Prometheus

 

Bedecke deinen Himmel, Zeus,

Mit Wolkendunst!

Und übe, dem Knaben gleich,

Der Disteln köpft,

An Eichen dich und Bergeshöhn!

Müsst mir meine Erde

Doch lassen stehn,

Und meine Hütte,

Die du nicht gebaut,

Und meinen Herd,

Um dessen Glut

Du mich beneidest.

Ich kenne nichts Ärmeres

Unter der Sonn als euch Götter.

Ihr nähret kümmerlich

Von Opfersteuern

Und Gebetshauch

Eure Majestät

Und darbtet, wären

Nicht Kinder und Bettler

Hoffnungsvolle Toren.

Da ich ein Kind war,

Nicht wusste, wo aus, wo ein,

Kehrt ich mein verirrtes Aug

Zur Sonne, als wenn drüber wär

Ein Ohr, zu hören meine Klage,

Ein Herz wie meins,

Sich des Bedrängten zu erbarmen.

Wer half mir

Wider der Titanen Übermut?

Wer rettete vom Tode mich,

Von Sklaverei?

Hast du nicht alles selbst vollendet,

Heilig glühend Herz?

Und glühtest, jung und gut,

Betrogen, Rettungsdank

Dem Schlafenden da droben?

Ich dich ehren? Wofür?

Hast du die Schmerzen gelindert

Je des Beladenen?

Hast du die Tränen gestillet

Je des Geängsteten?

Hat nicht mich zum Manne geschmiedet

Die allmächtige Zeit

Und das ewige Schicksal,

Meine Herrn und deine?

Wähntest du etwa,

Ich sollte das Leben hassen,

In Wüsten fliehen,

Weil nicht alle

Blütenträume reiften?

Hier sitz ich, forme Menschen

Nach meinem Bilde,

Ein Geschlecht, das mir gleich sei,

Zu leiden, weinen,

Zu genießen und zu freuen sich,

Und dein nicht zu achten,

Wie ich.

 

Prometheus, Johann Wolfgang von Goethe

Aufzeichnungen des Hermes

I.

»Wir dürfen ihn nicht einfach seinem Schicksal überlassen.« Ich blickte zu Apoll und dann zu meinem Vater. Mein Bruder saß auf den Stufen des Hauses in Monterey. Hierher hatten wir uns zurückgezogen, nachdem der Kampf unentschieden ausgegangen war. Bis zuletzt hatten wir gehofft, die Titanen würden sich uns anschließen. Aber Iapetos war nicht in Mytikas aufgetaucht. Tränen liefen Hera über die Wangen. Sie erwiderte meinen Blick ebenso wenig wie Apoll. Aber immerhin hatte Agrios auch nicht gesiegt. Er hatte das Zepter, während der Ehrenstab spurlos verschwunden war, als hätte er sich in Luft aufgelöst. Es war ein Desaster. Ohne die Insignien war Zeus machtlos.

»Prometheus hat es so gewollt«, sagte mein Vater leise. »Es war sein sehnlichster Wunsch.« Er sah immer noch ziemlich zerschunden vom Kampf aus und bewegte sich nur sehr vorsichtig. »Und ich habe es versprochen. Wenn ich dieses Versprechen breche, was ist mein Wort dann künftig noch wert?« Er drehte sich um und ging auf Hera zu, die in der Tür stand. Artemis hatte einen Arm um sie gelegt und stützte sie.

»Aber er wird sterben, wenn du nicht erlaubst, dass Apoll ihn heilt!«, rief ich ihm hinterher.

»Das ist nicht mehr unsere Sache«, fuhr er herum und stöhnte vor Schmerz auf. »Die Menschen werden sich jetzt um ihn kümmern müssen, und ich verbiete, dass ihr euch einmischt.«

Wenn er nicht so ein sturer Esel wäre, hätte ich fast Mitleid mit ihm gehabt. Die Sache machte ihm schwer zu schaffen. »Apoll?« Fragend sah ich meinen Bruder an. Sein Hemd war blutverschmiert und sein schwarzes Haar stand wirr ab. Er war der tapferste Kämpfer von uns gewesen und hatte es außerdem noch geschafft, Jess und Prometheus in Sicherheit zu bringen.

»Sein Schicksal liegt nicht mehr in unserer Hand«, sagte Apoll leise und strich über Kalchas’ Kopf, der neben ihm aufgetaucht war. Die Wölfin Kassandra schmiegte ihre Schnauze an Artemis’ Bein.

»Ich kann nicht glauben, dass ihr ihn einfach aufgebt«, fluchte ich. »Kein Wunder, dass er nicht mehr Teil unserer Welt sein wollte.«

Apolls Nebel verschwand und durch meine Jeans hindurch spürte ich den feuchten Sand unter meinen Knien. Gänsehaut überzog meinen Körper. Mir war eiskalt. Der Lärm der Kämpfenden war verschwunden, ebenso wie deren Gebrüll. Keine Götter mehr, keine Zyklopen oder andere Ungeheuer. Cayden und ich waren allein. Ganz allein. Hinter mir schlugen die Wellen sanft an den Strand.

»Cayden?«, schluchzte ich. »Cayden. Bitte sag etwas. Irgendwas.« Wo konnte ich ihn anfassen, ohne ihm wehzutun? Überall war Blut. An meinen Händen, meinen Armen, in seinem Gesicht. Seine Lider flatterten, als wollte er sie öffnen. Aber er schaffte es nicht. Das hatte ich nicht gewollt. »Hörst du mich?«

Ich hockte neben ihm in dem klammen Sand und drückte mit beiden Händen fest auf die Wunden an seiner Schulter und der Seite. Mehr konnte ich nicht tun. Wenn ich loslief, um Hilfe zu holen, würde er verbluten. Blieb ich bei ihm, starb er trotzdem, wenn auch viel langsamer. Die Wunde an der Seite musste tief sein. Das Blut pulsierte warm und stetig zwischen meinen Fingern hervor. Er würde sterben. Und es war meine Schuld. Meinetwegen war er sterblich und damit verletzlich geworden. Wieso hatte keiner der Götter es für nötig befunden, mir zu sagen, was wirklich vor sich ging? Weshalb hatten sie mir nichts von Caydens völlig absurdem Wunsch erzählt? Ich konnte nicht fassen, was da gerade alles geschehen war.

Aber jetzt saß ich hier mit ihm und er starb mir buchstäblich unter den Händen weg. Am Horizont brauten sich dunkelgraue Wolkenberge zusammen. Das Meer nahm eine fast schwarze Färbung an. Das Seehundbellen, an das ich seit meiner Kindheit gewöhnt war, klang heute bedrohlich. Wenn ein Unwetter losbrach und er bis dahin nicht im Trockenen war, würde er sterben. Schon jetzt fühlte Caydens Haut sich eiskalt an und er zitterte. Diese elenden Götter! Warum hatten sie mir das angetan? Warum hatte er mir das angetan? Ich sollte ihn hassen. Aber ich brachte es nicht übers Herz. Nicht jetzt. Cayden wirkte so menschlich und verwundbar wie noch nie. Er stöhnte und bäumte sich auf. Wenn er überlebte, wollte ich eine Erklärung. Die war er mir schuldig. Warum hatte er unbedingt sterblich sein wollen? Warum hatte er jahrhundertelang Mädchen benutzt, um sich diesen Wunsch zu erfüllen? Mädchen, die sich in ihn verliebt hatten, die gelitten hatten, denen er das Herz gebrochen hatte. Wie mir. Waren sie ihm egal gewesen? War ich ihm so egal gewesen? Offensichtlich. Er hatte zugelassen, dass Hephaistos mich tätowierte, obwohl die giftige Tinte meinen Tod hätte bedeuten können. Viel egaler konnte ich ihm wohl kaum sein. Das Ironische daran war, dass erst das Tattoo mich für Agrios so richtig interessant gemacht hatte. Ich konnte damit nicht nur Schattengötter erkennen, sondern mich und andere auch unter einer Art Schirm verbergen. Zeus musste doch gewusst haben, dass ich diese Fähigkeit entwickeln würde. Nur mithilfe meines Schirms hatten Agrios und seine Kumpane nach Mytikas zurückkehren können. Aber natürlich hatten die Götter mir diese Kleinigkeit verschwiegen. Zeus war es nur wichtig gewesen, dass ich die Schattengötter erkannte, die sich in Monterey herumtrieben. Leider hatten meine Fähigkeiten sich rasanter entwickelt als gedacht. Und genau das hatte Agrios sich zunutze gemacht. Wenn die Götter ehrlich zu mir gewesen wären, läge Cayden jetzt nicht sterbend an diesem Strand. Sie allein waren schuld an dem Desaster. Wenn Agrios Zeus stürzte, geschah es ihm nur recht. Die Götter hatten mit mir gespielt. Das tat am meisten weh. In den vergangenen Wochen hatte ich mir tatsächlich eingebildet, Apoll und Athene wären meine Freunde. Wie naiv ich gewesen war! Götter brauchten keine Freunde unter den Menschen.

Ich strich Cayden das blutverschmierte Haar aus der Stirn. Nach all dem, was im Camp geschehen war, hätte ich eigentlich wissen müssen, dass ich ihm nicht trauen konnte. Er hatte schon einmal zu leichtfertig mit meinem Herzen gespielt. Seine Lippen wurden blau und dann fast farblos. Ich konnte nichts für ihn tun, außer bei ihm zu bleiben, bis es vorbei war. Um nicht aufzuschluchzen, biss ich die Zähne zusammen. Niemand verdiente es, allein zu sterben. Nicht mal er.

Cayden schlug die Augen auf. Ein Schatten lag über dem Grün. »Jess«, flüsterte er. Ich beugte mich näher zu ihm. »Das habe ich nicht gewollt«, kam es mühsam über seine Lippen. »Das musst du mir glauben. Bitte«, flehte er mit letzter Kraft. »Ich …« Seine Augen fielen wieder zu und sein Brustkorb hob und senkte sich hektisch. Das Blut pulsierte stärker durch meine Finger. »Schhh. Beruhige dich«, flehte ich. Das konnte er mir später noch erklären. Wenn es ein Später gab. »Du musst still liegen. Bestimmt kommt gleich Hilfe.«

»Aber ich will, dass du weißt …«, presste er hervor und verstummte dann endgültig.

»Alles wird gut«, behauptete ich und wusste doch, dass es eine Lüge war. Cayden lag nun völlig reglos da. Ich konnte nicht mal erkennen, ob er noch atmete. Warum hatte ich mein Handy nicht eingesteckt, als Mateo mich geholt hatte? Dann hätte ich jetzt den Notruf wählen können. Unser Haus war von hier aus gut zu sehen, aber es war, als läge ein riesiges Meer zwischen uns und meinem Zuhause auf der anderen Seite der Straße. Ich bräuchte maximal fünf Minuten, um hinzulaufen und einen Arzt zu rufen. Vielleicht war sogar Sean da. Aber selbst wenn ich mich noch so sehr beeilte – bis ich wieder zurück war, wäre Cayden längst tot. Ich konnte ihn nicht verlassen. Schweiß trat mir auf die Stirn. Er durfte nicht sterben! Nicht hier. Nicht so. Warum hatte ich nicht rechtzeitig den Unsichtbarkeitsschleier über uns gezogen? Warum hatte ich nicht die Kette benutzt? Die Antwort war einfach. Ich war zu durcheinander gewesen. Die Götter hatten miteinander gekämpft und ich hatte mittendrin gehockt. Apoll hätte Cayden heilen müssen. Was hatte er sich dabei gedacht, ihn verletzt hier am Strand abzuladen? Am Straßenrand tauchte eine Gestalt auf. Endlich. Meine Erleichterung war grenzenlos. Wer auch immer das war, er musste uns helfen.

»Hilfe!«, brüllte ich. »Kommen Sie her!« Ich fuchtelte mit einem Arm in der Luft, um auf uns aufmerksam zu machen.

Die Gestalt rannte los, nein, sie flog. Die Götter ließen uns doch nicht im Stich! Es war zwar nicht Apoll, aber immer noch besser irgendein Gott als gar keiner.

»Wie geht es ihm?« Ein Junge, kaum älter als ich, kniete sich neben mich in den Sand, schob meine Hand zur Seite, wurde blass und würgte. »Ich kann kein Blut sehen«, presste er hervor. »Tu doch irgendwas.«

War das sein Ernst? Er war doch der Gott, und es war kaum zu übersehen, wie es um Cayden stand. Meine Stimme zitterte vor Wut, als ich antwortete: »Wo ist Apoll? Er braucht einen Heiler.«

Der Junge blickte mich zerknirscht an. »Niemand von uns darf ihm mehr helfen, jetzt, wo er sterblich ist. Das war eine der Bedingungen der Wette. Kein Kontakt mehr zur Götterwelt. Pro hat es selbst so gewollt.«

Pro? »Warum bist du dann hier? Willst du ihm beim Sterben zusehen?«

Der Junge brummte etwas Unverständliches, drängelte mich zur Seite und hob Cayden hoch, obwohl der dadurch noch blasser wurde. Der Typ allerdings auch.

Cayden stöhnte auf und ich presste umständlich die Hände weiter auf die Wunden. »Was soll das?«, schrie ich. »Du bringst ihn noch um.«

»Das hat er mit seinem Wunsch ja wohl schon selbst erledigt«, fuhr er mich an. »Ich kenne mich mit Heilkunst zwar nicht aus, aber er muss ins Warme.«

Da konnte ich nicht widersprechen. »Da vorne ist unser Haus, und der Freund meiner Mom ist Arzt«, erklärte ich. »Vielleicht kann er etwas für ihn tun. Sonst rufe ich den Krankenwagen.«

»Du musst ihn loslassen«, befahl der Junge und hob im selben Moment ab.

Ich rannte hinterher. »Warum hilfst du uns, wenn Zeus es verboten hat?«, keuchte ich.

»Weil Vater es spätestens morgen bereut, ihm nicht geholfen zu haben. Aber dann könnte es zu spät sein. Zeus denkt manchmal einfach nicht von Alpha bis Omega.« Also noch ein Sohn des Zeus. Hoffentlich stand der auf seiner Seite. Keine Schatten weit und breit. Immerhin.

Wir hatten unser Haus erreicht und ich donnerte mit der Faust gegen die Tür.

»Geht’s noch lauter?« Phoebe stand wütend im Eingang. Dann verzog sich ihr Mund zu einem O, und sie presste sich an die Wand, damit der Junge Cayden hineintragen konnte.

»Ist Sean da?«, fragte ich, aber Phoebe war längst losgerannt und schrie den Namen von Moms Freund so laut, dass es in ganz Monterey zu hören war.

Ich ging voraus in mein Zimmer. »Leg ihn aufs Bett«, wies ich ihn an und traute mich nicht, Caydens Puls zu fühlen. Bewegte seine Brust sich überhaupt noch?

Sean kam mit einer braunen Arzttasche in der Hand herein. »Was ist passiert?«, fragte er, während er das blutgetränkte Hemd aufschnitt und routiniert die Wunden an Schulter und Seite begutachtete. Die Haut um die Wunde war ganz zerfetzt. Mein Helfer trat ans Fenster und würgte leise. Immerhin verschwand er nicht. Ich ertappte mich bei dem Wunsch, Caydens Hand halten zu wollen, als könnte ich ihn damit zwingen, zu bleiben. Er hatte dasselbe für mich getan. Damals, auf unserer Fahrt ins Camp. Ohne ihn wären Robyn und ich tot. Ich war ihm etwas schuldig und diese Schuld würde ich jetzt begleichen. Was danach kam … Darüber würde ich nachdenken, wenn es so weit war.

»Ich habe ihn am Strand gefunden«, log ich. »Er war verletzt. Keine Ahnung. Ich habe nur das ganze Blut gesehen.«

Sean beugte sich tiefer über Cayden. »Vermutlich ist eine Arterie verletzt, sonst würde es nicht so stark bluten.« Er untersuchte die Wunde an der Schulter.

»Wird er sterben?« Meine Stimme zitterte so stark wie meine Hände. Überall war Blut. Mein Herz schlug vor Angst so schnell, dass ich befürchtete, es würde mir aus der Brust springen.

»Nicht, wenn ich es verhindern kann«, sagte Sean und drehte sich zu mir um. »Er ist ein Freund von dir, oder? Er hat dich neulich besucht.«

Ich nickte. »Du musst ihn retten«, flehte ich. Cayden war kein Freund. Nie gewesen.

»Ruf den Rettungsdienst!«, forderte er mich auf. »Der Junge muss operiert werden. Die Wunde ist zu tief. So kann ich nichts für ihn tun. Sie sollen sich beeilen.« Das klang schrecklich, aber ich konnte in Seans Blick nicht ablesen, welche Überlebenschance er Cayden gab.

Die Sanitäter brauchten nur ein paar Minuten, bis sie vor unserer Tür standen und mit der Sirene des Krankenwagens die Nachbarn auf den Plan riefen. Sean hatte Cayden, der mittlerweile keinen Mucks mehr von sich gab, die ganze Zeit verarztet. Ich hockte auf einem Stuhl und wippte vor und zurück. Meine Augen brannten vor Angst und Müdigkeit.

»Das wird schon«, tröstete Sean mich, aber seine Stimme klang belegt, als glaubte er selbst nicht, was er da sagte.

Benommen registrierte ich, wie die Sanitäter Cayden auf eine Trage hievten, und folgte ihnen mit weichen Knien zum Rettungswagen. Wie viele Angehörige hatte Sean schon mit dieser Floskel getröstet?

»Kann ich mitfahren?«

»Leider nicht«, sagte Sean. »Es ist nicht genug Platz. Vielleicht müssen wir ihn wiederbeleben. Das ist kein schöner Anblick.«

Bei der Vorstellung wurde mir schwindelig und ich musste mich an der Autotür festhalten. Er wollte mich nicht dabeihaben, falls Cayden auf der Fahrt starb. Das sagte er zwar nicht, aber ich wusste, dass er es meinte.

Jemand packte mich an den Schultern und zog mich zurück. »Er wird es schaffen. Er ist ziemlich zäh.«

Ich nickte und lauschte der Sirene, die sich schnell entfernte. Wenn ich nur etwas tun könnte. Fröstelnd verschränkte ich die Arme vor der Brust.

»Wer bist du eigentlich?« Ich wandte mich zu dem Jungen um. Obwohl der Gott, der sich Zeus’ Befehl widersetzt hatte, nicht von Schatten umgeben war, konnte er trotzdem ein Anhänger von Agrios sein.

»Hermes«, antwortete er. »Du weißt schon, der Typ mit den Flügeln an den Füßen. Allzeit bereit, wichtige und unwichtige Botschaften zu überbringen.«

»Du meinst Flügel an den Schuhen«, berichtigte ich ihn. Ich hätte mir eigentlich denken können, wer er war, wenn ich nur richtig hingeschaut hätte.

»Jetzt werd nicht kleinlich. Für mich fühlt es sich an, als wären sie an mir festgewachsen. Ständig werde ich irgendwohin gescheucht.«

Ich betrachtete die flatternden Flügel an seinen Schuhen, dann wanderte mein Blick zu seinen blonden, lockigen Haaren und den gleichmäßigen Gesichtszügen. Er hatte Sommersprossen auf der Nase und zwinkerte mir zu, als ich meine Musterung beendete. Ich hatte mir den Götterboten viel älter und vor allem gesetzter vorgestellt. Mein Blick wanderte zurück zur Straße. Der Krankenwagen war hinter der Biegung verschwunden.

»Du hast dich gut geschlagen«, sagte Hermes. »Viel besser als die Girlies vor dir. Pro hatte bisher einen ausnehmend schlechten Geschmack, wenn du mich fragst. Oder Athene«, setzte er hinzu.

Sollte das ein Kompliment sein? Ich weigerte mich, jetzt über diese Wette nachzudenken. Allein der Gedanke daran tat weh. »Kannst du Apoll nicht doch bitten, nach ihm zu sehen?«, presste ich hervor.

»Sorry. Aber das liegt nicht in meiner Macht. Ich muss dann auch los«, verabschiedete sich Hermes. »Mir die Standpauke von meinem Vater abholen.«

»Danke«, verabschiedete ich mich resigniert. »Ohne dich hätte ich es nicht geschafft.«

Hermes lächelte und fuhr seine Flügel aus. »Doch, das hättest du«, versicherte er mir. »Irgendetwas wäre dir schon eingefallen. Du bist ziemlich tough für einen Menschen. Und ehrlich gesagt, das musst du auch sein. Eure Zukunft sieht nicht gerade rosig aus. Pass auf dich auf.«

Welch aufmunternde Worte. Da schaute ich gleich viel zuversichtlicher in die Welt. Dieser Tag ging eindeutig über meine Kräfte: Erst hatte Agrios gedroht, meine Familie zu töten, und mich mehr oder weniger entführt, damit ich ihn in den Olymp brachte. Dann hatte ich erfahren, dass Zeus und Cayden mich für ihre Zwecke benutzt hatten, ein Zyklop hatte mich fast erschlagen, und nun stand ich hier, die Hände voll mit Caydens Blut, und wusste nicht, wie es weitergehen sollte. Ob er die nächsten Stunden überleben würde?

»Was ist passiert, nachdem Apoll uns fortgebracht hat?« Ich drehte mich um, aber der Götterbote war verschwunden. Hätte Hermes nicht noch einen Augenblick länger bleiben können? Unzählige Fragen wirbelten durch meinen Kopf. War Zeus verletzt? Hatten die Götter Agrios besiegt oder er sie? Würden sie nach Monterey zurückkommen oder hatten sie der Welt der Sterblichen endgültig den Rücken gekehrt? Was hatte Cayden sich bei dieser Wette gedacht? Und wie fühlte ein Leben sich an nach Tausenden Jahren Unsterblichkeit? Wenn er Pech hatte, würde er es nicht herausfinden.

 

Als ich in mein Zimmer kam, zog Mom gerade das blutige Bettzeug ab. »Gib es mir«, sagte ich. »Ich stecke es in die Waschmaschine.«

»Du solltest duschen und dich umziehen«, erwiderte sie. »So kannst du nicht ins Krankenhaus fahren, und sicher willst du doch wissen, wie es ihm geht.«

Nicht nur meine Hände waren voller Blut. Es war überall. Selbst an meinen Haarspitzen. Unter der Dusche schrubbte ich mich so lange, bis keine Spur mehr davon zu sehen war. Würde Sean anrufen, wenn Cayden starb? Bei dem Gedanken wurde mir trotz des heißen Wassers eiskalt. Am liebsten hätte ich mich hingehockt und wäre den Rest des Tages unter dem Wasserstrahl sitzen geblieben. Warum hatte er unbedingt sterblich sein wollen? Wusste er nicht, was das bedeutete und wie verwundbar man wurde? Wieso hatte er die Menschen überhaupt sterblich erschaffen? Dieser Dummkopf! Wahrscheinlich hatte er sich gedacht, an jeder neuen Generation noch ein bisschen herumfeilen und sie so noch besser machen zu können. Da hatte er auf ganzer Linie versagt. Wir waren nicht perfekt und würden es auch nie sein.

Wie hatte er sich ein sterbliches Leben überhaupt vorgestellt? Würden die Götter sich an die Vereinbarung halten und ihn sich selbst überlassen? Er wäre völlig auf sich allein gestellt. Aber das ging mich nichts an. Er ging mich nichts an. Ein letzter Besuch im Krankenhaus und dann war endgültig Schluss. Ein Kloß bildete sich in meiner Kehle, sodass ich Schwierigkeiten hatte, zu schlucken. Ich hatte gedacht, ich würde ihm etwas bedeuten. Aber er hatte mich getäuscht, genau wie die Mädchen vor mir. Ich hatte ihm vertraut und er hatte mich benutzt. Mal wieder. Lernte ich eigentlich gar nichts aus meinen Fehlern? Noch mal durften meine Hoffnungen mir nicht den Blick auf die Realität vernebeln.

Ich stellte die Dusche aus und trocknete mich ab. Dann stieg ich in eine saubere Jeans und erstarrte. Wo war eigentlich der Ehrenstab? Nur um Stab und Zepter an sich zu reißen, hatte Agrios in den Olymp gewollt. Und nun hatte ich den Stab am Strand liegen lassen. Dabei hatten Athene und Kalchas mir aufgetragen, ihn nicht aus den Augen zu lassen. Das hatte ich ja toll hingekriegt. Er war kaum eine Stunde in meinem Besitz und schon verschollen. Schnell zog ich mich fertig an. Ich musste ihn holen und verstecken und dann dafür sorgen, dass Zeus ihn so schnell wie möglich zurückbekam. Auf keinen Fall durfte ich ihn behalten. Und obwohl ich wütend auf die Götter war, wusste ich doch, dass Zeus das kleinere Übel für uns Menschen bedeutete. Wir waren ihm zwar egal, aber wenigstens wollte er uns nicht vernichten. Ganz im Gegensatz zu Agrios.

Der Stab glitzerte in der Sonne, als ich den Strand entlangrannte. Keuchend fiel ich auf die Knie und drückte ihn erleichtert an mich. Stromstöße durchzogen meinen Körper, als begrüße er mich, und sanftes Licht umgab die Hand, mit der ich ihn festhielt. Zum ersten Mal betrachtete ich ihn genauer. Ich wusste nicht, aus welchem Material er gefertigt war, aber er war über und über mit Edelsteinen besetzt, um die sich feine Ornamente schlangen. Jemand hatte sie akribisch in den Stein geschnitzt. Vermutlich war es Hephaistos gewesen, der Gott mit den Pranken eines Bären und dem Feingefühl einer Fee. Am oberen Ende verdickte er sich zu einem Knauf und silberne, geflochtene Ranken schmiegten sich darum. Wo sollte ich das auffällige Ding bloß verstecken?

Seltsam, dass Hermes ihn vorhin nicht an sich genommen hatte. Vielleicht war er genauso aufgewühlt gewesen wie ich. Als Zeus Caydens Wunsch erfüllt und ihn sterblich gemacht hatte, war goldenes Licht aus dem Stab und dem Zepter geströmt, und plötzlich war Cayden verwundbar gewesen. Wenn nicht Zeus, sondern Agrios kam und den Stab zurückforderte, musste ich im Tausch dafür verlangen, dass er meine Familie verschonte und Josh und Leah und Sean und Phoebes Freundin Megan und … Ich klammerte mich verzweifelt an den Stab. Würde er wirklich die gesamte Menschheit umbringen, wie er es angedroht hatte? Wen wäre ich bereit zu opfern? Nicht mal Robyn wünschte ich in die Unterwelt.

Das Handy in meiner Hosentasche klingelte. Ich hatte es eingesteckt, damit Sean mich jederzeit erreichen konnte. Aber es war nicht Sean.

»Leah.« Noch nie war ich so froh gewesen, ihre Stimme zu hören.

»Was ist los?«, fragte sie, vermutlich alarmiert durch meinen panischen Tonfall.

»Alles ist total aus dem Ruder gelaufen«, plapperte ich los. »Es gab einen Kampf in Mytikas. Zeus wurde verletzt und Cayden ist im Krankenhaus. Ich weiß nicht, was ich machen soll. Sie haben mich nur benutzt. Alle.« Jetzt fing ich auch noch an zu heulen, aber die Erinnerung an Caydens erneuten Verrat wurde übermächtig. Wieso tat er mir das wieder und wieder an? »Er hätte mich einfach sterben lassen. Dieses Tattoo, es hätte mich umbringen können, und überhaupt … Ich kann damit so eine Art Schutzblase erzeugen. Es ist wie ein Tarnumhang. Ich habe Agrios in den Olymp gebracht und nun …«

»Jess«, unterbrach Leah mich. »Beruhige dich. Und dann noch mal alles ganz von vorne. Ich verstehe ehrlich gesagt nur Bahnhof.«

Ich wischte mir mit dem Ärmel meines Pullovers übers Gesicht und schniefte. Dann trat ich wütend in den Sand. Wie hatte ich nur so dumm sein können? Für die Götter war ich nicht mehr als ein blödes Sandkorn. Und davon gab es Milliarden. Aber ich hatte mir ja einbilden müssen, dass ihnen etwas an mir lag. Wieso fiel ich immer wieder auf sie herein? Die Antwort war denkbar einfach. Weil sie scheißbeschissene Götter waren und höchstwahrscheinlich meine Gefühle manipulieren konnten. Cayden brauchte mich ja bloß mit seinen funkelnden Augen anzuschauen und schon schmolz ich dahin. Ich war ein hoffnungsloser Fall. Am besten, ich ließ ihn im Krankenhaus versauern.

»Jess«, ermahnte Leah mich. »Sprich mit mir. Was ist los?«

»Ich habe mich mal wieder wie eine gehirnamputierte Idiotin benommen«, setzte ich an. Leah seufzte, und dann erzählte ich ihr die ganze Geschichte: wie Mateo, der eigentlich Caydens Bruder Epimetheus war, mich von zu Hause abgeholt hatte. Wie ich dank meiner ungewollten Diafanifähigkeiten Agrios und seine Anhänger in den Olymp geschleust hatte. Und schließlich erzählte ich ihr auch von der Wette. »Ihm ist es die ganze Zeit nur darum gegangen, sterblich zu werden. Kannst du das glauben?«, fragte ich empört. »Er hat im Camp mit Robyn geschlafen, nur weil er mit Zeus diesen blöden Machtkampf ausgetragen hat, und nicht nur Robyn war sein Opfer«, schrie ich fast ins Telefon. »Er hat all diese Jahrhunderte Mädchen belogen und benutzt. Für so einen bescheuerten Wunsch. Ich … ich sollte die Nächste sein.«

»Jess«, unterbrach sie mich zum zweiten Mal. »Wo ist Cayden jetzt?«

»Im Krankenhaus«, murmelte ich. »Er wurde in dem Kampf schwer verletzt. Da war ein Zyklop, der es auf mich abgesehen hatte, und Cayden wollte mich schützen.«

»Er hat sein Leben für dich aufs Spiel gesetzt, obwohl er wusste, dass der Zyklop ihn problemlos töten konnte? Das ist …«

»Das hat gar nichts zu bedeuten«, unterbrach ich ihre romantische Anwandlung. »Er hat sich wie immer selbst überschätzt. Wenn er ein bisschen nachgedacht hätte, wäre er weggerannt. Aber natürlich hielt er sich immer noch für unbesiegbar.«

»Wenn du meinst.« Für meinen Geschmack war sie viel zu wenig empört über das Verhalten der Götter. »Soll ich nach Monterey kommen? Brauchst du mich?«, fragte sie vorsichtig.

»Du hast doch Schule«, erwiderte ich halbherzig, obwohl ich mir nichts mehr wünschte, als eine Freundin an meiner Seite.

»Ich fühle mich gerade ziemlich krank und Granny und Grandpa machen eine Schiffsreise. Meinst du, deine Mom könnte mich gesund pflegen?«

»Sie würde dich mit Cookies und heißer Schokolade vollstopfen«, sagte ich. »Wenn dich das nicht stört, dann komm. Bittttte«, flehte ich.

»Okay. Ich gucke, wann der nächste Zug fährt, und bin noch heute Abend bei dir.«

»Du bist die Beste«, schniefte ich erleichtert. »Ich weiß wirklich nicht, was ich machen soll.«

»Am besten erst mal gar nichts«, schlug Leah vor. »Geh nach Hause und leg dich ins Bett. Du bist völlig überdreht.«

Vermutlich hatte sie recht. »Leah«, flüsterte ich trotzdem noch. »Was ist, wenn er stirbt?« In meinem Nacken prickelte es, als würde das Tattoo sich auf meinem Rücken ausbreiten oder mir etwas sagen wollen. Ich zuckte ein wenig zusammen.

»Es war seine eigene Entscheidung. Er muss das Risiko gekannt haben, das mit diesem Wunsch einhergeht.«

Das stimmte zwar, aber ich war mir ziemlich sicher, dass Cayden sich sein sterbliches Leben deutlich länger als ein nur paar Stunden vorgestellt hatte. Hätte ich Agrios nicht in den Olymp gebracht, wäre das alles nicht geschehen. Er wäre noch unsterblich und ich noch völlig ahnungslos.

»Wir sehen uns heute Abend«, verabschiedete Leah sich. »Pass auf dich auf und schlaf ein bisschen.«

Ich ließ das Handy sinken. Ich hatte keine Ahnung von dem Spiel gehabt, das die Götter trieben. Wenn Zeus ehrlich zu mir gewesen wäre. Wenn ich gewusst hätte, dass ich diesen Schirm erzeugen konnte, dann hätte ich vielleicht … Keine Ahnung, was ich dann getan hätte. Aber ich wäre wenigstens vorbereitet gewesen. Ob Hermes noch mal zurückkam? Es war wahrscheinlich gar nicht die Frage, ob jemand auftauchte, um den Stab zu holen, sondern wer zuerst kam. Ich wirbelte herum und rannte zum Haus zurück.

»Mom«, schrie ich, als ich das Haus erreichte. »Wo bist du?«

Sie stand in der Küche und hielt das Telefon in der Hand. Ihr Gesicht war ganz weiß. Ich schwankte und hielt mich am Türrahmen fest. »Was ist?«

»Das war Sean«, sagte sie tonlos. »Er glaubt nicht, dass der Junge es schafft.«

Ich sackte zusammen und merkte kaum, dass Mom sich neben mich hockte und in den Arm nahm.

»Er hat doch zu viel Blut verloren, und die Verletzungen waren schwerer, als Sean vermutet hat.«

Ich schüttelte den Kopf. »Nein«, stammelte ich. »Nein.« Das durfte nicht sein. In meiner Brust klaffte plötzlich ein riesiges Loch. »Nein.«

»Es tut mir so leid, Kleines.« Sie schlang ihre Arme fester um mich und wiegte mich, wie sie es oft getan hatte, als ich ein kleines Kind gewesen war.

»Er wird nicht sterben«, stieß ich wütend hervor. »Das darf er einfach nicht!« Mein Herz krampfte sich bei der Vorstellung zusammen. Warum tat es bloß so weh? Ich hatte ihm nie so viel bedeutet wie er mir. Und trotzdem flammte bei der Vorstellung, ihn endgültig zu verlieren, die Hoffnung in mir auf, mehr als nur ein Spielball für ihn gewesen zu sein. Dass es mit uns beiden anders gewesen war als mit all den Mädchen vor mir. Wenn er starb, würde ich nie erfahren, ob ich mich getäuscht hatte. Ich löste mich aus Moms Umarmung und wischte mir die Tränen aus dem Gesicht. »Was hat Sean noch gesagt?«

»Er liegt im Koma, und du sollst sofort kommen, wenn du ihn noch einmal sehen möchtest.«

Mir war hundeelend. Er würde sterben, dabei hatte er nicht mal richtig gelebt. Jedenfalls nicht als Mensch. Es fühlte sich an, als hätte mir jemand in den Magen geboxt. »Fährst du mich?«

»Natürlich, mein Schatz.« Mom strich mir übers Haar. »Ich lass dich nicht allein.«

Ich registrierte, wie Mom mit Phoebe sprach und ihr irgendwas erklärte. Ich trat aus dem Haus und sah die dunklen Wolkenberge, die sich weiter am Himmel zusammenballten. Warum hielt ich den Stab noch immer in meiner Hand? Hastig ließ ich ihn fallen. Damit wollte ich nichts mehr zu tun haben. Sollten Agrios oder Zeus ihn sich holen. Aufgebracht kickte ich den Stab ins Gebüsch und hielt mich am Wagendach fest. Ob wir noch rechtzeitig kamen? Erschöpft strich ich mir über die Stirn. Weshalb waren die Götter so hartherzig? Sie könnten ihn retten, wenn sie wollten. Robyn und mich hatten sie auch zurückgeholt. Es wäre ein Leichtes für sie. Er war schließlich einer von ihnen.

»Steig ein«, forderte Mom mich auf. »Wir müssen uns beeilen.« Vermutlich war die Situation noch viel schlimmer, als sie zugegeben hatte. Nur mit Mühe unterdrückte ich ein Schluchzen. Noch vor dem Sommer hatte ich gedacht, mein Leben könnte nicht noch schlimmer werden. Aber da hatte ich mich getäuscht.

Mom raste durch die Straßen von Monterey, und zum Glück ging es bereits auf den Abend zu und es waren nicht mehr so viele andere Autos unterwegs. Ich lehnte meine Stirn an die kühle Scheibe und versuchte, nicht daran zu denken, was wäre, wenn Cayden starb. Es gelang mir nicht. Die Leere, die ich spürte, war vermutlich nur ein Vorgeschmack.

Vor dem Eingang des Krankenhauses kam der Wagen mit quietschenden Reifen zum Stehen. »Er liegt auf der Intensivstation«, sagte Mom. »Lauf. Ich parke und komme nach.«

Ich sprang aus dem Auto und rannte los. Ich durfte nicht zu spät kommen. In der Vorhalle orientierte ich mich kurz und sprintete dann die Treppen nach oben. Sean erwartete mich vor einer Glastür, auf der in großen Lettern INTENSIVSTATION stand. Ich schluckte hektisch. Jetzt bloß nicht weinen. Das würde nichts ändern.

»Ich hätte gern mehr für ihn getan, Jess«, sagte Sean mitleidig. »Das musst du mir glauben. Es tut mir leid.«

»Ist er … Ist er …« Bitte nicht.

»Noch nicht«, sagte Sean leise. »Aber es wird nicht mehr lange dauern. Für so einen jungen Mann hat er erstaunlich schnell abgebaut. Das hätte ich nicht vermutet. Womöglich hat er ein schwaches Herz. Weißt du etwas darüber?«

Ich schüttelte den Kopf und wusste nicht, ob ich heulen oder einen hysterischen Anfall kriegen sollte. Er hatte ein schwarzes Herz oder, besser noch, gar keins, was unpraktisch war, wenn man vorhatte, ein Mensch zu werden. »Kann ich zu ihm?«

»Was ist mit seinen Eltern?«, fragte Sean. »Hast du eine Telefonnummer? Er hatte nichts bei sich.«

»Ich schicke seinem Onkel eine Nachricht«, versicherte ich ihm, ohne große Hoffnung, dass sich jemand blicken ließ.

»Okay. Du musst einen Kittel anziehen und dir gründlich die Hände waschen.«

Ich folgte ihm durch die hell erleuchteten Flure in eine Art Waschraum. Eine Schwester zeigte mir, was ich tun musste, und dann brachte sie mich zu Cayden. Tröstend legte sie mir eine Hand auf die Schulter. »Wenn du etwas brauchst, sag mir Bescheid. Ich bin direkt gegenüber. Es ist schön, dass er nicht allein ist. Erschrick nicht, wenn die Geräte anfangen zu piepsen. Das ist normal, wenn es vorbei ist.«

Bestimmt sollten die Worte nicht so herzlos klingen, wie sie bei mir ankamen. Er sah nicht aus, als würde er sterben. Zwar war er deutlich blasser als sonst, und Schweißtropfen standen auf seiner Stirn, aber eigentlich wirkte es, als ob er schliefe. Sein Brustkorb hob und senkte sich gleichmäßig.

Die Schwester schob mir einen Stuhl neben das Bett. »Setz dich«, forderte sie mich auf. »Du kannst seine Hand halten. Er wird es spüren. Das macht es ihm leichter, zu gehen.«

Mit der Fingerspitze strich ich über den Rücken seiner Hand, die auf der Bettdecke lag. Es stimmte also. Er starb. Die Worte der Schwester vertrieben meine letzte Hoffnung. Vorsichtig umschloss ich seine Finger. Tränen tropften auf das schneeweiße Bettzeug. Die Frage, ob ich ihn liebte oder hasste, wurde im Angesicht des Todes unwichtig. Er würde mich verlassen. Nie wieder würde ich in seine grünen Augen sehen. Nie wieder würde er mich anlächeln, nie wieder küssen. Die Vorstellung war grauenhaft. Er starb, weil er versucht hatte, mich zu beschützen.

Seine Familie sollte jetzt bei ihm sein. Wo waren Iapetos und seine Mutter? Wo seine Freunde, die ihn all die Jahrtausende begleitet hatten? Mateo, sein Bruder, der die Götter zwar verraten, aber das hier bestimmt nicht gewollt hatte. Ich presste seine Handfläche vorsichtig an meine Wange, damit ich den Schläuchen, die in seinen Arm führten, nicht in die Quere kam. Vielleicht verlängerten sie sein Leben noch etwas. Vielleicht wachte er doch noch einmal kurz auf. Vielleicht geschah noch ein Wunder.

Mom redete auf dem Flur leise mit Sean, aber ich blendete die Welt um uns herum aus. Ich streichelte sein Gesicht, dachte daran zurück, wie er mir im Camp das erste Mal begegnet war, ich dachte an den Duft seiner Jacke, die er mir umgelegt hatte. Ich erinnerte mich zurück, wie wir gemeinsam geklettert waren und wie er mich vor Skylla und Agrios beschützt hatte. Er war mir nach Monterey gefolgt, und auch wenn sie nicht ehrlich gemeint gewesen waren, so würde ich nie seine Küsse vergessen und nicht, wie er erst vor wenigen Stunden im Olymp behauptet hatte, dass er mich wollte. Er hatte nur den sehnlichsten Wunsch gehabt, sterblich zu sein, und diesen hatte Zeus ihm erfüllt, auch wenn der Preis viel zu hoch gewesen war. »Hey«, flüsterte ich. »Komm zurück, ja. Du darfst nicht sterben. Lass mich nicht allein mit dem ganzen Schlamassel.« Ich legte meinen Kopf auf seine Brust und konzentrierte mich auf seinen Herzschlag, der von Sekunde zu Sekunde schwächer wurde.

 

Ein schriller Piepton erfüllte den Raum. Mein Kopf schnellte herum und ich starrte auf den Kasten neben dem Bett. In Filmen sahen die roten Linien, die sich darauf zeigten, nie so gruselig aus. Nie so endgültig.

Seans Hand legte sich auf meine Schulter. Mom hockte sich neben mich und nahm meine freie Hand in ihre. Tränen liefen ihr über die Wangen. »Es ist vorbei, mein Schatz«, sagte sie. »Der arme Junge. Wenigstens warst du bei ihm. Bestimmt hat er das gespürt. Es tut mir so leid.«

»Ist er tot?«, fragte ich tonlos und schluchzte fassungslos auf. Am liebsten hätte ich ihn geschüttelt. Er sollte wieder aufwachen. Mein Schluchzen wurde stärker, als die Schwester hereinkam und die Geräte abschaltete. Es hätte jetzt still sein müssen, aber ihre Betriebsamkeit erfüllte den Raum mit dröhnendem Lärm. Sie zog Cayden die Schläuche aus dem leblosen Arm, rollte den Tropf beiseite und wollte ihm die Decke über das Gesicht ziehen, das im Tod ganz friedlich und entspannt aussah.

»Bitte nicht«, bat ich und wischte mir die Tränen aus dem Gesicht. »Lassen Sie mir noch eine Minute mit ihm.«

Sie wechselte einen Blick mit Sean, der nickte und kurz darauf mit Mom das Zimmer verließ. Die Schwester schloss die Tür hinter sich.

Dann war es endlich still. Ich setzte mich auf den Rand des Bettes und strich Cayden das blonde Haar aus der Stirn. Er wäre ein miserabler Sterblicher geworden. Viel zu schön und viel zu herrisch für unsere Zeit. Vielleicht hätte das richtige Leben ihn demütiger gemacht. Seine Haut war noch ganz warm und bis auf ein paar Schrammen im Gesicht wirkte er unverletzt. Ich beugte mich über ihn und gab ihm einen Kuss auf die Lippen. Er würde mich nie wieder küssen. Die Vorstellung ließ meine Brust eng werden. Wir waren zu dumm gewesen, die Zeit, die wir hatten, besser zu nutzen. »Ich habe gelogen, als ich sagte, dass ich dich nicht will«, flüsterte ich. »In Wirklichkeit wollte ich nichts mehr, als mit dir zusammen zu sein, und ich wette, du hast das gewusst. Warum warst du nicht ehrlich zu mir? Dann würdest du jetzt nicht hier liegen.«

Sie würden ihn wegbringen und in ein finsteres Erdloch stecken. Am liebsten hätte ich mich neben ihn gelegt und ihn gewärmt, nur um zu verhindern, dass er auskühlte. Aber dafür war es zu spät. Wenn ich schneller Hilfe geholt hätte … »Ich wünschte, ich hätte dir gesagt, was du mir bedeutest«, sagte ich. »Aber du hast es mir nicht gerade leicht gemacht.« Durfte man einem Toten Vorwürfe machen? Ich presste die Lippen aufeinander. Egal, wie oft wir uns gestritten hatten und wie wütend ich auf ihn gewesen war, es hatte immer die Hoffnung bestanden, dass wir uns wieder vertrugen. Er war immer zurückgekommen. Damit war nun endgültig Schluss. Ich würde ihn nie wieder lachen hören, er würde mich nie wieder ärgern und nie wieder mit anderen Mädchen flirten. Obwohl mir das gerade egal wäre. Von mir aus konnte er flirten, mit wem er wollte, wenn er nur wieder atmete. Ich widerstand der Versuchung, ihm auf die Brust zu hauen, um sein dummes Herz wieder zum Schlagen zu bringen. Stattdessen blickte ich auf den Ring an seinem Finger und zog ihn ab, meine Hand umschloss den kühlen Stein. Zeus hatte zwar keine Macht mehr über ihn, doch gewonnen hatte keiner von beiden. Caydens Knechtschaft war vorbei. Er war dem Kaukasus entronnen und hatte seinen Willen durchgesetzt. Aber er hatte zu hoch gepokert und verloren. Bestimmt würde es ihn nicht stören, wenn ich den Ring behielt. Es war die einzige Erinnerung an ihn, die mir blieb. »Es tut mir leid, dass ich dir nicht geglaubt habe. Ich war einfach so wütend. Wenn ich gewusst hätte, was auf dem Spiel steht …« Ein letztes Mal strich ich ihm über die Wange und berührte seine Lippen. Er war schon viel kälter als noch gerade eben. Warum nur fiel es mir so schwer, ihn loszulassen? Ich musste ihn weiter ansehen, ich musste mir jedes Detail einprägen. Menschliche Gehirne waren so vergesslich. An der linken Augenbraue hatte er eine kleine Narbe, die mir noch nie aufgefallen war, und auf der rechten Wange saß ein winziger Leberfleck. Seine dunklen Wimpern warfen Schatten auf die bläuliche Haut unter seinen Augen. Den Rest meines Lebens würde ich an ihn denken, wenn ich etwas Grünes sah. Ich holte tief Luft. »Ich hoffe, in der Unterwelt ist es nicht allzu schlimm für dich«, verabschiedete ich mich endgültig. »Vielleicht erlaubt Hades dir sogar, nach Elysion zu gehen.« Der Gedanke, dass er im Jenseits leiden würde, war mir unerträglich. Es war so viel Leben in ihm gewesen.

Aufzeichnungen des Hermes

II.

Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Besonders oft hatte es mir in meinem Leben bisher nicht die Sprache verschlagen. Nicht mal nach dem Desaster in Troja hatte ich den Kopf hängen lassen.

Hera und Artemis saßen auf dem Sofa, während Zeus am Kamin lehnte und nicht wagte, seine Familie anzusehen. Er gab sich die Schuld an Prometheus’ Tod und die hatte er ja auch. Da gab es gar nichts herumzudeuteln. Er hätte dem Unsinn nie zustimmen dürfen.

Apoll versuchte, seine Zwillingsschwester zu trösten. Der Göttin der Jagd kamen eigentlich nicht so leicht die Tränen, aber nun glänzten ihre Augen, auch wenn sie sichtlich um Fassung rang.

Viel Zeit, um um Prometheus zu trauern, hatten wir nicht. Sobald Iapetos von seinem Tod erfuhr, würde er Zeus zur Rechenschaft ziehen und hier auftauchen. Auf die Unterstützung der Titanen konnten wir nicht mehr bauen. Womöglich mussten wir nun an zwei Fronten kämpfen.

Im Haus wimmelte es mittlerweile von Flüchtlingen. Jeder, der alle fünf Sinne beisammenhatte, hatte Mytikas verlassen. Bis auf Agrios’ Anhänger natürlich und die Götter, die es nicht rechtzeitig geschafft hatten, zu fliehen. Athene war eine von ihnen. Sie hatte Agrios abgelenkt, damit Herakles und Apoll den verletzten Zeus hatten fortbringen können. Apoll hatte unseren Vater gerettet und Prometheus dafür geopfert. Das würde er sich nie verzeihen.

Etwas Warmes legte sich auf meine Knie, und als ich hinuntersah, blickte ich in Kalchas’ warme Augen. »Jess«, hörte ich den Wolf in meinem Kopf. »Kannst du Prometheus sehen?«

»Natürlich«, schniefte ich. »Er ist tot, Kalchas. Das habe ich nicht gewollt. Warum habe ich gesagt, dass ich ihn nicht will? Warum hat mir niemand erzählt, was gespielt wird? Nicht mal du.« Cayden hatte mir zweimal das Herz gebrochen. Zum ersten Mal, als er mit Robyn geschlafen hatte, und zum zweiten Mal, als er mich für die Erfüllung eines egoistischen Wunsches verraten hatte. Ich sollte aufstehen und gehen und nicht hier sitzen und rumheulen.

Kalchas ging auf meine Vorwürfe gar nicht ein. »Ich meine nicht seinen Körper, du Dummerchen. Ich meine seine Seele. Sie muss hier noch irgendwo sein. Hades hat ihn noch nicht geholt.«

Wie bitte? Mein Blick glitt durch das Zimmer. Er war noch hier? Hatte er etwa alles gehört, was ich gesagt hatte? Das war so typisch, bestimmt lachte er sich ins Fäustchen. Aufgebracht blinzelte ich die Tränen weg. Und tatsächlich, Cayden stand neben der Tür an der Wand und lächelte. Allerdings kein bisschen schadenfroh, sondern vielmehr wehmütig. Ich konnte es nicht fassen. Er war die ganze Zeit hier gewesen und hatte sich nicht mal bemerkbar gemacht.

»Wieso sehe ich ihn und du nicht?«, fragte ich Kalchas. »Und überhaupt, was soll das? Er ist tot. Er sollte nicht hier rumlungern und mich belauschen«, sagte ich erboster, als ich war. Ein Stein von der Größe eines Felsbrockens fiel mir vom Herzen, auch wenn es nichts daran änderte, dass sein Körper tot war.

»Du bist eine Diafani«, erklärte Kalchas geduldig, und seine Lefzen verzogen sich zu einem Grinsen. »Das Unsichtbare wird für dich sichtbar. Es wird Zeit, dass du das akzeptierst.«

Ich konnte den Blick nicht von Caydens Seele abwenden, die durchscheinend, in Licht gehüllt und unverletzt an der Wand lehnte. Seine Hand lag auf der Türklinke. »Willst du irgendwohin?«, fragte ich ihn direkt.

»Ich glaube, es ist besser, wenn ich gehe«, antwortete er leise. »Ich habe genug Unheil angerichtet.«

Das hatte er, aber so leicht würde ich es ihm nicht machen. Ich ignorierte mein Herz, das freudig in meiner Brust herumsprang. »Denkst du, du machst es wieder gut, wenn du dich in den Hades verziehst?«

»Ich bin tot, oder? Meine Alternativen sind begrenzt. Glaub mir, so habe ich mir mein sterbliches Leben nicht vorgestellt. Eine ziemlich kurze Episode. Es tut mir alles so leid, das musst du mir glauben, Jess.«

Am liebsten wäre ich zu ihm gegangen. Konnte man eine Seele küssen? Konnte ich ihn festhalten, damit er blieb?

Rauch quoll unter dem Türschlitz hervor und dann stand ein Typ in schwarzen Lederklamotten im Zimmer. Graue Augen leuchteten herausfordernd im Licht der Neonröhren an der Decke. Die Lederkluft ließ ihn wie ein Mitglied einer Rockerbande aussehen und sein langes, dunkles Haar reichte ihm bis zur Taille. »Mein Gott, Pro, hättest du dir nicht einen besseren Zeitpunkt zum Sterben aussuchen können?« Er hob eine Hand und Cayden schlug lässig ein. »Persephone und ich waren gerade beschäftigt.«

»Sorry, Hades«, entschuldigte sich Cayden. »Könnt ihr euch nicht ein Mal wie ein erwachsenes Paar benehmen? Ihr seid seit Ewigkeiten verheiratet.«

Der Gott der Unterwelt räusperte sich verlegen und murmelte etwas, was sich nach frecher Bengel anhörte. »Also, was ist los? Dumm gelaufen für dich, oder?«, setzte er nach. »Warum muss ich eigentlich persönlich kommen? Gibt es niemanden, der dir das Geld für den Fährmann gibt? Du weißt doch, wie es läuft. So hoch sind die Kosten für den Charon nun wirklich nicht. Wird sich doch jemand finden, der dir den Obolus auf die Augen legt, damit er dich in die Unterwelt bringt. So unbeliebt kannst nicht mal du sein.«

Ich konnte nichts anderes tun, als ihn anzustarren. Hades hatte ich mir nun wirklich nicht so vorgestellt. Irgendwie unheimlicher. Der Typ hier war der »sexiest man alive«, und es gab sicherlich jede Menge Frauen, die für diese hohen Wangenknochen und die schmale Nase getötet hätten. Er kam lässig auf mich zugeschlendert. »Was ist mit dir, Kleine, hast du keine Münze in der Hosentasche?«

Ich schüttelte den Kopf. Sagen konnte ich gerade gar nichts. Er roch auch noch gut. Nach Moschus und etwas Herbem. In jedem Fall nicht nach Tod und Verwesung, sondern irgendwie lecker.

»Jess, mach den Mund zu«, fuhr Cayden empört dazwischen. »Dir tropft gleich der Sabber aus dem Mund.«

Das konnte gut sein. Diese Lippen. Mannomann.

»Diese Wirkung habe ich immer auf Frauen.« Hades grinste anzüglich. »Aber ich bin der treueste Mann im Universum. Da ist nichts zu machen, auch wenn du wirklich zum Anbeißen aussiehst. Kein Wunder, dass er auf dich abfährt.« Mit dem Daumen zeigte er auf Cayden. »Du hast ihm ganz schön den Kopf verdreht, Kleines.«

Hatte ich?

»Du bist und bleibst ein altes Plappermaul«, sagte Cayden empört. »Bring mich endlich hier weg.«

»Nein!«, riefen Kalchas und ich wie aus einem Mund. »Du kannst nicht einfach abhauen«, setzte ich hinzu

»Ähm. Natürlich kann er«, mischte Hades sich ein. »Er muss sogar. Er ist mausetot und gehört in die Unterwelt. Es muss schließlich alles seine Ordnung haben.« Der hübsche Gott war ein Pedant. Das war wiederum ziemlich unsexy.

»Kannst du uns sagen, was im Olymp passiert ist, nachdem Apoll uns dort rausgeholt hat?«, fragte ich Hades. Ich musste Zeit schinden, bis mir etwas einfiel, weshalb er Cayden nicht mitnahm.

Der Gott der Unterwelt kratzte sich hinter dem Ohr. »Das ist etwas aus dem Ruder gelaufen«, gab er dann zu. »Zeus wurde verwundet und …«

»Was?«, fragten Cayden und ich gleichzeitig.

»Na ja. Der Ehrenstab ist verschwunden. Agrios hat das Zepter, und Zeus schmollt, weil er keine Macht mehr besitzt. Ziemlich schlimme Sache, das Ganze. Aber ich nehme es dir nicht übel, Kleine. Du kannst ja nichts dafür«, meinte er großzügig.

»Ähm«, setzte ich an, um den beiden von dem Stab zu erzählen.

»Das sehe ich anders«, fiel Cayden mir in den Rücken. »Jess hätte Agrios nicht in den Olymp bringen dürfen. So viel Verstand haben wir ihr schon zugetraut.«

Wie bitte? Ich musste mich verhört haben. Typisch. Wütend funkelte ich ihn an. »Wenn du mir gesagt hättest, dass ich mit dem Tattoo einen Schirm erzeugen und Leute nach Mytikas schmuggeln kann, wäre das alles nicht passiert. Schieb jetzt nicht mir die Schuld in die Schuhe.«

»Wenn du nicht gesagt hättest, dass du mich nicht willst, dann wäre Zeus nicht so abgelenkt gewesen«, motzte Cayden zurück. »Du hättest doch nur sagen müssen: Ich will. Das war doch nicht zu viel verlangt.«

Ich stemmte die Hände in die Hüften. »Geht’s noch? Warum sollte ich dich wollen? Du … du.« Vor Wut fiel mir kein Wort ein, das ausdrückte, wofür ich ihn hielt. »Du bist ein ichbezogener Blödmann. Du denkst doch immer nur an dich«, stieß ich hervor. »Meine Gefühle sind dir doch ganz egal. Warum sollte ich dich wollen? Es gibt Tausende menschliche Jungs, die mehr wert sind, als du es je sein wirst. Denen nicht im Traum einfallen würde, Mädchen so zu behandeln, wie du es getan hast«, zeterte ich.

»Dann wirst du ja froh sein, wenn du mich endlich los bist«, erwiderte er tonlos.

Die Worte fühlten sich an wie ein Schlag in die Magengrube. Ich klappte den Mund zu. Aufgebracht funkelten wir uns an, während Hades’ Blick neugierig zwischen uns hin- und herwanderte. Ich wollte ihn nicht los sein. Aber das würde ich nie zugeben. Was ich allerdings jetzt noch von ihm wollte, wusste ich auch nicht. Ich brauchte Zeit, um mir über meine Gefühle klar zu werden.

»Er muss mir helfen, Agrios aufzuhalten«, verlangte ich, an Hades gewandt. »Er kann sich nicht aus dem Staub machen. Der Albino will die Menschen ausrotten. Und wenn er das schafft, wird es bei dir da unten ganz schön voll.«

»Ich bin tot und du hältst dich gefälligst aus diesem Kampf raus«, protestierte Cayden. »Es geht dich nichts mehr an. Ich verbiete dir, dich einzumischen.«

»Pfff.« Als könnte er mir noch irgendwas verbieten. »Soll ich etwa zusehen, wie jeder stirbt, den ich liebe?«

Cayden trat einen Schritt auf mich zu. »Du wirst dich nicht mit Agrios oder Gaia anlegen. Hast du verstanden?«

Ich stemmte die Hände in die Hüften. »Und was willst du dagegen tun, wenn du tot bist? Als Poltergeist zurückkommen und durch mein Leben spuken?«