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Hexische Überraschung

„Los, Wuschel, beeil dich!“ Bibis Augen tränten vom Fahrtwind, doch es ging ihr immer noch nicht schnell genug. „Eene meene grünes Gras, Kartoffelbrei, gib noch mal Gas! Hex-hex!“

Bibis Besen legte nach dem Plingpling noch einen ordentlichen Zahn zu, und die kleine Hexe musste sich gut festhalten, um nicht herunterzufallen. Doch die verlorene Zeit war nicht aufzuholen.

Bibi hatte verschlafen. Kein Wunder, schließlich hatte sie bis spätabends über ihrem Kräuterkundebuch gebrütet. Natürlich hatte sie dann den Wecker am Morgen nicht gehört – und jetzt würde sie sich verspäten. Dabei hatte Tante Mania geheimnisvoll angekündigt, dass die Junghexen unbedingt pünktlich zum Unterricht erscheinen sollten.

Endlich blitzte das Giebeldach von Tante Manias Haus zwischen den Bäumen hindurch. Bibi setzte zum Sinkflug an und sprang vom Besen, kaum dass Kartoffelbrei gelandet war. Sie rannte durch den Flur in die Küche, wo der Hexunterricht stattfand, und riss die Tür auf. „Entschuldige, Tante Mania, ich …“

Sie verstummte. Das Zimmer war in schummriges Licht getaucht, und an der Decke strahlte ein kugelrunder, tiefblauer Mond.

„… habe verschlafen“, murmelte Bibi kaum hörbar.

Schubia legte den Finger an die Lippen und sah kurz zu Bibi, die sich möglichst unauffällig auf ihren Stuhl setzte. Tante Mania beachtete sie zum Glück nicht weiter, und Schubia sah schon wieder gebannt auf das Bild an der Zimmerdecke.

„Der blaue Vollmond ist ein äußerst seltenes Ereignis, das in hundert Jahren nur rund vierzigmal vorkommt“, erklärte Tante Mania gerade. „Hexsprüche entfalten eine ganz besondere Kraft, wenn der Mond über der Ekliptik steht und im Zenit seiner Umlaufbahn angekommen ist.“

„Aber wenn dieser Mond so selten ist“, überlegte Flauipaui, „kann die Prüfung ja nicht so bald wiederholt werden, oder?“

„Richtig. Deshalb müsst ihr euch gut vorbereiten.“ Tante Mania erklärte, dass jede Junghexe die Blaumondprüfung bestehen müsse. Sie sei ein echter Meilenstein auf ihrem Hexenweg!

Tante Mania streckte die Hände Richtung Zimmerdecke. „Eene meene Weltrekord, Blaumondbild sei wieder fort. Hex-hex!“

Nach dem leisen Plingpling erlosch der blaue Vollmond.

Tante Mania wandte sich wieder den Junghexen zu: „In drei Tagen ist es so weit.“

Bibi lief ein Schauer über den Rücken. Schon seit zwei Wochen gab es für die Junghexen kein anderes Thema mehr. Tante Mania hatte sie immer wieder ermahnt, die Prüfung nicht auf die leichte Schulter zu nehmen.

Deshalb versammelten sie sich nach dem Unterricht immer auf der Junghexeninsel, um zu üben. Na ja, was hieß schon üben … Wenn sie sich trafen, gab es natürlich sehr viel zu reden. Sehr viel, was nichts mit dem Lernstoff zu tun hatte, wenn Bibi ehrlich war.

Tante Mania blätterte in ihrem Kräuterkundebuch. „Bibi! Da du heute als Letzte erschienen bist, darfst du als Erste dein Wissen kundtun. Mal sehen, was die Kräuterrezepte machen ...“

Bibi erhob sich, und ihre Hände wurden feucht vor Aufregung. Es gab schließlich unzählige Kräutermischungen! Wie schnell konnte man da die Zutaten verwechseln … Bibi ging zum Labortisch, auf dem die Gläser, Schälchen und Töpfchen mit Kräutern ordentlich aufgereiht standen.

Tante Manias Finger ruhte auf einem Rezept, das sie inzwischen ausgesucht hatte. „Das ist hübsch! Bereite uns bitte die Mischung zur Nichtverwelkung von Schnittblumen zu.“

Bibi überlegte fieberhaft. Hatte sie das Rezept nicht noch kurz vor dem Einschlafen überflogen? Genau!

„Erst mal braucht man dafür Glück“, erinnerte sich Bibi.

„Nicht man, sondern du!“, gluckste Schubia, und Flauipaui kicherte leise.

Bibi griff nach einem Döschen mit getrockneten vierblättrigen Kleeblättern. Sie zerrieb eines davon zwischen ihren Fingern und streute es in einen Glasbehälter. Jetzt allerdings wusste Bibi nicht mehr weiter. Irgendetwas Grünes, da war sie sich sicher. Ihre Finger glitten zu einem Gefäß, in dem eine lange, grün glitzernde Feder lag.

„Ts, ts, ts ... Die Feder der Moordohle bringt dir kein Glück bei der Mischung!“ Tante Mania wiegte den Kopf hin und her und gab Bibi schließlich einen Tipp: „Was braucht eine Pflanze denn zum Leben außer Wasser und Licht?“

Da fiel Bibi die Zutat wieder ein: „Na klar, Dünger.“ Wie hatte sie nur das zehn Jahre alte Moos vergessen können!

„Na bitte, geht doch ...“, murmelte Tante Mania.

Ihr auffordernder Blick machte Bibi klar, dass noch etwas fehlte. Doch ihr Kopf war leer – so sehr sie auch nachdachte, an die fehlende Zutat konnte sie sich nicht erinnern. Hilfe suchend blickte sie zu den anderen Junghexen. Schubia blätterte heimlich unter dem Tisch in der Rezeptsammlung.

„Wenn ihr nicht lernt, was ich euch beibringe, dann kann ich euch auch nicht helfen.“ Tante Mania umkreiste mit wippendem Hut den Tisch.

Schubia ließ die Rezeptsammlung unauffällig zurück in die Tasche gleiten und kritzelte etwas auf ein Blatt Papier. Sie hielt das Bild schnell hoch, als Tante Mania nicht hinsah. Bibi konnte es aber nicht erkennen. Was sollte das denn sein?

„Schubia Wanzhaar!“, ermahnte Tante Mania die Junghexe. „Schummelei bei der Prüfung bedeutet den sofortigen Ausschluss!“ Sie nahm Schubia das Blatt ab.

Tante Mania forderte Bibi auf, sich zu setzen und erklärte, dass sie die zu Pulver gemahlenen Zapfenspitzen der Schwarznadelfichte vergessen habe.

Jetzt wusste Bibi, was Schubia aufgemalt hatte. Aber nun war es zu spät. Und Tante Mania hatte recht: Bei der Blaumondprüfung würde ihr auch niemand helfen können. Ganz im Gegenteil, dort würde sie von einer Kommission abgefragt werden. Auf dem Blocksberg.

Bibi ärgerte sich. Warum hatten sie ihre Zeit auf der Junghexeninsel bisher immer nur verquatscht, anstatt ernsthaft für die Prüfung zu lernen! Die Rezepte in Kräuterkunde waren inzwischen zu einem Berg angewachsen, den es nun in drei Tagen zu bewältigen galt. Nur noch drei Tage!

Plötzlich leuchtete die Hexenkugel von Tante Mania rot auf und blinkte unaufhörlich. Alle Blicke richteten sich auf das Podest, wo die Kugel auf einem Kissen lag. Tante Mania ärgerte sich kurz über die Störung ihres Unterrichts, trat dann aber zu ihrer Kugel und streckte die Hände aus. „Eene meene Meck, rotes Blinken sei jetzt weg. Hex-hex!“

Nach dem Plingpling erlosch das Blinken sofort. Dafür erschienen wabernde Nebelschwaden, die umeinanderkreisten und sich schließlich auflösten. Große goldene Buchstaben glitzerten in der Kugel: Allerwichtigste Hexenpost!!! Darunter erschien ein kleiner Kreis: Sofortige Lesebestätigung stand da. Tante Mania tippte mit dem Zeigefinger darauf, und die Buchstaben lösten sich in kleinen,glitzernden Sternchen auf. Im Innern der Kugel erschien ein goldener Umschlag.

„Was ist das denn?“, fragte Schubia neugierig und lief zu dem Podest.

Bibi und Flauipaui hielt es ebenfalls nicht mehr auf ihren Stühlen. So eine spannende Hexenpost hatten sie noch nie gesehen. Auch Tante Mania schien überrascht zu sein und beobachtete fasziniert, was im Innern ihrer Kugel passierte.

Aus dem Umschlag entrollte sich langsam eine Urkunde. Darauf wurden verschnörkelte Buchstaben sichtbar.

Tante Mania beugte sich dicht über die Kugel, um die Nachricht zu entziffern. „Wir freuen uns, dir, liebe Mania, mitzuteilen, dass du in diesem Jahr als beste Kräuterexpertin ausgezeichnet werden sollst. Dies hat der hohe Hexenrat des hohen Nordens beschlossen.“

„Wer ist denn das? Der hohe Hexen...?“, wollte Flauipaui wissen.

Schubia boxte sie in die Seite und legte den Finger auf die Lippen. Flauipaui verstummte.

Die Urkunde entrollte sich ein Stück weiter, und die Junghexen hörten staunend, dass bereits ein Limousinenbesen-Service für Tante Mania unterwegs sei. Er werde sie heute zwei Stunden nach Sonnenuntergang vom Blocksberg abholen.

Die Junghexen waren mit einem Mal richtig aufgeregt und redeten wild durcheinander. Tante Mania wurde ausgezeichnet! Was für eine Riesenehre! Schubia interessierte sich vor allem für den Limousinenbesen-Service. Das klang ziemlich cool. Flauipaui überlegte, wo denn wohl der hohe Norden sei ...

„Da stand, dass du schon heute Abend abgeholt wirst“, meinte Bibi.

Tante Mania nickte. Sie musste unverzüglich packen.

Schubia freute sich: Damit hätten sie dann jetzt wohl „preisverleihungsfrei“!

„Moment, Moment! Noch haben wir Kräuterkunde!“, beendete Tante Mania den Freudenausbruch.

Schubia, die sich den freien Nachmittag nicht nehmen lassen wollte, gab zu bedenken, dass Tante Mania doch jetzt unmöglich unterrichten könne. All die Reisevorbereitungen erforderten schließlich Zeit ...

Bibi fragte, ob Tante Mania auf der Verleihung nicht eine Rede halten müsse, und Flauipaui machte sich Gedanken, was Tante Mania wohl zu diesem Anlass anziehen würde.

Die Althexe lächelte in die Runde. Rührend, wie sich die Junghexen um sie sorgten. SIE sorgte sich aber eher um ihren Unterricht. Entschlossen drehte sie sich zu ihrer Hexenkugel um und streckte die Hände aus. „Eene meene langer Rechen, Walpurgia, ich muss dich sprechen. Hex-hex!“

Die weißen Nebelschwaden in der Kugel kreisten nach dem Plingpling immer schneller umeinander. Dann war Walpurgias Gesicht zu erkennen. Sie beglückwünschte Mania herzlich, denn sie hatte gerade eben von der Neuigkeit erfahren.

Manias Wangen röteten sich leicht. Doch sie kam schnell aufs Wesentliche, schließlich musste dringend etwas geklärt werden: Kurz vor der Blaumondprüfung konnte der Unterricht unmöglich ausfallen.

Die Junghexen sahen sich überrascht an. Daran hatten sie noch gar nicht gedacht! Gespannt verfolgten sie die Unterhaltung der Althexen.

Walpurgia wiegte den Kopf nachdenklich hin und her. „Ich berufe sofort eine außerordentliche Hexenversammlung für heute Abend ein. Wir verbinden das Nützliche mit dem Angenehmen. Schließlich wollen wir dich gebührend verabschieden.“

Mania wollte abwiegeln: So viele Umstände seien nicht notwendig. Doch die Vorsitzende des Hexenrats ließ sich nicht von ihrem Vorhaben abbringen. Das war nun endlich mal wieder ein Anlass für ein tolles Fest! Der gesamte Verband würde Mania feiern. Natürlich gehörten auch die Junghexen dazu, sie sollten pünktlich zum Sonnenuntergang auf dem Blocksberg sein. Dann verabschiedete sich Walpurgia von Mania, und ihr Bild erlosch in der Kugel.

Die Junghexen waren vor Aufregung kaum noch zu bändigen. Walpurgia hatte sie persönlich auf den Blocksberg eingeladen! Das kam wirklich nicht oft vor.

Flauipaui hüpfte vor Freude von einem Bein auf das andere. Sie würde sich für den Abend besonders hübsch machen! Im Geist ging sie bereits ihren Kleiderschrank durch.

Tante Mania sah ein, dass heute an Unterricht nicht mehr zu denken war, und schließlich hatte sie selbst noch jede Menge zu tun! „Also gut, ausnahmsweise habt ihr frei, wenn ihr mir versprecht …“

„Alles!“ unterbrach Schubia sie fröhlich und packte zusammen.

Bibi versicherte schnell, dass sie natürlich auch Kräuterkunde lernen würden.

Schubia trieb Flauipaui zur Eile an, die in Gedanken versunken an die Party dachte. „Los, komm schon! Sonst fällt ihr am Ende noch ein, uns Hausaufgaben aufzugeben“, zischte sie ihr ins Ohr.

Flauipaui hängte sich schnell ihr Schultäschchen um und verließ hinter Bibi und Schubia die Küche. Eilig schnappten die Junghexen sich ihre Besen im Hausflur und ließen die Tür ins Schloss fallen.