Mami – 1891 – Der freche kleine Max

Mami
– 1891–

Der freche kleine Max

Ihn locken die Kirschen im Nachbars Garten

Sina Holl

Impressum:

Epub-Version © 2016 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: http://www.keltermedia.de

E-mail: info@kelter.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74092-198-9

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»Max, bitte, du stehst im Weg…«

Dieser Stoßseufzer errang sich seiner Mutter, die eine Kiste mit Büchern in die Stube schleppte.

Max trat einen Schritt zur Seite und damit genau auf die schweren Schuhe des Möbelträgers, der hinter sich das Sofa trug.

»Oh, Junge, reiß aus!« donnerte seine tiefe Stimme.

Max verzog sich in eine Ecke des Wohnzimmers, wo sich bereits einige Kisten stapelten.

»Nein, das Sofa kommt an diese Wand«, dirigierte die Mutter die beiden hünenhaften Möbelträger zur anderen Seite des Wohnzimmers. »Die Anbauwand kommt hier gegenüber. Bitte gehen Sie vorsichtig mit den Glasscheiben um.«

»Wir haben unseren Job gelernt«, knurrte einer der Männer.

Max hatte seine Spielzeugkiste unter dem Stapel der anderen Kartons entdeckt. Mit aller Kraft versuchte er, die darüberliegende Kiste wegzudrücken. Es polterte, als sie zu Boden fiel.

»Max, was machst du denn nur?« Die Mutter zog ärgerlich die Augenbrauen zusammen.

Betreten blickte Max auf den Karton. Es war der Karton mit den Gläsern. Doch dann verzogen sich seine Lippen trotzig. »Mir ist langweilig«, sagte er.

»Dann geh bitte hinaus in den Garten. Wenigstens solange die Träger noch die Möbel hereinbringen. Du kannst dann dein Zimmer selbst einrichten, wie du es gern hättest.« Sie lächelte jetzt versöhnlich.

Max senkte den Kopf und trottete hinaus zu der offenen Glastür auf die Terrasse. Von dort führten einige Stufen hinunter in den kleinen Garten. Er blickte sich um.

Es war das vierte Haus am Ende eines Reihenhausblockes, das er mit seiner Mutter bezog. Das heißt, wenn es nach Max gegangen wäre, wären sie niemals hierher gezogen, auch wenn das Haus recht hübsch war, das mußte Max zugeben. Und er sollte sein eigenes Zimmer bekommen, oben unterm Dach. Ein Zimmer mit schrägen Wänden und vielen Ecken und Winkeln, in denen er sein Spielzeug unterbringen konnte. Auch der Garten war nicht schlecht mit der Wiese, umsäumt von Stauden, die ihre ersten grünen Triebe in den strahlend blauen Himmel streckten.

Die Sonne lachte, und es war sehr warm. Nichts erinnerte an das Aprilwetter der letzten Tage mit Regen, Schneeschauern und heftigem Wind. Alles in allem hätte Max recht zufrieden sein können, aber er war es nicht. Er war traurig, traurig, daß er alle seine Freunde zurücklassen mußte in der großen Stadt, die seine Mutter unbedingt verlassen wollte. Und nicht nur seine Freunde blieben zurück, auch der alte Schrottplatz, auf dem sie abenteuerliche Spiele getrieben hatten, oder der Platz hinter dem alten Fabrikgelände, auf dem sie immer Fußball spielten.

Es waren vertraute Plätze, vertraute Straßen, selbst die Schule und seine Lehrer, nach denen er sich bis jetzt kaum gesehnt hatte, erschienen ihm nun begehrenswert und so unendlich fern.

Natürlich hatten sich Max und seine Freunde versprochen, sich gegenseitig zu besuchen. Doch als er Stunde um Stunde im Zug saß und auf die hinter dem Fenster vorbeigleitende Landschaft blickte, ahnte er, daß die Welt größer war, als er sie sich bisher vorgestellt hatte und die kleine Stadt, in die sie nun zogen, unendlich weit weg lag von seiner alten Heimat.

Die Mutter hatte es Max erklärt, daß sie eine neue Arbeit bekommen hatte, in einer Apotheke der kleinen Stadt. Und eines Tages würde sie diese Apotheke vielleicht sogar übernehmen und selbst führen können.

Doch Max hatte dafür wenig Verständnis. Apotheken gab es in seiner Heimatstadt doch auch, sehr viele sogar, und in einer von ihnen hätte seine Mutter bestimmt eine Stelle bekommen. Aus irgendeinem Grund wollte sie nicht mehr in dem großen Pharma-Werk arbeiten. Irgendwie mußte es mit seinem Vater zu tun haben, aber darüber sprach die Mutter nie. Wenn Max sie nach seinem Vater fragte, wurde ihr Gesicht traurig und dann erzählte sie, daß sein Vater sehr viel zu tun hätte in diesem riesengroßen Betrieb und sich deshalb nicht um Max und seine Mutter kümmern könne.

Nun waren sie also hier. Das Reihenhaus sah schmuck aus, hatte einen weißen Putz und rote Dachziegel. Große Fenster ließen viel Licht in die Zimmer, vom Wohnzimmer führte eine breite Glastür hinaus auf die Terrasse, wo bereits die Gartenmöbel unter ihrer Schutzplane standen.

Im Garten selbst wuchsen einige kleinere Bäume, deren Blätter ans Sonnenlicht drängten. Max kannte sich nicht aus mit Bäumen, er hatte keine Ahnung, ob es sich vielleicht um Obstbäume handelte. Doch auch das war ihm egal. Er hatte einfach keine Freude an seinem neuen Heim. Verdrießlich schaute er über den niedrigen Gartenzaun. Ein gleich großer Garten schloß sich an der linken Seite an. Er war nur ein wenig anders aufgeteilt, die Rasenfläche war kleiner, dafür gab es viele Beete, einige bereits mit kümmerlichen Salatpflänzchen unter einer Folienhaube bestellt. Auch zwei große Bäume standen im Garten. Im hinteren Teil, versteckt hinter Büschen, sah er einen hölzernen Schuppen. Vielleicht gab es Kinder in seinem Alter, mit denen er sich anfreunden konnte. Er erschrak über seine Gedanken. Das hieße ja, daß er sich mit seinem Schicksal abgefunden hätte, in diese kleine Stadt zu ziehen! Dabei wollte er seiner Mutter doch unmißverständlich klarmachen, daß er mit dem Umzug nicht einverstanden war.

Natürlich hatte die Mutter bereits lange vor dem Umzug mit ihm gesprochen, hatte versucht, ihm zu erklären, warum sie umziehen wollte. Doch Max hatte gar nicht richtig hingehört. Er war dagegen, das hatte er seiner Mutter einmal gesagt, und von seinem Standpunkt war er bislang keinen Fußbreit abgewichen. Doch er war nur ein neunjähriger Junge, dessen Wort bei den Erwachsenen nicht allzuviel galt.

Was den Umzug betraf, schien es überhaupt nichts zu gelten. Denn trotz seines Protestes begann die Mutter eines Tages, die Schränke auszuräumen und alles in Unmengen von Kartons zu verpacken. Auch Max’ Kleidung, sein Spielzeug und die Schulsachen wurden aus dem Zimmer geräumt. Dann kamen Männer, schraubten die Möbel auseinander und verluden alles in ein großes Auto. Noch am gleichen Tag fuhr die Mutter mit Max zum Bahnhof, eine Reisetasche mit den nötigsten Utensilien in der Hand, und sie bestiegen einen Zug, der sie in diese kleine Stadt brachte.

Wie klein die Stadt war, sah Max daran, daß es keine Straßenbahn gab und offensichtlich die Busse auch nur in größeren Abständen fuhren. Auf dem Bahnhofsvorplatz standen nur drei Taxis. Max’ Mutter entschloß sich, ein Taxi zu nehmen, das sie an den Stadtrand in die Siedlung im Lerchenweg brachte und vor dem Haus Nummer siebzehn hielt.

Der Möbelwagen war schon angekommen und die Träger hatten bereits die ersten Möbel abgeladen. Mit sanfter Gewalt mußte sie Max vom Rücksitz des Taxis ziehen, denn am liebsten wäre Max zum Bahnhof zurückgefahren, hätte den nächsten Zug bestiegen und wäre in seine alte Heimatstadt zurückgekehrt.

Die Terrassentür des Nachbarhauses stand etwas offen, und der Wind bauschte die Gardinen. Max reckte den Hals, um etwas mehr zu erkennen. Und da sah er eine Bewegung hinter den Gardinen, die Gestalt eines Mannes. Es mußte ein älterer Mann sein, denn sein Haar war schlohweiß und er ging etwas gebeugt. Jetzt zog er die Gardine zurück und steckte den Kopf zur Terrassentür heraus. Mit argwöhnischen Blicken betrachtete er das Durcheinander auf der Terrasse der neu eingezogenen Nachbarn. Dann entdeckte er Max, der mit offenem Mund am Zaun stand und zu dem alten Mann herüberstarrte. Der alte Mann zog ein sehr finsteres Gesicht, warf Max einen bösen Blick zu und brummte irgend etwas vor sich hin. Dann warf er die Terrassentür zu und zog mit einem Ruck die Gardine vor.

Das konnte ja heiter werden, dachte Max. Ein griesgrämiger alter Opa, der offensichtlich etwas gegen die neuen Nachbarn im allgemeinen und gegen Kinder im besonderen hatte!

*

Stefanie Herzog hatte den Möbelträgern ein reichliches Trinkgeld in die Hand gedrückt und sah dem abfahrenden Möbelwagen nach. Dann drehte sie sich um, stieg über Kisten, aufgerollte Teppiche und Koffer und ließ sich mit einem tiefen Seufzer inmitten dieses Chaos auf dem Sofa nieder.

Max hatte seine Mutter durch die große Scheibe der Terrassentür gesehen und kam hereingeschlendert. Sein Gesicht drückte aus, was sein Herz bewegte.

Stefanie blickte auf und lächelte. Sie streckte die Arme nach ihrem Sohn aus. »Komm zu mir, Max«, sagte sie sanft und zog ihn zu sich auf den Schoß. Verzweifelt schlang Max seine Arme um ihren Hals und legte das Gesicht an ihre Schulter.

»Gefällt es dir nicht?« fragte sie leise.

Stumm schüttelte Max den Kopf.

»Warte nur, wenn alles erst eingeräumt ist, alle Sachen an ihrem Platz sind, dann wird es gemütlicher.«

»Kann sein«, murmelte Max kaum hörbar.

»Du wirst dich daran gewöhnen, und bald wirst du feststellen, daß es hier viel schöner ist als in der schmutzigen Großstadt mit ihrem Lärm und den alten Häusern.«

»Mir hat es dort gefallen«, erwiderte Max trotzig. »Außerdem gibt es hier einen Nachbarn, der ganz böse geguckt hat.«

»So? Das kommt dir sicher nur so vor. Morgen werden wir uns bei den Nachbarn vorstellen, damit sie uns kennenlernen, und dann schauen sie auch nicht mehr böse. Doch heute müssen wir beide noch allerhand erledigen. Wie wäre es, wenn du in deinem Zimmer bereits deine Schulsachen ausräumst?«

»Schulsachen?« fragte Max entsetzt. »Aber du hast mir doch versprochen, daß ich eine Weile zu Hause bleiben darf.«

»Von einer Weile war keine Rede«, erwiderte die Mutter sanft. »Nur drei Tage. Heute ist der zweite Tag. Nur noch morgen darfst du zu Hause bleiben, übermorgen mußt du in die neue Schule gehen.«

Enttäuscht wandte Max sich ab. Auch das noch! Nicht einmal mit einer zusätzlichen Ferienwoche konnte die Mutter ihm den Umzug versüßen!

Mit schleppenden Schritten stieg er die Treppe hinauf in sein neues Zimmer, das von nun an sein eigenes Reich sein würde. Eigentlich freute sich Max, ein eigenes Zimmer zu besitzen. Nach der Scheidung seiner Eltern waren sie bereits einmal umgezogen, in eine kleinere Wohnung, die nur zwei Zimmer hatte. Und da schlief Max zusammen mit seiner Mutter in einem Zimmer, in einer Ecke neben dem Wäscheschrank stand sein Spielzeugregal, und seine Hausaufgaben erledigte er stets am Küchentisch. Hier hatte er nicht nur ein ganzes Zimmer für sich allein, Mutter hatte ihm auch gestattet, die Wände mit seinen Lieblingspostern zu verzieren. Er konnte allein schlafen, und in der kommenden Woche wollte sie ihm im Möbelhaus sogar einen kleinen Schreibtisch kaufen, wo er seine Schularbeiten erledigen konnte. Sein Bett und das Spielzeugregal standen schon im Zimmer, daneben zwei Kisten mit seinem Spielzeug und seinen Schulsachen.

Max beachtete die Kisten jedoch kaum, sondern ging zum Fenster. Er stellte sich auf die Zehenspitzen und sah hinaus. Sein Blick fiel in den Garten und auf die großen Kastanienbäume, die entlang des Weges hinter dem Garten standen. Einige Radfahrer kamen vorbei, Vogelgezwitscher drang durch das geöffnete Fenster. Langsam drehte er sich um und begann, seine Spielsachen auszupacken. Obenauf lag ein kleiner Karton, durch dessen Klarsichtfolie im Deckel Max den Inhalt sehen konnte. Es war ein Segelschiff, sehr kunstvoll gebaut, mit drei Masten und vielen Segeln und einer Piratenflagge am Top. Es war eines dieser Schiffe, mit denen Seeräuber ihre aufregenden Abenteuer erlebten.

Es war ein Geschenk seines Vaters. Für Max war es wie ein Abschiedsgeschenk, denn wenn er seinen Vater in den letzten Jahren auch kaum zu Gesicht bekommen hatte, so würde es jetzt, bei dieser Entfernung, fast unmöglich sein.

Eigentlich kannte Max seinen Vater kaum noch, so selten hatte er sich um seinen Sohn gekümmert. Zu Weihnachten kam er, um ein großes und teures Geschenk zu bringen, und zu Max’ Geburtstag kam er auch, um mit Max in den Zoo und Eisessen zu gehen und ihm dann wieder ein teures Geschenk zu überreichen. In den letzten beiden Jahren kam er überhaupt nicht mehr, sondern jedesmal brachte die Mutter ein in buntes Papier eingewickeltes Geschenk mit der Bemerkung, daß es vom Vater sei.