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HARALD HAARMANN

WER ZIVILISIERTE
DIE ALTEN
GRIECHEN?

DAS ERBE DER ALTEUROPÄISCHEN
HOCHKULTUR

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INHALT

Einleitung:
Faszination griechische Antike – Mythische Verklärung und reale Kulturgeschichte

1. Mythenbildung um das antike Griechenland: Die griechische Zivilisation im Spannungsfeld von Okzidentalismus und Orientalismus

Der Mythos der Einmaligkeit: Antike Selbstglorifizierung und ihre Renaissance im Zeitalter der deutschen Romantik

Ex oriente lux: Der Mythos von der Zivilisierung der europäischen Barbarei durch Einflüsse aus Mesopotamien und Ägypten

Das alteuropäische Kulturerbe und seine Transformationen: Die drei Grundstadien zivilisatorischer Entwicklung in Südosteuropa

2. Die frühe Zivilisation Alteuropas (ab ca. 5500 v. Chr.): Materielle Charakteristik, technologische Innovationen und kulturelle Institutionen

Die Regionalkulturen und ihr Eigenprofil

Die Siedlungen Alteuropas und ihre Vernetzung über die Handelsrouten

Zivilisatorischer Entwicklungsstand

Töpferei, Keramikherstellung, Pyrotechnologie

Metallbearbeitung, Herstellung von Artefakten aus Kupfer, Gold und Silber

Figurinen als Leitformen des Kunstschaffens in Alteuropa

Kommunikationssysteme der Donauzivilisation und die Rolle der Schrift als integrative Technologie

3. Die Töchter Alteuropas: Die altägäischen Regionalkulturen der Bronzezeit (ab ca. 3000 v. Chr.)

Lerna als Brückenglied zwischen Alteuropa und der mykenischen Kultur

Die Regionalkultur der Pelasger auf dem Festland

Die Regionalkultur auf den kykladischen Inseln

Die Regionalkultur der Minoer auf Kreta

Minoische Stierspiele: Ein regionales Sondermodell ritueller Performanz

Ist Troja eine Nachfolgekultur Alteuropas?

4. Die griechische Enkelin Alteuropas: Anatomie einer Mosaikkultur (ab ca. 2000 v. Chr.)

Die griechische Zivilisation als Schmelztiegel – Bikulturalismus, Zweisprachigkeit, Interferenzphänomene

Vorgriechisches Know-how im Gesundheitswesen: Basiswissen über Heilkräuter und Heilverfahren

Grundlagen einer ganzheitlichen Naturbetrachtung: Die vorsokratische Naturphilosophie zwischen Traditionsbezug und Erkenntnisinteresse

Die starken Frauen der Mythologie: Religiöse Traditionen Alteuropas und ihr Nachhall in der griechischen Antike

5. Die vorgriechische Herrin der Akropolis: Athene und der Athener Staatskult

Die Akropolis von Athen und ihre vorgriechische Geschichte

Athene als Ikone griechischer Identität: Ritualleben in der Polis zwischen populärer Frömmigkeit und Staatskult

Die Supergöttin Athene und ihre vielfältigen Rollen

6. Geschichten vom Gold: Der Schatz von Varna, die Maske des Agamemnon und das Goldene Vlies der Argonauten

Goldschmiedekunst in Alteuropa

Ist die Tradition der thrakischen Goldschmiedekunst mit Varna verknüpft?

Mykenisches Gold und die Maske des Agamemnon

Gold, Gottheiten und Helden in der Mythologie: Das Goldene Vlies der Argonauten

7. Handel und Wandel: Die Langzeittradition kommerzieller Beziehungen in Zeit und Raum

Wirtschaftsräume und Handelsrouten in Alteuropa

Handel im Spannungsfeld von Wettbewerb und Rivalität

Die Sprache der Kaufleute: Alteuropäische Elemente in der griechischen Terminologie für Handel und Waren

Maße und Gewichte alteuropäischer Herkunft

8. Schiffsbau, Seefahrt und Seehandel: Handwerkliches und ökonomisches Know-how im Kulturkontakt

Alteuropäische Elemente in der griechischen Schiffsbauterminologie

Wasserfahrzeuge, Bootsmodelle: Motive in der Kunst Alteuropas

Das Boot-Motiv in der kykladischen Kunst: Die »Schiffsprozession von Thera«

9. Die Musen und ihre alteuropäischen Vorbilder: Künste, Ritual- und Theaterwesen in der Gesellschaft der Antike

Tanz

Musik

Das Theaterwesen und seine rituellen Ursprünge

Figurinen und ihre Kontinuität in Zeit und Raum

Die Kunstästhetik Alteuropas und ihre Renaissance in der Moderne

10. Das mythisch-verklärte heroische Zeitalter: Homer und seine vorgriechischen Helden

Heldengestalten und Mythenstoff der Landnahme

Die Welt der Epen, ihre narrativen Strategien und das Versmaß des Hexameters

Elysion und die Seelen der Helden

11. Schrift und Schriftwechsel: Innovationen der Schreibtechnologie von Alteuropa bis in die klassische Antike

Soziale Funktionen der Schriftlichkeit in Alteuropa

Von Alteuropa nach Kreta – Auswirkungen der balkanisch-altägäischen Kulturdrift

Die Fortsetzung griechischer Literalität in Altzypern seit dem 11. Jahrhundert v. Chr.

Das »griechische« Alphabet als schrifttechnologische Revolution: Ein minoisch-griechisches Kooperationsprojekt

12. Hellenische Identitätsbildung: Delphi und Olympia – Zentrale Plätze des griechischen Gemeinschaftssinns

Themis und ihre Rolle in Delphi: Weltanschauliche Grundlagen des Griechentums

Die Delphische Amphiktionie und die Ratsversammlung: Modell für ein panhellenisches Sicherheitssystem

Olympia und seine vorgriechische Herrin

13. Das Modell des griechischen Gemeinwohls und seine vorgriechischen Ursprünge

Prinzipien der alteuropäischen Korporationsgesellschaft: Soziale Egalität und Geschlechterrollen

Athene als Hüterin des Gemeinwesens: Konzepte der Gemeinschaftsbildung aus vorgriechischer Zeit

Institutionen des Athener Staats und vorgriechische Spuren in der Nomenklatur der Demokratie

Die vorgriechische Kontinuität eines kommunalen Pachtsystems (Leasingsystems) bis in die klassisch-griechische Antike

Der Niedergang Athens seit dem ausgehenden 4. Jahrhundert v. Chr.

Epilog: Die griechische Mosaikkultur als Mittlerin zwischen Alteuropa und der nachantiken westlichen Zivilisation

Bibliografie

Abbildungen

EINLEITUNG:
FASZINATION GRIECHISCHE ANTIKE – MYTHISCHE VERKLÄRUNG UND REALE KULTURGESCHICHTE

Im Anfang war das Licht. Das Licht der frühen Zivilisationen ging im Osten auf (»ex oriente lux«) und strahlte bis nach Europa. Die Barbarei Europas trat aus ihrem unkultivierten Dunkel ins Licht und nahm die zivilisatorischen Segnungen entgegen, die Schrift von den Phöniziern und die Zeitrechnung von den Babyloniern. Mit diesem Rüstzeug gelang es ihnen, ihre eigene Zivilisation aufzubauen, die der Griechen, die ihrerseits auf andere Völker ausstrahlte. Man könnte hier anschließen: »Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.« Haben wir es hier mit einem Märchen zu tun? In der Tat sind die Märchenerzähler nicht ausgestorben, und immer neue Generationen erzählen die alten Geschichten. Was uns Europäern durch unsere Schulausbildung vertraut ist, hört man sich gerne immer wieder an, so wie es Kinder gern haben, wenn ihnen bestimmte Märchen immer aufs Neue vorgelesen werden.

Von den Mythen, die seit dem 18. Jahrhundert entstanden sind und sich um die antike Zivilisation der Griechen ranken, hat der Mythos vom Licht aus dem Osten Eingang in den Kanon der Schulausbildung gefunden. Als festes Versatzstück des Geschichtsunterrichts wird die Erleuchtung der europäischen Barbarei durch orientalische Zivilisiertheit seit Generationen für den Aufbau kulturorientierten Wissens mobilisiert, und dieser Trend scheint ungebrochen, unabhängig davon, dass die wissenschaftliche Forschung bereits vor vielen Jahren berechtigte Zweifel am Wert solcher kulturhistorischer Klischeevorstellungen angemeldet hat. Im Grunde genommen handelt es sich bei den Versatzstücken zur Kulturgeschichte, die zum Kanon des Schulunterrichts gehören, um die Kombination zweier Mythen: Auf die Basis des Lichtmythos werden selektiv Kernelemente des »Griechenmythos« von der Einmaligkeit aufgepfropft.

Der Zeitgeist vom Licht aus dem Osten wird seit den Zeiten der Aufklärung bis heute in immer neuen Variationen beschworen. Es hat sich eine Denkweise verfestigt, wonach es vor dem Aufstieg der griechischen Hochkultur keine vergleichbaren zivilisatorischen Standards gegeben haben kann. Mit diesem märchenhaft verschleierten Geschichtsbild ist auch der Autor des vorliegenden Buches aufgewachsen. Vor dem Hintergrund solch fest gefügter Wertungen ist es eine besondere Herausforderung, will man die Qualität vorgriechischer Kulturstufen von einem unabhängigen Standort aus einschätzen.

Die Mythenbildung rings um das Thema des Lichts aus dem Osten hat den Autor durch die Schule und die Universitätsausbildung begleitet. Schon früh keimten im kritischen Geist des jungen Hobbyforschers Zweifel auf, wie es denn sein kann, dass die Europäer angeblich so lange in kultureller Unterentwicklung gelebt hätten. Aber es fehlte ihm noch das Rüstzeug, um seinen eigenen Weg in der Betrachtung der Kulturgeschichte zu finden. Es sollte noch viele Jahre dauern, bis seine Zweifel schließlich konkrete Form annahmen, bis sich ein Alternativbild abzuzeichnen begann, ein Korrektiv zu den überkommenen Klischees.

In diesem Kanon der Schulweisheiten, mit denen wir erzogen werden, bleibt kein Platz für realistische Überlegungen. Eine davon mündet z. B. in der Frage, wie es denn sein kann, dass die Griechen ihre Hochkultur sozusagen aus dem Nichts aufbauten. »Von nichts kommt nichts«, hat der vorsokratische Philosoph Parmenides (5. Jahrhundert v. Chr.) formuliert, und diese Erkenntnis ist von bleibendem Wert. Der gesunde Menschenverstand und die Erkenntnisse der modernen Forschung zur Problematik kultureller Kontinuität stimmen darin weitestgehend überein, dass keine Zivilisation der Antike bei null angefangen hat, sondern dass es jeweils lokale Vorbedingungen gab, die die Entstehung einer Hochkultur ermöglichten und die Entwicklung vorantrieben.

Es ist somit berechtigt, den Wahrheitsgehalt des europäischen Geschichtsbildes zu hinterfragen, das uns den nahöstlichen Kulturimport als Auslöser für den Innovationsschub der griechischen Zivilisation nahelegt. Die Forderungen der modernen Forschung über antike Kulturgeschichte nach einer Revision althergebrachter Schulweisheiten werden immer dringlicher. Im Licht neuen Wissens hat der Griechenmythos, das kanonische Klischee des europäischen Bildungsbürgertums, längst ausgedient. Es ist höchste Zeit, dass an seine Stelle ein aktualisiertes Bewusstsein kulturhistorischer Realitäten tritt.

Die griechische Zivilisation hat zwar Impulse aus dem Nahen Osten empfangen, aber dies erst zu einer Zeit, als die Grundlagen für ihre eigene Zivilisation bereits aufgebaut waren. Und der Aufbau der griechischen Zivilisation mitsamt ihren Institutionen hatte einheimische Vorbilder aus Europa. Die Griechen der Antike haben sich für den Aufbau ihrer eigenen Hochkultur an den Errungenschaften ihrer Vorgänger in Südosteuropa bedient wie an einem Steinbruch. Das Image der klassischen griechischen Zivilisation ist im Wandel begriffen und wird heute eher als das einer Mosaikkultur verstanden, deren Wurzeln in eine tiefere Dimension der Zeit greifen als spätere Einflüsse aus dem Osten.

Das Licht, das diese Mosaikkultur zum Strahlen brachte, kam nicht von weit her, sondern war sozusagen hausgemacht europäisch. Das Licht aus dem Westen, das lange Zeit wie der Stoff einer dunklen Materie behandelt wurde und vom Geröll der mesopotamischen Mythenbildung verschüttet geblieben war, ist inzwischen freigelegt und strahlt mit eigener Kraft. Die neueren Erkenntnisse der Kulturwissenschaft, der Archäologie und der Sprachkontaktforschung weisen in folgende Richtung: Das Fundament der griechischen Antike ist weder ein Eigenbau der Griechen selbst noch ein Kulturimport von außerhalb Europas, sondern ein Gebilde, das auf Vorgaben einer älteren einheimischen Kulturtradition, der Zivilisation Alteuropas (bzw. der Donauzivilisation), aufbaut.

Das sogenannte »griechische« Kulturerbe unserer westlichen Zivilisation ist ein Multikulti-Produkt im positiven Sinn. Seine Wurzeln reichen bis ins europäische Neolithikum zurück. Immer mehr Einblicke in das Wirken des kulturellen Gedächtnisses bei den Griechen (und auch bei anderen Völkern Südosteuropas) lassen immer mehr Konturen einer facettenreichen, traditionsorientierten Identität erkennen, mit der die Menschen in der Antike lebten und die sie an die nachfolgenden Generationen weitervermittelt haben.

Die griechische Zivilisation, so wie sie uns in der klassischen Antike entgegentritt, ist das Produkt einer kulturellen Fusion. Da ist die einheimisch-alteuropäische Komponente, die sich eigenständig in Südosteuropa entwickelt hatte, lange bevor helladische Gruppen von Indoeuropäern aus dem nördlichen Balkan in die Region einwanderten, die sie zu ihrer Heimat machten und später Hellas nannten. Und da ist das kulturelle Erbe, das die Migranten aus ihrer Urheimat in der eurasischen Steppe mitbrachten. Diese Migranten waren ursprünglich Viehnomaden, die sich im Kontakt mit den sesshaften Ackerbauern akkulturierten und selbst zur Pflanzenkultivation überwechselten. Aufgabe dieser Studie ist es, die Kultursymbiose zwischen einheimischen Alteuropäern und den nach Griechenland einwandernden Migranten aus dem Norden auszuleuchten.

Die frühgriechischen Neusiedler der Bronzezeit, die Hellas als ihre neue Heimat wählten, haben vieles von ihren Vorgängern übernommen. Zum alteuropäischen Kulturerbe gehören sowohl materielle Elemente (das Sichtbare in der Kultur) als auch symbolische Formen (die unsichtbare, geistige Kultur). Die Leistung der Griechen besteht darin, dass sie vorgriechische Errungenschaften weiterentwickelt und perfektioniert haben. Wenn wir uns klarmachen wollen, in welchem Umfang und in welchen Bereichen sich das alteuropäische Kulturerbe im Griechentum nachweisen lässt, sind wir auf die Erkenntnisse der verschiedensten Disziplinen angewiesen, die mit der Antikenforschung zu tun haben.

Der einzige Forschungsansatz nämlich, der Erfolg verspricht, um die Verankerung der Grundpfeiler der griechischen Mosaikkultur auszuleuchten, ist eine Annäherung auf interdisziplinärer Basis. Das Tor zu einer Gesamtschau öffnet sich in unserem Fall über die historische Sprachforschung, deren Erkenntnisse mit den Befunden der Kulturwissenschaft, der Religionsgeschichte, der Archäologie, der Epigrafik (Erforschung des Inschriftenmaterials) sowie mit dem Studium literarischer Quellen der Antike abgeglichen werden müssen.

Inzwischen sind die Elemente des vorgriechischen Lehnwortschatzes nach dem neuesten Stand der griechischen Wortgeschichte (Etymologie) abgesichert worden (Beekes 2010, Haarmann 2014). Die Zahl der Substratwörter im Altgriechischen beläuft sich auf mehr als 2000 Elemente, die vom Autor dieses Buches in einer Datenbank registriert worden sind. Dabei handelt es sich um solche Ausdrücke, die als Entlehnungen aus der (vor-indoeuropäischen) Sprache der einheimischen Alteuropäer (Substratsprache) von den frühen griechischen Neusiedlern in ihre (indoeuropäische) Sprache übernommen wurden. Solche frühen Lehnwörter spiegeln das Kulturmilieu wider, in dem die sprachlich-kulturelle Fusion stattfand. Dieser von den Griechen adaptierte Wortschatz setzt sich aus speziellen Ausdrücken für technologische Errungenschaften und für Know-how zusammen, das man für den Aufbau sozial-kultureller Netzwerke braucht.

Die vorgriechische Bevölkerung hatte ihre eigene Sprache, mit deren Hilfe sich jene Menschen, die wir Alteuropäer nennen, ihre Kultur aufbauten. Vielleicht waren es mehrere Einzelsprachen, die aber eng miteinander verwandt waren. Die Sprache der Alteuropäer ist nur in Fragmenten erhalten, und zwar in Form alter Substratwörter im Wortschatz des Griechischen und anderer Sprachen Südosteuropas. Die alten Sprachrelikte sind zwar nur fragmentarisch überliefert, man erkennt aber dennoch in diesen Fragmenten die Konturen der natürlichen Umwelt und der Aktivitäten dieser frühen Ackerbauern, auch vieles von ihrer Lebensqualität und von ihren Glaubensvorstellungen.

Aus diesem Grund ist der Lehnwortschatz des Griechischen von besonderem Interesse, was das Überleben alteuropäischen Sprachguts betrifft. Die griechische Sprache ist seit dem 17. Jahrhundert v. Chr. schriftlich überliefert und seither kontinuierlich geschrieben worden. Sie saugte sich voll wie ein Schwamm mit diesen zunächst fremden, vor-indoeuropäischen Elementen. Die entlehnten Ausdrücke alteuropäischer Herkunft wurden in die lexikalischen Strukturen des Altgriechischen integriert. Bald schon empfanden die frühen Griechen die ursprünglichen Fremdelemente nicht mehr als fremd, und sie blieben auch nicht wie Fossilien isoliert, sondern gingen eine Art Symbiose mit den einheimischen Bezeichnungsstrukturen ein.

Wörter im Deutschen wie »Keramik«, »Metall« und »Theater« klingen griechisch, weil die Griechen diese Ausdrücke verwendeten und an uns weitervermittelt haben. Diese lexikalischen Elemente gehören aber nicht zum griechischen Erbwortschatz. Das heißt, diese Wörter haben keine Entsprechungen in anderen indoeuropäischen Sprachen, und sie sind auch keine Entlehnungen aus Sprachen des Nahen Ostens oder des Alten Orients. Warum nicht? Nun, weil weder die Keramikherstellung noch die Metallbearbeitung oder das Theaterwesen orientalischer Herkunft sind. Dies sind zivilisatorische Domänen, die lange vor den Griechen in Europa ausgebildet worden sind. Und bei den betreffenden griechischen Termini handelt es sich um Elemente des vorgriechischen Substrats.

Kernelemente dieses frühen Lehnwortschatzes haben ihren Weg bis in unsere modernen Kultursprachen gefunden. In unserem kulturellen Bewusstsein ist die Erinnerung lebendig, dass unser Kulturwortschatz von griechischen Lehnwörtern geprägt ist, wobei solche Ausdrücke entweder direkt aus dem Griechischen oder auf dem Umweg – mit Vermittlung über das Lateinische – ins Deutsche gelangten. Wenn wir solche Entlehnungen als griechisches Kulturgut betrachten, bleiben wir eigentlich auf halbem Weg stehen. Denn die Griechen selbst haben ihren eigenen Wortschatz durch diese frühen Elemente des alteuropäischen Substrats kultiviert.

In der Gesamtschau tritt uns ein Panorama von Substratwörtern mit breiter Streuung in den verschiedensten Sinnbereichen entgegen. Hier eine Auswahl:

Flora und Fauna:

Thun(fisch) (← griech. thynna ← vorgriech.)

Narzisse (← griech. narkissos ← vorgriech.)

Hyazinthe (← griech. hyakinthos ← vorgriech.)

Kastanie (← griech. kastana ← vorgriech.)

Hortikultur, Oliven- und Weinkultur:

Thymian (← griech. thymon ← vorgriech.)

Olive (über latein. oliva aus griech. elaia ← vorgriech.)

Wein (über latein. vinum aus griech. oinos ← vorgriech.)

Heilkunde, Medizin:

Pharmakum (latinisierte Form von griech. pharmakon, ›(medizinisches) Heilmittel‹; ›Mittel im Schadenzauber‹ ← vorgriech.)

Boots- und Schiffsbau:

Anker (← griech. ankyra ← vorgriech.)

Stamina (mit Bedeutungsverschiebung aus griech. stamines, ›Verstrebungen im Boots- oder Schiffsrumpf zur Verstärkung der Seitenwände‹ ← vorgriech.)

Handwerkssparten:

Keramik (Ableitung von griech. keramos, ›Tonerde, Ton zum Töpfern‹ ← vorgriech.)

Kamin (mit Bedeutungsverschiebung aus griech. kaminos, ›Brennofen des Töpfers‹ ← vorgriech.)

Marmor (← griech. marmaros ← vorgriech.)

Metall (← griech. metallon ← vorgriech.)

Chemie (mit Bedeutungsverschiebung aus griech. chemeia, ›die Kunst der Metalllegierung‹ ← vorgriech.)

Künste:

Lyra (← griech. lyra ← vorgriech.)

Hymne (← griech. hymnos ← vorgriech.)

Theater (← griech. theatron ← vorgriech.)

Sinnästhetik, Sinneseindruck, Gefühlswelt:

Aroma (← griech. aroma ← vorgriech.)

Morph(ologie) (← griech. morphe, ›Form, äußere Erscheinung; Grazie, Schönheit‹ ← vorgriech.)

Übersinnliches

Psyche (← griech. psyche ← vorgriech.)

Eigenschaften, Attribute:

dynamisch (Ableitung von griech. dynamis, ›Stärke, Dynamik‹ ← vorgriech.)

ethnisch (Ableitung von griech. ethnos, ›Volk; Stammesgruppe‹ ← vorgriech.)

hybrid (mit Bedeutungsverschiebung als Ableitung von griech. hybris, ›Überheblichkeit, Arroganz; Übergriff; Willkür‹ ← vorgriech.)

Unter den Kulturwörtern vorgriechischer Herkunft, die über griechische Vermittlung tradiert wurden, sind zahlreiche Ausdrücke des Alltagslebens in der griechischen Antike, und einige davon haben als zentrale Konzepte Eingang in die Ideenwelt der Intellektuellen gefunden, so z. B. der Ausdruck psyche, der im Altgriechischen eine ganze Palette von Bedeutungen hatte: (i) ›Atem als Zeichen von Leben‹, (ii) ›Geist, Vitalität‹, (iii) ›Seele oder Geist einer Person‹, (iv) ›die Seele, die den Körper verlassen hat; Geist; Schatten (in der Mythologie ein geflügeltes Wesen)‹, (v) ›Geist, Bewusstsein‹, (vi) ›Streben, Aspiration‹. Psyche ist der zentrale Begriff in Platons philosophischem Diskurs über die Natur der Seele.1

Um das Wissen über den Stellenwert Alteuropas für die zivilisatorische Entwicklung Europas zu festigen, benötigen wir Marker, die den Rahmen unserer Geschichtsbetrachtung abstecken können, d. h. Wörter, die die Kontinuität alteuropäischen Kultur- und Sprachguts über die Bronzezeit bis in die griechische Antike markieren. Es geht bei dieser Wort- und Begriffsselektion um die Absicherung des ältesten Kulturwortschatzes unserer modernen europäischen Sprachen, also um die Identifizierung vorgriechischer Begrifflichkeit und der damit assoziierten Nomenklatur, die das Griechische durchdrungen haben.

Niemand leugnet den langzeitigen Einfluss der Kulturen des Nahen Ostens und Mesopotamiens auf die Griechen, aber nach heutigem Wissensstand muss er neu gewichtet werden. Wir können die alteuropäische Kontinuität als älteres Entwicklungsstadium (bis ins 4. Jahrtausend v. Chr. zurückgehend) identifizieren, während die orientalische Einflussnahme (aus Anatolien und dem Nahen Osten) auf eine spätere Periode (seit dem späten 2. Jahrtausend v. Chr.) verweist. Die Grundpfeiler der griechischen Zivilisation und der symbolischen Identität der Hellenen waren bereits vorhanden, als Einflüsse aus dem Osten nach Griechenland gelangten.

Diese chronologische Schichtung lässt sich anhand eines Wortpaares illustrieren. Das Altgriechische kannte zwei Ausdrücke für Gold. Der eine Ausdruck, chrysos, ist ein Lehnwort aus dem Semitischen und gehört zur jüngeren Schicht der Fremdeinflüsse. Daneben gab es noch einen anderen Ausdruck, agchouros, und dies ist ein Substratwort vorgriechischer Herkunft. Gold wurde bis in die klassische Antike aus Flussläufen gewaschen. Auch der Ausdruck für ›Goldwäscher‹ im Altgriechischen (selaggeus) stammt aus vorgriechischer Zeit. Wenn man weiß, dass mit dem Metallguss zuerst in Südosteuropa begonnen wurde (im 6. Jahrtausend v. Chr.) und erst später im Nahen Osten, und wenn man bedenkt, dass der älteste Goldschatz der Welt aus Europa stammt – goldene Artefakte aus den Gräbern der Nekropole von Varna; (datiert um die Mitte des 5. Jahrtausends v. Chr., also fast 2000 Jahre vor den ältesten Goldfunden Ägyptens) –, dann verwundert die Kontinuität alteuropäischer Ausdrücke im Bereich der Metallverarbeitung bis ins Griechische nicht. Das handwerkliche Geschick der mykenischen Goldschmiede weist auf eine alte Tradition in Südosteuropa.

Als die Einflüsse aus dem Nahen Osten bei den Griechen wirksam wurden, hatte die griechische Mosaikkultur längst Eigenprofil gewonnen. Die Annahme der phönizischen Schrift war kein Neubeginn der Schriftlichkeit, sondern die Modernisierung einer Technologie, die die Griechen bereits besessen hatten (s. Kap. 10). Die Integration nahöstlicher Impulse war ein Zusatzfaktor der Wissensbildung in einer kosmopolitisch orientierten Welt.

Die Spurensuche der vergangenen Jahre hat entscheidend zum Aufbau neuen Wissens über das alteuropäische Kulturerbe beigetragen, und inzwischen ist eine reiche Forschungsliteratur über diesen Themenkreis entstanden. Die neuen Erkenntnisse stützen auch die kulturelle Identitätsfindung der Menschen, die in den alten Kulturlandschaften der Donauzivilisation leben und das alteuropäische Kulturerbe im Spiegel ihrer eigenen Geschichte erkennen. Dazu gehört das Spektrum der althergebrachten Traditionen im ehemaligen Kernland der Donauzivilisation.

Vielleicht sollten wir unser kulturelles Gedächtnis animieren, Elemente des alteuropäischen Sprach- und Kulturerbes, das uns die Griechen vermittelt haben, ganz bewusst zu tradieren. In einer Zeit der Umwälzungen sind wir modernen Europäer verstärkt auf der Suche nach unserer Identität und nach den Ursprüngen unserer westlichen Kultur. Eine Betrachtung der Entstehungsbedingungen der griechischen Zivilisation zeigt uns, wo und wie diese Identität verankert ist.

1Haarmann 2016a: 127 ff.

1.

MYTHENBILDUNG UM DAS ANTIKE GRIECHENLAND:
DIE GRIECHISCHE ZIVILISATION IM SPANNUNGSFELD VON OKZIDENTALISMUS UND ORIENTALISMUS

Die griechische Antike war immer präsent, wenn die Europäer in ihrer Geschichte zurückblickten. Es war immer bekannt, dass das griechische Kulturschaffen ein wesentlicher Impulsgeber für die Entwicklung der römischen Zivilisation gewesen war, und die Europäer waren sich immer bewusst, dass diese beiden Hochkulturen der Antike die Orientierung für unsere Identität als Europäer vorgegeben haben. Das aufstrebende Bildungsbürgertum des 18. Jahrhunderts fing an, nach den Quellen des eigenen Bildungsstandards zu suchen, und die gelehrte Welt machte sich daran, die idealen Errungenschaften des Griechentums näher zu untersuchen. Allerdings blieb die griechische Antike trotz des besonderen intellektuellen Engagements der Europäer mit hellenischer Geschichte und Kultur irgendwie distanziert und entrückt.

Die Entrücktheit im Umgang mit der Antike bereitete den geistigen Nährboden, auf dem die Mythen der Neuzeit keimten. Um sich die Mechanismen der Mythenbildung um das antike Griechenland, die Infrastruktur der verschiedenen Mythen und deren Verquickung miteinander zu vergegenwärtigen, müssen deren Entstehungsbedingungen näher beleuchtet werden.

Der Mythos der Einmaligkeit: Antike Selbstglorifizierung und ihre Renaissance im Zeitalter der deutschen Romantik

Griechenland war im 18. Jahrhundert kein bevorzugtes Reiseland für westliche Aristokraten, und bis weit ins 19. Jahrhundert war das Reisen auf dem Balkan recht beschwerlich. Von einer kurzen Blüte im 11. und 12. Jahrhundert abgesehen, war Athen, die einstige Hochburg griechischen Kulturschaffens, bereits vor der Besetzung durch die Osmanen zur Bedeutungslosigkeit herabgesunken. Die osmanisch-türkische Kolonialverwaltung in der Stadt brachte nie dagewesene Veränderungen mit sich. Die Akropolis wurde von den Türken als Festung ausgebaut, und Griechen hatten keinen Zugang mehr. Der Militärkommandeur residierte in den Propyläen, und das Erechtheion wurde als sein Harem eingerichtet.

»Mit der türkischen Eroberung versank Athen in Vergessenheit, und nur wenige Ausländer bemühten sich, in diese einzudringen. Es kann nicht überraschen, dass Athen weder an der Handelsroute noch auf der Pilgerstrecke in Richtung Osten lag, denn das Reisen nach Griechenland war äußerst riskant geworden. Türkische Armeen führten weiter militärische Operationen im Westen durch, und die Ägäis wurde von Piraten unsicher gemacht.«2

Bis zur Unabhängigkeit Griechenlands im Jahre 1832 war die Region Teil des kolonialen Territoriums des Osmanischen Reichs in Europa, und für die türkische Administration hatten die früheren Kulturstätten der Griechen, von denen die meisten als Ruinenstätten längst verlassen waren, keine Bedeutung. Verglichen mit den beschränkten Reisemöglichkeiten in Richtung Griechenland war es vergleichsweise viel einfacher, nach Italien zu reisen. Dort bot sich dem Reisenden die Möglichkeit, in unmittelbaren Kontakt mit römischen Kulturtraditionen zu treten. Johann Wolfgang von Goethe besuchte sein geliebtes Italien, aber eine Reise nach Griechenland hat er nie unternommen.

Die Rolle der antiken Kulturstätten in Italien stellte sich ganz anders dar, denn das römische Erbe war im kulturellen Gedächtnis der lokalen Bevölkerung immer lebendig geblieben. Die türkisch-verwaltete Kulturlandschaft Griechenlands hatte zur damaligen Zeit keine Highlights vom Format Pompejis zu bieten. Diese im Jahre 79 n. Chr. durch den Vulkanausbruch des Vesuv zerstörte römische Stadt (südlich von Neapel) wurde seit 1748 kontinuierlich ausgegraben und entwickelte sich schon bald zur Reiseattraktion für die aristokratische Elite Europas.

Ein augenfälliger Einblick in die Welt der Antike wurde den Europäern über die Betrachtung der antiken Kunstwerke vermittelt, aber die Begegnung mit der griechischen Kunst entfaltete sich aus der Distanz heraus. Die Sachlage mit Hinblick auf die künstlerische Hinterlassenschaft der griechischen Antike war sehr uneinheitlich. Viele Originalwerke waren zerstört oder verschollen. Doch konnten sich die Europäer das Kunstschaffen der Griechen ersatzweise über die zahlreichen römischen Kopien vergegenwärtigen.

Vor diesem Hintergrund sind die Ausführungen von Johann Joachim Winckelmann (1717–1768) zu verstehen, der eine epochemachende Schrift über die dominante Kunstästhetik mit dem Titel Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst veröffentlichte. Die erste Ausgabe von 1755 hatte eine Auflage von lediglich 50 Exemplaren. Die zweite Auflage, die im folgenden Jahr erschien, machte Winckelmann bekannter.3 Neben anderen Schriften wurde seine Geschichte der Kunst des Alterthums (1764) richtungweisend für den damaligen Zeitgeist einer Orientierung der Kunst an griechischen Idealen.

Winckelmann artikulierte die Prinzipien der Harmonie in der Kunst und folgte damit Gedankengängen, die sein Lehrer an der Universität Halle, Alexander Gottlieb Baumgarten, einige Jahre zuvor bereits in einer auf Latein verfassten Schrift (Aesthetica, 1750) zum Ausdruck gebracht hatte. Baumgarten gab dem Begriff »Ästhetik« eine neue Bedeutung, indem er ihn mit der Polarität von gutem und schlechtem Geschmack assoziierte.4 Vorher wurde Ästhetik wertneutral im Sinn von ›Ansprechen an die Sinne; Empfindsamkeit‹ aufgefasst. Winckelmann erhob Baumgartens Idee vom Vorbildcharakter der klassischgriechischen Ästhetik zur Doktrin für das europäische Kunstschaffen.

Niemand konnte vorhersehen, welch nachhaltigen Eindruck und Einfluss Winckelmann auf die intellektuellen Zeitgenossen nehmen würde. Es gab viele Intellektuelle, die in ihren Neigungen Winkelmanns nostalgischer Schwärmerei folgten, denn sie fühlten sich von ihm direkt angesprochen, wie Goethe, der meinte: »Bald erklärt er mir mit philosophischer Deutlichkeit den verschiedenen Geschmack der Nationen […] begeistert wie sein Schutzgott, der vatikanische Apoll.«5

»Winckelmanns Werk konnte nur von einer Persönlichkeit geleistet werden, die einerseits Geist und Wollen ihrer Zeit erspürte, andererseits über die notwendige Originalität und den persönlichen Enthusiasmus verfügte, um dieser Zeit das unbewußt Erstrebte als klares Ziel vor Augen zu führen, […].«6

Winckelmann stand nicht allein im Strom des von ihm geprägten intellektuellen Zeitgeistes. Seine Zeitgenossen schwenkten ein und verstärkten den Trend. Unter ihnen waren Wilhelm von Humboldt (1807), Friedrich August Wolf (1807) oder Friedrich Jacobs (1852). Der französische Aufklärer Denis Diderot bringt seine Wertschätzung für Winckelmann, den er mit Rousseau vergleicht, im Folgenden zum Ausdruck. Von beiden spricht er als fanatischen Enthusiasten: »J’aime les fanatiques« (ich liebe Fanatiker)7. Der Trend setzte sich fort mit Lessing, Hölderlin, Heine, Nietzsche, George, Spengler und vielen anderen.

Es gab allerdings von Beginn an auch kritische Stimmen. Johann Gottfried Herder mahnt an, dass Winckelmanns Enthusiasmus »verführerisch« sei und Christian Gottlob Heyne zählt Winckelmann als »enthusiastischen Schriftsteller« zu den »Feinden der Wahrheit«. Herders Hinweis auf das verführerische Element ist nicht abwegig, denn der überschwängliche Enthusiasmus kommt in zahlreichen Passagen von Winckelmanns Schrift und in seinen Briefen deutlich zum Ausdruck, wo dieser u. a. sagt: »Ich schreibe von Dingen, die zur Erleuchtung unserer Nation und zum guten Geschmack beitragen, und nicht Sachen, die bloß Gelehrsamkeit betreffen.«8 Ernst Hans Gombrich stellt mit Bezug auf Winckelmanns Stil fest: »[…] das Gemisch von Schwärmerei und Pedanterie ist nicht leicht verdaulich.«9

Die Dynamik von Winckelmanns Einflussnahme ist kritisch als »Tyrannei Griechenlands über Deutschland«10 gewertet worden. Dieser Zeitgeist formierte sich im deutschen Kulturmilieu und war damit ein typisch deutsches Phänomen. Dies kann man unter anderem daran ermessen, dass es viele Jahrzehnte dauerte, bis Winckelmanns Schriften in andere Sprachen übersetzt wurden. Die englische Übersetzung seiner Geschichte der Kunst des Alterthums von 1764 erschien erst 1849 unter dem Titel History of ancient art.

Die Kenntnis der kulturellen und politischen Geschichte der griechischen Antike stand in direkter Wechselbeziehung zur Rezeption griechischer literarischer Quellen. Ähnlich wie im Fall griechischer Kunst galt auch für die Domäne griechischer Literatur, dass literarische Quellen zumeist nur anhand römischer Abschriften und Kopien studiert werden konnten, denn die griechischen Originale waren größtenteils verloren oder verschollen und warteten auf ihre Wiederentdeckung. Die Inhalte der griechischen Literatur der Antike waren wie gesagt häufig tradiert über römische Schriftsteller und Interpreten, und von vielen griechischen Schriften, wie etwa von den vorsokratischen Philosophen, waren nur Fragmente erhalten. Diese Fragmente hat man erst Anfang des 20. Jahrhunderts kompiliert und herausgegeben.11

Typisch für die griechischen Schriftsteller der klassischen Periode war deren Stolz auf die Errungenschaften ihrer Zivilisation. Ganz allgemein hielten sich die Literaten nicht zurück und ergingen sich in Selbstglorifizierung. Die mit der griechischen Zivilisation sympathisierenden Vertreter der Aufklärung und frühen deutschen Romantik waren so geblendet vom Glorienschein und folgten liebend gern den Verherrlichungen griechischer Autoren. Wer hätte auch zur damaligen Zeit die literarischen Quellen anders als wörtlich lesen können. So etwas wie Textkritik gab es nicht.

Heinrich Schliemann las die Epen Homers wörtlich, und auf der Basis verstreuter Hinweise im Text der Ilias gelang Schliemann sogar die Lokalisierung der berühmten Stadt Troja (des griechischen Ilion), die er ab 1871 ausgrub. Schliemann wurde von vielen seiner Zeitgenossen als bloßer »Spatengräber« gering geschätzt. Und doch gelang ihm ein Fund, der Aufsehen erregte. Denn der Zufall ließ Schliemann ein Artefakt finden,

»[…] das für die klassische Archäologie von höchster Bedeutung war, die ‹Heliosmetope› von Troja, deren Photographie im Berliner Museum ›allgemeines Entzücken‹ erregte und Ernst Curtius veranlaßte, ihm in der Hoffnung auf weitere ähnliche Funde die Unterstützung der preußischen Regierung für künftige Grabungen in Aussicht zu stellen; […].«12

In dieser Zeit fehlte noch eine systematische Sammlung griechischer Altertümer in Griechenland selbst, und archäologische Ausgrabungen im Land wurden damals nicht unternommen. Über die Populationen, die vor den Griechen Südosteuropa bewohnten, war praktisch nichts Genaues bekannt, und Anspielungen, die man dazu in den Quellen fand, waren mythisch verklärt.

Ohne nähere, objektivierende Kenntnis vorgriechischer Kulturstadien konnten die Zeitgenossen der Aufklärung und der deutschen Romantik zu keiner definitiven Bewertung des vorgriechischen Kulturerbes gelangen. Zumal waren dieselben Hellenophilen für die Entstehung und die Verbreitung eines Zeitgeistes verantwortlich, der die Errungenschaften der griechischen Antike als das Maß aller Dinge, als absoluten Wertmaßstab hochstilisierte. Was man über die Frühzeit der Griechen wusste, stammte aus der epischen Literatur, insbesondere aus der Ilias und Odyssee. Eine chronologische Einordnung des Kriegs um Troja war damals – Jahrzehnte vor Schliemanns Ausgrabungen – nicht möglich.

Von der mykenisch-griechischen Kultur wussten weder die Aufklärer noch die Romantiker etwas. Die ersten Ausgrabungen an der Ruinenstätte von Mykene (ungefähr 90 km südwestlich von Athen auf der Peloponnesischen Halbinsel gelegen) wurden im Jahre 1841 von dem griechischen Archäologen Kyriakos Pittakis unternommen, aber erst Schliemann führte seit 1874 systematische Grabungen durch. Es sollte auch noch bis weit ins 20. Jahrhundert dauern, bis geklärt war, dass die Mykener Griechen waren. Die Sprache der Mykener ist erst aufgrund der Entzifferung der Texte in Linear B durch Michael Ventris und Alice Kober in den 1950er-Jahren eindeutig als griechisch identifiziert worden.13

Heute wissen wir, dass die Mykener ihren Handelspartnern in der Ägäis, den Minoern auf Kreta, vieles in ihrer Kultur und Religion verdankten. Von der minoischen Zivilisation wusste man im 18. und 19. Jahrhundert ebenfalls noch gar nichts, und erst die Ausgrabungen von Knossos zwischen 1900 und 1903 unter der Leitung von Sir Arthur Evans machten die altkretischen Kulturstätten und Denkmäler der Fachwelt und einer breiteren Öffentlichkeit bekannt. Ähnliches gilt für die vorgriechische Kultur der Kykladen, deren Anfänge auf die frühe Bronzezeit (um 3300 v. Chr.) zurückgehen. Erste Ausgrabungen auf den Inseln der Kykladen wurden in den 1880er-Jahren durchgeführt, aber erst in den Jahren 1898–99 begann Christos Tsountas systematisch zu graben. Von ihm stammt die Benennung dieser altägäischen Regionalkultur als »Kykladische Zivilisation«.

Allerdings lebten die Vertreter der gebildeten Schicht, die sich im 18. und 19. Jahrhundert für die griechische Antike begeisterten, die Philhellenen, mit dem Bewusstsein, dass die Griechen sozusagen bei Null angefangen hatten, um ihre Zivilisation der klassischen Ära aufzubauen, und unter dieser Annahme konnte die Rasanz dieser frühen Entwicklung kaum anders als atemberaubend empfunden werden. Beseelt vom Eindruck der prähistorischen Dunkelheit, die angeblich vom lichtvollen Aufstieg des Griechentums abgelöst wurde, schufen die deutschen Romantiker den »Griechenmythos«.14 Noch im 20. Jahrhundert findet die während der Goethezeit aufgekommene Gräkomanie ihren sublimen Ausdruck, wie etwa in dem Werk Die Götter Griechenlands (1929) von Walter F. Otto:

»[…] das Verhältnis zur griechischen Antike ist das einer ins Leidenschaftliche übersteigerten Sehnsucht nach dem Idealen, Einheitlichen, Einzigartigen und Vollkommenen, die Empfindung einer weiten Ferne und der Wunsch nach Revivifikation des Antiken, wie es […] August Wilhelm Schlegel, Friedrich Hölderlin und Wilhelm von Humboldt geprägt hatten.«15

Der Griechenmythos erhielt seine ideologische Untermauerung durch das Wirken Wilhelm von Humboldts, der sich nicht nur mit Sprache und Philosophie auskannte, sondern der auch praktischen Einfluss ausübte. Gelegenheit dazu boten ihm weitreichende Vollmachten, die er vom preußischen König erhielt. Dieser ernannte ihn 1809 zum Leiter des Erziehungswesens (was dem Aufgabenbereich eines modernen Kultusministers entsprach). Humboldt reformierte das Ausbildungssystem im Königreich Preußen und orientierte sich dabei an Idealen, die ihren Ursprung im klassischen Griechenland fanden. »Wenn jeder andre Teil der Geschichte uns mit menschlicher Klugheit und menschlicher Erfahrung bereichert, so schöpfen wir aus der Betrachtung der Griechen etwas mehr als Irdisches, ja beinah Göttliches« (Humboldt in Geschichte des Verfalls und Unterganges der griechischen Freistaaten von 180716).

Nach Humboldts Auffassung soll die Erziehung nicht der Hervorhebung der Individualität des jungen Menschen dienen, wohl aber dessen Einbindung als Glied der Gesellschaft im Staat fördern. Dies war die Idee vom Bürger als Staatsdiener. Damit stand Humboldt in der Tradition von Platon, der bereits mehr als zwei Jahrtausende vorher in seinen Dialogen Politeia (›Staat‹) und Nomoi (›Gesetze‹) das Postulat vom Gemeinwohl aufstellt, wonach das Individuum seine eigenen Interessen denen der Gemeinschaft unterordnet. Der Weg zum Glück führt über das Engagement des Menschen für die Pflege des Gemeinwohls, nämlich im Dienst für den Staat, in dem er als Bürger lebt. Je engagierter sich der individuelle Bürger um das Gemeinwohl kümmert, desto günstiger sind die Bedingungen für die Entfaltung seiner individuellen Bedürfnisse.

Humboldt stellte auch eine ganze Reihe anderer Eigenschaften fest, die nach seiner Auffassung auf eine geistige Verwandtschaft zwischen dem Griechentum und den Deutschen wiesen (herausgearbeitet in seiner Schrift Latium und Hellas, oder Betrachtungen über das classische Altertum von 1806). Diese Seelenverwandtschaft war eine eigentliche Wahlverwandtschaft zwischen zwei Kulturnationen, und wenn Humboldt vom hohen Entwicklungsstand der antiken Zivilisation sprach, bezog er sich immer und ausschließlich auf das Griechentum (z. B. in seiner Schrift Über den Charakter der Griechen, die idealische und historische Ansicht desselben von 1807).17 Die Idealisierung der seelenverwandten Hellenen durch die Europäer brachte allerlei nostalgische Stilblüten hervor. Vor allem deutsche Denker haben es seit dem 18. Jahrhundert versäumt, ihre Idealvorstellungen an der Realität zu messen.

»Sie haben sich dem hellenistischen Ideal mit solcher Hingabe verschrieben, dass sie sich weigerten, ihr Ideal mit praktischer Erfahrung zu trüben. Winckelmann, Schiller, Hölderlin, Hegel und Nietzsche haben Griechenland nie besucht, […].«18

Das Stereotyp von der griechisch-deutschen Seelenverwandtschaft produzierte die gängigen Schulweisheiten, wonach die Zivilisation in Europa von den Griechen eingeführt worden wäre, mitsamt den wichtigen Institutionen, die wir tradiert haben und mit denen wir weiterhin leben. Entsprechend dem Kanon der westlichen Kulturgeschichte »[…] sind die Griechen die Ahnen des Westens, das Volk, das Demokratie, Freiheit des Denkens, Wissenschaft, Philosophie, Drama und naturalistische Kunst erfunden hat, und deren literarische Werke herausragen als die Grundlage der westlichen Literatur; […]«19.

Darstellungen über den Aufstieg der westlichen Zivilisation revitalisieren den Griechenmythos immer aufs Neue, man erzählt sich bis heute die »Große Story« (Grand Narrative).20 Immer neue Publikationen stimmen in den Jubelchor von der Einmaligkeit ein, so Charlotte Higgins mit ihrer Studie It’s all Greek to me (2010) oder Karl-Wilhelm Weeber mit seinem programmatischen Werktitel Hellas sei Dank! (2012). Beide Autoren bleiben bei ihrer Betrachtung der Kulturgeschichte auf halbem Weg stehen. Zu Higgins kann man anmerken, dass nicht alles, was griechisch aussieht, auch echt griechisch ist, und wenn Weeber in seiner historischen Abrechnung das Fazit zieht, was Europa alles den Griechen schuldet, dann sollte dieser Autor so ehrlich sein und auch die Wegbereiter für die griechische Kulturleistung einbeziehen.

Das Image des antiken Griechenlands als Wiege der westlichen Zivilisation ist zwar von den Vertretern der deutschen Aufklärung im 18. Jahrhundert und der Romantik im 19. Jahrhundert geformt worden, seine Popularität ist aber in ganz Europa spürbar. Ein Beispiel für die ikonenhafte Verherrlichung der antiken Zivilisation mit internationaler Tragweite ist ein von der europäischen Kulturstiftung (Fondation Européenne de la Culture) herausgegebener Bildband über die Geschichte Europas und des europäischen Genius. Die Originalfassung war in Französisch, gedruckt im Jahre 1959 bei Éditions du Pont Royal in Paris. Der Band erschien gleichzeitig auch in anderen Sprachen, und zwar in Englisch, Deutsch, Spanisch, Italienisch und Schwedisch. Hier findet man die ganze Palette der Klischees vom Licht aus dem Osten, von der Erleuchtung der Griechen und von ihrer Genialität im Kulturschaffen.

Kap. 2