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Über dieses Buch:

S.O.S! Ein Orkan peitscht die Nordsee auf, als Privatdetektiv Voss den Notruf des Öltankers empfängt. Eine Explosion an Bord hat ein Loch in das riesige Schiff gerissen. In letzter Sekunde kann die Crew des Tankers sich auf Voss’ Kutter retten – doch als der Frachter sinkt, fließen Tausende Liter Öl ungehindert ins Meer.

Während in Deutschland die Panik vor einer Naturkatastrophe wächst und verzweifelt nach einer Lösung gesucht wird, beauftragt die unter Druck geratene Reederei des Frachters Voss mit der Aufklärung der Explosion: War es ein Unfall oder Sabotage? Seine Ermittlungen führen Voss tief in unbekannte Gewässer und was er dort findet, ist selbst für den hartgesottenen Detektiv unfassbar …

Über den Autor:

Ole Hansen, geboren in Wedel, ist das Pseudonym des Autors Dr. Dr. Herbert W. Rhein. Er trat nach einer Ausbildung zum Feinmechaniker in die Bundeswehr ein. Dort diente er 30 Jahre als Luftwaffenoffizier und arbeitete unter anderem als Lehrer und Vertreter des Verteidigungsministers in den USA. Neben seiner Tätigkeit als Soldat studierte er Chinesisch, Arabisch und das Schreiben. Nachdem er aus dem aktiven Dienst als Oberstleutnant ausschied, widmete er sich ganz seiner Tätigkeit als Autor. Dabei faszinierte ihn vor allem die Forensik – ein Themengebiet, in dem er durch intensive Studien zum ausgewiesenen Experten wurde.

Heute wohnt der Autor in Oldenburg an der Ostsee.

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Der Autor im Internet: www.herbert-rhein-bestseller.de

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Originalausgabe August 2017

Copyright © der Originalausgabe 2017 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Redaktion: Ralf Reiter

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/Rudy Balasko

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ml)

ISBN 978-3-96148-047-0

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Ole Hansen

Jeremias Voss und die schwarze Spur

Der achte Fall

dotbooks.

Kapitel 1

Herrmann fluchte. Einen Moment hatte er nicht aufgepasst, und schon hatte das plötzlich krängende Boot ihn gegen die Wand des Niedergangs geworfen, sodass er mit dem Kopf gegen die Lampe geschleudert wurde. Er nahm die Plastiktüte zwischen die Zähne und stützte sich an beiden Seiten des Niedergangs ab, während er die Stufen zum Steuerhaus hochstieg.

»Käpt’n, ick heff Kaffee und paar Brote gemacht. Wüllt Se auch wat haben?«, quetschte er zwischen Zähnen und Plastiktüte hervor.

»Was?«, schrie Voss, um das Getöse des Sturms zu übertönen.

Herrmann nahm die Plastiktüte aus dem Mund. »Ich heff Kaffee, wullt Se ook wat?«

»Sie sind ein Engel. Das ist genau das, was ich jetzt brauche«, antwortete Jeremias Voss, Hamburgs berühmter Privatdetektiv. Er saß angeschnallt auf dem am Boden verschraubten Sitz hinter dem Steuerrad und packte die Speichen so fest, dass seine Handknöchel hell hervortraten.

»Wie haben Sie bloß bei diesem Geschaukel das Wasser heiß gekriegt?«

Herrmann griente. »Ick heff den Wasserkessel mit ’nem Tampen an die Decke gehängt und ihn von unten mit dem Bunsenbrenner erhitzt.«

»Plietsch, Herrmann, plietsch!«

Herrmann strahlte. Obwohl er schon lange zu Voss’ Ermittlerteam gehörte, war ein Lob vom Käpt’n für ihn immer noch wie ein Orden. Ursprünglich hatte Voss ihn eingestellt, um seinen Kraftprotz von Hund auszuführen, wenn er selbst verhindert war. Herrmann war für die Aufgabe ideal, denn er war Rentner und Junggeselle und froh, etwas zu tun zu haben. Schon bald hatte Voss erkannt, dass er es faustdick hinter den Ohren hatte und wegen seiner Schlitzohrigkeit auch für Ermittlungsaufgaben bestens geeignet war. Er kannte das Hafenmilieu wie seine Westentasche, außerdem hatte er zwei Freunde, die ebenfalls in Hamburg geboren waren und ihr ganzes Arbeitsleben im Hafen verbracht hatten. Zusammen waren sie eine Rentner-Gang, die auch eine Schlägerei nicht scheute. Obwohl sie alle über sechzig Jahre alt waren, nahmen sie es mit jeder jugendlichen Bande auf. Eine Macke, die Voss Herrmann nicht abgewöhnen konnte, war sein schauerliches Gemisch von Platt- und Hochdeutsch. Da seine Freunde nur Hamburger Platt sprachen, fühlte sich Herrmann ihnen mit seinen Sprachkenntnissen geistig überlegen.

Herrmann öffnete die Plastiktüte, holte einen verschlossenen Kaffeebecher heraus und hielt ihn Voss hin.

»Geht jetzt nicht. Besser, Sie trinken zunächst Ihren Kaffee und lösen mich danach am Steuer ab. Ich kann das Ruder nicht loslassen, sonst schlägt uns der Kahn bei diesen Kreuzseen noch quer.«

Herrmann setzte sich auf den zweiten befestigten Stuhl neben dem des Steuermanns und blickte durch das Fenster. Regen prasselte dagegen, und alles, was er sah, war eine Wasserwand, die auf sie zukam. Jeden Moment musste sie über dem Kutter zusammenbrechen und alles, was sich an Deck befand, einschließlich des Steuerhauses, zu Kleinholz zerschlagen. Doch der Kutter wurde wie von Geisterhand hochgehoben, die Welle rauschte unter ihm hindurch, und das Boot stürzte zehn Meter in die Tiefe.

»Wi heff uns aber auch een Schietwetter ausgesucht, Käpt’n. Hoffentlich übersteht die Goodewind den Sturm.« Herrmanns Miene drückte starke Bedenken aus. Er sah auf das Barometer. »De Sturm ward jümmers schlimmer. Wi heff elf Windstärken, un dat Barometer sinkt wieter. Wi kreegen noch een bannigen Orkan, dat künnt Se mi glauben.«

Voss lachte, während er sich am Steuerrad festklammerte, weil eine gewaltige Woge von Steuerbord die Goodewind stark krängen ließ.

»Nun machen Sie sich nicht in die Hose. Das Boot wurde als Fischkutter gebaut und hat sicher schon schwerere Stürme als diesen erlebt. Außerdem sind Sie doch der erfahrene Seemann. Da dürfte Ihnen so ’n bisschen Wind nichts ausmachen.«

»Erfahrene Seemann, dat is good! Ick heff ’ne Barkasse im Hamburger Hafen gefahren, und da gift dat keene zwanzig Meter hohe Wellen. Ab Windstark sechs sin wie nicht mehr gefahren. Ick heff ja seggt, wi hätt in Edinburgh bleiben sollen.«

Auch wenn sich Voss selbstbewusst und zuversichtlich gab, hatte er doch ein mulmiges Gefühl, denn es war das erste Mal, dass er mit der Goodewind einen Orkan abwettern musste. Er hatte den fünfzehn Meter langen Fischkutter zusammen mit einem Haus auf Fehmarn von einem ehemaligen Klienten geerbt. Der Kunde hatte damals sein Honorar nicht bezahlen können, und Voss hatte daraufhin auf seine Forderungen verzichtet. Aus Dank für seinen Großmut war er nun Besitzer eines Fischkutters. Da er nicht die Absicht hatte, Fische zu fangen, hatte er das Boot zu einem Motorsegler umbauen lassen. Herrmann hatte die Umbauten in der Werft überwacht. Nun war Voss froh, dass er sich für einen Motorsegler entschieden hatte, denn die beiden Sturmsegel an der Fock und am Mast hielten das Boot auf Kurs. Der dazu gekommene Ballastkiel sorgte wie bei einem Segelboot dafür, dass sich die Goodewind selbst bei starker Schlagseite wieder aufrichtete. Es war dennoch ein beruhigendes Gefühl, denn gerade legten sie die Wassermassen einer Monsterwelle fast waagerecht auf die tosende See, doch wenig später richtete sie sich wieder auf.

Herrmann, der sich in seinem Sitz nicht angeschnallt hatte, wurde herausgeschleudert und prallte gegen die Backbordwand. Fluchend rappelte er sich hoch.

»Weer dat ne Grundsee?«

In seinen Augen erkannte Voss Anzeichen von Panik.

»Unsinn!«, rief er mit ungewohnter Schärfe. »Wir sind sechzig Meter über Grund. Da gibt es keine Grundseen. Damit eine Grundsee entsteht, muss die Welle mit dem Boden Berührung haben, und das ist bei der Tiefe unmöglich.« Um Herrmann abzulenken, fügte er hinzu: »Übernehmen Sie jetzt das Ruder, damit ich Kaffee trinken kann. Ich bekomme langsam Krämpfe in den Armen. Aber anschnallen!«

Den Motorsegler auf Kurs zu halten, würde bei dem sich entwickelnden Orkan Herrmanns volle Aufmerksamkeit erfordern.

Bevor Voss sich auf den Stuhl setzte, den Herrmann freigemacht hatte, überprüfte er die Stellung der Segel. Sie waren straff nach Lee aufgebläht, zeigten aber keine Spuren, dass der Sturm ihnen zugesetzt hatte. Auch alles stehende und laufende Gut hatte noch nicht gelitten. Nach dieser visuellen Inspektion setzte sich Voss, schnallte sich an, überprüfte auf der GPS-Anzeige den Standort des Bootes und überschlug im Kopf, wie lange sie noch bis zur Elbmündung benötigen würden. Wenn sie Kurs und Geschwindigkeit beibehielten, dann müssten sie in etwa siebenundzwanzig Stunden Hamburg erreichen.

»Herrmann, passen Sie auf, dass wir nicht vom Kurs abweichen. Ich will die Doggerbank weit nördlich umfahren. Es gibt Bereiche auf der Bank, in denen wir auf Ihre gefürchteten Grundseen stoßen könnten.«

»Aye, aye, Käpt’n, geit klor.«

Voss hörte an seiner Stimme, dass er sich wieder gefangen hatte, und machte sich hungrig über die Sandwiches und den Kaffee her.

Nach fünf Stunden hatten sie das Gebiet der Doggerbank erreicht. Voss übernahm wieder das Ruder und änderte den Kurs auf Ost-Nord-Ost, um das grundseenverdächtige Gebiet zu umfahren.

Fünf Stunden weiter nördlich kämpfte sich die Anna Rothusen durch die aufgewühlte See. Sie war ein Zehntausend-Tonnen-Tanker, der seine besten Jahre schon lange hinter sich hatte. Sie war das älteste Schiff der Reederei Rothusen und wurde nur noch auf Kurzstrecken eingesetzt. Sie hatte in Bergen in Norwegen Erdöl gebunkert und war mit Kurs Süd auf der Rückfahrt nach Hamburg. An Bord war außer der Mannschaft und drei Schiffsoffizieren auch Sylvia Rothusen, die Tochter des Reeders.

Auf der Brücke befanden sich der Kapitän sowie der Erste Offizier und der Steuermann. Der Zweite Offizier machte gerade eine Sicherheitsinspektion des Schiffes. Bei einem so altgedienten Veteranen wie der Anna Rothusen konnte der Kapitän nicht vorsichtig genug sein.

Der Zweite Offizier nahm die Aufgabe ernst. Er hatte einen Overall übergezogen, damit er auch die Ecken überprüfen konnte, die wegen des Schmutzes von der Mannschaft gemieden wurden.

Nach einer Dreiviertelstunde hatte er den Tanker von vorn bis hinten überprüft und keine Schwachstellen festgestellt, obwohl das Schiff bei jeder Welle ächzte und knarrte. Er ging zurück in seine Kabine, duschte und zog sich um. Wieder auf der Brücke, meldete er dem Kapitän: »Alles in Ordnung.« Bevor er zurück in seine Kabine ging, warf er einen Blick auf den Bildschirm, der ihre Position anzeigte, und überschlug im Kopf, wo sich der Tanker befinden würde, wenn er den Ersten ablösen musste. Er nickte zufrieden. Alles lief nach Plan.

Der Kapitän war, seit der Sturm sich zum Orkan entwickelt hatte, auf der Brücke geblieben und starrte durch den gegen die Scheiben peitschenden Regen und den Gischtvorhang, wenn sich die Wellen am Bug brachen. Trotz der Scheinwerfer, die das Deck erleuchteten, konnte er nicht viel sehen. War schon die Sicht während des Tages schlecht gewesen, so fuhr die Anna Rothusen jetzt in der Nacht wie in eine schwarze Wand hinein. Den Kapitän schien es nicht zu stören. Er prüfte von Zeit zu Zeit auf dem Radarbildschirm, ob Schiffe auf Kollisionskurs lagen, konnte aber keine entdecken.

Die Goodewind bemerkte er nicht. Auch nicht das kleine Motorboot, das ein paar Meilen von dem Motorsegler entfernt mit den Naturgewalten kämpfte. Beide Boote gingen in den Schaumkronen der Brecher unter. So konnte er auch nicht erkennen, dass sich alle drei Schiffe auf Kollisionskurs befanden und in fünf Stunden zusammentreffen würden, vorausgesetzt, alle hielten Kurs und Geschwindigkeit bei.

Der Zweite Offizier löste den Ersten pünktlich ab. Er prüfte zuerst die nautischen Instrumente, bevor er seine Position in der Mitte der Brücke einnahm. Der Kapitän saß nach wie vor wie versteinert in seinem Kommandostuhl; er schien sich nur mit Kaffee wachzuhalten.

Die Wetterverhältnisse hatten sich nicht geändert. Noch immer tobte der Orkan mit Windstärken um zwölf und aufgewühlter See mit bis zu zwanzig Meter hohen Wellen. Er hatte allerdings seit einer Stunde seine Windrichtung geändert und blies jetzt direkt aus Nordwest.

Immer wieder überprüfte der Zweite Kurs und Position des Tankers, und noch immer waren die Goodewind und das Motorboot auf dem Radar nicht zu erkennen. Beide waren inzwischen bis auf wenige Kilometer an den Tanker herangekommen und lagen noch immer auf Kollisionskurs.

Der Kapitän war in seinem Kommandostuhl eingenickt und ahnte nichts von der drohenden Gefahr.

Der Zweite befahl über das Interkom Björn, den Neuling an Bord, auf die Brücke.

Als dieser erschien, beauftragte er ihn, am Fuß der Öltanks nach seiner Geldbörse zu suchen. Er musste sie bei seinem Inspektionsgang verloren haben. Zur Bekräftigung seiner Vermutung wühlte er in seinen leeren Taschen. Dann reichte er dem jungen Matrosen, dessen Gesicht im Schein des Radarschirms bläulich-grün schimmerte, ein Handy und befahl ihm, die Brücke anzurufen, wenn er das Portemonnaie gefunden hatte.

Es waren etwa zehn Minuten vergangen, als plötzlich ein Zittern durch das Schiff ging. Es war, als hätte eine Detonation den großen Tanker erschüttert. Der eingedöste Kapitän schreckte hoch.

»Beide Maschinen stopp!«, rief er.

Der Zweite Offizier gab den Befehl sofort an den Maschinenraum weiter. Gleich darauf kam die Rückmeldung vom Ersten Maschinisten: »Beide Maschinen sind auf Stopp.«

Die Tür ging auf, und der Erste Offizier stürmte auf die Brücke. Er war nur spärlich bekleidet.

»Was ist passiert?«, rief er und sah den Kapitän an.

»Weiß nicht«, brummte der. »Klang, als hätten wir eine Mine erwischt. Viel gehört habe ich nicht – was bei dem Orkan auch nicht verwunderlich ist. Lassen Sie feststellen, ob Schäden am Schiff entstanden sind.«

Noch bevor der Erste Offizier die notwendigen Maßnahmen einleiten konnte, klingelte das Bordtelefon auf der Konsole vor dem Kapitän. Der nahm den Hörer ab und meldete sich. Er hörte die aufgeregte Stimme des Ersten Maschinisten.

»Eine Explosion hat die Steuerbordseite auf mindestens zwanzig Meter aufgerissen. Wasser strömt ein. Auch die drei großen Tanks sind stark beschädigt. Große Mengen Öl fluten heraus. Ein Mann muss getötet worden sein, denn vor meinen Füßen liegt ein abgerissener Arm. Wir müssen den Maschinenraum verlassen. Das Wasser steigt rasend schnell. Es besteht keine Chance, das Leck abzudichten.«

Der Kapitän brauchte nur Sekunden, um die Gefährlichkeit der Lage zu erkennen.

»Raufkommen!«, befahl er dem Maschinisten, und an den Ersten Offizier gewandt: »Leiten Sie die Rettungsmaßnahmen ein. Die Mannschaft geht von Bord. Der Maschinist meldet, dass wir an Steuerbord ein Leck von zwanzig Meter Länge haben und Wasser aufnehmen. Der Funker soll Mayday senden. Ich gehe nach unten, um den Schaden zu inspizieren.«

Kreidebleich starrte der Zweite Offizier den Kapitän an.

Nur wenige Minuten, nachdem der Erste Offizier »Alle Mann von Bord« befohlen und gleichzeitig die Mannschaft angewiesen hatte, die beiden Rettungsboote zu Wasser zu lassen, kam vom Bootsmann an der Steuerbordseite die Meldung, dass das Rettungsboot unbrauchbar sei. Die gleiche Meldung kam auch von Backbord.

Sorgen bereiteten Voss inzwischen nicht mehr die Grund-, sondern die Kreuzseen, die sich durch die Richtungsänderung des Orkans aufgebaut hatten. Die aus verschiedenen Richtungen anrollenden Wellenberge machten die Goodewind zum Spielball der Naturgewalten. Kurshalten wurde immer schwieriger.

Voss musste sich zusammenreißen, um Ruhe und Gelassenheit auszustrahlen und zu verbergen, dass er mit dem Schlimmsten rechnete. Immer wenn ihn der Mut verlassen wollte, dachte er daran, dass die Goodewind für den Fischfang bei der Doggerbank gebaut worden war und sicherlich schon ähnliche Wetter überstanden hatte.

Herrmann hatte während der letzten Stunden kein Wort mehr gesagt. Er saß angeschnallt auf seinem Stuhl und starrte in die stockfinstere Nacht.

»Mayday! Mayday! Mayday!«, erklang da ein Funkspruch auf der Seenotfrequenz. »This is the tankship Anna Rothusen.« Es folgte die Positionsangabe und danach: »Explosion on board. Ship is sinking.”

Voss und Herrmann schossen hoch wie mit der Nadel gestochen. Ihre eigenen Sorgen waren vergessen. Konzentriert lauschten sie der sich wiederholenden Meldung. Voss griff geistesgegenwärtig nach dem Filzschreiber in seiner Jacke, notierte sich die Koordinaten auf den Handrücken der linken Hand und hielt ihn Herrmann hin.

»Schauen Sie nach, wo das ist.«

Herrmann beugte sich über den Radarbildschirm, war verblüfft, überprüfte die Koordinaten noch einmal und sagte: »Dor.« Mit der rechten Hand zeigte er auf den Bug.

»Was heißt dort?«, fragte Voss ungehalten.

»Dor, Käpt’n, direkt vor uns. Keene fünf Kilometer vor uns. Wenn wi neech so ’n Schietwetter hätten, künnt wi den Tanker sehn.«

»Sie spinnen doch, Herrmann.«

»Dann kiek Se doch selbst«, rief Herrmann und griff ans Steuer, damit Voss sich von der Richtigkeit seiner Behauptung überzeugen konnte.

Voss las, sobald Herrmann das Steuer fest im Griff hatte, die Koordinaten von seiner Hand ab und übertrug sie auf den Radarbildschirm.

»Sie haben recht. Ich entschuldige mich.«

»Dat lot Se man sein.«

Voss achtete schon nicht mehr auf Herrmanns Worte, sondern griff zum Mikrofon und drückte die Sprechtaste.

»Mayday, hier spricht der deutsche Motorsegler Goodewind. Ich befinde mich drei Meilen südsüdwestlich von Ihnen. Komme zur Hilfe. Bitte melden Sie sich für detaillierte Absprache auf Handy.« Voss gab die Nummer seines Mobiltelefons durch.

Nur Momente später klingelte das Handy. Voss meldete sich.

»An Motorsegler Goodewind, hier spricht der Kapitän Peter Bruns. Danke, dass Sie zu unserer Rettung kommen. Wir haben ein großes Leck an Steuerbord und nehmen viel Wasser auf. Ich denke, wir können uns noch zwei, maximal drei Stunden über Wasser halten. Die Maschinen stehen auf Stopp. Wir machen aber zurzeit noch sechs Knoten Fahrt, stark abnehmend.«

Voss antwortete sofort: »Hier spricht Jeremias Voss, Eigner und Schiffsführer der Goodewind. Ich hoffe, in einer halben Stunde bei Ihnen zu sein. Mein Boot ist fünfzehn Meter lang. Übersehen Sie mich nicht. Ich steuere Ihre Leeseite an. Wie viel Mann haben Sie an Bord?«

»Was macht denn eine Nussschale bei diesem Wetter auf See?«

»Ihre Mannschaft retten.«

»Danke für Ihren Humor. Können wir brauchen. Wir sind dreizehn Personen an Bord, davon eine Frau.«

»Die bringe ich alle unter. Kann sein, dass die Offiziere hinterherschwimmen müssen. Im Ernst, was schlagen Sie vor? Wie soll ich Ihre Mannschaft übernehmen? Ich möchte nicht zu dicht an Ihr Schiff heranfahren. Bei dem Seegang könnte ich dabei selbst in Seenot geraten.«

»Das versteht sich von selbst. Ich schlage vor, wir seilen die Personen ab. Können Sie ein entsprechendes Seil bei sich befestigen?«

»Kein Problem. Ich binde es an den Mast oberhalb des Baums. Das muss als Beinfreiheit fürs Schanzkleid genügen. Melden Sie sich, wenn Sie mich sehen. Ich tue das Gleiche. Over and out.«

»Sie haben mitgehört, Herrmann.« Voss hatte zu Beginn des Gesprächs auf Lautsprecher geschaltet. »Meinen Sie, dass wir das hinkriegen?«

»Wenn die uns mit de Wurfleine treffen, dann müsste dat geien.«

»Gut, wir machen es wie folgt: Sie bleiben am Steuer und halten uns im sicheren Abstand vom Tanker.«

»Und Sie wollen in dat Schietwetter raus? Nee, Käpt’n, so geit dat neech. Wenn schon einer raus muss, dann bün ick dat.«

»Nein, Herrmann, es bleibt dabei, wie ich gesagt habe. Wenn es um Genauigkeit geht, sind Sie der bessere Bootsführer. Ich bin nur der Mann fürs Grobe. Sie fühlen schon im Voraus, wie sich das Boot verhalten wird, und können dadurch das Seil besser straff halten als ich, und darauf kommt es an.«

Herrmann wuchs bei Voss’ Worten um mehrere Zentimeter. Es war ihm anzusehen, wie stolz er war. Aber es war eine Tatsache, dass er ein besseres Gespür für das Boot hatte.

Nach zwanzig Minuten sahen sie einen Lichtschein voraus, weitere zehn Minuten später tauchten die Konturen des Tankers aus der Dunkelheit auf. Voss griff zum Handy.

»Wir sind in Sichtweite«, sagte er.

»Wir sind so weit. Kommen Sie, soweit es Ihre Sicherheit erlaubt, an Backbord längsseits. Der Mann mit der Wurfleine steht an Deck gleich hinter dem Aufbau. Der Tanker nimmt Schlagseite nach Backbord.«

»Verstanden. Over and out.«

Voss sah Herrmann fragend an. Der streckte den Daumen nach oben zum Zeichen, dass er mitgehört hatte.

»Kümmern Se sech nur um dat Röverholen der Schiffbrüchigen. Ick pass op, dat uns der Tanker nicht erschlägt, wenn he sinken deit.«

Voss überprüfte nochmals Schwimmweste und Sicherheitsgeschirr, dann öffnete er die Tür zum Deck. Sofort zerrte der Orkan an seiner Kleidung, und der Regen peitschte ihm ins Gesicht. Hätte er sich nicht mit beiden Händen festgeklammert, wäre er vom Sturm über Bord gerissen worden. Er rutschte auf dem Hosenboden die fünf Stufen zum Deck hinunter, dort hakte er den Karabinerhaken des Sicherungsgeschirrs in das Seil, das sie zu Beginn des Sturms vom Bug bis zum Heck auf jeder Seite gespannt hatten. So gesichert, richtete er sich auf und hangelte sich bis auf Höhe des Masts vor.

Herrmann hatte die Goodewind bis auf zehn Meter an die Anna Rothusen, die noch immer Fahrt machte, manövriert und schob den Motorsegler langsam vom Heck kommend an dem Tanker entlang. Als sie den Aufbau passierten, sah Voss den Mann mit der Wurfleine hoch über sich an der Reling stehen. Er hob den Arm zum Zeichen, dass er bereit war, die Leine zu übernehmen. Herrmann passte sofort die Geschwindigkeit der des Tankers an. Das ausgelaufene Erdöl war von Vorteil. Es hatte die aufgewühlte See beruhigt und erleichterte Herrmann das präzise Manövrieren.

Der Mann auf dem Tanker hob als Ankündigung dreimal die Wurfleine, dann holte er aus, und im nächsten Moment flog das Gewicht am Ende der Leine durch die Luft und landete einen Meter neben Voss. Ein wahrhaft meisterlicher Wurf, dachte Voss und trat sofort mit einem Fuß auf die Leine, bevor er danach griff und sie ins Boot zog. An der dünnen Wurfleine war ein dickeres Tau befestigt. Als er es an Bord hatte, schlang er es mehrere Male oberhalb des Baums um den Mast und sicherte es mit einem Seemannsknoten. Mit den Armen gab er Zeichen, dass es sicher befestigt war und die Bergung beginnen konnte.

Der erste Mann kletterte auch sofort auf das Tau und ließ sich, die Füße über dem Seil gekreuzt, vom Tanker auf den etliche Meter tiefer liegenden Motorsegler rutschen. Voss passte auf, dass er nicht gegen das Schanzkleid schlug. Er hatte ein zweites Seil um seinen Körper gebunden, löste es nun, hakte es in einen Karabinerhaken ein und band diesen am Mast fest. Die Männer auf dem Tanker hatten inzwischen einen Bootsmannsstuhl an dem Seil befestigt, in dem die einzige Frau an Bord heruntergelassen wurde.

»Festhalten! Ein Brecher von Backbord!«, schrie Voss und umklammerte das Sicherungsseil des Motorseglers. Der Zweite Offizier, der sich zuerst abgeseilt hatte, reagierte sofort und presste sich an den Mast. Voss hatte sich aus einer Eingebung heraus umgesehen und erkannt, dass eine schwarze Wasserwand sich auf sie zu wälzte. Der Motorsegler wurde im nächsten Moment hochgehoben, wobei sich ein Schwall Wasserölgemisch über das Deck ergoss. Ohne sich darum zu kümmern, dass er klitschnass und von Erdöl überzogen war, galt Voss’ erster Blick dem Bootsmannsstuhl. Die Frau hatte Glück gehabt. Die Welle war unter ihr durchgelaufen. Die Goodewind hatte das Schlimmste abgehalten.

»Nicht ziehen«, brüllte Voss, denn er sah, dass sich das Zugseil um die Beine der Frau geschlungen hatte. Ohne zu zögern, löste er den Karabinerhaken seines Rettungsgeschirrs von der Sicherheitsleine, griff nach dem Seil, das zum Tanker führte, und hakte sich dort ein. Er zog sich auf die Reling hoch, klammerte sich an das Seil, verschränkte die Füße darüber und hangelte zum Bootsmannsstuhl. Die Frau hing teilnahmslos in dem Leinensitz. Sich mit der linken Hand festhaltend, löste er das Zugseil von ihren Füßen.

»Anziehen«, rief er und hob den rechten Arm.

Der Zweite Offizier hatte ihn verstanden. Er zog an, und der Bootsmannsstuhl rutschte in Richtung Motorsegler. Voss musste eilig zurückhangeln, um den Sitz nicht zu blockieren. Der Zweite Offizier stand an der Reling, hielt mit der einen Hand das Zugseil stramm, ergriff mit der anderen Voss’ Karabinerhaken und zog ihn an Deck. Danach holte er den Bootsmannsstuhl herein.

Voss setzte sich ans Schanzkleid, um nicht über Bord gerissen zu werden, zog die vom Erdöl verseuchte Jacke und Hose aus und warf beides über Bord. Dann packte er die Frau und zerrte sie zum Führerhaus. Dort zog er auch die Seestiefel aus und warf sie zusammen mit den Schuhen der Frau ebenfalls in die See.

»Käpt’n, so empfängt man aver keene Frau. Dat hier is een anständiges Schiff«, empfing ihn Herrmann.

»Schnauze! Passen Sie auf das Boot auf.«

Herrmann lachte. Er hatte den Motorsegler und das Rettungsseil keine Sekunde aus den Augen gelassen.

Voss schleppte die Frau unter Deck und bettete sie auf die Koje in seiner Kabine. Er selbst wusch sich Gesicht und Haare und schaffte es so einigermaßen, das Erdöl abzuspülen. Danach zog er einen Troyer und eine Jeans an und ging zurück zu Herrmann.

Währenddessen war die Bergung der Mannschaft in vollem Gange. Voss verzichtete darauf, wieder nach draußen zu gehen – der Zweite Offizier hatte alles im Griff –, und beschränkte sich darauf, die Arbeiten vom Steuerhaus aus zu beobachten. Er hielt sich bereit einzugreifen, wenn Probleme auftreten sollten.

Bis auf zwei Mann waren alle Seeleute an Deck der Goodewind. Erstaunt sah Voss, dass anstelle der restlichen Männer sechs Seesäcke an Bord landeten. Hinter dem letzten Sack folgte wieder ein Mann, und als dieser sicher auf dem Motorsegler stand, ging auch der Kapitän von Bord. An seinem Verhalten sah Voss, dass er sich sträubte, den Tanker zu verlassen. Sobald auch er an Bord war, befahl Voss über Lautsprecher, die Leinen zu lösen und sie über Bord zu werfen.

»Das war’s, Herrmann. Die Rettung ist abgeschlossen. Gute Arbeit. Gehen Sie wieder auf Kurs Südost in Richtung Elbe.«

»Aye, aye, Käpt’n.«

Die Männer versammelten sich auf Voss’ Weisung unter Deck und machten es sich im Salon bequem.

Der Kapitän hatte darum gebeten, im Führerhaus bleiben zu dürfen, was Voss ihm selbstverständlich erlaubte. Schweigend stand er an der Steuerbordtür und blickte zum sinkenden Tanker hinüber.

»Können wir noch etwas warten?«, fragte er.

»Tut mir leid, Kapitän, das können wir nicht. Ich will keine Sekunde länger in diesem Orkan sein als unbedingt nötig. Bei allem Verständnis für Ihre Gefühle, ich muss Ihren Wunsch ablehnen. Wir befinden uns selbst in Lebensgefahr. Es bedarf nur eines einzigen Brechers, und wir sind in der gleichen Situation, der Sie gerade entronnen sind. Tut mir aufrichtig leid.«

»Schon gut. Ich verstehe. War eine dumme Bitte. Darf ich dann Ihr Sprechfunkgerät benutzen?«

»Selbstverständlich.«

Der Kapitän griff nach dem Mikrofon und gab über Seefunk durch, dass die Mannschaft von der Goodewind gerettet worden war und dass der Tanker sank. Anschließend rief er über Handy die Reederei an und machte die gleiche Durchsage. Er fügte noch hinzu, dass ein Mann bei der Explosion getötet worden war, der Rest der Mannschaft sowie die Tochter des Reeders seien wohlauf.

Nachdem er seine Pflichten als Kapitän erfüllt hatte, blickte er wieder zu seinem Schiff hinüber. Erst als er es nicht mehr sehen konnte, drehte er sich um. In seinen Augen standen Tränen. Voss konnte sich vorstellen, was in dem Mann vorging. Er tat, als würde er die feuchten Augen nicht bemerken.

Der Rest der Reise verlief, abgesehen von einigen kritischen Ereignissen, die dank der geballten seemännischen Kenntnisse an Bord ohne Schaden überstanden wurden, den Umständen entsprechend ruhig. Noch bevor sie die Elbmündung erreichten, schwächte der Orkan ab. Der Sturm blies nur noch mit zehn bis elf Windstärken, was immer noch eine schwere See bedeutete. Aber verglichen mit dem, was sie in den vergangenen Stunden erlebt hatten, empfanden es alle als eine deutliche Verbesserung ihrer Lage.

Der Nordweststurm hatte erhebliche Wassermassen in die Elbe gedrückt, sodass Hochwasser herrschte. Der Regen hatte aufgehört, die Sicht war wieder normal. Voss und die Schiffsoffiziere der Anna Rothusen, die sich die Schiffsführung der Goodewind geteilt hatten, konnten sich während der restlichen Stunden Fahrt auf der Elbe entspannen. Der Koch der Anna Rothusen versorgte sie mit Getränken und einer warmen Mahlzeit. In der richtigen Annahme, dass auf dem Motorsegler nicht genügend Verpflegung für alle Mann vorhanden sei, hatte er Lebensmittel und Getränke in Seesäcke verpackt »retten« lassen.

Als sie sich auf der Höhe von Stadersand befanden, schien die Wirkung der Schlaftabletten, die Reedertochter Sylvia Rothusen zu sich genommen hatte, nachzulassen. Noch immer benommen betrat sie das Steuerhaus, um sich bei Voss für ihre Rettung zu bedanken. Der winkte ab. Das, was er und Herrmann getan hatten, war eine Selbstverständlichkeit gewesen.

Um zwanzig nach sechs Uhr abends legte die Goodewind an dem zugewiesenen Platz im Dalmanhafen hinter der Elbphilharmonie an. Sie wurde von der Polizei, dem Reeder und einem Haufen Reporter empfangen.

Da ein Seemann an Bord umgekommen war, hatte die Staatsanwaltschaft bereits ein Untersuchungsverfahren gegen die Schiffsführung eingeleitet. Der Kapitän und die Offiziere wurden sofort zum Verhör mitgenommen, die restliche Mannschaft sowie Voss und Herrmann wurden für den nächsten Tag um vier Uhr nachmittags vorgeladen.

Kapitel 2

Voss saß entspannt in seinem Bürosessel, einer Spezialanfertigung, die sein verletztes Kreuz an den richtigen Stellen stützte. Normalerweise konnte er lange darin sitzen, ohne Rückenschmerzen zu bekommen, doch heute war es anders. Zum ersten Mal seit zwei Jahren nahm er wieder die Schmerztabletten, die ihm sein Arzt für alle Fälle verschrieben hatte. Ursache für sein Leiden war der Tanz der Goodewind auf den Wogen des Orkans. Zweieinhalb Tage lang hin und her geworfen zu werden, war für seine mühsam zusammengeflickte Wirbelsäule einfach zu viel gewesen.

Die Verletzung hatte er sich während eines Einsatzes als Hubschrauberpilot bei der GSG 9 zugezogen. Eine wild gespannte Stromleitung war seinem Hubschrauber zum Verhängnis geworden. Der Helikopter war abgestürzt und auf dem Boden aufgeschlagen. Schwerverletzt war er aus der Maschine geborgen worden, während sein Freund und Co-Pilot von einem abgebrochenen Rotorblatt regelrecht geköpft worden war. Nach mehreren Operationen und Reha-Aufenthalten war er nur noch für den Innendienst tauglich gewesen. Er hatte sich aus gesundheitlichen Gründen pensionieren lassen und sich entschieden, eine Agentur für vertrauliche Ermittlungen aufzumachen. Es war eine Aufgabe, für die er sich in besonderem Maße eignete, wie sich herausstellte. Schnell machte er sich einen Namen als erfolgreicher Ermittler, und bereits nach kurzer Zeit war er über die Grenzen der Hansestadt hinaus bekannt. Mit dem Erfolg stiegen seine Honorare und damit auch das Niveau seiner Klientel. Es versetzte ihn finanziell in die Lage, sich die Fälle aussuchen zu können. Sein Werbeslogan Fälle, die ich übernehme, kläre ich auf mochte überheblich klingen, doch bislang hatte er dieses Versprechen immer halten können.

Voss verlagerte seine Position im Sessel, um die rechte Seite des Rückens zu entlasten. Die Füße auf dem Schreibtisch und den Laptop auf den Oberschenkeln, schaute er sich im Internet an, was über den Untergang der Anna Rothusen geschrieben wurde. Die Rettungsaktion wurde in höchsten, aber völlig überzogenen Tönen gelobt, und Herrmann und er waren plötzlich Seehelden. Ansonsten gab es nur wilde Spekulationen. Sie reichten von einer Mine als Ursache bis hin zu einem terroristischen Anschlag oder einem Versicherungsbetrug. Wenn es nicht so traurig gewesen wäre – immerhin hatte ein junger Mann bei der Explosion sein Leben verloren –, hätte Voss laut gelacht. Es amüsierte ihn, zu welchen Fantasien sich Journalisten versteigen konnten.

Um Viertel vor neun Uhr morgens hörte er, wie die Eingangstür aufgeschlossen wurde. Vera Bornstedt, seine Assistentin, kam wie jeden Tag eine Viertelstunde vor Öffnung der Agentur. Sie war Mitte dreißig, gut aussehend, glücklich verheiratet und hatte einen siebzehn Jahre alten Sohn. Vera war seit der Stunde null bei ihm und eine nicht zu ersetzende Stütze der Agentur.

Nach kurzem Anklopfen öffnete sie die Tür und steckte den Kopf ins Zimmer.

»Chef, es ist Montagmorgen, was machen Sie denn schon hier?«, fragte sie erstaunt, denn gewöhnlich ließ sich Voss montags frühestens gegen zehn Uhr blicken.

»Moin, Vera, ich hoffe, Sie hatten ein schönes Wochenende. Ich konnte nicht mehr schlafen. Mein Rücken, Sie wissen schon.«

»Wieder das alte Leiden?«

»Ja. Aber nicht der Rede wert. Hat sich während meiner Abwesenheit etwas Wichtiges ereignet?«

»Nichts. Es herrschte absolute Ruhe, und mit Ihnen aus dem Weg konnte ich auf Ihrem Schreibtisch wieder einmal Ordnung schaffen. Ich frage mich immer, warum Sie wichtige Dokumente in Ihren Schreibtisch stopfen und nicht mir geben. Übrigens, haben Sie schon die Zeitung gelesen? Sie sind der Held des Tages. So etwas kann auch nur Ihnen passieren. Es fahren Hunderte von Schiffen auf der Nordsee, und das einzig Aufregende, was die Passagiere erleben, ist, wenn ihnen eine Möwe auf den Kopf schiet.«

»Aber, Vera, was für ein Wort nehmen Sie da in den Mund? So kenne ich Sie ja gar nicht.«

»Pah, Schiet ist Plattdeutsch und darf verwendet werden.« Ihre Gesichtszüge wurden mitfühlend weich, als sie fragte: »War es sehr schlimm auf See?«

»Es ging. Außer dass wir manchmal nicht wussten, wo oben und unten war, konnten wir es aushalten. Die Goodewind hat sich hervorragend bewährt.«

»Wenn ich Ihre Worte richtig interpretiere, dann war es die Hölle. Möchten Sie einen Kaffee?«

»Endlich, ich dachte schon, Sie würden nie fragen.«

Vera lachte. »Kommt gleich.«

Sie schloss die Tür zu Voss’ Büro, damit er nicht durch ihre Vorbereitungen für den Arbeitstag gestört wurde. Wenig später brachte sie ihm einen Pott Kaffee mit viel Milch.

Voss las im Hamburger Tageblatt, das Vera immer mitbrachte, dass sich ein riesiger Ölteppich in der Nordsee gebildet hatte und auf das nordfriesische Wattenmeer zutrieb. Eine ökologische Katastrophe schien sich anzubahnen.

»Haben Sie das gelesen?«, fragte er Vera und deutete auf den Artikel.

Vera nickte. »Schlimm, nicht?«

»Das ist sehr milde ausgedrückt.« Voss sah sie nachdenklich an. »Ich möchte mal wissen, was tatsächlich passiert ist. Die Meinung des Kapitäns, auf eine Mine aufgelaufen zu sein, scheint mir nicht überzeugend. Ist zwar nicht unmöglich, aber eine verirrte Mine in der Nordsee – siebzig Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs und bei dem Schiffsverkehr –, irgendwie passt das nicht zusammen.«

»Was, denken Sie, war die Ursache?«

»Das, Vera, ist die Eine-Million-Dollar-Frage. Ich habe keine Ahnung.«

Vera merkte, dass er mehr und mehr in Gedanken versank, und verließ das Arbeitszimmer, um ihre Vorbereitungen für den Tag abzuschließen.

Es waren kaum fünf Minuten vergangen, da kam sie wieder und schloss die Tür hinter sich.

»Was gibt’s?«, fragte Voss ungnädig. Er mochte es nicht, aus seinen Überlegungen gerissen zu werden. Dass er heute so mürrisch reagierte, lag an den Schmerzen, die ihn quälten. Die Wirkung der Tablette hatte ihm noch keine Erleichterung gebracht. Vera störte sich nicht an seinem rauen Ton.

»Eine junge Dame möchte Sie sprechen.« Sie wusste, dass jung und Dame Reizworte waren, auf die er gewöhnlich ansprang.

Voss sah auf die Uhr über der Tür. Es war zwei Minuten vor neun.

»Jetzt schon? Hübsch? Hat sie ihren Namen genannt?« Sonderlich begeistert klang er nicht.

»Zu Frage eins: Sie scheint wohl Verlangen nach Ihnen zu haben. Frage zwei: sehr. Und Frage drei: Sie heißt Sylvia Rothusen und behauptet, Sie zu kennen.«

Voss Augen blitzten erfreut auf. »Warum sagen Sie das nicht gleich? Führen Sie sie herein. Sie ist die gerettete Frau.«

»Fühlen Sie sich denn wirklich in der Lage, mit ihr zu sprechen, oder sollte ich nicht besser absagen? Denken Sie an Ihre Rückenschmerzen«, meinte Vera mit einem anzüglichen Lächeln.

»Nun machen Sie schon. Lassen Sie die Dame nicht warten.«

»Ganz wie Sie wünschen.«

Vera ging zur Tür, öffnete sie und sagte: »Frau Rothusen, Herr Voss lässt bitten.«

Voss war aufgestanden und ging Frau Rothusen mit einem breiten Lächeln und ausgestreckter Hand entgegen.

Vera verdrehte nur die Augen und ging zu ihrem Schreibtisch zurück.

»Ich freue mich, Sie zu sehen, Frau Rothusen. Sie scheinen das Abenteuer gut überstanden zu haben, denn Sie sehen so frisch aus, als kämen Sie direkt von einer Kur.«

Sylvia Rothusen lachte, während sie Voss’ Hand ergriff. »Sie sind ein Schmeichler, Herr Voss. Frau Bornstedt hätte mich warnen sollen. Trotzdem, danke für das Kompliment. Entschuldigen Sie, dass ich so früh gekommen bin. Da ich keinen Termin habe, dachte ich, wenn ich vor dem Besucheransturm hier bin, hätten Sie vielleicht etwas Zeit für mich.«

»Für Sie habe ich immer Zeit. Bitte nehmen Sie Platz.«

Voss führte sie zu dem bequemen Besuchersessel vor dem Schreibtisch und nahm, nachdem Sylvia Rothusen sich gesetzt hatte, ebenfalls Platz.

»Was kann ich für Sie tun, oder ist dies ein gesellschaftlicher Besuch?«

»Beides, Herr Voss. Zum einen möchte ich mich von ganzem Herzen für Ihren tapferen, selbstlosen und gefährlichen Einsatz bedanken. Ohne Sie wäre ich wohl ertrunken.«

»Unsinn, Frau Rothusen. Wenn ich es nicht gewesen wäre, dann hätte ein anderer Sie aus Ihrer misslichen Lage befreit. Da ich das Problem mit dem Seil als Erster gesehen hatte, durfte ich Ihnen den kleinen Dienst erweisen. Und ertrunken wären Sie niemals. Nur ein wenig nass wären Sie geworden. Also nicht der Rede wert. Sprechen wir davon, was ich für Sie tun kann.«

»Sie sind sehr bescheiden, Herr Voss. Der Kapitän hat mir Ihren Einsatz ganz anders dargestellt. Auch wenn Sie es nicht hören wollen, ich sage trotzdem Danke – von ganzem Herzen Danke.«

»Wie ich schon sagte, es war mir eine Freude und eine Selbstverständlichkeit, Ihnen diesen Dienst zu erweisen. Und jetzt haben wir genug Worte darüber verloren und können zur Sache kommen. Also, was kann ich für Sie tun, Frau Rothusen?«

»Bitte nennen Sie mich Sylvia. Nach allem …« Sie brach ab, als sie sah, dass Voss etwas einwenden wollte, und fuhr dann fort: »Schon gut, ich weiß, Sie wollen es nicht hören. Ich bin gekommen, um Sie zu engagieren, Herr … darf ich Sie Jeremias nennen?«

»Selbstverständlich, Sylvia. Weswegen wollen Sie mich engagieren?«

»Ich möchte Sie beauftragen, herauszufinden, warum die Anna Rothusen gesunken ist.«

Voss hatte sich angewöhnt, bei geschäftlichen Besprechungen stets ein freundliches Pokergesicht aufzusetzen. Von daher konnte Sylvia Rothusen nicht bemerken, wie überrascht er war.

»Ist das nicht die Aufgabe der Staatsanwaltschaft?«

Sylvia schüttelte energisch den Kopf. »Das ist zwar richtig, doch bis die Behörden in die Puschen kommen, ist die Reederei Rothusen längst bankrott. Wir brauchen schnelle Ergebnisse, besser gestern als heute. Es ist nicht die Rechtslage, die uns Probleme bereitet, sondern die Gerüchteküche.«

»So ganz sehe ich Ihr Problem nicht. Die Lage ist doch eindeutig, jedenfalls wenn der Kapitän bei seiner Meinung bleibt, dass der Tanker auf eine Mine gelaufen ist. Auch wenn das manchen Herren unwahrscheinlich erscheint, das Gegenteil wird niemand beweisen können. Daran können …«