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Für Doris

Vollständige E-Book-Ausgabe der 2017 in der Ueberreuter Verlag GmbH, Berlin, erschienenen Buchausgabe

E-Book © Ueberreuter Verlag GmbH, Berlin 2017

Andreas Hüging

Let’s

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Die schwer verrückte Geschichte
von Valentin Plau

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Inhalt

Schnuppenhagel

Marsman und Maultasche

Dicke Römer und nackte Griechen

Harter Crash – weich gefallen

Du bist so unswag!

Spiderman und VCR

Drei Bücher und ein Dschinn

Wolken über Monte Scherbelino

WELL KAMM IN

Butterweich

Val P und der Rest der Welt

Zu dick

Pavlos, die Discokugel

T-Dabbelju und das schwarze Brett

Nur ein Foto, nur ein Po

Ein Schwein mit Perücke

Dicke Luft

Ein klarer Fall von Wahnsinn

Val und Danny und Spiderman

Gül in Love

Zwei dicke Kumpels bei Kult-Uschi

Brüllach, Am Richthang 28

Die Battle

Alles XXL

Disco, Eier und Speck

Ich glotz TV

Knock-out im Discohimmel

Nanas im Nebel

Schnuppen aus Glas

Epilog

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Schnuppenhagel

Seit dreieinhalb Wochen kein Regen, nur Hitze. Nach und nach verwandelte sich die Stadt in eine Wüste aus Stein. Die heiße Luft hatte es sich in Häusern, Autos, Zügen und Klassenzimmern gemütlich gemacht. Wie ein Gast, auf den im Frühjahr alle sehnsüchtig gewartet hatten, der aber nun einfach nicht mehr gehen wollte. Selbst die Fahrradsättel, am Nachmittag nach der Schule, schienen zu glühen. So mancher hatte schon seinen Allerwertesten auf dem Weg ins überfüllte Freibad verbrannt.

Valentin war kein Freibadfan, und die Hitze lag ihm auch nicht. Er brauchte keinen Rekordsommer, um zu schwitzen. Das funktionierte bei ihm auch bei Eissturm, Frost und Schneetreiben. Eigentlich brach ihm der Schweiß bei jeder Wetterlage aus.

Es war wie verhext, sogar jetzt, neun Minuten nach Mitternacht, wollte das Thermometer einfach nicht unter die Dreißig-Grad-Marke fallen. Unmöglich, mehr als sein Lieblingstanktop und die schlabberigen Shorts zu tragen.

Das Gras war trocken. Valentin horchte und spähte in die Nachbargärten. Alle Grillpartys waren vorbei. Er konnte seinen Plan ungestört in die Tat umsetzen. Wehrlos zerbrachen die dürren Halme unter seinen Schläppchen. Er zupfte vorn und hinten an seinem Shirt, um Luft auf Bauch und Rücken zu fächeln. Dann legte er sich auf den Rasen – ruderte ein paarmal mit Armen und Beinen in dem handtuchgroßen Reihenhausgarten. Dabei kickte er kleine Steine in den winzigen Teich.

»Sorry, Paul, sorry, Paula«, entschuldigte sich Valentin leise bei den Goldfischen.

Hoffentlich waren die zwei nicht schon längst zur Fischeinlage in der aufgeheizten Teichsuppe geworden. Und hoffentlich huschten unter ihm keine Spinnen umher, oder verliefen sich in seinen schulterlangen – fraglos reichlich fettigen – Haaren. Nichts war ihm mehr zuwider als diese sechsbeinigen Ungeheuer.

Schnell zog er sein Handy hervor und hielt es den flirrend leuchtenden Sternen entgegen. Wie eine umgedrehte Salatschüssel voller Diamanten wölbte sich der dunkelblaue Himmel von Horizont zu Horizont. Die Sternschnuppen-App hatte nicht zu viel versprochen: Milchstraßen-Sicht optimal! Außerdem kündigte die App eine ungewöhnlich hohe Schnuppendichte an und garantierte spektakuläre Schweifsichtungen. Jetzt noch schnell den Schnuppen-Chat aufrufen, dann war er bereit.

Wenn das nicht die perfekte Nacht war, um sein Leben zu ändern! Valentin hatte einen ganzen Sack voller Wünsche mit ins Freie gebracht. Zugegeben, es war immer der gleiche Wunsch. Aber wenn er es geschickt anstellte, konnte er die Last gleichmäßig auf die Schnuppenschultern verteilen, dann hatten sie nichts zu meckern.

Nun musste er erst mal eine entdecken. Nebenbei checkte er mit zusammengekniffenen Augen den Schnuppen-Chat. Urknall2004 vermeldete:

Schon vier Sichtungen. Läuft ja brüllermäßig! Drei mit, eine kleine Schnuppe ohne Schweif. Wer hat mehr?

Mannomann, was für ein Angeber! Und dieser granatenblöde Username! Valentin scrollte weiter. Luna-auf-Zack! schrieb:

Ist das nicht toll! Ich wünsche euch, dass alle Wünsche wahr werden! LAZ

Das gefiel Valentin schon besser, dahinter verbarg sich sicher ein hübsches, nettes Mädchen; er stellte sich vor, dass sie irgendwo alleine in der Dunkelheit lag und mit großen Augen vor sich hinträumte. Aber wenn er weiterhin auf das Display starrte, würde er alle Schnuppen verpassen. Ohne dass er es mitbekam, leuchtete hinter ihm der Himmel kurz auf.

Urknall2004 jubelte umgehend:

Groß wie ein Silvesterböller, Knüllerschweif, ich wünsche mir … ha!, das verrate ich natürlich nicht.

Dieser Typ nervt!, dachte Valentin und legte das Handy ins Gras. Hoffentlich würden die Nacktschnecken es nicht umgehend in Besitz nehmen; das war ihm schon einmal passiert, während einer Ferienfreizeit für dicke Kinder in Österreich, unter der Hand auch bekannt als »Wampenwandern«. Bei der Erinnerung an die weiche Masse, die das Telefon eng umschlungen hatte, schüttelte es ihn gewaltig.

Konzentrier dich!, ermahnte er sich und drehte den Kopf langsam von einer Seite zur anderen. Genau so machten es die großen Teleskope in der Atacamawüste auch, das hatte er im Science-Kanal gesehen. Nun konnte ihm kein Teil des Himmels mehr entgehen.

Da fliegt was! Es war nur ein Satellit, der seine Bahnen drehte. Mist! Ob der ihn sehen konnte und Fotos machte? Schnell zog Valentin das hochgerutschte Top über seinen runden Bauch. Wie albern! Als wenn die Dinger gestochen scharfe Bilder von der Erde machen würden! Und für seine Wampe interessierte sich bestimmt keiner. Aber konnte er sich da ganz sicher sein? Frech streckte er die Zunge raus und zeigte der neugierigen Maschine den Stinkefinger. In diesem Moment rauschte eine Schnuppe links von ihm in Richtung Kirchturm – nicht mal den Schweif hatte Valentin bemerkt. Der Satellit war weitergezogen, und er dachte über einige grundlegende Dinge nach: Wie viel Zeit bleibt einem nach dem Fall einer Schnuppe, um sich was zu wünschen? Woher weiß die Schnuppe, dass sie gemeint ist? Verstehen Kometen überhaupt Deutsch? Sollte er seinen Wunsch vielleicht besser auf Englisch vortragen? Oder gleich auf Klingonisch? Und wie viele Wünsche konnte eine Sternschnuppe gleichzeitig bearbeiten? Okay, ein bisschen benahm er sich wie ein naiver Kitazwerg, der dem Weihnachtsmann seinen Wunschzettel mit der Post schickte. Trotzdem wurde er mit jedem Signal-Beep eifersüchtiger auf all die anderen, die sich mit ihm im Schnuppen-Chat rumtrieben. Beep! Genervt griff Valentin nach dem Handy.

Urknall2004:

FUCK! Irrrrreeeee, das war ja wohl der Hammer-Wunsch-Erfüller-Brüller-Knüller! Habt ihr das gesehen????

SternenjägerAlpha hatte:

Yeah, wow, suupiturboschnuupi!

Was? Wo? Valentin hatte nichts gesehen.

Luna-auf-Zack:

Jetzt kann nichts mehr schiefgehen, wie toll! Lol!

Wenigstens die hielt den Ball einigermaßen flach! Valentin entschied sich, LAZ direkt zu schreiben. Er wählte den Flirt-Channel – hier konnte man sich privat unterhalten – und tippte:

Hallo, Luna-auf-Zack! Bist du draußen oder in deinem Zimmer?

Die Antwort kam schneller als erwartet. Auch LAZ hatte die private Chatfunktion gewählt. Die war wirklich auf Zack:

Lol! Natürlich draußen. Ich sause auf meiner alten Kinderschaukel hin und her und schaue nach oben, so entgeht mir nichts. Knuff, LAZ.

Über das Lol ärgerte sich Valentin ein wenig, das Knuff hingegen gefiel ihm schon besser. Er wurde rot, schließlich kannte er diese LAZ überhaupt nicht. Wie gut, dass ihn im Dunkeln keiner sah – mit Ausnahme der Satelliten natürlich.

Ich liege im Gras, der Himmel ist ächt der Wahnsinn, oder? Valentin überlegte, ob er sich als Abschluss was total Verrücktes trauen sollte. Dann tippte er hastig knuddel und schickte es ab, bevor er es sich anders überlegen konnte. Live und bei Tageslicht würde er das niemals sagen, aber diese Nacht schrie förmlich danach, es ein bisschen krachen zu lassen. Zufrieden las er seine Message noch einmal durch, da packte ihn plötzlich das blanke Entsetzen: Ab und zu e und ä zu verwechseln, war so etwas wie sein persönliches Markenzeichen, das war okay. Schlimm war, was am Ende stand: nudel statt knuddel! Das k und ein d hatte er hektisch übertippt.

Leise fluchend kniff Valentin die Augen zusammen: »Mist. Die meldet sich bestimmt nicht mehr!«

Eine Schnuppe raste durch die unsichtbaren Speichen des Großen Wagen, dem einzigen Sternbild, das wirklich jeder am Himmel ausmachen konnte.

Es beepte fünfmal:

Boah!!!!

n1

Mein Leben ist geritzt, was soll jetzt noch schiefgehen? N8!

Hiphiphooray!

Wunderschön!

Valentin öffnete wieder die Augen. Die letzte Meldung war von LAZ. Er raufte sich die Haare. Wenn das so weiterging, würde er sein Pseudonym in Kometendepp1000 ändern. Bislang hatte er sich als MARSMAN1 in die Unterhaltung eingeschaltet, auch wenn ihn das an seinen Lieblingsschokoriegel erinnerte. Solche Zuckerbomben waren der eigentliche Grund, weshalb er hier im trockenen Gras lag: Er wollte abnehmen! Ein Wunschkilo pro Schnuppe. Eine einfache Bitte. Da gab es nichts falsch zu verstehen. War das etwa zu viel verlangt? Doch bislang hatte er nicht die Krume eines Kometenbröckchens entdeckt. Plötzlich nahm er eine Bewegung am Goldfischteich wahr. Erschrocken fuhr er hoch. »Wer ist da?«

Kurz vor halb eins im Freien zu liegen, war heldenhaft genug für ihn – von lautlosen Schattenwesen umkreist zu werden, ging eindeutig zu weit. Dafür reichte sein Mut nicht aus.

Doch es war nur Sisy, der durch die Nacht schlich. Der gescheckte Kater mit dem Mädchennamen von nebenan. Eigentlich war »Sisy« eine Abkürzung – und auch nicht weiblich. Es stand für Sisyphus, den Kerl aus der alten griechischen Sage, der ewig einen Felsen den Berg hochschleppt, der dann wieder herunterrollt, immer und immer wieder. Genauso verhielt es sich mit den Mäusen, die Sisy jagte. Sie liefen ihm einfach jedes Mal davon. Unter Zeugen hatte er noch keine einzige erwischt. Eigentlich fühlte Valentin sich wie Sisy, oder wie dieser alte Steineschlepper. Alle Versuche, seinem Leben als »Dicker« zu entfliehen, waren gescheitert. Kaum war endlich einmal ein halbes Pfund verschwunden, tauchte es in Windeseile wieder auf der Anzeige der Waage auf. Es schien aussichtslos. Nun sollten die Sterne helfen, oder zumindest die kleinen glühenden Bruchstücke, die zur Erde rasten. Bei zehn Schnuppen kämen zehn Kilo zusammen. Mit fünf wäre Valentin auch schon zufrieden. Noch gab er nicht auf.

»Lass Paul und Paula in Ruhe, Sisy!«, zischte er genervt. »Die kriegst du eh nicht.« Er sank zurück ins Gras.

Sisy zuckte mit dem Schwanz und lief dann zu ihm, als wolle er sich das noch mal erklären lassen. Leider hatte der Kater eine wirklich nervige Angewohnheit. Und bevor Valentin sich’s versah, legte Sisy sich quer über sein Gesicht und begann zu schnurren. Das tat er mit jedem, der irgendwo herumlag und ihn nicht rechtzeitig verscheuchte. Das Tier ließ sich einfach platt fallen über Augen, Mund und Nase.

Vier Sternschnuppen durchbrachen in diesem Moment fast gleichzeitig die Erdatmosphäre und glitten mit langen Schweifen glitzernd herab. Valentin schob den Kater fort, spuckte ein paar Haare aus und nieste laut.

Im Schlafzimmer seiner Eltern gingen die Lichter an. Das Fenster öffnete sich, und sein Vater Daniel streckte gähnend den Kopf heraus. »Wer ist denn da im Garten? Bist du das, Valentin?«

Die Halme von seiner Hose klopfend rief Valentin: »Äh, ja, nicht meckern, ich wollte Sternschnuppen sehen, aber es gab keine. Nicht eine einzige! Außerdem ist morgen Samstag.«

»Na, du machst ja Sachen. Trotzdem, komm rein!« Daniel zog das Fenster wieder zu.

Valentin tastete nach seinem Handy. Hier irgendwo musste es doch liegen! Dann fand er es. Sofort ließ er es angeekelt fallen. Ein ganzer Trupp schleimiger Schnecken hatte sich begeistert darauf gestürzt. Durch den Glibber las Valentin:

OMG!!!! Vier Super-Monster-Meteoriten gleichzeitig! Ein echter Knüller! GG und N8! Euer Urknall2004.

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Marsman und Maultasche

Mit einem letzten Blick hinauf zur Milchstraße nahm Louise noch einmal kräftig Schwung. Dann sprang sie aus ihrer alten Kinderschaukel und flog ein Stück über die ausgetretene Sandkuhle. Das Handy entglitt ihr und sauste vorneweg. Leider war Louises Flugbahn nicht hoch und weit genug. Sie reckte die Arme nach ihrem geliebten »Fony«, dann plumpste sie schwer in den Gartenkies. Während sie sich stöhnend die Knie rieb, ging über ihr ein wahrer Sternschnuppenschauer nieder. Aber wonach hätte sie noch fragen sollen? Eigentlich war sie nun wunschlos, und hoffentlich bald auch glücklich. Die Aktion war jedenfalls kein Fehlschlag gewesen. Sie hatte all ihre Bitten vorbringen können und durfte nun auf die Unterstützung der Sterne hoffen. Außerdem hatte sie einen anderen Schnuppenfan kennengelernt: MARSMAN1. Mit nudel hatte er sich verabschiedet, womit feststand, dass MARSMAN1 zwar einen lässigen Namen hatte, aber alles andere als cool war. Und er hatte »echt« mit Ä geschrieben – Schwamm drüber. Der war bestimmt einfach nur nett und etwas unsicher. Darauf stand sie viel mehr als auf die Angeber, für die Sternschnuppen nichts weiter bedeuteten als Trophäen, die sie sammelten, so wie Likes oder Follower. Louise hingegen sprach den kleinen Leuchtbrocken mit kurzer Lebensdauer magische Kräfte zu. Sie war überzeugt, dass derjenige, der mit ihr flirtete, während die allerschönste Superschnuppe ihre Bahn zog, ihr erster Freund sein würde. Denn das konnte einfach kein Zufall sein. Trotzdem hoffte sie, dass MARSMAN1 nur ein paar Buchstaben bei »knuddel« vergessen hatte.

Sie musste »knuddel« nur denken, dann wurde ihr ganz warm im Bauch. Nudel klang irgendwie witzig, aber nicht sehr romantisch. Wenn Louise eine Nudel wäre, dann wäre sie eine Maultasche mit ordentlich Füllung. Nicht, dass sie das bislang gestört hätte, eigentlich waren es nur die anderen, die damit ein Problem hatten. Und die waren in der Regel auch keine Traumtypen: zu dünn, zu doof, langweilig, Wichtigtuer mit großer Klappe – ganz bestimmt stammten Urknall2004 und SternenjägerAlpha aus dieser Abteilung – oder Mobber, die hinterm Rücken pesteten. Niemand, den Louise jemals gesehen hatte, war perfekt. Außer den Models auf Werbeplakaten. Und die stiegen nicht herab aus ihrer grandiosen Welt, in der es keine dicken Mädchen gab. Die grinsten immer nur, als wollten sie sagen: »Du kannst genauso sein wie ich. Gib dir mal ein bisschen Mühe, Mops!«

Louise hoffte, MARSMAN1 gehörte in ihre Welt und nicht in die der dürren Laufstegschönheiten. Wer kuschelte schon gerne mit einem Skelett in Designerklamotten? Trotzdem waren die gemeinen Sprüche, die sie oft zu hören bekam, wie dahingeworfene Bananenschalen, auf denen man ausrutschen konnte. Und lag man erst mal am Boden, tat das ordentlich weh. Meistens überhörte Louise die Beleidigungen, oder sie fand schnell die passende Antwort. Sie hatte sich vorgenommen, auf den Füßen zu bleiben. Konnte es da schaden, auf kräftigen Beinen durchs Leben zu gehen?

Wo war nur ihr geliebtes Fony gelandet? Zur Feier der großen Schnuppennacht hatte sich Louise für die Handyhülle mit den glitzernden Strasssteinen entschieden – zugegeben, eine kitschige Wahl. Aber angemessen!, fand sie.

Doch nun rächte es sich. Vom feinen Kies war es kaum zu unterscheiden, jetzt, da die einzige kleine Wolke am Himmel den Mond verdeckte. Louise schritt knirschend und tastend den Boden ab. Plötzlich knackte es unter einem ihrer Sneaker. Sie machte sich nichts vor: Das Fony war Schrott, zermalmt unter ihren Pfunden, trotz Hülle.

»Oh nein, bitte nicht!«

Zum ersten Mal seit langer Zeit wünschte sie sich, eine leichtfüßige Elfe zu sein. Okay, es musste nicht gleich jemand wie die spindelmagere Galadriel aus »Herr der Ringe« sein. Einfach ein Mädchen, unter dessen Gewicht nicht gleich alles zerbröselte.

Seufzend hockte sich Louise neben ihr zerstörtes Handy und schaute erneut in den Himmel. All die schönen Schnuppen hatte sie verschwendet! Für bessere Noten, einen langen Strandurlaub, das aktuelle iPad. Doch noch war die Nacht nicht vorbei!

»Bitte, bitte! Nur noch zwei Schnuppen«, flehte sie. »Eine zum Abnehmen, nur ein bisschen. Und ein neues Fony, das wäre spitze!«

Na ja, für ein Telefon brauchte sie eigentlich keine Schnuppenhilfe, dafür reichte ihr Taschengeld. Seit ihre Eltern vor ein paar Jahren plötzlich reich wurden, zeigten sie sich auch ihr gegenüber finanziell großzügig.

Die Müdigkeit kam so schnell, dass Louise nicht merkte, dass sie längst träumte. Sie konnte in allen Stellungen einschlafen. Alles, was sie brauchte, war der Boden unter ihrem Po, oder eine Wand zum Anlehnen, und manchmal nicht mal das: Bei besonders langweiligen Unterhaltungen hatte sie auch schon mal stehend zu schnarchen begonnen.

Mit zitternden Augenlidern träumte sie, wie sie schnaufend einen Hügel hochkraxelte, um völlig freie Sicht auf den Himmel zu haben. Kein fliegendes Licht sollte ihr entgehen. Als sie endlich die Anhöhe erklommen hatte, entdeckte sie Urknall2004 und SternenjägerAlpha. Breit grinsend standen sie im Tal und feuerten mit Steinschleudern unförmige Klumpen in die Luft. Sobald ihre Geschosse wieder herunterfielen, leuchteten sie hell wie Kometen. In Louises träumendem Herzen machte sich eine dumpfe Enttäuschung breit. Es war alles ein großer Schwindel, es gab gar keine Sternschnuppen! Plötzlich schämte sie sich für ihre Dummheit. Im Traum fühlte es sich sogar doppelt so schlimm an. Doch von irgendwoher war ein dritter Junge erschienen. Siegessicher strahlte er hinauf zur funkelnden Milchstraße.

»Schau mal, Luna-auf-Zack«, rief er stolz, »das mache ich nur für dich, knuddel!«

Seltsamerweise waren seine Worte von einer Chat-Blase umkringelt. Wie ein Ritter zog MARSMAN1 Pfeile aus seinem Köcher und schoss einen nach dem anderen in die Dunkelheit. Zurück kamen sie als die schönsten Schnuppen, die Louise jemals gesehen hatte.

»Was wünschst du dir?«, echote es wabernd umher.

»Lieber MARSMAN1, knuff«, antwortete Louise leise im Halbschlaf, »ich wünsche mir …«

»Ich glaub, ich spinne!«, tönte es da durch die Nacht. Ein Windzug fuhr in das weite weiße Nachthemd, das durch den mitternächtlichen Garten stolperte. Gespenstergleich flatterte es über den Plüschpuschen, in denen Vera, Louises Mutter, steckte. »Es ist tiefste Geisterstunde und du hockst im Garten! Wünschen ist morgen wieder, jetzt ist Schlafen!«

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Dicke Römer und nackte Griechen

Die gestrige Nacht hatte Spuren hinterlassen. Zum einen hatte ein silbriger Film, über dessen Herkunft sich Valentin keinerlei Illusionen hingab, das nagelneue Handy überzogen. Den Schneckenglibber loszuwerden, war jedoch einfach gewesen. Ein Tuch, etwas Chlorreiniger, zack! – weg und vergessen. Ein anderes war es dagegen, die unangenehme Frage zu beseitigen, die seitdem durch seinen Kopf spukte:

»Bin ich ein P…?«

Nein, das Wort wollte er nicht aussprechen, auch nicht in Gedanken. Er verschob die Frage in seiner Rübe an den äußersten Rand, so wie jetzt die Bohnen auf seinem Teller. Er mochte Kidneybohnen, aber seit Kurzem kannte er ihr Geheimnis und das – genau wie die nervige P-Frage – schmeckte ihm gar nicht. Und hier ging es nicht um Böhn-chen und Tönchen.

»Stimmt was nicht mit den Bohnen?« Seine Mutter Melanie saß vor dem aufgeklappten Laptop und durchsuchte die Ebay-Kleinanzeigen nach einem Ersatz für Paul und Paula. Die hatten tatsächlich die Segel gestreckt. Kein Wunder bei dieser Hitze, der war kein Goldfisch gewachsen. Valentin spürte eine gewisse Trauer über den Verlust der beiden. Doch das Gefühl hatte nur die Größe eines Goldfischpärchens; damit konnte er umgehen.

»Ich hab’s!«, rief Melanie aus. »Hier gibt’s zwei Schildkröten, sollen Zwillinge sein, die können sich einbuddeln, wenn’s zu heiß wird. Nur zwanzig Euro das Stück.«

»Zwillinge?«, wunderte sich Valentin und sortierte die nächste Bohne aus. »Woran haben die das erkannt?«

Melanie wischte die Frage mit einer Hand beiseite. Über den Rand ihrer Lesebrille hinweg inspizierte sie seinen Teller. »Was ist denn jetzt mit den Bohnen, bist du krank?« Sie berührte seine Stirn. »Nee, Fieber haste nicht. Also runter mit den Dingern!« Sie schnappte sich eine Bohne und drückte sie zwischen seine Lippen. »Schleusen auf, sonst gibt es keinen Nachtisch«, drohte sie.

Doch Valentin hielt die Lippen verschlossen.

Durch einen schmalen Spalt presste er: »Gladiatoren.«

»Gladi… was?« Melanie stutzte, dann aß sie die Bohne kurzerhand selbst.

Bei ihrer Superfigur konnte sie eine ganze Wagenladung Bohnen schadlos verdrücken, daran gab es für Valentin keinen Zweifel. »T-Dabbelju behauptet, die Gladiatoren im alten Rom hätten ständig Bohnen bekommen, damit sie ordentlich Speck zulegen.«

»T-was? Wer soll das sein?«, nuschelte Melanie undeutlich, während eine Bohne nach der anderen in ihrem Mund verschwand. Dann prustete sie eine halbe quer über den Tisch. »Dabbelju? So kann doch nur ein Idiot heißen, oder?«

»Sehr witzig. Mein Klassenlehrer, Herr Tornesch-Werstpohl«, klärte Valentin sie zum x-ten Mal auf. »Wieso kannst du dir das nicht merken? Hör mal zu: Mein Lehrer meint, durch die Bohnen und den Speck sollten die inneren Organe der Gladiatoren besser geschützt werden. In der Arena, beim Kampf, Mann gegen Mann, verstehst du? Bohnen machen total dick!«

Melanie nahm sich eine kurze Auszeit, um die Info zu verdauen.

Unangenehmerweise poppte in diesem Moment die Frage wieder in Valentins Kopf auf: Bin ich ein Pe…?

Fast wäre sie in ganzer Länge von Ohr zu Ohr gerauscht.

»Hmm, lecker Proteine und fettarme Ballaststoffe, mehr davon, jammijamm. Hol schon mal die Schwerter und bring auch die Lanzen mit!« Melanie fuchtelte mit ihrer Gabel vor Valentins Gesicht herum. »Null Problemo, Gladiator! Ernährungstechnisch ist mit diesen Bohnen alles bingobongo.«

Valentin stöhnte auf. Immer diese albernen Begriffe aus Melanies Jugend, wie superpeinlich. Dabei war seine Mutter schon 40 und sein Vater Daniel sogar schon 55 – »ein alter Sack«, wie Melanie gerne lästerte.

Genüsslich schaufelte sie den Rest der Beilage auf ihren Teller. »Im Ernst, Gladiator, die Bohnen sind unschuldig. Die alten Römer kannten noch keine Kartoffelchips, sonst hätten sie garantiert die verfüttert. Kartoffelchips, Cola und Schokoriegel. Damit solltest du anfangen, wenn du richtig dick werden willst.«

»Mensch, Mama! Ich bin schon dick!«

»Nicht lebensbedrohlich«, meinte Melanie trocken, dann wechselte sie das Thema. »Schwester Daniel hat erzählt, du hättest gestern Nacht Sternschnuppen gejagt?«

Schwester Daniel, so nannten sie Valentins Vater zum Spaß, wenn er nicht dabei war. Heute schob er Wochenenddienst als Krankenpfleger. Melanie grinste, doch Valentin war nicht nach Scherzen zumute. Er erinnerte sich bitter an die gestrige Nacht. MARSMAN1, der große Sternschnuppenjäger, hatte alle Schnuppen verpasst. Oder sie hatten sich vor einem Loser wie ihm versteckt. Und den Chat mit LAZ hatte er auch versaut. Woraufhin wieder die unangenehme Frage wie eine grelle Leuchtreklame in seinem Kopf erschien. Er legte die Gabel endgültig zur Seite. »Sag mal, Mama, glaubst du …« Kurz schluckte er aus Angst vor ihrer Antwort. »… denkst du, ich bin ein Pechvogel? Hältst du mich für einen Verlierer? Eine dicke Null, eine Nulpe?«

»Wie kommst du denn darauf?« Melanie sah ihn ratlos an.

Typisch, dachte Valentin, für seine Mutter war immer alles »null Problemo«. Sie wollte einfach nicht sehen, was für ihn spätestens seit letzter Nacht klar auf der Hand lag: Nichts in seinem Leben lief wirklich rund. Aus der Trommel, in der die Schönheit verlost wurde, hatte er eine Niete gezogen. Die Chancen, eine Freundin zu finden, waren damit gleich null. Und wer glaubte, dass alle Dicken automatisch Klassenbeste in den schwierigen Fächern waren, täuschte sich gewaltig. Auch Valentins Notendurchschnitt war eben genau das: nichts als Durchschnitt überall. Keine Voraussetzung, um wenigstens Nachhilfe geben zu können, wenn eines der hübschen Mädchen in der Schule nicht mehr mitkam.

Und es gab noch einen Durchschnitt, der auf Valentin zutraf, wenn auch erst auf den zweiten Blick: Im Schnitt – so hatte T-Dabbelju erklärt – zeugten deutsche Eltern rund 1,5 Kinder. Auch hier hatte die Statistik zu seinen Ungunsten zugeschlagen. Sogar ohne Geschwister brachte er das Gewicht von anderthalb Kindern auf die Waage. Okay, das war übertrieben – aber nicht viel.

»Ich bin es so satt«, stieß er frustriert hervor, »am liebsten wäre ich jemand ganz anderes!«

»Für mich bist du ein Glückspilz. Du bist ein super Typ, du bist schlau und kerngesund, und wenn du wirklich ein bisschen abnehmen willst, dann schaffst du das auch easy-peasy«, widersprach seine Mutter. »Das Einzige, was dir fehlt, ist Selbstvertrauen.«

Melanies Diensthandy piepte. Sie ging ran, hörte kurz zu, dann warf sie die benutzte Serviette auf den leeren Teller und sprang auf. »Ich muss zur Klinik, ein Notfall. Bei der Gelegenheit kann ich gleich mal schauen, was Schwester Daniel so treibt. Räumst du ab, Gladiator?«

Nach einem lauten Schmatzer auf Valentins Stirn verschwand sie im Bad.

Doch kaum hatte Valentin die Teller genervt in die Spülmaschine verfrachtet, war Melanie auch schon zurück – frisch geschminkt und in ihrem weißen Ärztinnendress.

»Bis später!« Auf dem Weg zu ihrem Fahrrad pfiff sie die Titelmelodie aus dem Film Gladiator.

Warum nur, fragte sich Valentin, hatte er die Figur seines Vaters geerbt, und nicht ihre? Und wieso hatte Melanie ungefähr neun Monate vor seiner Geburt ein Auge auf den unförmigen Krankenpfleger Daniel geworfen? Laut ihrer Aussage war es so gelaufen: Nur eine einzige Weihnachtsfeier der Klinik hatte gereicht, um sie für immer zusammenzuschweißen. Noch heute schwärmte Melanie von Daniels grandiosem Hüftschwung. »Führen konnte der! Huiuiui!« Manchmal pfiff sie bei dieser Erinnerung wie ein Fußballfan in der Südkurve. Angeblich lagerten im Keller noch Filme mit Daniels »heißesten« Tanzschritten.

Sie waren eines der wenigen Ehepaare, bei denen sich die Ärztin in die »Schwester« verliebt hatte. Valentin räumte das schmutzige Besteck ein und stellte sich die beiden auf der Tanzfläche vor. Seine zierliche Mama in den gewaltigen Pranken seines groben Vaters. Die belustigten Blicke der Kollegen und das Getuschel hinter vorgehaltener Hand. Nein, so etwas gab es nur einmal. Niemals würde er selbst eine so schöne Frau erobern.

Plötzlich verwandelte sich Melanie in seiner Vorstellung in Linda-Ev, die Prinzessin der 7b. Und er selbst war der Tänzer, den sie anschmachtete. Nicht zum ersten Mal träumte Valentin von der Klassenschönheit mit den schulterlangen dunklen Haaren und der Traumfigur. Leider lebte sie in einer fernen Galaxis, auch wenn Valentin beinahe täglich den Klassenraum mit ihr teilte. Ihm blieben nichts als seine einsamen Tagträume, so wie dieser: Sie schmiegt sich eng an ihn und lässt sich von ihm über den Dance-floor schieben, und wie aufregend sie riecht! Ob er auch so gut »führen« kann wie Daniel? Woher sollte er das wissen? Er hatte noch nie getanzt, weder heimlich zu Hause, noch auf einer Party oder sonst wo. Dann legt er in seiner Vorstellung seinen Arm entschlossen um ihre Taille und lächelt Linda-Ev an. Wie schön sich das anfühlt – also greift er noch ein wenig fester zu.

»Aaarrghh!«, stöhnte Valentin auf, er hatte ungeschickt in eines der Messer in der Spülmaschine gegriffen. Wäre jemand in der Nähe gewesen, hätte er laut gejammert, Schmerzen konnte er einfach nicht ertragen, Blut brachte ihn an den Rand einer Ohnmacht. »Pechvogel, Pechvogel, verdammter Pechvogel!«

Schimpfend rannte er ins Bad, um die Wunde zu versorgen. Er brauchte seine Hand heute noch. Um zwei hatte er ein Gaming-Date mit Pavlos, seinem griechischen Freund, auch dick. Sehr dick.

Nudel, dachte Louise verträumt und schlug die Augen auf. Dann stolperte sie gähnend zum Fenster, ließ die Sonne rein und streckte einen nassen Finger hinaus. Südwind, perfekt. Bei dieser Wetterlage rauschte der fiese Stinkewind glatt an ihrem weitläufigen Anwesen vorbei. Nicht selten war der Geruch kaum zu ertragen, alle Fenster mussten geschlossen bleiben. Die teure Klimaanlage sorgte dann für gute Luft im Haus und in der angrenzenden Schwimmhalle. Doch heute waren alle Vorsichtsmaßnahmen überflüssig.

Louise blinzelte in den parkähnlichen Garten und warf den »Nackten« abfällige Blicke zu. Der Weg zum Springbrunnen war gesäumt von entblößten Frauen und Männern. Sie trugen nichts am Leib außer Lorbeerkränze auf dem Kopf und griechische Sandalen an den weißen Füßen. Die Kerle schlank und muskulös und na ja … darüber wollte Louise gar nicht nachdenken, und die Frauen grazil geformt wie Schönheitsköniginnen. Jeder Tag begann für Louise im Angesicht dieser Parade perfekter Körper.

Werner, ihr Vater, hatte die kitschigen Gipsfiguren aufstellen lassen. »Ein Sonderposten, brutal runtergesetzt!«, hatte er gejubelt und gleich die ganze Bande beim Gartengroßmarkt erstanden. Das durfte allerdings keiner wissen. Die offizielle Version lautete, dass sie von Rhodos stammten. Der Insel, auf der die Familie Mauser im vorletzten Jahr die Ferien verbracht hatte.

Paradies – Zutritt nur für mich!