenige Augenblicke zuvor dem Fremden gegenüber.