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Transit wird herausgegeben am Institut für die Wissenschaften vom Menschen

(IWM) in Wien und erscheint im Verlag Neue Kritik, Frankfurt am Main

Herausgeber: Krzysztof Michalski (Wien / Boston)

Redaktion: Klaus Nellen (Wien)

Redaktionsassistenz: Sven Hartwig

Redaktionskomitee: Jan Blonski †, Peter Demetz (New Haven), Timothy Garton Ash (Oxford), Jacqueline Hénard (Paris), Tony Judt (New York), Cornelia Klinger (Wien), Janos Matyas Kovacs (Budapest / Wien), Claus Leggewie (Essen), Jacques Rupnik (Paris), Aleksander Smolar (Warschau / Paris), Josef Wais (Wien, Photographie)

Beirat: Lord Dahrendorf (London), Bronislaw Geremek †, Elemer

Hankiss (Budapest), Petr Pithart (Prag), Fritz Stern (New York)

Redaktionsanschrift: Transit, Institut für die Wissenschaften vom Menschen,

Spittelauer Lände 3, A-1090 Wien, Telefon (+431) 31358-0, Fax (+431) 31358-30

Website von Transit: Europäische Revue und Tr@nsit_online: www.iwm.at/transit

 

Transit erscheint zweimal im Jahr. Jedes Heft kostet 14 Euro (D). Transit kann im Abonnement zu 12 Euro (D) pro Heft (in D und A portofrei) über den Verlag bezogen werden.

Verlagsanschrift: Verlag Neue Kritik, Kettenhofweg 53, D-60325 Frankfurt /Main, Telefon (069) 72 75 76, Fax (069) 72 65 85, E-mail: verlag@neuekritik.de

 

 

Wir danken der Kunstsektion des Bundesministeriums für Unterricht, Kunst und Kultur für die Förderung des photographischen Beitrags in diesem Heft.

 

 

CIP-Titelaufnahme der Deutschen Nationalbibliothek

Transit: europäische Revue / hrsg. am Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM) in Wien. Frankfurt am Main: Verl. Neue Kritik

Erscheint zweimal jährlich. - Aufnahme nach 1 (1990)

ISSN 0938-2062

 

Transit ist Partner von Eurozine – the netmagazine (www.eurozine.com), einem Zusammenschluss europäischer Kulturzeitschriften im Internet, sowie von La République des Idées (www.repid.com). Transit is regularly listed in the International Current Awareness Services. Selected material is indexed in the International Bibliography of the Social Sciences.

 

© 2009 für sämtliche Texte und deren Übersetzungen Transit / IWM

 

E-Book Ausgaben 2016

978-3-8015-0582-0 (epub)

978-3-8015-0583-7 (mobi)

978-3-8015-0584-4 (pdf)

 

TRANSIT 37 (SOMMER 2009)

 

POLITIK DER VIELFALT

 

Editorial

 

Mit der Straßenbahn zum Kinderheim

Ein Gespräch mit Henryka Krzywonos über Solidarität

 

Alan Wolfe

Kosmopolitismus und Immigration

 

Kenneth Prewitt

Soziale Ungleichheit und demographische Vielfalt

Dilemmata der Antidiskriminierungspolitik in den USA

 

Robert C. Lieberman

Die Wurzeln der »Affirmative Action«

Antidiskriminierungspolitik in den USA und in Europa

 

Heinz Bude

Die Klasse der Überflüssigen

 

Beatrix Novy

Wien ist anders! Ist Wien anders?

Sozialräumliche Aspekte von Migration und Integration in einer traditionellen Einwandererstadt

 

Hermann Paul Huber

Die Zabbalin von Kairo. Photographien

 

Claus Leggewie

Wie notwendig sind Kunst und Kultur für die gesellschaftliche Einbindung von Zuwander/Innen?

Das Beispiel der Kulturregion Ruhr

 

Timothy Snyder

Zwischen Hitler und Stalin

Die beispiellose Rettungsaktion der Bielski-Brüder

 

Krysztof Pomian

Europäische Identität

Historisches Faktum und politisches Problem

 

Jacques Rupnik

Die Krise und das Ende des WirtschaftsLiberalismus in Mitteleuropa

 

Jan-Werner Müller

Christdemokratie – ein Modell für »muslimische Demokratie«?

 

Ivan Chvatik

Geschichte und Vorgeschichte des Pager Jan Patocka-Archivs

 

Zu den Autorinnen und Autoren

EDITORIAL

 

Womit sich die Vereinigten Staaten schmücken, scheint Europa nicht wahrhaben zu wollen: dass es längst ein Einwanderungskontinent ist. Zumindest scheint Europa vergessen zu haben, dass es eine »jahrhundertelange Geschichte innerer Arbeitsmigration (hat). In der offiziellen Geschichtsschreibung, die Europa stets als Auswanderungs-, nie aber als Einwanderungskontinent beschreibt, führt diese Geschichte ein Schattendasein.« schreibt Saskia Sassen in einem früheren Heft.1 Es ist eine Geschichte, in der ethnische Gruppen, die heute zum Kernbestand des Alten Kontinents gehören, Gewalt und Hass ausgesetzt waren. Vielleicht wäre es hilfreich, wenn die Europäer sich heute daran erinnerten, wie sie ihre Ressentiments überwunden haben. Warum, fragt Sassen, sollten ›wir‹ und jene, die wir heute als so anders wahrnehmen, nicht einen ähnlichen Wandlungsprozess durchmachen? Wie Alan Wolfe in seinem Beitrag unterstreicht, zeigt ein Blick auf die Geschichte der Immigration, dass sie sich am Ende für die Einwanderer ebenso lohnt wie für die aufnehmenden Gesellschaften.

Unbestreitbar sind heterogene Gemeinwesen anfälliger für innere Konflikte als relativ homogene. Diversität ist stets eine Herausforderung für den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Der Schwerpunkt dieses Heftes beschäftigt sich mit den Antworten der Politik auf die wachsende Vielfalt unserer Gesellschaften.

»In Vielfalt geeint« heißt das Motto der Europäischen Union. Es symbolisiert ein Programm, das mit einer Diversität konfrontiert ist, die ungleich komplexer ist als die schlichte Vielfalt nationaler Kulturen. Mehrere Faktoren, besonders die rapide wachsende Migration, haben in Europa dazu geführt, dass die innere ethnische, religiöse und kulturelle Vielfalt sprunghaft gestiegen ist. In dem Maße, wie die zunehmenden Unterschiede »sich zu einer Gefahr für den politischen und gesellschaftlichen Zusammenhalt auszuwachsen drohten, der die Gesellschaften Nachkriegseuropas so lange ausgezeichnet hatte«, schreibt Robert C. Lieberman in diesem Heft, »machte sich in immer mehr Ländern Europas das Bedürfnis geltend, etwas gegen ethnische Diskriminierung zu tun. Die geistigen Väter der neu verfassten Europäischen Union erhoben das Diskriminierungsverbot sogar in den Rang eines für alle ihre Mitglieder geltenden Grundsatzes. Gemäß dem Vertrag von Amsterdam, der 1999 in Kraft trat, garantiert die EU den Bürgern ihrer Mitgliedsländer Schutz vor jeglicher Diskriminierung.«

Lieberman vergleicht die Anstrengungen der Union mit der viel älteren Politik der »affirmative action« in den USA, die im Laufe ihrer von inneren Konflikten gezeichneten Geschichte eine differenzierte Antidiskriminierungspolitik entwickelt haben. Sie ist abgestellt auf die bis heute schmerzenden Wunden und Narben, welche die Sklaverei in dieser Gesellschaft hinterlassen hat. Die einschlägigen Gegenmaßnahmen haben im Laufe der Zeit freilich zu politischen Dilemmata geführt, die Kenneth Prewitt analysiert. Eine Ursache liegt in der Zählung und Klassifizierung der amerikanischen Bevölkerung nach Rassen – eine Praxis, die sich bis heute auf Theorien des 18. Jahrhunderts stützt: »Rasse ist das Prisma, durch das die Vielfalt der amerikanischen Bevölkerung seit alters wahrgenommen wird.« Der aus den 1960er Jahren stammenden klassischen Antidiskriminierungspolitik, die sich auf universale Bürgerrechte beruft, steht heute eine Politik des Multikulturalismus gegenüber, die sich auf partikulare Gruppenrechte stützt. Nicht wenige Beobachter sind über diese Entwicklung beunruhigt, da sie liberale Wertvorstellungen bedroht und geeignet ist, den fragilen Zusammenhalt der amerikanischen Gesellschaft zu untergraben. Prewitt zitiert Arthur M. Schlesinger, der fürchtet, dass der »Kult der ethnischen Zugehörigkeit« zu einem Rückfall Amerikas in eine Stammesgesellschaft führt.

Während die Vereinigten Staaten auf eine lange Tradition der Integration zurückblicken können, steht die Europäische Union erst seit relativ kurzer Zeit – insbesondere angesichts Globalisierung, demographischem Wandel und Osterweiterung, aber auch hier aufgrund der Proliferation von Gruppenidentitäten – vor der Aufgabe, eine entsprechende Politik auf supranationaler Ebene zu entwickeln. Sie kann dabei zurückgreifen auf die Erfahrungen jener Mitgliedsländer, die sich bis heute (mit unterschiedlichem Erfolg) mit dem Erbe ihrer Kolonialpolitik auseinander setzen müssen, wie Großbritannien, Frankreich oder die Niederlande. Die Europäer können aber auch, trotz ihrer so unterschiedlichen Geschichte, viel von den Amerikanern lernen. Dazu finden sich zahlreiche Hinweise in den eben genannten Artikeln.

Der Übergang von einer defizitorientierten Minderheitenpolitik zu einer gruppenübergreifenden und ressourcenorientierten Politik der Vielfalt scheint hier besonders vielversprechend. Zu beobachten ist eine positive Wendung des gesetzlichen Antidiskriminierungsauftrags, die inzwischen von den USA auf Europa übergesprungen ist und sich in der Praxis eines produktiven, »wertschätzenden« Umgangs mit kulturellen Unterschieden durch Unternehmen, Organisationen und öffentliche Verwaltungen niederschlägt. Wie ein kluges »diversity management« auf der Ebene der Stadtplanung aussehen kann, zeigt der Beitrag von Beatrix Novy über zwei Wiener Stadteile, Ottakring und Favoriten. 2010 wird die »Metropole Ruhr« Kulturhauptstadt Europas sein. Im Vorfeld wurde das Kulturwissenschaftliche Institut in Essen eingeladen, dazu Ideen zu entwickeln. Claus Leggewie machte in seinem hier abgedruckten Beitrag zum Kongress »Vielfalt verbindet. Die Künste und der Interkulturelle Dialog in europäischen Städten« einige Vorschläge, wie man das Ruhrgebiet, dieses Konglomerat von schrumpfenden, tief in der Krise steckenden Industriestädten, neu erfinden könnte. Seine Anregungen haben für einige Diskussion gesorgt, nicht zuletzt, weil sie die bisher in der Region gepflegte Kultur- und Integrationspolitik radikal herausfordern.

Gegenüber der von Heinz Bude beschriebenen neuen Gruppe der »Überflüssigen« herrscht allgemeine Ratlosigkeit. Die Betroffenen werden nicht aus Gründen kultureller, ethnischer oder religiöser Differenzen aus den westlichen Gesellschaften ausgeschlossen, gehörten sie doch noch vor Kurzem zu ihrem Kern. Sie sind einfach herausgefallen – Opfer eines unter dem Druck der Globalisierung beschleunigten Rationalisierungsprozesses. Die Überflüssigen erzeugen Angst, weil jedem von uns morgen dasselbe zustoßen kann. Und sie erzeugen schlechtes Gewissen, weil sie »die Idee einer Gemeinschaft (beschwören), in der jeder und jedem ein Platz zukommt. (…) Die Überflüssigen appellieren durch ihr bloßes Dasein an das Versprechen eines sozialen Zusammenhangs, in dem niemand verlorengeht.« Angesichts des nicht nur materiellen, sondern auch existentiellen Elends dieser Gruppe scheint die institutionalisierte Solidarität des Wohlfahrtsstaats an ihre Grenzen zu stoßen. Der Heftschwerpunkt wird umrahmt von zwei Beispielen individueller Solidarität. Henryka Krzywonos blockierte am 15. August 1980 mit ihrem Straßenbahnzug den Danziger Verkehr und initiierte damit einen Generalstreik, der dem kommunistischen Regime den ersten entscheidenden Schlag versetzte. In ihrem Gespräch erzählt sie über ihre Zeit bei der Solidarność und über ihre Fürsorge für die Kinder, die sie seit der Wende aus prekären Verhältnissen herausholt. In der schwärzesten Zeit des Zweiten Weltkriegs und auf dem damals wohl gefährlichsten Territorium, heute im Westen Weißrusslands gelegen, haben die Bielski-Brüder hunderten von verfolgten Familien das Leben gerettet. Timothy Snyder bespricht die Verfilmung dieser Tat und analysiert die widersprüchliche Rezeption von Defiance.

In seinem Bildbeitrag beschäftigt sich der Photograph Hermann P. Huber mit den Zabbalin, die zum größten Teil der koptischen Minderheit angehören und in Kairo in Konkurrenz mit den offiziellen Entsorgungsunternehmen den Müll einsammeln. Ausgegrenzt von der übrigen Bevölkerung leben sie in ihrer »Müllstadt« vom Recycling des Abfalls der 20 Millionen-Metropole. Kairo besitzt dank der Arbeit der Zabbalin die wahrscheinlich höchste Recyclingrate der Welt. Im zweiten Teil des Hefts versucht Krzysztof Pomian die kulturelle Tiefenstruktur Europas freizulegen – gewissermaßen als Gegengewicht zu dessen wachsender Vielfalt. Jacques Rupnik diagnostiziert das Ende des Wirtschaftsliberalismus in Mitteleuropa, und Jan-Werner Müller leitet aus der Geschichte der europäischen Christdemokratie eine überraschende Perspektive für die Demokratie in den islamisch geprägten Ländern ab. Das Heft beschließt ein Beitrag von Ivan Chvatik über die Geschichte des Prager Jan Patocka-Archivs, mit dem das Wiener Institut für die Wissenschaften vom Menschen seit vielen Jahren zusammenarbeitet.

 

Wien, im Juni 2009


1 »Einwanderungskontinent Europa«, in: Transit – Europäische Revue, Heft 29, 2005

MIT DER STRAßENBAHN ZUM KINDERHEIM

Ein Gespräch mit Henryka Krzywonos über Solidarität1

 

Sobald ein Ereignis abgeschlossen ist, bleibt nur noch seine Kontur sichtbar, wie der Panzer einer von der See ausgewaschenen Krabbe. So wird auch die Geschichte der Solidarność, die niemals wirklich geschrieben, aber immer politisch ausgebeutet wurde, zunehmend oberflächlich, starr und abstoßend. Das hier abgedruckte Gespräch mit Henryka Krzywonos gibt dem Ereignis ein wenig von seiner Lebendigkeit zurück. Es hilft uns, die Solidarität, die friedliche Revolution von 1980-89, vom heutigen Polen zu trennen und so beides besser zu verstehen.

Henryka Krzywonos wurde zu einer historischen Figur durch das, was sie 1980 und danach tat. Sie war eine Straßenbahnfahrerin, und sie beschloss, ihre Tram vor der Danziger Oper zum Stillstand zu bringen, um den Verkehr zu blockieren. Als sie es tat, applaudierten die Fahrgäste. Hätte sie es nicht getan, niemand hätte sich beklagt. Es gab einen Moment persönlicher Wahl, einer angstgeplagten Wahl, in einem historisch kritischen Moment. Durch ihre Entscheidung machte Henryka Krzywonos Geschichte: Sie initiierte den Streik des öffentlichen Verkehrs, der einen entscheidenden Schritt in der Eskalation des Werftarbeiterstreiks zum nationalen Ereignis bedeutete.

Henryka Krzywonos ist ein typisches Kind der Arbeiterklasse. Der Streik auf der Lenin-Werft im August 1980 brachte sie mit Intellektuellen zusammen wie etwa Bogdan Borusewicz oder Jacek Kuroé. Ihre Beschreibung Lech Wałbsas heroisiert ihn nicht, sondern stellt ihn als jemanden dar, der Menschen zu mobilisieren und auf ein Ziel einzuschwören vermag. Ihre Charakterisierung klingt echt und plaziert Wałbsa dort, wo er hingehört: in der Mitte, nicht unbedingt an der Spitze der Ereignisse. Die Gruppe von Menschen, von denen sie erzählt, erinnert uns auch daran, dass nicht jeder, der damals eine Rolle spielte, dies auch heute noch tut. Einige sind gestorben, andere vergessen.

Ihr Leben verbindet die furchtbaren Repressionen unter der deutschen und der sowjetischen Okkupation Polens mit der Gegenwart, nicht vermittels großartiger Theorien, sondern kraft Familienerfahrung. Wie die Kindheit von Millionen von Polen, war auch die ihre gezeichnet vom Leid der Eltern – ein Leid, das die Eltern nie voll artikulierten und das ihre Kinder erst viel später begriffen. Diese Pathologie (so ihre eigene Wahrnehmung) schuf eigensinnige Loyalitäten und führte, zumindest in ihrem Fall, zur Verabscheuung von Gewalt. Die Solidarność war, neben vielem anderen, der Versuch, ein auf Gewalt gegründetes System gewaltlos zu ändern. Das ist freilich nur eine negative Definition. Das weiche und lebendige Zentrum der Bewegung, jener Teil, der am schwierigsten zu erfassen und zu beschreiben ist, war der menschliche Impuls der Solidarität: die Bereitschaft, sich gegenseitig anzuerkennen, und der Wille, einander zu helfen. Von Solidarität in diesem Sinne ist Henryka Krzywonos’ Leben getragen, heute wie damals.

Timothy Snyder

 

Krzywonos ist Ihr Vatername?

 

Nein, das ist der Nachname meines ersten Mannes.

 

So hieß der Kosakenhetman, einer der Anführer des Chmielnicki-Aufstandes, der in »Feuer und Schwert« verewigt ist. Er war für seine besondere Verwegenheit berühmt.

 

Ich weiß, ich bin auch so. Vielleicht, weil ich im Gefängnis zur Welt gekommen bin. Meine Mutter hat unter Stalin gesessen. Verurteilt nach diesem Paragraphen »Absichtliches Verschweigen«.

 

Was heißt das?

 

Sie hat wegen meines Vaters gesessen, er war im Gefängnis gewesen und abgehauen. Und meine Mutter hat ihn nicht verraten. Er war im Gefängnis, weil er sich ein bisschen in Politik eingemischt hatte, aber ich hab keine Ahnung, weshalb genau.

 

Ihr Vater hat nichts erzählt?

 

Bei uns wurde ganz wenig über dieses Thema geredet. Mein Vater war aus Wilna, er hat in drei Konzentrationslagern gesessen, in Dachau, Buchenwald und Birkenau, aber man konnte kaum etwas darüber aus ihm herauskriegen. Wenn er einen Gefühlskoller kriegte, im Rausch, dann hat er erzählt. Tragische Geschichten. Dass ich im Gefängnis geboren wurde, habe ich mit sieben Jahren erfahren, und ganz durch Zufall. Heute verstehe ich das Ganze, ich kann es mir zusammenreimen und verstehe meinen Vater, es wundert mich nicht einmal mehr, dass er trank. Als er aus dem Lager kam, wog er 28 Kilo, ein stattlicher, kräftiger, gut aussehender Mann, der als Wrack aus den Lagern kam.

 

Durch welchen Zufall haben Sie erfahren, dass Sie im Gefängnis geboren sind?

 

Ich erfuhr, dass mein Vater aus dem Gefängnis geflüchtet war. Aus seinem Versteck ist er dann schnell nach Haus gerannt. Sie sind ja noch sehr jung, Sie können das nicht wissen, aber früher gab es einen Zwei-Złoty-Geldschein. So einen Zwei-Złoty-Schein legte er auf den Tisch, dann sprang er aus dem Fenster. Jemand verpfiff ihn, und meine Mutter haben sie eingelocht, diese zwei Złoty hatten verraten, dass sie ihn versteckt hielt. Sie war schwanger. Meine Brüder kamen ins Kinderheim, und ich kam im Gefängnis zur Welt.

Mein Vater hat sich nie mehr gefangen. Zehn Tage im Monat war er nüchtern, zwanzig betrunken oder im Rausch, wie man so schön sagt, unser Leben war sehr hart. Im Konzentrationslager hatte er verschiedene Berufe gelernt, er war ein sehr guter Friseur und ein Tausendsassa, er konnte alles, aber er hatte Asthma und tat kaum etwas. Doch wenn er mal arbeitete, dann mussten wir Kinder mit ran. Einmal arbeitete er als Heizer, da gingen wir Koks schaufeln. Meine Mutter schuftete damals auch hart, sie arbeitete in einer LPG, bei der Kartoffelernte, da mussten wir auch mit.

 

Wo haben Sie gewohnt?

 

Damals wurden Leute von außerhalb in Danzig nicht gemeldet, und meine Mutter war aus Warschau, sie war wegen meines Vaters hierher gekommen. Wir wohnten in einer Kammer bei meiner Großmutter, und wir mussten eine Wohnung suchen. Am 1. Juli 1959, am Halina-Tag, dem Namenstag meiner Mutter, zog sie auf eigene Faust zu meinem Vater, und da sie sich eine Arbeit besorgt hatte – als Straßenfegerin – durfte sie dort bleiben. Anmelden konnte sie sich aber erst Mitte der sechziger Jahre. Wir waren damals schon drei Kinder, die Lage war schwer. Wenn sie den Boden aufgewaschen hatte, legte meine Mutter Papier drauf, damit er trocknete. Anstatt eines Sofas oder Betts waren Ziegel da, darauf lagen Strohsäcke zum Schlafen. Und an Heiligabend, wenn andere Leute Weihnachtslieder sangen, sang mein Vater russische Lieder. Er war ein seltsamer Mensch. Er zeigte uns nie, ob er uns lieb hatte, so was gab es bei uns gar nicht. Wenn er im Rausch war und etwas aus seinem Leben erzählte, dann immer nur als Warnung für uns. Er erzog uns zu rebellischen Menschen. Ich rebellierte gegen alles. In der Schule hatte ich Probleme mit Russisch, ich wollte es nicht lernen. »Warum willst du nicht russisch lernen?« fragte meine Lehrerein. »Was soll ich denn mit so einem Russki reden?« hab ich geantwortet.

 

Hat Ihr Vater zu Hause russisch gesprochen?

 

Ein bisschen ja. Ich verstehe Russisch bis heute. Mit dem Reden geht es schlechter, aber damals, das war Auflehnung, wir wollten diese Sprache nicht lernen.

 

Ihre Brüder wurden schließlich aus dem Kinderheim geholt?

 

Ja klar, meine Mutter kam aus dem Gefängnis und holte die Kinder nach Hause. Sie war eine sehr anständige Frau und arbeitete hart. Sie arbeitete in einem Betonwerk, da musste sie Wagen mit Steinen, mit Zement ziehen. Es wurde richtig tragisch. Oft war kein Brot im Haus. Und dann starb mein Vater.

 

In welchem Jahr war das?

 

1966. Damals fing meine Mutter an zu trinken. Ich musste mich um sie und meine Schwester kümmern, die noch zu Hause war. Da kam ich wieder ins Kinderheim. Das hatte ich mir selbst so eingerichtet. Ich hatte eigentlich mit meiner Schwester gehen wollen, aber das erwies sich als unmöglich, weil meine Mutter bei Gericht angegeben hatte, dass sie uns nach Haus holt. Ich legte Einspruch ein und sagte, ich würde bleiben, deshalb wurde ich in ein Kinderheim eingewiesen.

 

Und Ihre Schwester blieb bei der Mutter?

 

Ja, meine Schwester blieb bei meiner Mutter, sie bekam einen Vormund. 1970 zog ich zurück nach Hause und kümmerte mich um meine Schwester. Ich musste mir eine Arbeit suchen. Zuerst habe ich in der Danziger Hafenbehörde geputzt. Sie kriegten schnell raus, dass ich einen Lehrgang als Stenotypistin gemacht hatte und gut tippe. In der Hafenbehörde bekam ich Arbeitsaufträge und eine Maschine, und nachts tippte ich, um etwas zu meinem Lohn dazuzuverdienen. Dann ergab sich die Gelegenheit zu einem Lehrgang als Straßenbahnführer. Dazu hat mir ein Mann verholfen, der bei uns in der Straße wohnte, Jan Szulc, soll seine Seele im Paradies wandeln. Mit achtzehn bekam ich einen Platz in dem Kurs, ich bestand ihn und wurde Straßenbahnführerin.

 

Gab es viele Straßenbahnführerinnen?

 

Nicht viele, aber einige. Ich war schlagfertig und abgebrüht, Kinder aus pathologischen Familien finden sich manchmal gut im Leben zurecht. Ich wusste, dass ich mit meiner Mutter, ja mit der ganzen Welt würde kämpfen müssen, wenn ich meiner Mutter helfen wollte, und mir selbst auch, denn bei uns zu Hause war die Lage kritisch, wenn ich nach Hause kam, saß ihre ganze Kumpanei um den Tisch. Manchmal musste man die Leute einfach rausschmeißen. Meine Schwester ging in die Schule, ich zur Arbeit.

 

Wie viel jünger ist Ihre Schwester als Sie?

 

Acht Jahre. Kinder wie wir müssen immer kämpfen, um durchzukommen. Ich dachte immer, ich sei schlechter als die anderen, als Kind war ich nie so angezogen wie es sich gehörte. Zum Beispiel am Kirchweihtag an der St. Hedwigs-Kirche. Das ist eine Kirche in Danzig, wo immer viele Buden bei der Kirchweih sind, und man kann etwas gewinnen. Diese Kirchweih ist am 15. Oktober, es ist also schon kalt. Meine Freundinnen hatten alle schon Mäntel an und warme Stiefel, während ich in Turnschuhen und Pullover oder einer alten Jacke von meinen Brüdern herumlief. Das sind Situationen, die ein Mensch nicht vergisst, ich habe immer gemeint, ich sei schlechter als die anderen. Wenn eine Freundin damit angab, was ihre Mutter zu Mittag gekocht hatte, erzählte ich, bei uns hätte es Kotelett oder Hühnchen gegeben. Ich lernte einfach zu lügen.

 

Um die Würde zu wahren?

 

Ja, um meine Würde zu wahren. Später, als ich schon in beim WPK (den Verkehrsbetrieben der Küstenregion) arbeitete, half mir Herr Janek, der immer auf meiner Seite stand und mich einfach gern mochte, er wusste genau, in welcher Situation ich war, er kannte meine Eltern. Eine Zeitlang habe ich meine Mutter unterstützt, als sie mit dem Trinken aufhören wollte und allmählich wieder zu einem normalen Leben zurückfand. Ich gab ihr fast meinen ganzen Lohn, für mich selbst behielt ich nur ein paar Groschen. Er wusste, wenn ich am nächsten Tag zur Arbeit kam, würde ich Hunger haben. Dann brachte er belegte Brote mit und legte sie so in meine Tasche, dass niemand es mitbekam. Das war ein wunderbarer Mensch, ich kann mich noch gut an ihn erinnern. Er war besser als mein Vater, von meinem Vater habe ich nur den Gürtel zu spüren bekommen. Heute sage ich immer, dass mich das sehr abgehärtet hat, aber ich bin gegen das Schlagen von Kindern, ich meine, es sollte ganz verboten werden, Kinder zu schlagen. Das weckt nur Aggressionen, ich weiß das aus eigener Erfahrung. Ich habe zu meinem Vater nie gesagt »Entschuldigung«, denn ich wusste, dass ich für etwas geschlagen wurde, was ich nicht getan hatte. Dafür, dass ich am falschen Ort gewesen war, dafür, dass ihm etwas schiefgegangen war. Wenn ich heute von all diesen Fällen von Brutalität höre, dann packt mich der Zorn. Es ist für mich unfassbar, dass ein Elternteil einem Kind so etwas zufügen kann, dabei bin ich mit dem Gartenschlauch verprügelt worden, wenn Sie sich das vorstellen können. Irgendwo habe ich gelesen, dass Tusk körperliche Züchtigung von Kindern ganz unter Strafe stellen will. Wenn er das macht, hat er meine volle Unterstützung.

 

1970 sind Sie aus dem Kinderheim nach Hause gekommen, 1973 sind Sie Straßenbahnführerin geworden und haben angefangen, beim WKP zu arbeiten. Und Freunde, Bekannte? Hatten Sie einen Freundeskreis?

 

Ich hatte keinen Freundeskreis. Ich bin immer nur herumgehetzt, um Geld zu verdienen. Ich hab versucht, so viele Stunden wie möglich zu machen, beim WKP verdiente man nicht gut. Da musste man 400 Stunden im Monat machen, um anständig zu verdienen.

 

Waren Sie in der Partei?

 

Nein. Mein Kontakt mit dem Apparat beschränkte sich auf zwei von der Gewerkschaft organisierte Ausflüge zum Pilzesammeln.

 

Warum wollten Sie nicht Mitglied werden?

 

Man hat es mir vorgeschlagen. Aber es reizte mich nicht. Bei uns zu Hause wurde das völlig abgelehnt.

 

Ihre Eltern waren antikommunistisch?

 

Ja, total antikommunistisch, von Anfang an. Wenn mein Vater betrunken war, riss er manchmal nachts das Fenster auf und beschimpfte die »Roten« aufs wüsteste. Einem Kind bleiben solche Dinge haften. Auch das schlechteste Elternteil ist doch ein Vorbild für ein Kind. Außerdem hatte ich eine Lehrerin in der Schule, Frau Baranska, sie war sehr scharfzüngig. Sie unterrichtete bei uns Geschichte, dabei war sie unglaublich direkt, sie sagte die Wahrheit.

 

Was zum Beispiel?

 

Na ja, alles, auch über Katyn.

 

Über Katyn?

 

Über Katyn, über alles mögliche. Ich ging gern zu ihr nach Hause. Wir waren eine ganze Gruppe, die sie regelmäßig besuchte. Von ihr habe ich auch erfahren, dass nicht nur die Deutschen Polen angegriffen haben, sondern dass die Sowjetunion auch daran beteiligt war. Von ihr habe ich auch über diese fünf Tage gehört, an denen die Russen alles durften, sie haben polnische Frauen vergewaltigt, und wenn ihnen etwas nicht gefiel, haben sie Leute umgebracht. Wenn sie nicht trank, konnte man mit meiner Mutter reden. Sie war ein sehr geselliger, umgänglicher Mensch. Einmal, als mein Vater vom Lager erzählte, hat meine Mutter gesagt: »Ich hab in Warschau auch einiges mitgemacht.« Sie war aus Warschau, dort war sie geboren und aufgewachsen. »Ich ging schmuggeln. Hört zu. Es war Winter, Schnee bis zur Hüfte, wir gehen durch ein Roggenfeld…« Was für ein Quatsch, hab ich gedacht, im Winter durchs Roggenfeld?! Ich erzählte das der Baranska, und die sagte: »Kind, das ist die Wahrheit. Die Menschen haben das Getreide nicht geerntet. Der Roggen stand noch, und sie hatten zusätzliche Deckung, wenn sie durch das Feld gingen.« Das war ein wunderbarer Mensch. In der Schule hat sie nicht viel gesagt, das konnte sie ja nicht, aber sie hat uns zu sich nach Hause eingeladen. Heute ist mir klar, dass sie dafür hätte ins Gefängnis gehen können, die hätten alles mögliche mit ihr machen können…

 

Gegen die Partei waren Sie also geimpft. Und die Gewerkschaften?

 

Wissen Sie, das war so eine Zeit, da wurde man Mitglied bei der Gewerkschaft, ob man es wollte oder nicht.

 

Schützten diese die Arbeiter irgendwie?

 

Ganz und gar nicht. Es gab einen Betriebsrat, mit dem ich Probleme hatte. Das sah so aus, dass meine Kollegen sagten: »Bei der Versammlung, da werd ichs denen schon zeigen.« Sie kamen zur Versammlung, setzten sich hin und – Stille. Aber Henka natürlich, die Dumme, stellt sich hin und macht das Maul auf, egal, ob in eigener oder nicht eigener Sache, und dann gab es immer eins auf den Deckel. Manchmal haben sie mir die Prämie gestrichen, weil ich Schnauze riskiert hatte, manchmal bekam ich eine andere Straßenbahnlinie zugewiesen. Jedenfalls war es so, dass wir nicht selten die Arbeit niederlegen wollten, nicht unbedingt wegen der Bezahlung, sondern eher wegen der katastrophalen Arbeitsbedingungen. Als ich anfing zu fahren, schlossen sich die Straßenbahntüren noch nicht selbsttätig, sondern die Fahrgäste mussten sie schließen. Ich bekam die Linie 3, die fuhr da entlang, wo heute das Denkmal der Werftarbeiter steht.

 

Da war eine Schleife?

 

Ja. Man kam an, fuhr eine Schleife und wieder zurück. Dort sammelten sich die Werftarbeiter nach der Arbeit. Sie hingen wie Trauben an der Straßenbahn, deshalb fuhr man ganz langsam. Der Fahrer saß auf einem runden Sitz, von den Fahrgästen nur durch eine Schranke getrennt. Wenn man langsam fuhr, regnete es Beschimpfungen. Wenn man zu schnell fuhr, musste man aufpassen, dass keiner runterfiel, denn man hatte die Verantwortung. Beim Losfahren mussten die Türen geschlossen sein, aber die Türen flogen oft wieder auf, die Stromabnehmer rissen ab… Wenn der Schaden groß war, stand die ganze Linie still, das kam auch vor. Dann hieß es »Scheiße« von allen Seiten, »fahr doch Kartoffeln aus« und so. Sie scheuten nicht davor zurück, einem eins auf die Rübe zu geben.

 

Haben Sie sich gewehrt?

 

Ich bin keinem was schuldig geblieben.

 

Daran habe ich keinen Zweifel.

 

Dabei war es dem Fahrer verboten, mit den Fahrgästen zu sprechen.

 

Natürlich.

 

Aber ich muss Ihnen sagen, am schlimmsten war es, wenn diese Türen wirklich nicht zugingen. Sobald wir am Ende der Schicht ins Depot kamen, meldeten wir es, der Leiter kam raus und sagte: »Was kann ich denn dagegen machen?« Ich hatte eine Kollegin, die hatte ein kleines Kind. Einmal sagte sie: »Tut mir leid, aber ich muss jetzt nach Hause nach Rumia und mein Kind im Kindergarten abholen.« Der Leiter sofort: »Verpiss dich in deine Bahn und fahr los!« Sie bricht in Tränen aus. Ich sage: »Was weinst du denn?«, und zu ihm: »Verpiss dich doch selbst in die Bahn und fahr.« Er darauf: »Ich kann nicht fahren.« »Was bist du denn für ein Leiter?« hab ich da gesagt. Das waren Leute ohne jede Bildung, genau wie wir ja auch. Es war schockierend. Der einzige Unterschied zwischen ihnen und uns war, dass wir Straßenbahn fahren konnten und sie die Leiter waren. Wenn einer in der Partei war, konnte er auch mit Volksschulabschluss Direktor werden. Ich bin damals natürlich auch nicht in diese Straßenbahn gestiegen, obwohl er es mir befahl. Niemand ist eingestiegen. Und am nächsten Tag sind wir gekommen und hatten alles schon beschlossen, wir wollten die Arbeit niederlegen. Der Kollege, der am nächsten Tag die erste Schicht hatte, sollte streiken und nicht losfahren. Aber er kam zur Arbeit und sagte: »Hört zu, ich fahr lieber doch, ich hab Familie, ich hab Kinder, ich will nichts riskieren, ich hab das Ganze mit meiner Frau durchdiskutiert, und sie hat gesagt, sie ist absolut nicht einverstanden.« Und ehrlich gesagt wussten wir, dass er recht hatte, dass er die Familie nicht gefährden durfte. Bei den Verkehrsbetrieben arbeiteten damals Leute, die ganz fest zusammenhielten. Keiner ging zum Vorgesetzten, keiner zeigte beim Direktor an, wir machten alles unter uns aus.

 

Damals hat es also noch nicht geklappt.

 

Ganz oft hat es noch nicht geklappt, aber dann kam das Jahr achtzig.

 

Warum hat es ausgerechnet 1980 geklappt? War das schon der Einfluss der Freien Gewerkschaften?

 

Zuerst muss ich dazu sagen, dass sich meine persönliche Situation geändert hatte. Meine Schwester hatte geheiratet, ich brauchte mir um sie keine Sorgen mehr zu machen, ich war frei. Ich schuftete nicht mehr wie eine Verrückte, ich fuhr nicht mehr so viel, machte nicht mehr so viele Schichten. Ich fuhr auf der Linie 15. Und immer morgens und nachmittags, wenn die Werftarbeiter von der Arbeit kamen oder auf die Arbeit gingen, dann segelten Flugblätter durch die Luft. An der Werft ist eine Überführung, darunter fuhren die Lokalbahnen. Mit diesen Lokalbahnen fuhren die Leute von der Werft zum Neuen Hafen, nach Danzig oder nach Gdingen. Und die Leute aus den Freien Gewerkschaften gingen dorthin, und wenn besonders viele Leute auf und unter der Brücke unterwegs waren, warfen sie die Flugblätter ab, und diese Flugblätter gerieten auch an mich. Meistens bekam ich sie von einem Passagier, der zwei, drei mitgenommen hatte, ich nahm so ein Flugblatt und war einfach baff. Ich konnte nicht begreifen, dass jemand seine Telefonnummer und seine volle Adresse angab. Dass einer solchen Mut haben konnte.

 

Von wem haben Sie durch diese Flugblätter erfahren?

 

Am stärksten ist mir Bogdan Borusewisz haften geblieben. Aber es gab noch viele andere Namen. Ich könnte heute in meinen Papieren suchen, diese Flugblätter habe ich noch irgendwo. Da war der Moment gekommen, dass sich in Polen etwas tat, und bei uns in den Verkehrsbetrieben auch. Ich kann mich noch an die Versammlung im Klubraum erinnern, alle kamen voller Begeisterung zu dieser Versammlung.

 

Wer hatte die organisiert?

 

Die Leitung. Wir waren alle schon darauf vorbereitet, dass es einen Riesenknall geben würde. Uns hing das alles schon zum Hals heraus. Es ging ja nicht mal um den Lohn. Wir hegten ja wegen des Lohns gar keinen Groll, es ging vielmehr darum, dass die Straßenbahnen kaputt waren…

 

… um die Arbeitsbedingungen…

 

… dass wir von den Passagieren eins auf den Deckel kriegten und beleidigt wurden. Das war so im Juli 1980. Wir hatten schon seit einiger Zeit das Gefühl, dass sich bei uns Chaos einschleicht. Unsere Arbeits- und Streckenpläne schienen plötzlich ganz unsinnig zusammengestellt. Allmählich wurde uns klar, dass die Leitung unter uns Streit säen wollte. Und dann kam der August. Streik in der Werft.

 

Wie haben sie von dem Streik erfahren?

 

Ich weiß nicht, vielleicht beim Fahren, vielleicht schon einen Tag vorher. Das weiß ich wirklich nicht mehr.

 

Aber Ihre letzte Fahrt, mit der der Solidarność-Streik des öffentlichen Verkehrs in Danzig begann, an die können Sie sich erinnern?

 

Ich kann mich nicht einmal genau daran erinnern, wie ich an dem Tag aus dem Depot fuhr, was ich da gedacht habe. Ich kann mich nur an die sechs Haltestellen bis zur Oper erinnern.2 Ich erinnere mich noch genau an meine Nervosität und die Angst…

 

Hatten Sie das geplant, dass sie einfach mit der Straßenbahn stehenbleiben?

 

Ich weiß nicht, wahrscheinlich nicht. Aber ich hab schon gewusst, dass ich etwas machen werde. Ich erinnere mich an eine schreckliche Angst. Wenn ich gewusst hätte, ich werde an die Wand gestellt und erschossen, dann hätte ich weniger Angst gehabt. Ich wusste nicht, was die Leute sagen werden, wenn ich dort ankomme.

 

Hatten Sie vorher jemandem erzählt, dass Sie etwas vorhaben?

 

Ich habe keinem etwas gesagt. Das war ganz spontan.

 

Sie fahren also Richtung Oper. Eine Haltestelle nach der anderen

 

Ich fahre und denke: Mein Gott – stoppen – nicht stoppen, stoppen – nicht stoppen. Herr im Himmel, und was, wenn sie mich vermöbeln? Daran kann ich mich erinnern.

 

Warum ausgerechnet vor der Oper?

 

Wenn die Straßenbahnen an der Oper stehen, dann stehen sie in ganz Danzig. Man kommt nicht durch. Man kann nur noch mit der Zehnerlinie zum Hafen fahren und sonst nichts.

 

Wir kommen also an der Oper an, und

 

Ja, da hab ich gedacht: klappt es – klappt es nicht, klappt es – klappt es nicht, so wie ein spätes Mädchen mit ihrem »er nimmt mich – er nimmt mich nicht«. Ich hab überlegt, wie das sein wird, und da stand ich auch schon vor der Oper, in der Mitte. Die Straßenbahn war voller Leute, und ich stieg aus.

 

Um wie viel Uhr war das?

 

Die Leute waren auf dem Weg zur Arbeit, aber wie viel Uhr es genau war, das weiß ich nicht mehr. Ich blieb stehen und hab gesagt: »Diese Straßenbahn fährt nicht mehr weiter«. Die Leute waren so etwas gewohnt, die Straßenbahnen sprangen aus den Gleisen, die Türen gingen nicht zu, dann sagten wir den Leuten, dass sie aussteigen mussten.

Am Anfang wussten die Leute also nicht, um was es ging?

 

Ach was, natürlich. Ich sage: »Wir bleiben stehen, weil die Werft stillsteht. Wir müssen den Streik der Werftarbeiter unterstützen.« Ich hatte Angst vor dem, was jetzt kommen würde, und die Leute fingen an, Beifall zu klatschen. Das war unglaublich. Und ich mittendrin, ich habe geweint, das hat man nicht gesehen, aber ich habe geweint. Ein Typ kam auf mich zu, so ein kleiner, dunkler, ich erinnere mich an seine Worte: »Ich bin vom PKS (Regionalbusverkehr), ich heiße Zdzisław Kobyliński, wir streiken auch.«

Und dann kamen die anderen Fahrer, meine Kollegen. Die Jungen sagen: »Wir bringen die Straßenbahnen zurück ins Depot, unsere Basis ist auf der Karl-Marx-Straße.« So hieß damals die Hallerstraße. »Wir fahren mit Bussen, wir holen euch ab.« Und so geschah es auch.

 

Hinter Ihnen standen jetzt weitere Straßenbahnen. Regte sich denn niemand auf, dass er nicht zur Arbeit kam?

 

Keiner, absolut keiner. Das hat die Leute gar nicht gestört.

 

Und weiter?

 

Ein paar Fahrer warfen ein: »Hört mal, wir müssen aber auf unsere Arbeitsplätze aufpassen.« Also teilen wir Wachen ein, passen auf, dass Ordnung gewahrt wird. An jedem Depot blieben Leute zurück, die aufpassten. Die Leute blieben massenweise dort.

 

Fiel gleich zu Anfang das Wort »Streik«?

 

Natürlich, Streik! Wir wählen ein Komitee. Ein Riesenchaos. Leute suchen einander, andere suchen schon einen Schlafplatz für die Nacht, weil sie wissen, dass sie bleiben. Wieder andere sagen: »Ich geh nach Hause, ich streike nicht, mich interessiert das nicht.« Aber das waren nur wenige. Wir reden Leuten mit einer schwierigen Familiensituation zu, sie sollten nach Hause gehen. Ja, und natürlich schicken wir einen Kollegen zur Werft, er soll sich vorstellen und unsere Forderungen vortragen, die wir zuvor aufgestellt hatten. Er soll uns auch berichten, was auf der Werft vor sich geht. Unser Kollege fährt also los und kommt ganz lange nicht wieder. Am Ende steht die Werft schon gar nicht mehr?

 

Aber der Kollege war nach Hause gefahren.

 

Ja, leider, so war es. Also sagt einer: »Hör mal, Henka, fahr du doch auf die Werft.« Ich setz mich also mit einem Kollegen in einen kleinen Fiat und wir fahren los. Wir kommen an der Werft an – und nun? Wie sich herausstellt, verkündet Wałbsa gerade das Ende des Streiks.

 

Haben Sie bei der Gelegenheit Wałbsa zum ersten Mal getroffen?

 

Ich weiß noch, dass ich auf einen Akkuwagen sprang und aus vollem Halse schrie, brüllte, wie ich heiße und woher ich bin. Da kamen die Leute alle raus. Anna Walentynowicz kam herbeigestürzt und fing auch an zu schreien. Neben mir steht ein älterer Werftarbeiter, auf einmal kommt Wałbsa. Wałbsa kommt also an, da sagt der Arbeiter zu mir: »Das ist der Streikführer.« Ich also sofort zu ihm. Heute erfahre ich aus Büchern, was ich damals gesagt habe.

 

»Verrat! Wenn ihr uns im Stich lasst, sind wir verloren! Die Werft werden sie in Ruhe lassen, aber die kleineren Betriebe werden sie zerquetschen wie Wanzen! Brecht den Streik nicht ab, Autobusse werden die Panzer nicht besiegen!«

 

Ich will es nicht wiederholen, weil ich mich nicht mehr erinnere. Ich weiß, dass ich ihm gesagt habe, dass sie uns verraten. Ich hab gesagt, dass wir mit Straßenbahnen keine Panzer aufhalten können.

 

Wie haben sie reagiert?

 

Neben Wałbsa steht so ein kleiner Werftarbeiter, ein kleinwüchsiger Typ, ich weiß noch nicht, wer das ist. Wałbsa wendet sich an ihn und sagt: »Bogdan, was sollen wir machen?« »Tja, schwer zu sagen.« »Also gut, wir streiken.« Das kam von Wałbsa: »Wir streiken, wir streiken.« Wałbsa geht zurück, er fängt an zu rufen, es sind nicht viele Leute in der Werft. Dann fahren wir alle mit dem Akkuwagen in einen großen Saal. Dort herrscht Chaos, Gedränge, einer schreit lauter als der andere. Bogdan sitzt an einem Tisch. Ich gehe zu ihm und sage: »Herr Bogdan, hier sind unsere Forderungen.« Er nimmt sie entgegen. Dann höre ich, wie es heißt, dass ein Komitee gebildet werden muss. Sie bitten uns an einen Tisch, hinter uns steht eine Masse von Leuten aus der Werft, es wird gewählt. Vorschläge fallen, wer ins Komitee soll. Jemand ruft meinen Namen. Ich weiß nicht, vielleicht war es Bogdan Borusewicz, ich bin nicht sicher, vielleicht auch Lech, ich erinnere mich nicht. Heute bin ich sicher, dass es nur daran lag, dass ich so laut gebrüllt hatte.

 

Und das ist dann schon das Überbetriebliche Streikkomitee.3

 

In dieses Komitee kamen alle möglichen Leute, aber nicht Bogdan. Mich hat das interessiert. Von Kindheit an bin ich ein Mensch gewesen, der alles ergründen will. Bis heute bin ich so. Wenn ich zum Arzt gehe, will ich alles wissen. Damals war das auch so, ich ging zu Bogdan und habe ihn gefragt. Er sagte: »Weil ich außerhalb des Komitees nützlicher sein kann.« Aber das hat mir nicht gereicht, deshalb hab ich weiter gefragt, und da habe ich zum ersten Mal erfahren, dass er bei KOR war, und dass KOR nicht hervortreten dürfe, das sei das Komitee zur Verteidigung der Arbeiter (Komitet Obrony Robotników). Damit konnte ich sofort etwas anfangen, und ich sagte: »Ich kenne Sie, ich kenne Sie von den Flugblättern.« Und ich habe gefragt, ob ich ihn umarmen dürfte, ich habe ihm gesagt, wie sehr ich ihn verehrte. Damals erfuhr ich auch von Andrzej Gwiazda und hörte, wie die Freien Gewerkschaften entstanden waren.4 Das hat mir imponiert, mir, der grauen Maus, die von ihren Eltern ganz kleingemacht worden war. Es hat mir imponiert, dass ich unter solchen Menschen war, sie waren für mich sehr bedeutend. Bis heute sind sie bedeutend. Das war unglaublich.

 

Sind Sie zurück in Ihren Betrieb gefahren?

 

Ja. Spät in der Nacht bin ich wieder in den Fiat gestiegen und zum Autobusdepot gefahren und hab gesagt: »Also, die Sache ist so, ich bin ins Streikkomitee gewählt. Seid ihr einverstanden, dass ich drin bleibe? Oder sollen wir jemand anders wählen, der an meiner Stelle geht?« Ich stand auf einem Stapel Paletten und schrie meine Worte. Natürlich wollten sie, dass ich zurück ins Komitee ging. Da sagte ich: »Gut, aber dann wollen wir zwei Kollegen als Verbindungsleute wählen. Die sitzen auf der Werft und kommen immer zum WPK und berichten, was dort geschieht. Solange ich kann, komme ich auch.« Denn da wusste ich schon von Andrzej Gwiazda, dass das nicht so einfach sein würde. Dass alles mögliche passieren konnte. Es gab noch keine Passierscheine.

 

Ist die Miliz euch gefolgt?

 

Die ganze Zeit. Gleich von unserer Basis aus sind sie uns hinterher bis zur Werft. Wir sind dann durch einen anderen Eingang rein.

 

Sie gehen also zurück zur Werft. Was geschieht dann?

 

Ein Riesenchaos, alle laufen durcheinander. Leute von draußen bringen Brot, etwas zum Draufschmieren. Am oberen Ende steht der Tisch der Vorsitzenden, daran sitzen wir. Alles mögliche passiert auf einmal, ich erfahre zum Beispiel vom Sicherheitsdienst (SB), davon hatte ich noch keinen blassen Schimmer. Joanna Gwiazda, Andrzejs Frau, kriegte einen Koller, weil sie einen SB-ler gesehen hatte, ihr wurde schlecht, und sie musste hinausgebracht werden.

 

Was passierte mit dem SB-ler?

 

Ich weiß nicht. Da passierte so viel.