Impressum

Lutz Dettmann

Wer glaubt schon an den Weihnachtsmann?

 

ISBN 978-3-95655-849-8 (E-Book)

ISBN 978-3-95655-848-1 (Buch)

 

Gestaltung des Titelbildes und des DVD-Covers: Ernst Franta

Foto: Liane Römer

 

Film „Fröhliche Weihnachten“:

Mit Ramona Kunze-Libnow, Uwe Karpa, Edi Jäger, u. a.

Nach einer Erzählung von Lutz Dettmann

Regie: Till Endemann

Produktion: filoufilm Dani Barsch

Filmmusik: Frieder Zimmermann

 

© 2017 EDITION digital
Pekrul & Sohn GbR
Godern
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Ein Polizist als Weihnachtsengel

Mein Großvater ist nun schon über 30 Jahre tot. Doch noch immer sehe ich seine stämmige Gestalt, das schmale Gesicht mit dem, auch noch im hohen Alter vollen, schlohweißen Haar. Sein Wesen, seine Art, die von Altersweisheit und Zufriedenheit gezeichnet waren, habe ich nicht vergessen. Und manchmal, besonders in der Vorweihnachtszeit, höre ich seine Stimme, die uns Kindern damals so schöne Geschichten erzählen konnte.

Wenn die Weihnachtszeit kam, begann auch die schönste Zeit für unseren Großvater. Er begab sich mit uns in die Gedankenwelt seiner Kindheit zurück, erzählte von mecklenburgischen Wintern voller Schnee und klirrender Kälte, von Schlittenfahrten über tief verschneite Wege, die er mit seinem Vater, der Arzt war, gemacht hatte. Und Märchen konnte er erzählen! Selbst noch als 12-Jähriger nahm er mich mit seinen Märchen gefangen. Ich höre seine Stimme, die im mecklenburgischen Mischplatt für uns Enkelkinder Wunderwelten erschuf, mit Trollen, Elfen, Weihnachtsmännern und Hexen. Und natürlich siegte immer das Gute in seinen Märchen. Es konnte ja nicht anders sein – erst recht nicht zur Weihnachtszeit.

Besonders erinnere ich mich an das letzte Weihnachtsfest mit meinem Großvater. Als wäre es erst im letzten Jahr gewesen, sehe ich ihn vor mir sitzen, in seinem alten Ohrensessel, meine Schwester und ich vor ihm. Und er erzählt von damals, von früher – als die Winter noch voller Schnee und ohne grelle Weihnachtsreklame waren, als sich Kinder noch über Äpfel und Rosinen freuten, als es den Maronenmann noch gab und richtige Wachslichter und Haaspoppen am Baum hingen …

 

„So, so, eine Weihnachtsgeschichte soll ich euch erzählen?“

Der Großvater drehte sich zu uns um, und ein spitzbübisches Grinsen flog über sein Gesicht.

„Meint ihr nicht, ihr seid langsam zu alt dafür?“

Wir wussten, dass diese Frage kommen würde. Sie kam an jedem Heiligen Abend, wenn die Eltern und die Großmutter uns aus der guten Stube der Großeltern treiben mussten. Wie aus einem Mund verneinten wir dies natürlich. Ist man mit zehn oder zwölf Jahren zu alt für die Vorfreude auf das Weihnachtsfest? Nein, in diesem Moment wollten wir wieder klein sein. Und wie immer ließ sich der Großvater natürlich erweichen. Auch das gehörte zum alljährlichen Ritual.

„Na gut, dann ab!“

Der Großvater öffnete die Tür zum Herrenzimmer, wie es noch immer hieß, obwohl es so gut wie nie benutzt wurde, denn die Herren, mit denen sich der Großvater früher immer zum Skat oder Schach getroffen hatte, spielten mittlerweile weiter oben ihre Spiele. Ohne den Großvater, was er manchmal bedauerte, denn zum Skatspiel hatten wir Jungen nun wirklich keine Lust, wenn wir auch sonst fast alles für ihn getan hätten.

Der Geruch von Winteräpfeln, die Großmutter auf dem großen Bücherschrank lagerte, schlug uns entgegen und wohlige Wärme, die besonders auffiel, da dieses Zimmer sonst nur spärlich geheizt wurde. Das Dämmerlicht des beginnenden Weihnachtsabends tauchte den großen Esstisch, den Bücherschrank und den Schreibsekretär, an dem schon Generationen von Großvätern gesessen hatten, in ein besonderes Licht. Meine Schwester zog die Vorhänge zu. Ich entzündete die große Adventskerze auf dem Rauchtisch; wir rückten zwei Stühle um den großen Ohrensessel, auf dem sich unser Großvater niederließ.

 

Heute frage ich mich manchmal, wie es möglich war, dass unser Großvater in diesen Minuten aus halbwüchsigen Enkelkindern solche erwachsenen, artigen Zuhörer schaffen konnte.

 

Und dann saßen wir um seinen Sessel geschart, knabberten von den Weihnachtsplätzchen, die auf dem kleinen Rauchtisch standen und warteten, was nun kommen würde.

Der liebe alte Mann saß auf seinem Sessel, hatte seine Anzugjacke aufgeknöpft (Weihnachten trug er immer einen Anzug), die goldene Uhrkette glänzte auf der dunklen Weste.

In diesem Moment hätte er den personifizierten Großvater für alle Enkelkinder abgeben können. Er strich sich über das Kinn, musterte uns kurz. Dann lächelte er sein Großvaterlächeln.

„Ihr seid wohl ganz schön aufgeregt, wann es nun mit der Bescherung losgeht. Na, lasst mal eure Eltern machen.“

Wir fingen an zu drängeln – wie in jedem Jahr – und der Großvater begann zu erzählen – wie in jedem Jahr. Doch vorher räusperte er sich.

„Wisst ihr, dass mir langsam die Märchen und Geschichten ausgehen? Schließlich musste ich euch ja auch schon jedes Jahr eine Geschichte erzählen. Mein Kopf ist alt geworden. Da fällt es einem schwer, immer wieder neue Geschichten zu erfinden.“

Dann machte er eine Pause und griff sich ein Plätzchen.

„Heute will ich euch etwas Wahres erzählen. Ob es überhaupt eine Geschichte wird, weiß ich noch gar nicht. Wollen wir abwarten, was es wird.“

Der Großvater hielt kurz inne.

„Wisst ihr“, und er legte sein Plätzchen gedankenversunken wieder auf den Teller zurück, „zu Hause bei meinen Eltern lief unser Weihnachtsfest immer sehr harmonisch ab. Alles war vorgeplant. Die Weihnachtsgans hatte meine Mutter mit unserem Hausmädchen schon im September ausgesucht. Den Weihnachtsbaum kaufte mein Vater und ließ ihn vier Tage vor Weihnachten nach Hause liefern. Aufgestellt und geschmückt hat er ihn immer alleine. Das ließ er sich nicht nehmen, auch wenn er Medizinalrat war, und damals, vor dem ersten großen Krieg, war das schon eine Stellung. Also, alles lief geplant ab – bis auf ein Weihnachtsfest. Das war so um 1910. Ich war gerade acht oder neun geworden. Jedenfalls weiß ich, dass die Elektrische gerade fuhr.“

Wieder griff der Großvater nach einem Plätzchen, biss diesmal ab, schnippte die Krümel von seiner Weste, lächelte und ermahnte uns, diesen Lapsus nicht der Großmutter zu petzen und fuhr fort:

 

„Klapperkalt war es in diesem Dezember gewesen. Die Leute rannten bis über beide Ohren vermummt durch die Gegend. Bei meinem Vater in der Praxis war die Hölle los. Die Mutter rannte, Vater hatte eine zweite Hilfe eingestellt. Die Arbeit war kaum zu schaffen. Aber das war genau das Richtige für ihn. Er brauchte Druck. Pfeifend rannte er durch die Praxisräume.“

Der Großvater schaute kurz auf.

„Wisst ihr, er liebte Operetten – er pfiff also den ganzen Tag Operettenmelodien, wuschelte Kinderköpfe im Vorbeigehen durch, erwischte auch manchmal schon einen älteren Kopf. Wie gesagt, er lief zur Hochform auf. Einziges Problem: Er konnte sich nicht um den Baum kümmern. Und das betrübte ihn immer mehr, denn der Weihnachtsbaum war sein Heiligtum. Hoch musste er sein, eine Tanne musste es sein und frisch geschlagen musste sie sein. Denn er liebte den harzigen Duft.

Wenn der Baum fünf Reichsmark kostete! Es war egal. Vater vergaß in diesem Moment seine Sparsamkeit. Aber er konnte keinen Baum aussuchen. Die Kranken fielen wie die Heuschrecken in seine Praxis ein.

 

Mein Bruder und ich genossen das Winterwetter. Wir liefen mit den anderen Fridericianern (Schüler des Fridericianums Schwerin, altsprachliches Gymnasium in Schwerin, 1553 gegründet) Schlittschuh auf dem Pfaffenteich, lieferten uns Schneeballschlachten mit den Jungen von der Hospitalstraßenschule und rodelten den Arsenalberg herunter, dabei immer auf der Flucht vor Schutzmann Stüdemann. Mich hatte dieser besonders ins Herz geschlossen, da ich ihm einmal durch die Beine gerodelt war.“

Der Großvater lächelte.

„Doch, ehrlich. Und das war damals ganz schön frech. Denn Schutzmänner hatten was zu sagen. Und dieser besonders. Wachtmeister Stüdemann war schon eine Furcht einflößende Person. Vor dem hatten sogar Erwachsene Respekt.“

Wieder griff er nach einem Plätzchen.

„Dann, in der Woche vor Weihnachten verschlechterte sich die Stimmung unseres Vaters gewaltig. Wir saßen beim Frühstück. Ich stopfte mir gerade meine Stulle hochkant in den Mund, denn ich war einmal wieder viel zu spät dran, da kam ein Knurren hinter der „Mecklenburgischen Zeitung“ hervor.

„Nun kommt schon wieder ‘ne neue Grippewelle“, verkündete mein Vater.

Er sprach am Tisch übrigens Hochdeutsch. Nur mit seinen Patienten sprach er Platt.

Das väterliche Gesicht erschien über der Zeitung.

„Marta, wann ich wohl mit Lembke den Baum aussuchen soll?“, wandte er sich vorwurfvoll an meine Mutter, als ob sie für diese neue Grippewelle verantwortlich sei.

Mutter verschluckte sich fast, mein Bruder sah mich an, ich würgte noch mehr an meiner Stulle, um möglichst schnell den elterlichen Frühstückstisch verlassen zu können. Diesen Ton kannten wir nicht von unserem Vater.

„Erich, dann muss Lembke den Baum wohl alleine holen“, stellte die Mutter lakonisch fest. Vater legte seine Zeitung nieder und schaute die Mutter an, als ob sie soeben den Verkauf der Praxis verkündet hätte.

„Soweit kommt’s noch. Was der wohl holt? Der kommt doch mit ‘ner Kiefer nach Hause und versäuft den Rest mit dem Förster. Ne, alleine lass ich den Lembke nicht los“, stellte mein Vater fest.

Seine Stimme ließ keinen Widerspruch zu. Die Mutter schwieg. Mutter kannte meinen Vater. Damit war das Thema vom Tisch. Vorerst!

 

Die nächste Grippewelle rollte an, die nächste Patientenwelle überschwemmte die Praxisräume in der Alexandrinenstraße. Das Husten und Schnaufen war bis in die Wohnung zu hören. Und das Weihnachtsfest nahte unerbittlich.

 

Eines Mittags, wir kamen aus der Schule, stand ein Baum auf dem Hof. Er sah nicht schlecht aus, er war auch dicht gewachsen, er war grün. Aber er sah trotzdem anders aus. Irgendwie war er nicht so schön wie sonst. Aber er war ein Weihnachtsbaum. Und das war das wichtigste für mich und meinen Bruder.

 

Am späten Nachmittag kam mein Vater aus der Praxis. Er kam in die Küche, wusch sich die Hände, setzte sich an den Tisch, fragte, ob wir unsere Hausaufgaben gemacht hätten. Was wir natürlich sofort bejahten. Dann Blick zu Minna, unserem Hausmädchen. Minna hieß übrigens nicht Minna, sondern Berta. Aber das war Vater egal.

Das erste Hausmädchen hatte auf den Namen Minna gehört – also hatten alle auf den Namen Minna zu hören. Vater hielt an Traditionen fest.

„Und, war Lembke den Baum holen?“

Das Mädchen bejahte.

Ungläubig schauten mein Bruder und ich uns an. Der Vater war keinen Baum aussuchen gefahren? Das war doch seine Mission! Pest und Cholera mussten ausgebrochen sein! Sonst hätte dies nicht geschehen können!

Wie beiläufig ging der Vater zum Fenster, schaute auf den Hof.

„Hm, von hier oben sieht er ja ganz vernünftig aus. Lembke soll ihn anhängen, sonst uriniert der Kater dagegen.“

Großvater hob den Finger.

„Mein Vater sagte natürlich nicht ‚pinkeln’. Das zierte sich nicht für einen Medizinalrat. – Na ja, und wir nickten natürlich voller Verständnis, obwohl ich immer ‚pinkeln’ sagte, wenn die Erwachsenen nicht anwesend waren. Und mein Bruder natürlich auch. Wortlos trank der Vater den Nachmittagskaffee, blätterte in seiner Zeitung. Dann rauschte er wieder in die Praxis.

Wir verdünnisierten uns wieder in Richtung Arsenalberg, den Schutzmann ärgern.

Die Tage bis Weihnachten wollten einfach nicht vergehen und auch die Grippewelle ging nicht. Unsere Eltern sahen wir nur am Abend.

Vater lief mit angespanntem Gesicht durch die Räume. Die gute Laune war vergangen. Er wuselte keine Patientenköpfe mehr. Hätte es damals das Wort „Stress“ schon gegeben, hätten wir gedacht, unser Vater habe Stress. Aber so war er nur fleißig. Mutter ging es ähnlich. Nichts war in diesem Jahr so wie in den anderen: kein gemeinsames Plätzchenbacken, kein Marzipankugeln rollen, keine lauschigen Abende mit Vorlesen am Kamin. Dafür lief Minna, die ja eigentlich Berta hieß, zur Hochform auf. Sie schmiss komplett den ärztlichen Haushalt. Mutter war selig. Nur Vater nicht, denn der Baum stand immer noch auf dem Hof. Wie gesagt: Er stand

er hing nicht. Trotz ärztlicher Bitte, nein Befehl, meines Vaters. Trotz Katergefahr. Denn die pissten oder besser – urinierten – zu gerne an Weihnachtsbäume. Doch Hausdiener Lemke hatte andere Dinge zu tun, meinte er. Auch, als Vater ihn zwei Tage vor Weihnachten noch einmal strengstens ermahnte.

„Der Lembke wird schon sehen, was er davon hat!“, verkündete er am familiären Abendbrottisch. Da halfen auch Mutters Schlichtungsversuche nicht. Lembke würde in diesem Jahr kein Weihnachtsgeschenk erhalten.

„Nichts mit Zigarren!“, schmetterte Vater und legte resolut die Abendausgabe beiseite. Sein Kaiser-Wilhelm-Bart zitterte, so wütend war er, obwohl die Grippewelle sich langsam nach Ostpreußen verzogen hatte, wie es in der Abendausgabe hieß. Als ich vorsichtig anbot, den Baum mit meinem jüngeren Bruder aufzuhängen, ich hatte einiges gutzumachen, denn Stüdemanns Pickelhelm war gestern Opfer einer Schneeballschlacht geworden, schüttelte er nur den Kopf und strich mir mit wohlwollend väterlicher Geste über den Scheitel. Die Mutter lächelte mich an und mein Bruder trat mir gegen das Schienbein, um mir seinen Unmut mitzuteilen. Denn warum sollte er meine Anbiederungsversuche unterstützen. Schließlich hatte ich den Helm getroffen.“

Der Großvater machte eine kurze Pause und schaute auf die Wanduhr. „Ich glaube, ich muss mich sputen. Sonst ist die Bescherung heute um acht.“

Doch uns war das inzwischen egal. Denn er hatte uns wie immer in seinen Bann gezogen.

 

„Also gut – weiter! Endlich war der Tag des Heiligen Abend angebrochen. Vater hatte die Praxis noch bis um elf geöffnet. Aber es waren keine Patienten mehr gekommen. Die Grippe war wohl nun in Riga oder Reval. Das ärztliche Gewissen konnte sich auf das Weihnachtsfest konzentrieren. Mutter wirbelte in der Küche mit Minna-Berta.

Vater hatte im Salon, wie unser Wohnzimmer damals hieß, die Glocken, Kugeln und Weihnachtsterne herausstellen lassen. Eine Flasche Rotspon war geöffnet worden. Denn zu den Sinnesfreuden gehört auch die Gaumenfreude. Und unser Vater war für alle Sinnesfreuden empfänglich. Wir standen bereit, um die Handreichungen zu machen. Es konnte beginnen. Aber so richtig in Vorfreude war unser Vater noch immer nicht.

Dann war da der Weihnachtsbaum. Er stand noch immer unten auf dem Hof. Wie gesagt: Er stand! Denn Lembke hatte ihn nicht aufgehängt. Warum nicht, das ist nie ans Tageslicht gekommen. Und Lembke war nicht da. Obwohl er für das Aufstielen des Baumes verantwortlich war. Lembke war heute Morgen am Baum gesehen worden, von Minna, die Berta hieß. Aber nun war er fort, obwohl seine Weihnachtsferien erst nach dem Aufstielen des Baumes begannen.

Wir standen mit Vater vor dem kapitalen Baum. Es schneite. Die Luft roch nach Zimt. Es war Weihnachten. Und unser Vater war unzufrieden. Er murmelte etwas von neuen Hausknecht zu Ostern suchen und dass jeder mache, was er wolle. Dann legte er den Baum um. Vater fasste vorne an, wir hinten. Vater ließ den Baum wieder los.

„Hans, Otto, kommt doch mal her.“

Wir postierten uns neben Vater.

„Sagt mal, riecht der Baum?“

In seiner Stimme lag ein leichtes Knurren.

Ich weitete meine Nüstern. Der Baum roch wirklich. Doch ich hütete mich, seinen Verdacht zu bestätigen.

„Nein Papa, der Baum riecht nicht. Nur wie immer, nach Harz oder so“, versicherte ich hoch und heilig. Mein kleiner Bruder Otto musste meine Gedanken gelesen haben. Denn auch er bestätigte mich mit dem unschuldigsten Kindergesicht, das er nur aufsetzen konnte.

Der Vater schnupperte wieder.

„Na ja, wenn ihr meint. Der Karbolgeruch der letzten Tage hat wohl meine Schleimhäute geätzt.“

Vater griff nach dem Stamm, und hoch ging es in die elterliche Wohnung.

 

Da stand der Baum neben dem großen Büfett. Vater hatte ihn aufgestielt. Hoch war er, voll war er, gerade gewachsen – und er stank. Er stank nach Kater. Die Befürchtung unseres Erzeugers hatte sich bewahrheitet. Doch wir hielten unseren Mund. Vater schnüffelte, schüttelte den Kopf und wandte sich an uns.

„Also, ich sage euch: Der Baum stinkt nach Katerurin.“

Er hatte recht. Der Baum stank nach Katerpisse.

Vater rief nach Minna. Die kam in ihrer Schürze angerauscht.

„Minna, nach was riecht der Baum?“

Minna, die ja Berta hieß, schnüffelte kurz, hockte sich hin, schnüffelte noch einmal.

„Herr Medizinalrat, der Baum stinkt nach Katerpisse!“

Dann wurde sie rot.

„Ich meine, nach Kater!“

Und verschwand wieder in Richtung Küche.

„Seht ihr.“

In Vaters Stimme klang fast Triumph.

„Ich hab‘s doch gleich gesagt! Lembke, dieser faule Schuft.“

Inzwischen war auch Mutter angerauscht gekommen.

„Erich, der Baum stinkt! Der Baum muss raus!“

Mein Vater war erschüttert. Seine ganze heile Weihnachtswelt mit Krippe, Plätzchen, Bescherung, Kerzenglanz und Baum brach in diesem Moment zusammen. Er sackte auf seinen Lieblingssessel, griff nach dem Weinglas, stürzte es herunter und schaute unsere Mutter jämmerlich an.

„Ja, kann man denn nicht mit Parfüm …“

Er brach mitten im Satz ab, wusste er doch, auch das würde nicht helfen.

Mit zitternder Hand goss er sich das Glas voll, nahm wieder einen tiefen Schluck und schaute hilfeflehend in die Runde. Unser sonst so starker Vater, der Retter von Grippekranken und Halsentzündeten, der Samariter und Trostspender, war seelisch und körperlich zusammengebrochen.

„Und nun?“, fragte er.

Mutter schaute ihn an.

„Na, als erstes muss der Baum raus. Die ganze Wohnung stinkt schon. Und dann muss ein neuer Baum her.“

Dann mehr zu sich: „Und Lembke ist nicht da.“

Vater stöhnte auf.

„Am Heiligen Abend einen Baum herbekommen. Wie soll das denn gehen? Und dann in der Stadt? Hier wachsen doch keine. Wir können doch keinen aus dem Schlossgarten nehmen!“

Ich sah in Gedanken den Großherzog meinem Vater hinterherjagen, da dieser mit einer großen Säge im hochherrschaftlichen Garten Baumfrevel begangen hatte.

Eins war klar: Ohne Baum war das Weihnachtsfest gelaufen.

Vater hatte sein Glas schon wieder geleert. Er war hilflos.

„Ich brauche Ruhe, ich muss nachdenken!“

Er ergriff die Flasche, schnappte sein Weinglas. Die Tür zum Herrenzimmer fiel ins Schloss. Der Vater war verschwunden. Mutter schaute auf uns.

„Typisch euer Vater! In der Praxis ein Held, ein Retter. Zuhause hilflos wie ein kleines Kind! Jungs, schafft den Baum raus. Mir wird schon etwas einfallen. Aber erst muss die Gans versorgt werden.“

Und sie verschwand ebenfalls.

Da lag nun der stinkende Baum. Otto und ich hielten Kriegsrat. Ein Baum musste her, das war uns klar. Nur woher nehmen, wenn nicht stehlen? Also, hier auf dem Hof würden wir keinen bekommen. Wir machten uns auf in die Stadt. Kommt Zeit, kommt Rat. Aber diesen Spruch kannten wir damals noch nicht. Vorher hatten wir unser Erspartes zusammengesammelt: 2,74 Reichsmark, ich weiß die Summe, als ob ich erst gestern das Geld gezählt hätte. Schwer war meine Tasche vom Kupfer- und Nickelgeld. Wir machten uns auf dem Weg, natürlich ohne etwas der Mutter zu sagen. Aber die polterte sowieso mit Minna in der Küche. Und Vater war nicht zu sehen. – Ihr müsst wissen, Schwerin war damals eine beschauliche Stadt. Es gab keine Autos. Statt der vielen Taxen standen Pferdedroschken vor dem Bahnhof. Und selbst die Elektrische, die sonst quietschend und kreischend bei „Sterns Hotel“ in die Kaiser-Wilhelm-Straße bog, hörte man an jenem Nachmittag kaum.

Wie eine weiße Decke, die alle Geräusche dämpfte, hatte sich der Schnee über die Stadt gelegt. Wenige Leute gingen an uns vorbei, als wir durch die Kaiser-Wilhelm-Straße mehr schlitterten als liefen. Dick vermummt waren sie und dampften aus den Mündern. Denn kalt war es an diesem Tag.

Vor der Hauptpost stand ein Maronenverkäufer. Es duftete herrlich. Doch er bot seine Früchte vergebens an.

Uns war klar, wenn wir noch einen Baum bekommen konnten, dann auf dem Schlachtermarkt. Denn dort stand immer ein Baumverkäufer. Aber auch noch heute, am Heiligen Abend, um diese Zeit? Wir hatten keinen Blick für die weihnachtlich geschmückten Ladenauslagen. Selbst der sonst obligatorische Abstecher zu Scharffenberg in die Wladimirstraße fiel aus. Riesige Ankerbausteinburgen standen in der großen Auslage, ganze Regimenter von Zinnsoldaten und eine Dampfmaschine, die mit Petroleum arbeitete. Sonst konnten wir stundenlang dem ewigen Kreisen der großen Blecheisenbahn zusehen. Heute war dafür keine Zeit.

Der bronzene Bismarck vor dem Neuen Gebäude auf dem Marktplatz hatte eine weiße Mütze über seinen Pickelhelm gestülpt. Mein kleiner Bruder wollte im Vorbeilaufen mit einem Schneeball den Helm treffen. Doch ich zog ihn weiter. Das würde uns noch fehlen, wenn Wachtmeister Stüdemann, der im Stadthaus saß, uns hoppnehmen würde.

Der Schlachtermarkt war leer! Vorne, am Durchgang zum Markt, packte eine Fischfrau gerade ihren Stand zusammen. Dann war da noch ein Glühweinverkäufer, um den noch einige vermummte Dienstleute und Arbeiter standen. Die Fischfrau hauchte in ihre verklamten Fäuste und schaute uns erwartungsvoll an.

„Wuult je noch wat?“ („Wollt ihr noch etwas?“)

Ich schüttelte nur den Kopf. Die Enttäuschung hatte mir die Kehle zugeschnürt. Für uns brach eine Welt zusammen. Meinem kleinen Bruder standen die Tränen in den Augen.

Da wieherte ein Pferd. Ganz hinten, fast vor dem Domhof, stand ein Weihnachtsbaumverkäufer. Er war gerade dabei, die restlichen Bäume auf seinen Wagen zu laden. Wer wollte auch jetzt noch einen Baum kaufen? Wenn nicht wir! Ich stieß meinen Bruder an, und wir liefen los.

Dann standen wir vor ihm. Er beachtete uns überhaupt nicht. Grimmig sah er aus. Sein Geschäft war wohl heute nicht gut gelaufen. Das sollte sich ja nun ändern.

Seine Pelzmütze hatte er tief in sein gefurchtes Gesicht gezogen. Der Kragen seines Kutschermantels war hochgeschlagen. Wir waren für ihn Luft. Doch dann nahm er uns wahr.

„Wat wullt jie?“ („Was wollt ihr?“)

Eine Schnapsfahne schlug mir entgegen.

„Wir wollen noch einen Baum kaufen“, stammelte ich.

Und mein Bruder ergänzte: „Wir haben ja einen, aber der stinkt nach Kater.“

Er musterte uns von oben bis unten.

„Juch Vadder weid wohl nich, dat de Boom uphangt ward. De is wohl so ´n Überstudierter?“ („Euer Vater weiß wohl nicht, dass der Baum aufgehängt wird. Der ist wohl ein Überstudierter?“)

„Der ist Doktor“, sagte mein Bruder stolz.

„Ok, dat noch. Heww je ok Geld mit?“ („Auch das noch. Habt ihr auch Geld mit?“), wollte der Vermummte wissen.

„Hemm we. Twei vierunsömsig!“ („Haben wir. Zweivierundsiebzig!“), erwiderte ich stolz.

Und nun ging eine Verwandlung in dem Griesgram vor. Ich musste etwas ganz Schlimmes gesagt haben. Sein Gesicht arbeitete, zeigte erst Erstaunen, dann Erschrecken.

„Sagt mal“, ihm hatte es sogar das Plattdeutsch verschlagen, „ihr spinnt wohl. Meint ihr, für nicht mal einen Taler hole ich hier noch einen Baum runter. Wisst ihr, wie spät das ist?“

Und er zeigte in Richtung Domuhr, die gar nicht zu sehen war.

„Das ist gleich vier. Ich will nach Trebbow. Ihr spinnt völlig. Haut ab. Klaut euch doch einen Baum!“

Zaghaft wollte ich mich auf Bitten verlegen. Doch er schnitt mir das Wort mit einer heftigen Handbewegung ab und wandte sich seinen Pferden zu.

Das war‘s gewesen! Wir würden Weihnachten ohne Baum feiern – also kein richtiges Weihnachten haben.

Mein Bruder heulte auf.

„Nu flennt de ok noch“ („Nun heult der auch noch“), meldete sich der Kutschermantel, und ich zog Otto fort.

 

Da standen wir beide im kleinen Durchgang vor dem Stadthaus. Keine 100 Meter vor uns lagen mindestens 20 Bäume aufgeschichtet auf dem Wagen. Einen wollten wir haben. Nur einen Baum! Er würde sie doch sowieso verheizen, der Kutschermantel. So eilig hatte er es auch wieder nicht. Die Pferde hatten ihre Futtersäcke vor, und der Kutschermantel stand nun beim Glühweinverkäufer. Amüsieren schien er sich auch noch über uns, dieser Unmensch. Sein Lachen schallte zu uns herüber.

Da schoss es mir durch den Kopf. Was hatte er gesagt: „Klaut euch doch einen Baum!“ Das war´s! Mein Bruder strahlte mich an, als ich ihm meinen Vorschlag schilderte. Fast einen Taler würden wir ja so auch noch sparen. Unauffällig, so glaubte ich jedenfalls, schlichen wir uns an den Leiterwagen heran. Er stand dicht an der Hauswand. So hatten wir genügend Deckung. Ein Ruck, der oberste Baum fiel herunter, ich griff nach dem Stamm, mein Bruder nach der Spitze und weg waren wir. Neben dem Eingang zum „Hotel de Paris“ verschnauften wir. Niemand hatte uns gesehen, niemand hinter uns hergerufen. Wir hatten einen Baum, schön war er. Nicht ganz so schön wie der andere, aber er stank nicht! Zuhause würden sich alle freuen, denn wie wir ihn erworben hatten, würden wir natürlich nicht erzählen.

Die Domuhr schlug vier. Höchste Zeit, nach Hause zu kommen! Den Baum gegriffen, und ab Richtung Friedrichstraße. Damit direkt vor den Augen des Gesetzes über den Markt zu laufen, trauten wir uns doch nicht. Ich griff wieder nach dem Stamm, mein Bruder ergriff das andere Ende. Wir richteten uns auf – und vor mir stand der Kutschermantel. Breit grinste er mich an.

„So, die Herrschaften haben also doch noch einen Baum bekommen. Secht mal, ihr seid ja ganz gemeine Diebe. Sone feinen Pinkel und klauen wie die Raben. Na dann mal ab zu Stüdemann. Der wird sich freuen. Und den Baum nehmt ihr mit.“

Oh Gott! Hinter Gittern würden wir das Weihnachtsfest verbringen. Unsere Eltern würden sich zu Tode schämen, weil ihre Söhne Diebe sind. Mein Bruder schluchzte hinter mir zum Steinerweichen. Doch der Kutschermantel zeigte kein Mitleid.

Im Gegenteil, er grinste nur und berichtete im Vorbeigehen den wenigen Passanten von unserer Straftat. Wir waren kurz vor dem Stadthaus. Gleich würde die Hinrichtung beginnen. Und da, mein Herz setzte für einen Moment aus, trat Stadtwachtmeister Stüdemann, von Kopf bis Fuß das Gesetz der Stadt, vor die Tür. Jovial grüßte er einen vorbeieilenden Passanten zurück, dann fiel das Auge des Gesetzes auf uns.

Er stutzte einen Moment. Dann setzte er sich in unsere Richtung in Bewegung. Mein Bruder jaulte auf. Ich hätte am liebsten mitgejault. Aber das ging ja nicht.

Ich war ja der ältere Bruder. Die Hände auf dem Rücken, steuerte er zu dem Kutschermantel. Der riss seine Mütze vom Kopf und grüßte. Der Wachtmeister nickte kurz. Unsere Prozession blieb stehen.

„Sagen Sie mal, lassen Sie die Kinder den Baum tragen?“

„Das sind Diebe, Herr Wachtmeister! Gemeine Diebe!“

Das Auge des Gesetzes musterte mich, und mein Herz blieb stehen. „Aha, dann tragen die Jungen das Corpus Delicti.“

In diesem Moment brach eine Welt zusammen. Weihnachten würden wir auf der Wache verbringen. Wer weiß, welche Strafe das CORPUS DELICTI bedeutete! Unsere Eltern würden sich zu Tode schämen, weil ihre Söhne Diebe sind. Alle Strafen des Fegefeuers geisterten durch mein Hirn. Und als die Schlimmste, das CORPUS DELICTI!

„Ich kenn dich, Junge. Du bist doch der Sohn von Doktor Schmidt aus der Alexandrinenstraße. Stimmt‘s?“

Ich konnte nur nicken.

„Und der Schneeballwerfer und Durch-die-Beine-Rodler“, ergänzte er.

„Und ich bin der Bruder“, tönte es von hinten.

Wie durch Zauberhand ging der Anflug eines Lächelns durch das sonst so strenge Wachtmeistergesicht.

„Und ihr habt den Baum gestohlen?“, wollte er sich noch einmal vergewissern.

Wieder konnte ich nur nicken. Inzwischen waren zwei neugierige ältere Frauen stehen geblieben.

„Gehen Sie weiter!“, bellte er sie an. Wir waren wieder alleine.

Er schaute mich an, schaute den Kutschermantel an, der noch immer die Mütze in seinen Händen hielt.

„Die Söhne vom Doktor Diebe? Das kann ich mir nicht vorstellen.“

„Aber es ist so, Herr Wachtmeister. Bei meiner Ehre!“, versicherte der Kutschermantel.

„Na, mit der Ehre würde ich vorsichtig sein. Habe ich Sie nicht schon mal völlig betrunken im Marktdurchgang einsammeln lassen?“

Als der Kutschermantel etwas erwidern wollte, winkte der Wachtmeister nur ab.

Er wandte sich mir zu.

„Dann legt erst mal den Baum ab. Und dann erzählt mir mal, was nun los war. So einfach klaut ihr doch nicht.“

Die Stimme des Wachtmeisters klang so ganz anders, als wenn er hinter uns her rief.

Und plötzlich vertraute ich ihm. Ein Damm brach in meinem Inneren, meine Angst verschwand vor diesen lächelnden Augen. Ich begann zu erzählen – alles: vom überarbeiteten Vater, von der Katerpisse, von unserer Angst, dass das Fest ausfallen würde, von dem missglückten Weihnachtsbaumkauf, von meiner Idee … Der Wachtmeister hörte zu, lächelte manchmal, mein Bruder nickte und der Kutschermantel knitterte seine Mütze. Als ich geendet hatte, wandte sich das Auge des Gesetzes an den Kutschermantel.

„Sagen Sie mal, fünf Reichsmark wollten Sie den Kindern für diesen lausigen Baum abknöpfen. Sie sind wohl nicht bei Trost?“

„Ach, halten Sie den Mund!“, herrschte er den Baumverkäufer an, der etwas erwidern wollte.

Der Wachtmeister überlegte einen Moment. Dann wandte er sich an mich.

„Ja, Jungs, da will ich dann mal Gnade vor Recht ergehen lassen“, und die Augen des Gesetzes verwandelten sich fast in die Augen unseres Pastors, soviel Wärme ging von ihnen aus, „weil heute Weihnachten ist. Ich denke mal, ihr gebt diesem Menschenfreund euer Geld.“

Für einen Moment wurde wieder das Auge des Gesetzes sichtbar.

„Dafür bekommt ihr den Baum. Und dann ab nach Hause. Euer Vater erfährt nichts davon, versprochen.“

„Das ist ja wohl ein angemessener Preis, oder?“, wandte er sich an den potenziellen Verkäufer.

In diesem Moment hätte ich den Wachtmeister küssen können.

„Wenn du mir noch einmal vor die Füße rodelst, gehst du aber in den Arrest, klar?“

Und da funkelten ein himmlisches und ein Gesetzesauge.

„Das kommt nie mehr vor, versprochen.“

Ich hätte in diesem Moment tausend Eide schwören können. Mit klammen Fingern nestelte ich die Münzen aus meiner Hosentasche und drückte sie dem Kutschermantel in die Hand. Der schaute mich wütend an, sagte aber nichts.

„So, Jungs, nun ab. Eure Eltern werden sich Sorgen machen. Und ihr sagt auch kein Wort zu euren Freunden über diese Sache. Ist das klar?

Er lächelte schon wieder.

„Die müssen doch weiter Angst vor mir haben!“

Wir nickten beide wortlos.

Bedanken konnte ich mich nicht. Aber unsere Gesichter werden eine klare Sprache gesprochen haben. Während wir den Baum aufnahmen, wünschte ich dem Wachtmeister dann noch ein frohes Fest. Der nickte und wandte sich an den Kutschermantel.

„Sagen Sie mal, haben Sie auch ‘ne Konzession zum Weihnachtsbaumverkauf? Dürfte ich die einmal sehen?“

Und nun klang seine Stimme wieder dienstlich, und das Auge des Gesetzes funkelte böse.

Ich hörte nur noch ein Stammeln und sah von weitem, wie der Wachtmeister seinen Quittungsblock zückte und der böse Weihnachtsbaumverkäufer mit verkniffenem Gesicht seine gerade erworbenen Münzen in die Gesetzeshand zählte.

So hatte der Weihnachtsbaumverkäufer seine gerechte Strafe erhalten.“

 

Mein Großvater schaute auf mich.

„Eigentlich waren wir ja wirklich Diebe gewesen. Ich habe übrigens nie wieder etwas stehlen wollen. –Tja, was soll ich noch erzählen. Wachtmeister Stüdemann hatte an diesem Weihnachtstag sein mitfühlendes Herz entdeckt. Mein Versprechen hielt bis zum nächsten Winter. Dem Weihnachtbaumverkäufer begegneten wir zum Glück nicht wieder. Als wir dann nach Hause kamen, kriegten wir das große Staunen. Im Salon war die gesamte Familie bereits versammelt. Mit unserem Hausknecht und mit Minna. Und alle waren natürlich in Sorge. In der Mitte stand ein wunderschöner Baum, der nicht roch. Zunächst gab es eine Standpauke, doch dann spürten wir Mutters warme Wange an unseren Gesichtern und Vaters Hand über den Scheiteln.

Erzählt haben wir natürlich nicht, wie wir den Baum bekommen hatten. Sonst hätten wir Vaters Hand wohl weiter unten gespürt. Obwohl – es war ja Weihnachten – das Fest der Liebe.

Lembke bekam doch noch seine Zigarren, denn er hatte ja einen neuen Baum besorgt.

Und Vater trank während der Feiertage keinen Rotwein mehr.

Für uns war dies ein Weihnachten mit drei Tannenbäumen. Und soviel werden wohl nicht mal beim Großherzog im Schloss gestanden haben.“

Der Großvater schaute für einen Moment in die Ferne, als ob er mit seinen Gedanken noch immer in der Vergangenheit weilte. Wir schwiegen, und ich stellte mir den Großvater vor, wie er mit seinem Bruder den Baum geschleppt hatte.

 

Plötzlich wurde die Tür geöffnet. Die Großmutter schaute herein.

„Mann, hast du den Kindern wieder Läuschen erzählt. Nun aber ab zur Bescherung.“

Meine Schwester und ich sprangen auf. Ich drehte mich noch einmal zu meinem Großvater um. Er schaute mich an, lächelte. Und sein Blick schien zu fragen: „Nun, ist meine Geschichte wahr oder ausgedacht?“

Für mich ist die Geschichte wahr – auch noch nach mehr als dreißig Jahren.