Buchcover

Marie Louise Fischer

Ein Herz sucht Liebe

SAGA Egmont

1.

Als es unten auf der Straße zweimal hintereinander kurz hupte, rannte Susanne Schäfer zum Fenster. Sie hatte auf dieses Zeichen, das sie mit ihrem Freund, dem jungen Rechtsanwalt Dr. Oskar Wünning, verabredet hatte, schon ungeduldig gewartet.

Sie öffnete das Fenster, winkte. Vor dem Haus stand keine Laterne und sie konnte sein Auto eher ahnen als erkennen. Aber sie wußte, daß er ihren Umriß, scharf abgegrenzt gegen den hell erleuchteten Raum im zweiten Stock, sehr deutlich sah.

Hastig schloß sie das Fenster wieder, riß den Kleiderschrank auf, warf noch einen letzten prüfenden Blick in den langen Spiegel, der an der Innenseite der einen Tür befestigt war – ja, sie konnte mit ihrem Aussehen zufrieden sein. Ihr schimmerndes blondes Haar, das sie sich am Nachmittag gewaschen und aufgedreht hatte, bauschte sich in weichen Wellen um ihr schmales Gesicht, die klaren grauen Augen unter den schwarz getuschten Wimpern strahlten vor Erwartung.

Während der Schulstunden verzichtete Susanne Schäfer ganz bewußt auf jedes Make-up, aber jetzt hatte sie ihren vollen, ein wenig breiten Mund mit einem hellen Stift nachgezogen, damit er kleiner und noch ausdrucksvoller wirkte. Sie trug ein blaues, ganz einfach geschnittenes Kleid in Leinenstruktur – selbstgeschneidert – das ihre schlanke mädchenhafte Figur sehr vorteilhaft zur Geltung brachte.

Sie dachte manchmal, daß die Figur das Beste an ihr wäre. Dennoch kostete es sie keine Überwindung, während des Dienstes auf jede Betonung ihrer Linien zu verzichten – es hätte sich nicht gehört. So trug sie vor der Klasse gewöhnlich Kleider, Blusen und Pullover, die ihr zwei Nummern zu weit waren.

Gerade deshalb aber machte es ihr doppelt Spaß, jetzt, nach Feierabend, in einem Kleid auszugehen, das so knapp wie möglich saß und dessen Rock drei Finger breit über dem Knie endete – ein wirkliches Wagnis für eine junge Lehrerin in einer kleinen Stadt wie Bad Kreuzfeld.

Susanne Schäfer lächelte vergnügt, während sie sich vorstellte, was ihr Freund wohl für Augen machen würde, wenn er sie in dem neuen Kleid sah. Dann schlüpfte sie rasch in ihren guten weißen Mantel, schlug die Schranktür wieder zu, nahm Tasche und Handschuhe, lief in die Diele hinaus. Dr. Oskar-Wünning liebte es nicht zu warten.

Dennoch nahm sie sich die Zeit, rasch den Kopf in die Küche zu stecken und: »Ich geh’ jetzt, Frau Schmitt … auf Wiedersehen und gute Nacht!« zu rufen.

Ihre Wirtin sah sie über die Brille hinweg an. »Schon recht, Fräulein Schäfer. Aber bleiben Sie nicht zu lange, morgen heißt’s wieder früh heraus … und glauben Sie nicht, was die Männer erzählen, die lügen alle das Blaue vom Himmel herunter!«

Susanne lachte. »Ich werd’s mir hinter die Ohren schreiben!«

»Da tuen Sie auch gut dran! Ich will nichts gegen Ihren Freund sagen, er kommt aus einer hochachtbaren Familie … aber grade deshalb! Hochnäsig sind die Wünnings alle, bilden sich ein, eine besondere Sorte Mensch zu sein und dabei …«

Susanne Schäfer unterbrach sie hastig. »Darüber unterhalten wir uns morgen, Frau Schmitt, jetzt muß ich rennen. Warten Sie bloß nicht, bis ich nach Hause komme. Es kann spät werden.«

Als sie die Treppe hinunter lief, mußte sie ein Gefühl von Beklemmung abschütteln. Sie sagte sich, daß es albern war, Frau Schmitt mit ihrem fast krankhaften Mißtrauen allen männlichen Lebewesen gegenüber auch nur eine Sekunde ernst zu nehmen. Und dennoch blieb ein Stachel in ihrer Seele zurück.

Sie liebte Oskar Wünning von ganzem Herzen, aber sie mußte sich zugeben, daß sie keine Ahnung hatte, was er für sie empfand. Was konnte sie denn schon, die junge Volksschullehrerin, ohne familiären Anhang, die Zugereiste, für ihn, den Sohn des Ratsapothekers, bedeuten? Er war so stolz auf seine Familie, in deren Besitz die Apotheke seit über hundert Jahren war, die seit dieser Zeit der Stadt immer wieder tüchtige und angesehene Ärzte, Rechtsanwälte und Apotheker geschenkt hatte.

Und sie, Susanne Schäfer, wer war sie? Tochter eines Vertreters, der sich, nach dem Tod seiner Frau, mehr oder weniger zu Tode getrunken hatte. Und von ihrer Mutter wußte sie so gut wie gar nichts. Sie war gestorben, als sie noch ein Kind war.

Es fiel Susanne schwer, das Lächeln auf ihren Lippen zurückzuzwingen, als sie aus dem Haus trat.

Dr. Wünning war ausgestiegen und wartete neben dem Auto. Jetzt, als sie auf ihn zulief, nahm er sie kurz in die Arme, küßte sie – nett, aber durchaus formell.

Selbst hier, in der schlecht beleuchteten Seitenstraße, bestand Gefahr, daß die junge Lehrerin beobachtet wurde. Im Nachbarhaus wohnte ein Mädchen, das die Pestalozzi-Schule besuchte, und etwas weiter weg ein Junge aus ihrer, der dritten Klasse. Es war durchaus möglich, daß sie jetzt hinter den Gardinen standen und herauszubekommen versuchten, wie sich die Lehrerin verhielt, wenn sie nicht gerade im Dienst war.

Susanne Schäfer sah ein, daß sie ihrem Freund eigentlich dankbar für seine Zurückhaltung hätte sein müssen. Er legte sich ja nur ihretwegen Zwang an. Dennoch fühlte sie sich einmal mehr durch seine allzu beherrschte Art irritiert.

Sie stieg rasch ein, er schloß die Tür hinter ihr, ging um den Wagen herum, setzte sich ans Steuer. Sie sah die Linie seines Profils im Halbdunkel, beobachtete, wie er die weichen Lippen zusammenpreßte, als er kuppelte und Gas gab.

Auch ohne ihn wirklich zu sehen, war ihr jeder Zug in seinem offenen jungenhaften Gesicht vertraut – die braunen Augen, die mal lachend, mal grüblerisch blicken konnten, das leicht gewellte Haar, fast zu hübsch für einen Mann, die gerade Nase mit den winzigen Sommersprossen auf dem Rücken, der kleine dunkle Schnurrbart über der Oberlippe, der ihm Würde verleihen und ihn älter als seine 25 Jahre machen sollte, aber eher das Gegenteil bewirkte.

Gewöhnlich begannen sie beide zu reden, kaum daß sie miteinander allein waren. Aber heute sagte er nichts, und dieses Schweigen machte sie seltsam beklommen. Es hatte so vieles gegeben, was sie ihm hätte erzählen wollen, aber plötzlich war alles wie weggewischt.

»Wohin fahren wir?« erkundigte sie sich, nur um überhaupt etwas zu sagen, und wußte doch im gleichen Augenblick, wie töricht diese Frage war.

Dr. Oskar Wünning wohnte bei seinen Eltern. Susanne hatte ihn schon einigemale zuhause besucht, seine Eltern hatten sie immer herzlich aufgenommen und gastfrei bewirtet. Aber sie waren nicht eine Minute aus dem Zimmer gewichen, solange sie da war. Wenn sie allein sein wollten, blieb ihnen nichts anderes übrig, als in die etwa 35 Kilometer entfernte Nachbarstadt Heimholzen zu fahren. In Bad Kreuzfeld waren er als der Sohn des Ratsapothekers und sie als junge Lehrerin viel zu bekannte Persönlichkeiten, als daß sie sich in irgend einem Lokal hätten unbeobachtet fühlen können.

Deshalb war sie maßlos überrascht, als er antwortete: »Wir bleiben hier.«

»In Bad Kreuzfeld?« fragte sie verblüfft.

»Ja. Ich denke, wir essen eine Kleinigkeit in den ›Altdeutschen Stuben‹. Vorausgesetzt, daß es dir recht ist, natürlich.«

»Eigentlich«, sagte sie, »hatte ich ja gedacht, wir wollten zum Tanzen gehen. Ich habe extra ein neues Kleid angezogen. Kniefrei.«

Sie erwartete, daß er irgend etwas auf diese Eröffnung hin sagen würde, aber er ging einfach darüber hinweg, möglicherweise hatte er es tatsächlich überhört.

»Ich möchte in aller Ruhe mit dir reden«, sagte er.

»Es ist nur, ich möchte nicht gerne unliebsam auffallen, Os«, erwiderte sie verlegen, »kniefrei in die ›Altdeutschen Stuben‹, das scheint mir doch nicht gerade das Richtige zu sein«.

Er blickte in den Rückspiegel, bog nach links ein. »Wenn du mit mir bist, kann dir keiner was, Liebling«, sagte er, »und wenn du nachts im Bikini herumlaufen würdest … an meiner Seite wird keiner es wagen, dich anzuöden.«

Sie wußte, daß er recht hatte. Er war es, der ihr nach vielen Jahren der Unsicherheit zum ersten Mal wieder das Gefühl gegeben hatte, geborgen zu sein. Und manchmal fragte sie sich, ob das nicht mit ein Grund war, warum sie ihn so liebte. »Ich hatte nur Angst, dich zu blamieren«, sagte sie.

Seine rechte Hand tastete sich zu ihr herüber. »Mit deinen schönen Beinen? Daß ich nicht lache!«

Sie errötete in der Dunkelheit und war froh, daß er ihr Gesicht nicht sehen konnte. Sie war nahe daran, seine Hand zurückzustoßen – nicht weil ihr die Berührung unangenehm gewesen wäre, sondern weil sie sie erregte. Aber sie wagte es nicht, aus Angst, er könnte es falsch auffassen und sich gekränkt fühlen. Als er sie dann von sich aus zurückzog, um das Steuer fester zu fassen, fühlte sie sich entgegen ihrer Erwartung plötzlich enttäuscht.

Er stellte den Wagen unter den Bäumen der Kurallee ab. Es war Juni, die Hauptsaison hatte noch nicht begonnen, und so gab es noch einige Parklücken.

Als er den Zündschlüssel abzog, hatte sie den Türgriff schon in der Hand. Aber gerade noch rechtzeitig fiel ihr ein, wie sehr er es haßte, wenn sie sich selbständig benahm, wie es für sie seit langem notwendig geworden war. So holte sie tief Atem, lehnte sich wieder zurück, suchte seinen Blick.

Auch er war im Begriff gewesen, auszusteigen. Jetzt sah er sie an, sehr ernst, ohne ihr Lächeln zu erwidern. »Eigentlich«, sagte er, »könnte ich es dich ja auch jetzt schon fragen …«

»Was?«

»Ob du …« Seine Stimme war rauh, er mußte sich räuspern. »Willst du meine Frau werden, Susanne?«

Für Sekunden verschlug es ihr den Atem. Sie starrte ihn nur an, unfähig, ein Wort hervorzubringen.

»Willst du?« fragte er drängend.

Sie war auf diesen Antrag nicht gefaßt gewesen. Selbst in ihren Träumen hatte sie sich eine solche Situation nicht auszumalen gewagt, aus Angst, daß ihre Hoffnungen wie Seifenblasen zerplatzen könnten. So wußte sie auch nicht, wie sie sich jetzt benehmen und was sie antworten sollte.

»Ja«, sagte sie atemlos, »ja, gerne …« Und sie hatte gleichzeitig das Gefühl, wieder einmal zu unumwunden, zu geradeaus geantwortet zu haben.

Aber falls er das auch empfand, so zeigte er es jedoch nicht. Die innere Spannung, die sein gut geschnittenes Gesicht fast verzerrt hatte, löste sich. »Oh, Susanne«, sagte er, »mein Gott, bin ich froh, daß ich es überstanden habe …«

Er nahm sie in die Arme, küßte sie leidenschaftlich. Selige Schwäche überkam sie, ein süßer prikkelnder Schauer lief ihr den Rücken hinunter. Ein so starkes Gefühl ergriff sie, daß es ihr fast die Besinnung raubte. Als er ihren Mund endlich freigab, lehnte sie sich mit geschlossenen Augen an seine Schulter.

»Oskar«, flüsterte sie, »Os, Liebster … ich bin so glücklich!«

Er zog sie noch fester an sich. »Ich wollte es dir ja schon längst sagen, Liebling …«

»Warum hast du es dann nicht getan?«

»Na, ich dachte, es wäre besser … weißt du, es war gar nicht so leicht, es den alten Herrschaften beizubringen, du weißt ja, wie sie sind. Und … mir schien es nicht anständig, sie vor die vollendete Tatsache zu stellen.«

Susanne Schäfer richtete sich auf, öffnete die Augen. Sie fühlte sich schmerzhaft ernüchtert. »Ohne Erlaubnis deiner Eltern hättest du mich also gar nicht …«

Er ließ sie nicht aussprechen. »Unsinn. Du weißt genau, ich bin doch kein kleiner Junge mehr!«

Er küßte sie wieder, küßte ihre Bedenken, ihren inneren Widerstand fort. »Ich liebe dich, Susanne … ich habe solche Sehnsucht nach dir. Am liebsten würde ich dich entführen … noch heute nacht!«

»Warum tust du es dann nicht?« flüsterte sie.

»Du weißt, daß das unmöglich ist. Du würdest es auch gar nicht wirklich wollen.«

»Bist du so sicher?«

»Du würdest doch deine Klasse nicht im Stich lassen. Und außerdem … wo sollten wir wohnen? Nein, so geht es nicht.« Er löste sich von ihr.

Sie sah, daß seine schlanken braunen Finger zitterten, als er sich eine Zigarette anzündete. Ihr Herz klopfte bis zum Halse.

»Ich will nicht davon reden, daß ich am Beginn einer Karriere stehe …« begann er.

»Ich weiß, daß es so ist«, bestätigte sie sofort.

»Aber darum geht es ja gar nicht. Du, unsere Liebe, unsere Ehe sind mir wichtig, zu wichtig, als daß ich irgend etwas überstürzen möchte. Nenn mich einen Pedanten, aber für mich muß einfach alles seine Richtigkeit haben.«

Susanne Schäfer fühlte sich ein wenig beschämt. Überwältigt von einem Glück, das sie, wie es schien, im Grunde gar nicht verdient hatte. »Doch, ich verstehe dich, Os«, sagte sie, »und ich bin froh, daß du so bist. Ich glaube, dies … dies ist der schönste Tag in meinem Leben!«

Er küßte sie wieder, diesmal aber mit einer Zärtlichkeit, in der kein Funken Leidenschaft mehr glühte, und sie fühlte beglückt, daß ihr Herz endlich eine Heimat gefunden hatte.

*


Am nächsten Morgen fiel es Susanne Schäfer schwer, die Gedanken auf den vor ihr liegenden Arbeitstag zu konzentrieren. Noch als sie den breiten Gang entlang an den geöffneten Türen vorbei auf das Zimmer ihrer, der dritten Klasse zuschritt, hatte sie sich innerlich nicht von den Ereignissen des gestrigen Abends gelöst.

Ihre Wirtin hatte sie erwischt, als sie leicht beschwipst von dem Genuß des ungewohnten Champagners, sich in ihr Zimmer schleichen wollte. Frau Schmitt hatte ihre Untermieterin noch nie so erlebt, sie hatte sich zwar jede Bemerkung verkniffen, aber ihr Blick hatte Bände gesprochen.

Susanne Schäfer lächelte in sich hinein. Wie würde die gute Frau Schmitt erst staunen, wenn sie die Wahrheit wüßte!

Zu gerne hätte sie ihr noch in der Nacht alles erzählt, aber sie war mit Oskar Wünning übereingekommen, die Verlobung vorerst geheim zu halten. Anfang der großen Ferien sollte, so wollte er, eine große offizielle Feier im Kreise seiner weitverzweigten Familie und sämtlichen Honoratioren von Bad Kreuzfeld stattfinden. Sie hatte es nicht sein wollen, die diese Abmachung brach.

Mit einem Ruck schüttelte sie den Kopf, als wenn sie auf diese Weise die wirbelnden Gedanken abstreifen könnte, preßte die Lippen aufeinander, ging mit geradem Rücken und festem Schritt auf das Klassenzimmer zu.

»Achtung!« rief der Schüler Klaus, der an der geöffneten Türe stand.

Und als der Lärm der anderen, Gelächter, Geschrei, Stühlerücken, nicht sogleich verstummte, fügte er mit Nachdruck hinzu: »Das Fräulein kommt!«

Susanne Schäfer hatte unwillkürlich den Schritt verhalten, weil ihr gar nichts daran lag, gleich am frühen Morgen mit einem Donnerwetter über die Klasse herfallen zu müssen. Erst jetzt, als Ruhe eingetreten war, marschierte sie in das Zimmer.

Sie trug einen grauen Rock, ein blaues Twinset, Schuhe mit flachen Absätzen. Ihr Gesicht war gänzlich ungeschminkt, und sie hatte das schimmernde blonde Haar zurückgesteckt. Sie hätte in dieser Aufmachung unauffällig, fast unscheinbar gewirkt, wenn nicht der klare Blick ihrer großen grauen Augen gewesen wäre.

Jetzt war sie vorne angekommen, legte ihre Mappe auf das Katheder, grüßte laut: »Guten Morgen, Kinder!«

Wie auf ein unausgesprochenes Kommando hin erwiderte die ganze Klasse im Sprechchor: »Guten Morgen, Fräulein Lehrerin!«

»Setzt euch!«

Aber zu Susanne Schäfers Verblüffung machte die ganze Klasse keine Anstalten, diesem gewohnten Befehl nachzukommen. Sie blieben stehen, 42 Jungen und Mädchen zwischen acht und neun Jahren, schlanke und dicke, blonde und braune, blasse und rosige, und alle hatten ein verschmitztes Lächeln um die Lippen, einen triumphierenden Glanz in den Augen.

Peter, der Klassenbeste, sprang vor, fuchtelte mit dem Lineal in der Luft herum, als wenn er ein ganzes Orchester dirigieren wollte.

Auf sein Zeichen hin brüllte die Klasse los: »Wir gratulieren zur Verlobung!«

Im gleichen Augenblick zauberte Rosel, die rothaarige Rosel Wünning, Tochter von Dr. Oskar Wünnings Bruder, dem Apotheker, einen Blumenstrauß hinter ihrem Rücken hervor. Es war der seltsamste Strauß, den Susanne Schäfer je gesehen hatte, Garten-, Wiesen- und Waldblumen waren bunt durcheinander gemischt, die Stiele verschieden lang, kurzum, es war ein Strauß, zu dem wohl jedes der Kinder ein paar Blumen gemäß seinen Möglichkeiten beigetragen hatte. Susanne Schäfer hatte sogar den Verdacht, daß einige der wundervollen Rosen aus dem Kurpark stiebitzt waren.

Aber ihre Freude war so groß wie ihre Überraschung. Strahlend nahm sie den Strauß entgegen, beugte sich zu Rosel herab, küßte das kleine Mädchen, das nun bald ihre Nichte werden sollte, auf die Wange.

»Na so etwas!« sagte sie. »Das habt ihr aber schnell herausgekriegt!« Sie wußte, leugnen war diesen neugierigen, unerbittlichen Kinderaugen gegenüber zwecklos, und jede Frage nach der Quelle dieses überraschenden Wissens beantwortete sich von selber: natürlich war es Rosel gewesen, die die große Neuigkeit aus einem Gespräch der Erwachsenen aufgeschnappt und sogleich unter den Kameraden und Kameradinnen ihrer Klasse verbreitet hatte.

Jetzt quittierten sie alle Susanne Schäfers ehrliche Verblüffung mit einem vergnügten Gelächter.

»Da staunen Sie, was?« rief ein kleiner Naseweis aus der letzten Reihe.

»Ja, wirklich«, sagte die junge Lehrerin, »ihr wart mehr als fix. Aber tatsächlich bin ich noch gar nicht wirlich verlobt …«

»Oh doch!« rief Rosel dazwischen. »Mein Vater hat’s erzählt!«

»Dein Onkel Oskar und ich, wir wollen uns verloben«, stellte Susanne Schäfer richtig, »die Verlobungsfeier wird Anfang der großen Ferien sein. Deshalb ist es vielleicht ganz gut, daß ich sie schon heute mit euch feier. Wie wäre es, wenn ich euch jetzt eine schöne Geschichte erzählte?«

Dieser Vorschlag fand begeisterte Zustimmung.

»Also, setzt euch!« sagte Susanne Schäfer.

Sie schloß den Klassenschrank auf, nahm eine ziemlich häßliche Keramikvase, die Stiftung einer Mutter, heraus, drückte sie Rosel zum Wasserholen in die Hand. Die Kleine lief auf den Flur hinaus.

Die anderen hatten inzwischen Platz genommen. Aber wenn Susanne glaubte, die Kinder abgelenkt zu haben, dann hatte sie sich geirrt.

Petra, ein Mädchen mit dunkelbraunem, leicht gelocktem Haar, hob lebhaft den Finger.

»Ja, Petra?« sagte die Lehrerin ermunternd.

»Wann werden Sie denn heiraten, Fräulein?« wollte Petra wissen und errötete über ihre eigene Frage.

»Das hat noch lange Zeit«, erklärte Susanne Schäfer freundlich, »vorläufig bin ich ja noch nicht einmal richtig verlobt.«

»Aber wenn Sie mal erst verheiratet sind«, rief der lange Klaus dazwischen, »dann kommen Sie doch nicht mehr in die Schule!«

Diese Bemerkung hatte einige betrübte. »Och’s« zur Folge.

»Nur keine Angst«, sagte Susanne Schäfer lächelnd, denn die Anhänglichkeit ihrer Kinder tat ihr wohl, »so schnell werdet ihr mich bestimmt nicht los.«

»Erst wenn ein Baby unterwegs ist, nicht?« rief Rosel, die gerade mit der gefüllten Vase in der Hand in das Klassenzimmer zurückgekommen war.

Die Kinder begannen auf dieses Stichwort hin sofort eifrig miteinander zu diskutieren.

»Ruhe, bitte!« mahnte Susanne Schäfer. Sie zog es vor, auf Rosels altkluge Bemerkung nicht einzugehen. »Schönen Dank fürs Wasserholen«, sagte sie, »so, und nun stellen wir die Blumen hinein … und jetzt, marsch ab auf deinen Platz! Seid ganz still und sperrt die Ohren auf, damit ihr über die Geschichte, die ihr jetzt hören sollt, eine nette Nacherzählung machen könnt …« Sie erstickte die enttäuschten Proteste mit einer Handbewegung und begann: »Es war einmal eine Grille, die den ganzen Sommer gesungen hatte …«

Und während sie weiter erzählte, glitt ihr Blick über die blanken, erwartungsvollen Gesichter ihrer Kinder, die sie alle so gut kannte und von denen keines dem anderen glich, und sie fühlte bei allem Glück ein tiefes Bedauern, diese jungen Menschen und den Beruf, den sie sich erwählt hatte, bald aufgeben zu müssen.

2.

Die großen Ferien rückten naher und näher und mit ihnen der Tag der offiziellen Verlobung, sie war für den ersten Samstag nach Schulschluß festgesetzt worden.

Susanne Schäfers Freude war mit banger Erwartung gemischt. Oskar Wünnings Eltern hatten darauf bestanden, zu diesem Anlaß die ganze Familie zusammenzutrommeln: Sie würde also nicht nur vor den Wünnings, die sie kannte, sondern noch vor mehr als dreißig entfernteren Familienmitgliedern bestehen müssen. Dadurch wurde es ihr doppelt deutlich, daß sie selber eine Waise und ganz allein auf sich gestellt war. Mit den wenigen, sehr entfernten Verwandten, die sie besaß, hatte sie seit Jahren keinen Kontakt mehr.

»Mach dir nichts draus, Liebling«, sagte Oskar Wünning, als sie einmal versuchte, ihm ihre Unsicherheit klarzumachen, »keine Verwandtschaft ist immer noch viel besser als eine miese. Außerdem … du hast ja mich, und wenn wir erst offiziell verlobt sind, wirst du ganz zu uns gehören.«

Diese Zugehörigkeit zu einer der angesehensten Familien der kleinen Stadt bekam die junge Lehrerin schon jetzt zu spüren, denn natürlich war es kein Geheimnis geblieben, daß sie den zweiten Sohn des Ratsapothekers heiraten würde.

In den Geschäften wurde sie mit einer ganz neuen und ungewohnten Zuvorkommenheit bedient. Menschen, die sie vorher gar nicht beachtet hatten, grüßten sie jetzt auf der Straße. Die Kolleginnen verbargen einen gewissen Neid hinter honigsüßer Freundlichkeit, die Kollegen plusterten sich auf, als wenn sie sich selber beweisen müßten, daß sie es noch jederzeit mit einem gewissen einheimischen Rechtsanwalt aufnehmen könnten.

Unverändert in ihrem Benehmen blieben nur Frau Schmitt und Rektor Kagerer.

Die Wirtin hatte sich zwar zu einer Art von Gratulation aufgerafft, aber sie konnte, obwohl doch alles gegen sie sprach, das Unken nicht lassen. Ihr abgrundtiefes Mißtrauen gegenüber den Männern war eben nicht so leicht zu erschüttern.

Rektor Kagerer, Susanne Schäfers direkter Vorgesetzter, ein ruhiger, bedachtsamer Mann, war bekannt für seinen unbeugsamen Gerechtigkeitssinn, den er auch bei dieser Gelegenheit wieder bewies. Er behandelte Susanne nicht eine Spur anders als seine anderen Junglehrerinnen, mochte sie auch so gut wie verlobt mit einem geachteten Sohn der Stadt sein. Für ihn blieb sie in erster Linie Lehrerin, und für ihn zählte nur, was sie in ihrem Beruf leistete.


Die Kinder hatten noch eine Zeitlang über die Veränderung im Leben ihres »Fräuleins« geschwätzt, in Ecken zusammen gestanden und miteinander gekichert, aber als sich Susanne Schäfers Benehmen und Auftreten so gar nicht änderte, begann die Sensation allmählich zu verblassen und ihren Reiz zu verlieren. Wenn sie vorne am Katheder stand und in ihrer freundlichen, aber sehr bestimmten Art Unterricht erteilte, dann war es fast unmöglich, sie sich als verliebte Braut vorzustellen.

Mitte Juni wurde es sehr heiß. Es wurde schwierig, die Kinder für den Lehrstoff zu interessieren. In der Klasse war es drückend, draußen lockte der Sonnenschein, und die Zeugnisse waren schon geschrieben.

In der letzten Woche vor den Ferien legte Susanne Schäfer zwei Turnstunden zusammen, so daß sie ihre Kinder am Dienstagmittag die letzten beiden Stunden ins Freibad führen konnte.

Es war in der Pestalozzi-Schule durchaus üblich, daß die Lehrkräfte im Sommer ihre Klassen zum Schwimmen führten, und auch Susanne Schäfer fand es ganz selbstverständlich, die diesbezügliche Anordnung Rektor Kagerers zu befolgen. Sie gönnte ihren Kindern das Vergnügen von Herzen. Dennoch war sie immer froh, wenn sie alle wieder heil und sicher zur Schule zurückgebracht hatte.

An diesem Dienstag wimmelte es im Freibad von kleineren Kindern, die mit ihren Müttern oder auch in Gruppen gekommen waren. Der Lärm und das Geplansche war unbeschreiblich. Es war sehr schwül, und obwohl sich am blauen Himmel keine Wolke zeigte, war das heraufziehende Gewitter deutlich zu spüren.

Susanne Schäfer war ein wenig nervös, aber sie zeigte es nicht. Sie wußte, daß es ihrer ganzen Autorität bedurfte, um die Kinder im Zaum zu halten.

Mit Mühe hielt sie ihre Schar davon ab, sich, kaum daß sie umgezogen waren, kopfüber ins Wasser zu stürzen. Sie achtete streng darauf, daß jeder einzelne erst die Handgelenke und die Herzgegend kalt abschreckte, bevor er ins Wasser ging – sie machte es sogar selber vor. In ihrem einfachen leuchtend blauen Badeanzug und der weißen Kappe wirkte sie selber wie ein ganz junges Mädchen.

Nur drei Schüler konnten wirklich schwimmen. Ein vierter, der schwarzlockige kleine Franz, hielt sich mit einer Art Hundepaddelei ganz wacker über Wasser. Aber ein Freischwimmerzeugnis hatte niemand. Deshalb hielt Susanne Schäfer ihre Schar unerbittlich im Nichtschwimmerbecken zusammen, was allerdings gar nicht so einfach war. Immer und immer wieder, bis sie es schon selber nicht mehr hören konnte, mußte sie rufen: »Hierher! Franz, Jochen, Petra … hiergeblieben! Nein, keiner darf ins große Becken! Wenn ihr nicht folgt, müßt ihr heraus … ich mahne euch nicht noch einmal!«

Während der größte Teil der Kinder vergnügt herumplanschte, im niedrigen Wasser harmlose Schwimm- und Tauchversuche unternahm, turnten diejenigen, die sich mehr zutrauten und sich über die anderen erhaben fühlten, in der Nähe der Absperrung herum und schmollten.

»Das ist ja öde!« hörte die Lehrerin sie meckern. »So was Langweiliges! – Wir sind doch keine Babys mehr!«

Sie drehte sich um. »Wenn es euch nicht paßt, dann geht in die Kabinen und zieht euch um! Fort vom Seil … los, ab mit euch, zu den anderen!«

Es war wirklich nicht einfach, hier die Aufsicht zu führen, denn es genügte ja nicht, daß Susanne Schäfer aufpaßte. Die Kinder erwarteten auch, daß sie sich mit ihnen beschäftigte, Spiele und Übungen anregte und selber vormachte. Susanne Schäfer atmete auf, als es endlich so weit war, daß sie die Kinder aus dem Wasser treiben durfte.

Prompt kamen die üblichen Betteleien. »Schon!?« – »Ach, Fräulein, wir sind doch gerade erst gekommen!« – »Noch ein bißchen … bitte, bitte!« – Und ein Witzbold rief: »Die Uhr geht vor!«

Sie planschten, spritzten, entwischten, und Susanne Schäfer mußte jeden einzelnen einfangen und an Land bringen. Es entwickelte sich ein Spiel mit richtigen Regeln daraus – wer einmal gefangen war, durfte nicht mehr ins Wasser zurück, die Kinder wachten selber darüber.

Endlich konnte auch die junge Lehrerin, Rosel an der Hand, die sie zuletzt erwischt hatte, die kleine Treppe hinaufklettern. Sie hob ihr Handtuch auf, begann sich abzutrocknen.

»Los, Kinder, schnell abzählen, und dann in die Kabinen!« rief sie.

Die Zahlen flogen von Mund zu Mund: »Eins … zwei … drei … fünf … neun …«

Susanne Schäfer zählte mit. Klaus fehlte, er war schon mit seinen Eltern in die Ferien gefahren, ein anderer Junge hatte nicht mit schwimmen gehen dürfen, weil er überempfindliche Ohren hatte, ein Mädchen war wegen Krankheit entschuldigt – also mußten es insgesamt neununddreißig Schülerinnen und Schüler sein.

Aber die Kinder kamen nur bis zur Zahl siebenunddreißig.

Noch regte Susanne Schäfer sich nicht auf. Vielleicht waren zwei der Kinder schon zu den Kabinen gelaufen oder hielten sich aus Spaß versteckt.

Aber da rief Petra: »Fräulein, Fräulein … der Franz und der Jochen, die schwimmen im großen Becken!«

Die Augen der jungen Lehrerin folgten dem ausgestreckten Zeigefinger, und tatsächlich – sie entdeckte die Köpfe der beiden Jungen mitten im tiefen Wasser. Sie lief zum Rand, wollte sie zurückrufen. Doch sie kam nicht mehr dazu, denn da geschah es: Jochen sackte ab, und Franz, der sich mit seiner Hundepaddelei mit Müh und Not selber oben hielt, konnte ihm natürlich nicht helfen. Er schrie, bekam Wasser in den Mund, schluckte, prustete.

Mit einer einzigen Bewegung warf Susanne Schäfer das Frottiertuch ab, tauchte mit einem Hechtsprung ins Wasser, war mit wenigen kräftigen Stößen bei den beiden Jungen, packte sie, einen mit der linken, den anderen mit der rechten Hand und brachte sie, nur mit den Beinen schwimmend, ans Ufer zurück.

Es war nichts Ernsthaftes geschehen. Jochen war grün im Gesicht, mußte spucken und schließlich brechen. Danach fühlte er sich besser. Franz kam sich mächtig tüchtig vor und prahlte mit seiner Heldentat, bis die Lehrerin mit einer Strafarbeit, die sie den beiden Jungen auftrug, auch seinen Übermut dämpfte. Titel der Niederschrift: »Warum ich nicht ins offene Wasser hinausschwimmen darf, wenn ich nicht richtig schwimmen kann.«

Nein, es war nichts Ernsthaftes passiert, aber es war spät geworden, und bis endlich alle angezogen waren, wurde es noch später. Als die Uhr eins schlug, erschrak Susanne Schäfer. Die Kinder hätten jetzt eigentlich schon auf dem Weg nach Hause sein sollen, und doch mußten sie erst noch in die Schule zurück, um ihre Sachen zu holen.

Sie entschloß sich, nicht den Umweg durch den Park zu machen, sondern den kürzeren Weg zu nehmen, auf dem einige Straßen überquert werden mußten. Die Kinder waren hungrig geworden und hatten es jetzt eilig. Sie stellten sich brav in Zweierreihen auf und marschierten los. Alles klappte vorzüglich.


Die letzte Straße, die sie überqueren mußten, war sehr breit und in der Mitte durch eine langgestreckte, schmale Insel aufgeteilt.

Vor dem Fußgängerüberweg versammelte Susanne Schäfer ihre Kinder um sich. »Alles herhören!« rief sie. »Sobald ich euch ein Zeichen gebe … geht ihr hinüber bis zur Insel, und dort wartet ihr auf mich! Habt ihr mich verstanden?«

»Ja!« erscholl es im Chor.

Susanne Schäfer betrat den Fußgängerüberweg, nahm mit ausgebreiteten Armen in der Mitte zwischen Insel und Bürgersteig Aufstellung, winkte den Kindern zu, die jetzt paarweise hinübereilten. Der von rechts kommende Verkehr stoppte.

Sie wartete, bis auch das letzte Kind die Insel erreicht hatte, um dann erst zu folgen – da sah sie, wie eine Gruppe von Mädchen, unter ihnen auch Rosel und Petra, Hand in Hand dem jenseitigen Bürgersteig zustrebten. Sie wollte rufen, unterließ es dann aber doch, um nicht noch größere Verwirrung zu stiften. Sie war verärgert über die Unfolgsamkeit der Schülerinnen, aber durchaus nicht besorgt: schließlich befanden sie sich ganz ordnungsgemäß auf dem Zebrastreifen und waren nicht zu übersehen, Rosels roter Schopf leuchtete wie ein Fanal in der Sonne.

Mit wenigen Schritten hatte die Lehrerin die Insel erreicht, auf der der größte Teil der Klasse wartete, die Autos hinter ihr begannen zu rollen. Rosel, Petra und ihre Kameradinnen waren fast beim jenseitigen Bürgersteig angekommen. Da brauste ein Lastwagen mit überhöhter Geschwindigkeit heran und raste mitten in die Mädchengruppe hinein.

Ein Schrei gellte auf, ein wahnsinniger entsetzter Schrei – Susanne Schäfer wurde es nicht bewußt, daß sie es war, die so schrie.

Die Bremsen quietschten, der Lastwagen fuhr halb über den Bürgersteig, kam viele Meter hinter dem Fußübergang zu stehen.

Auf der Fahrbahn lagen, blutig und verrenkt, die Körper von fünf kleinen Mädchen, die eben noch gesunde, lebendige und lebensfrohe junge Menschenkinder gewesen waren.

Autos, Motorräder, Fahrräder stoppten. Menschen stürzten auf die schwerverletzten Mädchen zu.

Noch in der Besinnungslosigkeit des ersten Entsetzens tat Susanne Schäfer das Vernünftige: sie führte den Rest ihrer Klasse durch die herandrängenden Menschen auf den jenseitigen Bürgersteig.

Aber ihre Stimme war kaum mehr als ein Krächzen, als sie befahl: »Lauft zur Schule, holt eure Sachen und dann nach Hause! Beeilt euch und seid vorsichtig. Eure Eltern erwarten euch schon!«

Sie wandte sich ab, taumelte zur Fahrbahn zurück.

Die Neugierigen wichen zur Seite, machten ihr eine Gasse. Sie merkte es nicht. Sie taumelte weiter, fiel neben einem der verstümmelten Kinder in die Knie.

Es war Rosel Wünning. Ihr rechter Arm lag seltsam verrenkt neben ihr, um ihren Hinterkopf mit dem leuchtend roten Haar hatte sich eine Blutlache gebildet, ihr zartes Gesichtchen war schneeweiß. Die hellen kleinen Sommersprossen wirkten jetzt wie dunkle Tupfen.

Susanne Schäfer versuchte instinktiv, ohne zu wissen, was sie tat, den Puls des Kindes zu spüren. Aber die empfand nichts als die unendlich gähnende Leere in ihrem eigenen Herzen, einen saugenden Abgrund, der sie zu verschlingen drohte.

Nicht einmal das grelle Signal des Martinhorns gelangte in ihr Bewußtsein.

Sie spürte kaum die hilfreichen Hände, die sie hochrissen. Ihre Beine waren seltsam taub, gefühllos, wie gelähmt.

Männer in weißen Kitteln, Tragen zwischen sich, liefen hin und her, schafften die schwerverletzten Kinder fort. Dunkle Flecken von Blut blieben auf dem Pflaster.

Ein Mann in Polizeiuniform stand vor Susanne Schäfer, ein geöffnetes Notizbuch in der Hand. Er hatte ein braunes, ausdrucksloses Gesicht. Sie verstand, was er sie fragte.

»Sie sind also die Lehrerin? Nun erzählen Sie mal … wie konnte das denn passieren? Wo haben Sie gestanden … und die Kinder?«

Sie verstand jedes Wort, und sie glaubte sogar, ihm zu antworten. Sie öffnete die Lippen, quälte sich, alles zu erklären, und begriff nicht, daß sie nichts als ein tonloses Würgen herausbrachte.

»Ihren Namen … sagen Sie mir Ihren Namen«, drängte der Polizeibeamte, »den werden Sie doch wissen!«

Im gleichen Augenblick erschien ein Mann im weißen Kittel neben dem Polizisten, ein Mann mit klugen durchdringenden Augen in einem kantigen Gesicht, das beinahe häßlich hätte wirken können, wenn es nicht soviel Güte ausgestrahlt hätte.

»Das hat keinen Zweck, Herr Wachtmeister«, sagte er, »merken Sie denn nicht, daß die junge Dame beim besten Willen nicht aussagen kann?«

»Aber … sie ist doch völlig unverletzt!«

»Körperlich vielleicht, aber seelisch hat sie was abgekriegt. Nervenschock.«

Susanne Schäfer sah die Spritze in der Hand des Arztes, sah sie übermächtig auf sich zukommen – der weiße Kittel, das kantige Gesicht des Polizisten, die Häuser, der eben noch blaue Himmel, alles färbte sich in einem blutigen Rot, das sich rasch verdunkelte, bis tiefe, nachtschwarze Dunkelheit sie gnädig auffing.