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MALIKA

BARBARA DEISSENBERGER

MALIKA

Roman

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– Versuchet, erfindet –

Très tôt dans ma vie il a été trop tard.

frei nach Marguerite Duras, „L’amant“

Das Traurige ist in der Welt, das Tragische ist eine Erfindung der Dichter. Die Wirklichkeit zerstört nämlich durch (…) banale Zwischenfälle ihre erhabenen Wirkungen, sie bringt im unpassendsten Augenblick den Narren auf die Bühne (…).

Martina Wied, „Das Einhorn“

Life, it has been agreed by everyone whose opinion is worth consulting, is the only fit subject for novelist or biographer; life, the same authorities have decided, has nothing whatever to do with sitting still in a chair and thinking.

Virginia Woolf, „Orlando“

GRETE

„Wirf!“, hörte das Mädchen die andere rufen. Es stand vor einem Bach und hielt einen Stein in seiner Hand. „Ins Wasser – so!“ Die Größere machte es vor. In Tropfen spritzte ihr Lachen aus dem Bach. Malikas Finger schlossen sich um den Stein. Rund und weiß, ein Stück Gewissheit, lag er in ihrer Faust. „Der Wassermann wartet“, lockte sie Grete und deutete – „da!“ – auf eine Stelle im Bach, wo das Wasser sich brach. „Ein Nix mit Schneck im grünen Haar.“ Aber Malika wollte den Stein nicht hergeben, nicht einmal dem Wassermann, der wartete. Grete nahm sie bei der Hand. Sie liefen den Bach entlang. Feuchte Erde unter den Füßen, flimmerndes Licht über ihnen. Alles war leicht im Hellen, das Schwere blieb im Dunkeln, der Stein in Malikas Hand.

Wie lange das her war. Malika sah in den Himmel. Es nieselte. Sie zuckte mit den Schultern. Es war nicht kalt. Sie würde zu Fuß gehen. Erinnerungen nach. Bis sie eingeholt wurde von ihnen. Ein Kinderpaar, früher war sie Teil eines Kinderpaars gewesen, wie es ungleicher nicht sein kann. Hell die eine, dunkel die andere. Malika war die andere gewesen – mit brauner Haut und Augen wie Kohle. Kurzgelockt hatte sie eine Zeit lang ausgesehen wie ein Knabe. Finster manchmal und trotzig, immer aber voll Bewunderung für Grete. Der Geruch ihres Haars: Sommerregen im Wald, frisch geschnittenes Gras, Wiesenblumen. Malikas Gesicht bestäubt von feiner Tauschicht. Sie sah sich den Kopf in Gretes Haar vergraben. Unwichtig, ob sich das zugetragen hatte. Wozu eine Grenze zwischen Vorstellung und Erinnerung ziehen? Die Zukunft malte man sich aus, die Vergangenheit nicht minder. Die Gegenwart? Gewissheiten waren doch nur Steine, die man behielt oder zurückließ. Manche blieben einem, manche verschwanden, manche tauchten unvermutet an anderen Orten wieder auf. Malika ließ die Finger durch ihr langes Haar gleiten. Als Kind wäre sie jetzt in eine Pfütze gesprungen. Als Erwachsene war sie besser angepasst. Äußerlich wenigstens. Innerlich war ihre Normalität eine dünne Membran, hinter der viele Möglichkeiten offenstanden. Malika verstand sich aufs Spiel ihrer Rhythmen. Absurde Situationen im Kopf versetzten die Membran in leichte Schwingung. Tam … Normal durch die Stadt zu gehen. Schritt für Schritt. Tam-tara … In Pfützen zu springen, war eines, ein anderes – tam-tara-tam – wäre ein Sprung vor die U-Bahn, von der Brücke über dem Fluss, von der Klippe im Urlaub, aus dem Fenster zu Hause. Zwischen Angst und Erwartung schlug Malikas Herz den Takt zu solchem Gedankenspiel. Ich werde verfolgt, dachte sie. Unsinn. Bei ihrem Wohnhaus angelangt, sperrte sie auf und lief die Treppen hoch. Lief wie einst das Kind, atemlos und fröhlich werdend im Laufen. Zweimal den Schlüssel im Schloss gedreht, die Türklinke hinuntergedrückt: zu Hause. Türe zu und abgesperrt: gerettet. Allein. Die Welt draußen ging Malika nichts mehr an. Der Regen war stärker geworden und drang als gedämpftes Rauschen zu ihr. Vermengte sich mit einem leisen Wassergeplätscher in der Wohnung. Steine und stumme Wassertiere leisteten Malika Gesellschaft. Das ergab Stille genug. Auf dem Teppich vor dem Fenster liegend lauschte sie ihr nach. Gedankenverloren fanden die Erinnerungen sie wieder. Mit dem Rücken auf der Erde, die Hände hinter dem Kopf – so hatte sie früher Grete zugehört. Wenn sie im Gras lagen und über ihnen der Himmel war. Ein Himmel so weit, dass man glaubte, hineinzufallen, wenn man lange genug hinsah. Einmal hatte Grete sie gefragt: „Betet dein Vater?“ Malika hatte geantwortet, dass sie nichts davon wisse. Daraufhin hatte die Freundin die Hand vor sich gehalten und mit Hilfe ihrer Finger aufgezählt: „Bevor die Sonne aufgeht, wenn sie im Zenith steht, sich die Erde weiterdreht, bis die Sonne untergeht und die Nacht hereinbricht – fünf.“ Und behauptet, diese Gebetszeiten entsprächen den Zeiten, in denen Pflanzen Wasser und Licht in Zucker verwandelten. „Weißt du, was das bedeutet?“ Gretes Augen hatten geglänzt. „In Wirklichkeit wird immer die Natur angebetet.“ Nie war Malika klar gewesen, woher die Freundin ihre Weisheiten nahm, aber Weisheiten waren es. Alles hatte Malika ihr geglaubt. Hatte in den Himmel geblickt, im Kopf ein Bild von dunklen Menschen in weißen Gewändern. Die neigten sich vor der Sonne. Rundum Wüste. Kostbares Wasser, kostbares Grün – Leben durch Wasser und Licht. Und offene Hände, die beteten. Rauhe, zerfurchte Handflächen – Männerhände, keine Frau unter ihnen. Weiter und weiter sprach Grete in Malikas Erinnerung, die Haare wie Sonnenstrahlen ins Gras gebreitet. Malika schmeckte wieder die Luft jener Tage: lau und sanft. Spürte die kühlen Halme der Wiese im Nacken und das Blau des Himmels spiegelte sich in ihren Augen. Ich liege auf der Erdkugel, hatte das Kind gedacht. Oben ist das All. Was, wenn ich plötzlich fiele – nach oben, nach unten –, wie kann man das wissen bei einer Kugel? Ein schwacher Schwindel hatte sie ergriffen. Leicht und leichter fühlte sich Malika. Immer weiter fallen, immer höher hinauf, nie würde das aufhören. Nichts würde sie halten. Aber dort, die Freundin, die Wahlschwester – „Wir bleiben immer zusammen, Grete, stimmt’s?“ Die Größere nickte: „Schwestern im Leben und Schwestern im Tod halten zusammen und fürchten nicht Not.“ Das war ihre Losung.

DER ENGEL

Malika lag seitlich zusammengerollt auf dem Teppich. Es hatte aufgehört zu regnen. Der Teppich kratzte leicht an ihrer Wange. Sie barg das Gesicht an seiner Oberfläche. Reglos. Sekunden. Minuten. Rollte sich weiter zusammen. Embryonalstellung, das Gesicht seitlich in den Armen vergraben. Das Telefon läutete. Einmal, zweimal … Niemand zu Hause, dachte es weit entfernt in Malika. Fünfmal, sechsmal … es läutete weiter. Malika lag wie tot. Oder noch nicht geboren. Nach dem zehnten Mal blieb das Telefon still. Von der Straße drangen vereinzelte Verkehrsgeräusche herauf. Das Aquarium plätscherte. Malika lag stumm. Was, wenn ich plötzlich aus der Zeit fiele, dachte sie. Vor oder zurück – wie kann man das wissen, wenn alles sich im Kreis dreht? Jeden Tag aufstehen, jede Nacht schlafen. Jeden Tag essen, jeden Tag trinken. Atmen, entleeren, arbeiten, ausrasten. Einmal hatte Malika einen Roman gelesen, der mit folgender Zeit-Theorie spielte: Was, wenn es nur Veränderung gäbe? Wenn zwar Natur, Materie und die Menschheit vergingen, nicht aber die Zeit? Hinter Malikas Lidern: ein Flimmern. Natur, war das nicht ein Synonym für Wiederholung? Alle Jahre Winter, alle Jahre wieder Frühling, jedes Jahr Sommer, jedes Jahr Herbst. Starb ein Kuckuck, war ein anderer im nächsten Jahr wieder da. Und Materie, was für ein abstraktes Wort: Wenn eins ins andere überging, verging es doch nicht. Nur die Menschheit, die verging wirklich. Nie kam man dorthin zurück, wo man anfing. Reisen außerhalb der Zeitläufte blieb ein Unmögliches, erst recht im Kopf, wo Zeit gemacht wurde: Menschenzeit. Was vergangen ist, soll ruhen. Was verabsäumt wurde, vergessen bleiben. Erwartung ist ein schmaler Lichtstreif hinter einer geschlossenen Tür am Ende eines Ganges. Jeder Tag ein Schritt auf sie zu. Später sind es Jahre. Jedes Jahr ein Schritt, die Bewegung wird langsamer, das Licht schwächer. Bis man sich am Ende nichts mehr erwartet. Dann öffnet sich die Tür. Das ist der Moment, wo Zukunft Gegenwart wird. Ein Augenblick Wahrheit, der blendet. Dann schließt sich die Tür hinter einem und alles wird Vergangenheit gewesen sein.

„Träte der Erzengel jetzt …“ – die Dichter-Worte in Malikas Kopf – „… eines Schrittes nur nieder und herwärts …“ Viel zu schwer wogen die im Alltag. Beladen diese Wörter, belastend, Ballast. Da waren Malikas Steine tauglicher zum Festhalten. Waren sie das? Blau blickte die Nacht durch die Rechtecke der Fenster. „Jeder Engel ist schrecklich.“ Malika sah in die Nacht hinaus und wünschte sich eine Sternschnuppe. „… gesetzt selbst es nähme einer mich plötzlich ans Herz …“ Die Kehle wurde einem eng von solchen Sätzen. „Wer, wenn ich schriee, hörte mich denn aus der Engel Ordnungen?“ Ja, wer, wenn das Flüstern des Alls so ohrenbetäubend war wie heut Nacht. Abwehrend hob Malika ihre Hände an den Brustkorb, wo ein schweres Gewicht ihr den Atem nahm. Jeder Atemzug dem Gefühl abgerungen, sie müsste jetzt, gleich jetzt zum Fenster, um diesen Druck vom Brustkorb loszuwerden. Schluss mit geschlossenen Räumen. Endlich mehr Luft. Freiheit. Die Vergangenheit überfliegen und von oben betrachten. Aber nicht fallen, wer wird denn auch – so langsam und lange –, das gab es ja gar nicht. Als Echo einer Erinnerung fiel ein Tropfen in den Brunnen der Nacht. Kurz bevor er den Wasserspiegel erreichte, stand die Zeit still. Alles rundherum wurde schwarz. Es hörte auf. Nichts war mehr.

Zarte Haut unter den Fingerkuppen. Vorsichtig gleiten die Hände über ein Gesicht. Bedecken es. Fühlen die Augen hinter den geschlossenen Lidern. Der Mund atmet. Atemwarme Luft an den Handflächen. Die Fingerkuppen jetzt auf den Augenlidern. Gebeugt über den daliegenden Körper. Sichtbares Heben und Senken des Brustkorbs. Der erste Wunsch an die Welt: Luft. Die erste Abhängigkeit: Atmen. Kein in sich geschlossenes System. Der interne Kreislauf abhängig von außen. Atmen wider Willen. Der Organismus komplex organisiert. Alles hat seine Funktion. Interner Kreislauf: Blutzirkulation. Ein schmaler roter Faden vermengt mit Speichel läuft aus dem Mundwinkel das Kinn hinab. Warme Feuchte unter den Handflächen. Bildung von Augenflüssigkeit. Langsam löst eine Träne sich und rollt über die Schläfe. Der Mensch äußert sich. Unter den Händen ein leichtes Beben, der erste Laut: ein Schluchzen. Die Augen öffnen sich. Die Hände lassen ab vom Gesicht. Der Daumen zieht das rote Rinnsal nach, wischt Speichel ab vom Kinn. Ende der äußersten Hilflosigkeit, Beginn der nächsten Abhängigkeit: der Blick. Ein Blick wandert unstet, verwirrt, trifft auf ein Augenpaar, das fest auf ihn gerichtet ist. Erkennen. Das Wissen um die Welt kommt wieder. Die Stimme. Ein Wort gedacht, ein Wort gesprochen. Die erste Tat: ein Wort gehört. Den Kopf zur Seite gedreht, den Blick abgewandt, die Lippen verschlossen. Umsonst. Es spricht die Geste, die Haltung des Körpers, der sich zusammenzieht, die Hände geballt. Sie möchte allein sein. Der andere bleibt. Kniend über sie gebeugt, erspart er ihr nichts. Sie löst widerstrebend die Hände, richtet den Oberkörper auf, mühsam. Kupfriger Geschmack im Mund, sie hebt eine Hand und fährt sich über die Lippen. Getrocknete Flüssigkeit am Kinn, kalte Luft in der Nase. Immer noch: der Blick. Ihr eigenes Bild wird allmählich deutlich in ihr durch diesen Blick. Unbarmherziges Mitleid im Blick des anderen. Sie streicht mit zitternder Hand ihr Haar aus der Stirn, versucht aufzustehen, weg. Fortgehen. Der andere hilft ungebeten, reicht eine Hand, sie schafft es nicht alleine. Sie spürt die Hand des anderen fest in ihrer, die lässt sie nicht los, auch als sie schon steht. Sie blickt ihn nicht an, doch hält sie sich fest, muss, will sie nicht stürzen. Jedes Vorhaben verbunden mit Abhängigkeit. Sie muss geduldig sein, geduldig. Später. Später wird sie alleine gehen können. Später wird ihr kein Blick mehr etwas anhaben, auch kein Wort. Später. Sie macht den ersten Schritt im Kopf alleine, es folgt ihr Körper, gestützt vom anderen. Sie muss den Arm nach unten drücken, spürt: es zittern ihr die Beine. Sie weiß: der andere spürt es auch – nie wird sie ihm das verzeihen. Sie holt sich Kraft aus dem, was sein wird. Es wird nicht mehr wahr sein später. Es wird alles anders gewesen sein. Sie wird es anders sein lassen. Sie wird sich nicht erinnern. Das Schreckliche ausgelöscht wie das Schöne. Es beginnt alles von vorne. Ein unbeständiger Kreislauf. Hier ist sie doch schon einmal gewesen.

Malika blickte zur Seite in das ihr zugewandte Gesicht. Grüne Augen. Sie hob eine Hand und strich wie in Trance mit den Fingern über eine Wange. Ein Engel, dachte sie und formte mit den Lippen lautlos einen Namen. Ein Engel. Ihre Hand wanderte von der Wange die Schläfe entlang zum Haaransatz. Berührte das helle Haar. Darunter die Form des Kopfes – rührend. Sie ließ ihre Hand auf den schmalen Nacken sinken, umspannte ihn sacht. All dies von Angesicht zu Angesicht mit dem Engel, dessen grüner Blick ungerührt blieb. Sie versank in diesem Blick, ihre Hand strich wie von selbst über die Haut des Nackens – glatt. Malika trat näher an den Engel heran. Ihre Hand tastete sich weiter – Wirbel um Wirbel das Rückgrat entlang. Der Engel atmete ungerührt. Unbeirrt weilte sein Auge auf ihr, deren Hand den Konturen seiner Schulterblätter folgte. Hier lag verborgen ein Versprechen, das nicht sichtbar, doch spürbar war. Unmenschliche Stärke verhieß es: nie wieder fallen. Malikas Finger ruhten in der Mitte der Schultern. Aus den Fingerspitzen, die kaum den Engel berührten, strömte Kraft auf sie über. Fast verging sie davon, fast drückte es sie nieder. Doch der grüne Blick hielt sie, und sie hielt ihm stand. Regloser Kampf. Sie löste die Hand nicht von ihm. Er schlug nicht die Augen nieder. Die Ewigkeit gefangen in einem Augenblick, im Übergang von Fallen zu Fliegen. Fragile Balance zwischen oben und unten. Kein Fallen, kein Steigen – dazwischen: die Botschaft. Im grünen Blick las sie: du hast nur dies eine Leben. (Es wird nicht gewesen sein. Sie wird sich nicht erinnern.) Die offenen Hände des Engels – keine Männerhände, auch Frauenhände nicht, legten sich fest auf Malikas Schultern. Hielten sie umfasst, wie sein Blick ihre Gestalt umfasst hielt. Ihre Hand fand den Weg nach vorne, verweilte kurz auf der atmenden Brust des Engels, glitt dann weiter zum Schlüsselbein den Hals hinan. Wand sich um seinen Nacken und kam am Hinterkopf zur Ruhe. Sie – hielt den Kopf des Engels. Er – schlug nicht die Augen nieder. Jetzt – kam er näher. Sie löste die Hand nicht von ihm, fühlte das Schreckliche nahen. Jetzt kam: die Verkündigung. Sein Gesicht ganz nahe an ihrem. Ihre Hand umfasste seinen Kopf – jetzt beugte er sich vor. Sein Atem an Malikas Wange, sein Mund an ihrem Ohr. Ihre Hand erstarrte. „Du musst sterben, wie du gelebt hast“, flüsterte er. „Du wirst gehen, wie du gekommen bist. Nichts wird von dir bleiben.“ Die Bedeutung seiner Worte war klar und unmissverständlich in Malikas Kopf. Ihre Finger verkrampften sich kurz in seinen Locken. Er ließ ihre Schultern los, ihre Hand fiel von ihm ab. Sie las in den grünen Augen: nur dieses Leben, nur eines. Und weiter nichts. Dann schlug er die Augen nieder. So brachte der Engel Malika die Botschaft.

MARGARETHE

Am nächsten Tag spielte die Sonne in den Blättern der Parkbäume. Malika saß auf einer Bank und las. Ab und zu hielt sie ihr Gesicht dem Licht entgegen. Dann verdrängten rot-orangene Muster hinter den geschlossenen Lidern alle Gedanken aus ihrem Kopf. Es waren vielleicht die letzten warmen Tage im Jahr. Vorübergehende Spaziergänger warfen für einen kurzen Moment ihre Schatten auf Malika. Dann blieb plötzlich einer. Stand genau in dem Sonnenstrahl, der doch für Malika gedacht war, und blieb. Sie sah auf. Ein schmaler Mann, hochgewachsen, grüne Augen, fein geschwungene Nase – zu fein für ein Männergesicht. Ein ungläubiges Lächeln: „Malika …?“ Malika starrte auf ihn, während in ihrem Kopf etwas Unbestimmtes Form annahm. Dann war es da, das Erkennen. „Grete“, sagte sie. Einen Moment lang blickten sie einander mit unverhohlener Neugier an. Dann streckte der Mann, nein Grete, die Hand aus. Unwillkürlich sprang Malika auf. Der Händedruck – wie ein elektrischer Schlag. „Du …! Bist du’s wirklich?“ – „So treffen wir uns wieder“, sagte die Fremde mit Gretes Stimme. Um die magere Gestalt mit den kurzen Haaren nicht weiter anzustarren, wies Malika auf die Bank: „Setzen wir uns doch.“ Als Grete sich neben sie gesetzt hatte, rückte Malika etwas ab und schlug die Beine übereinander. Die hölzerne Sitzfläche der Bank fühlte sich mit einem Mal ungemütlich an. „Was für ein Zufall“, sagte die knabenhafte Frau lächelnd. Von irgendwoher kam der Geruch nach Harz. Sie musterte Malika. „Du hast dich verändert.“ Malika lachte unsicher. „Du auch.“ Schweigen. Eine Fußspitze in die Kiesel vor der Bank bohrend, sagte Malika schließlich: „Du schaust nicht mehr aus wie … wie jemand, der Grete heißt.“ Die andere lachte, bückte sich und hob einen Kieselstein auf. „Da, du magst doch Steine.“ Winzig der Stein in Malikas Hand. Es war alles so lange her. „Margarethe“, sagte die Frau, „sehe ich wenigstens nach Margarethe aus?“ Malika blickte auf und starrte in ein grünes Augenpaar. Wie gestern Nacht der Engel, dachte sie, genau so. Und nickte.

Sie drehte den Schlüssel um und atmete tief durch. Ließ das Licht noch ausgeschaltet. Es konnte nicht wahr sein. Die Bewegung hinter sich fühlend, hörte Malika eine vertraute Stimme fragen: „Willst du nicht Licht machen?“ Die Hand auf den Schalter gelegt, drehte Malika sich um. Da stand sie: groß, mit hellem Schopf und grünen Augen. Kein Sonnenstrahlhaar und das Mädchen nicht mehr, auch keine Frau, kein Mann. Es war wie in dem Traum: ein Zwischenwesen, Botin zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Hätte Malika nicht mit so etwas rechnen müssen? Gänsehaut kroch ihr die Arme entlang. Wer war die Gestalt im Vorzimmer, die dort im hellen Licht blinzelte, wirklich? Ein ganzes Geschichtestudium, dachte Malika, hat nicht gereicht, um meinen Aberglauben zu überwinden. Koinzidenzen sind keine Zufälle. Zufall gibt’s genauso wenig wie Schicksal. Alles hing irgendwie mit allem zusammen. Man wusste bloß noch nicht, wie. Während Malika so dachte, sah Margarethe ihre Augen auf sich gerichtet. Suchte und fand darin die schwarzen Augen des Kindes. Ein kurzes Zögern, dann Malikas einladende Geste ins Innere der Wohnung. Margarethe folgte ihr, den Blick verfangen in den schwarzen Locken. So kurz hatte die Freundin das Haar als Kind getragen, dass man sie manchmal für einen Knaben gehalten hatte. Im gedämpften Licht wurde ein Zimmer mit Holzmöbeln und Hängepflanzen sichtbar. Ein Wasserquader mit roten und orangefarbenen Fischen leuchtete blau im Zimmer. Malika schloss die Vorhänge. Nach dem unvermuteten Wiedertreffen hatte es einen Zwischenfall gegeben. Ein Voyeur oder Schriftsteller, je nachdem, ob man ihm Glauben schenkte, war mit einem Mal als störender Dritter da gewesen. Als sie ihn wieder losgeworden waren, hatte Margarethe angeboten, Malika noch nach Hause zu begleiten. So vieles war ungesagt und ungefragt geblieben. Der Heimweg reichte nicht. Malika lud Margarethe ein, noch einen Sprung mit in die Wohnung zu kommen. Mit ausgezogenen Schuhen, kühlen Parkett unter den Füßen, ging Margarethe hinter Malika. Im Zimmer mit dem Aquarium drehte die frühere Freundin sich zu ihr um. Ein nachdenklicher Blick traf Margarethe. Mit leichtem Zögern nahm Malika ein Buch aus einem Regal: „Ich muss dir etwas vorlesen.“ Sie ließ sich auf dem Teppich nieder und zog Margarethe mit sich. Bei der Berührung ihrer Hand – das Bild von zwei Kindern, die durchs hohe Gras liefen, sich an den Händen hielten, stolperten, lachten. Das lange, blonde Haar der Größeren flog im Wind. Margarethe betrachtete Malika, die ihr Gesicht über ein Buch beugte. Hohe Backenknochen, Haarlocke in der Stirn, gebogene Nase und ein Mund … nun erst nahm Margarethe wahr, welche Worte dieser Mund formte. Dichterworte, gelesen mit spröder Stimme, die in ihrem Kopf Bilder erzeugten, Töne formten. Die Bilder wandelten sich, wechselten, zerflossen und gingen über in andere. Die Töne waren bald verschlüsselter Sinn, bald offenbares Geheimnis. Margarethe schloss die Augen und lauschte. Dann änderte sich etwas. Stille. Malika hatte aufgehört zu lesen. Sah sie erwartungsvoll an. Zu ihrer eigenen Überraschung hörte Margarethe sich sagen: „Ich glaube nicht an Engel.“

NACHMITTAG EINES VOYEURS

Zwei Frauen treffen sich im Park und reichen einander die Hand. Auffällig, wie die Milchkaffeebraune in Rock und Spaghettiträger-Top bei der Begrüßung aufspringt. Die andere, schmalhüftig und mit kurzem hellem Haarschopf, trägt Blue-Jeans und T-Shirt. Dann setzen sich beide und die mit dem braunen Teint schlägt ihre Beine übereinander. Ihr Rock verschiebt sich leicht nach oben und gibt den Blick auf ein glänzendes Knie frei. Sie sehen einander beim Reden an, nur einmal wendet die mit dem Rock kurz ihren Blick ab und scheint in meine Richtung zu schauen. Markante Augenbrauen. Von meiner Beobachtung hat sie nichts bemerkt, denn gleich darauf dreht sie den Kopf wieder der Freundin zu. Sie sprechen weiter und einmal, ganz kurz nur – aber das kann ich nicht genau sagen, da ich zu weit weg sitze – kommt es mir vor, als ob die hochgewachsene Blonde ihre Augen schnell niederschlägt. Dann jedenfalls – das sehe ich ganz deutlich – bohrt die Frau mit den überschlagenen Beinen mit der Fußspitze im Kies. Als sich die beiden kurz darauf von der Bank erheben, stehe ich ebenfalls von meinem hinter den Rosensträuchern verborgenen Platz auf und folge ihnen. Zuerst glaube ich, dass sie den Weg zur U-Bahn einschlagen, aber dann laufen sie mitten über die dreispurige Straße und erreichen die andere Seite gerade noch, bevor die ersten Autos kommen. Ich kann ihnen nur mehr mit dem Blick über die vorbeifahrenden Autos hinweg folgen und erwäge, ob ich die Unterführung nehmen soll. Aber dann würde ich sie ganz aus den Augen verlieren. Zu riskant. Lieber warten, bis die Ampel vor der Kurve wieder Rot für die geradeaus fahrenden Fahrzeuge zeigt, dann lossprinten. Schnell! bevor die einbiegenden Autos aus der Nebenstraße kommen. Für die Dauer der Überquerung muss ich meinen Blick von den Frauen abwenden. Auf der anderen Straßenseite angelangt, ist es dann passiert: keine Spur mehr von ihnen – verdammt. Nein, dort hinten, ja, das sind sie. Flanieren die Einkaufsstraße entlang. Muss ihren Vorsprung einholen. Gehen die wirklich Hand in Hand? Ich ziehe den Atem scharf ein. Das verspricht, interessant zu werden. Achtlos haste ich an Geschäften vorbei und remple Passanten an. Was stehen die da im Weg rum. „Entschuldigung“, murmle ich, damit keinem einfällt, mich auch noch aufzuhalten mit Unmutsäußerungen oder Ähnlichem. Jetzt bin ich den beiden wieder näher. Aha, Händchen halten sie nicht, gehen aber dicht nebeneinander. Erst jetzt nehme ich wahr, dass die Blonde in Jeans fast einen Kopf größer ist als die Dunkelhaarige. Schmale Beine und schmale Hüften bewegen sich mit katzenhafter Nonchalance. Das kleine Gesäß wippt nicht, nur der Stoff der Jeanshose wirft bald links, bald rechts eine schmale Falte im Gehen, dort, wo die Beine beginnen. Der luftige Rock der anderen lässt diese Beobachtung nicht zu, wohl aber eine andere. Fast nicht wahrnehmbar – es bedarf hierzu schon eines geübten Blicks – schwingen ihre etwas zu ausladenden Hüften beim Gehen. Ich mustere wieder die Hochgewachsene: grazile Schulterblätter, ein schlanker, gerader Nacken, ein dichter Haarschopf – vielleicht hat sie Sommersprossen. Schon gleitet mein Blick auch das Rückgrat der Schwarzhaarigen entlang. Bilde ich mir das ein oder verspannt die sich nun? Sie dreht den Kopf zur Seite, ich bin etwa acht Schritte hinter ihr und riskiere es, einen Blick auf ihre Augen zu werfen. Da dreht sich ihr Kopf so abrupt wieder nach vorn, dass die schwarzen Locken unwirsch schwingen. Sicher hat die was gemerkt. Besser ein paar Schritte zurückfallen. Das weiße T-Shirt der anderen … trägt sie da noch was drunter? Jetzt sprechen sie nicht mehr miteinander. Zumindest schaut jede beim Gehen geradeaus und ihre Gesten verraten nichts von einer Unterhaltung. Ich wage wieder einen Blick auf die Kleinere, da bleibt diese vor einem Schaufenster stehen. Überrumpelt mache ich noch ein paar Schritte auf sie zu. Wer rechnet mit sowas? Jetzt bleibt auch die andere stehen. Soll ich nun vorbeigehen, ostentativ in ein anderes Schaufenster schauen oder kurz in einem Geschäft verschwinden? Bin jetzt auf etwa sechs Schritte an sie herangekommen und erkenne die Auslage eines Dessous-Geschäfts, vor dem sie Halt gemacht haben. Schaufensterpuppen in lockenden Posen entsprechend dem angebotenen Sortiment bekleidet. Weiß scheint gerade wieder Modefarbe zu sein. Da ich nun gezwungenermaßen auch stehen geblieben bin, bleibt mir nichts anderes übrig, als ebenfalls die hinter dem Schaufenster platzierten Puppen zu betrachten. Wie unangenehm, dass mich die beiden nun auch sehen können. Aus den Augenwinkeln nehme ich wahr, wie sich die Mundwinkel der Dunklen in einer Weise verziehen, die man nur spöttisch nennen kann. Da lächelt die Blonde – sie hat wirklich Sommersprossen – breit. So nah, wie ich bin, verstehe ich jetzt auch, was sie sagen. „Visuelle Fixierung“, meint die Frau im Rock zu der in Hose, „der männliche Teil der Menschheit ist visuell fixiert.“ – „Aber ist das angeboren oder anerzogen?“, fragt die andere. „Es könnte ja eine Art Konditionierung sein.“ – „Wenn es Konditionierung ist, sind jedenfalls nicht alle anfällig dafür. Außerdem gibt es da noch die Kehrseite der Medaille …“ Ich starre gebannt auf die Rücken der beiden Frauen, mein Blick sinkt tiefer. Die Kehrseite … das gibt mir zu denken. Aber beobachten! – Darauf konzentrieren und allenfalls noch zuhören. „…ismus!“ sind die letzten beiden Silben, mit denen die Braune einen Satz, den ich versäumt habe, beendet. Die Knabenhafte lacht. – „Willst du wissen, was man im Biologie-Studium darüber lernt?“ Während ich die Strähne ihres hellen Haares bewundere, die ihr in die Stirn fällt, habe ich den Satz „Ich bin ganz Ohr“ im Kopf. Aber ich bin alles andere als ganz Ohr. Ich bin ganz Auge, müsste es heißen. Da sehe ich die Ohren der Blonden: elfenhaft, hinreißend. Was für Ohren die Kleinere hat, kann ich leider nicht ausmachen, weil sie fast ganz von Haaren verdeckt werden. Ihr Kopf nickt, scheinbar in Antwort eines Satzes, den ich verpasst habe. „Interessant“, sagt sie. Mein Blick fällt zwischen den beiden Frauen hindurch auf die Schaufensterscheibe, als könnte ich dort den Sinn der verpassten Sätze einholen. Das Licht muss sich aber in der Zwischenzeit verändert haben, denn nun sehe ich plötzlich nicht mehr leicht bekleidete Modepuppen, sondern mein eigenes Spiegelbild. Seltsam verloren, fast verhuscht schaut mich der Mann in Polohemd und dunkler Hose aus dem Glas heraus an. Das darf nicht sein! Dieses Bewusstsein über mein Aussehen. Zu ablenkend. Spielt doch keine Rolle, wie ich dreinschaue, wenn ich beobachte. Und würde ich jedes Mal, wenn ich Frauen verfolge, darüber nachdenken, wie sich mein Oberkörper beim Gehen bewegt, entkämen sie mir doch alle. Irgendetwas ist plötzlich falsch. Ganz falsch. Was will mir mein Körper signalisieren, indem sich die feinen Härchen im Nacken wie elektrisiert aufstellen? Etwas zwingt mich, meine Augen von der Schaufensterscheibe abzuwenden und nun blicke ich – mein Herzschlag setzt aus – direkt in die Augen der beiden Frauen. Keine drei Schritte von mir entfernt stehen sie da und sehen mich an. Meine Ohren beginnen zu glühen: das Blut schießt mir ins Gesicht. Etwas sagen … nicht nur abwechselnd in diese Augenpaare starren. Der Schweiß bricht mir aus allen Poren. Die Blonde macht einen Schritt auf mich zu. Meine Hände sind eisig. Flüchten! Rückzug antreten – jetzt! Aber wie … meine Beine bewegen sich nicht von der Stelle. Ich bin doch nicht das sprichwörtliche Kaninchen vor der Schlange, verdammt. Kritisch mustert mich die Dunkle von oben bis unten. Jede Regung meines Körpers wird mir bewusst: mein Herz sehe ich hämmern, die Adern an meinen Schläfen hingegen wie in Zeitlupe pulsieren, dazu Schweißrinnsale, die gleich Tränen meinen Rücken hinabkollern. Die Blonde bohrt ihren grünen Blick in meine Augen, als wolle sie bis auf den Grund meiner Seele … noch ein Sprichwort, nein, ein Klischee … unmöglich, klar zu denken bei so einer Glotzerei. Jetzt nicht hysterisch werden. Diese Augen … Der Puls an meiner Kehle pocht in Großaufnahme. Die Vorstellung, man könnte mein Herz wie rasend schlagen sehen, ist mit einem Mal in mir und peinigt mich. Rot, rot, rot – alles pocht und pumpt, mein Herz ist ein Muskel, die Aorta ein Schlauch, Kontraktion, Dekontraktion, mein Blut … Jetzt! beugt sich die Blonde zu mir und flüstert mir was ins Ohr. Als der Sinn ihrer Worte mein überhitztes Hirn erreicht, rauscht es in meinen Ohren: das Blut weicht aus meinem Kopf. Mir wird schwarz vor Augen …

MARGARETHES EINFÄLLE

„Was“, fragte Malika, „hast du dem Mann ins Ohr geflüstert?“ Margarethe zuckte mit den Schultern. „Das Nächstbeste, was mir eingefallen ist.“ Malika wartete. Nichts kam. Im Schweigen machte sich das Plätschern des Aquariums breit. Schließlich sagte Malika gespielt beiläufig: „Wer konnte auch ahnen, dass ein derart zartes Gemüt in dem Verfolger wohnen würde.“ Zwei Fische schwammen im Aquarium von entgegengesetzten Seiten auf den gleichen Punkt zu und stoben kurz vor dem Zusammentreffen auseinander. Wie gleich gepolte Magnete, dachte Malika. Da fragte Margarethe: „Und du, warum hast du mir dieses Gedicht vorgelesen?“ Für den Bruchteil einer Sekunde blickte Malika durch Margarethe hindurch. „Eine Gretchenfrage“, wiegte sie dann den Kopf. „Ich hab eben eine Schwäche für Engel.“ – „Ist das so?“ Täuschte Malika sich jetzt oder blitzten Margarethes Augen? Kinderschwüre, ging es ihr durch den Kopf, Kindermärchen. Man wird größer, verliert sich aus den Augen, ist erwachsen und stellt fest: nichts weiß man mehr von der anderen. „Im Märchen“, begann Malika, „würde es heißen: Gretchen, Margarethchen, ein wunderschönes Mädchen, kam einst zu Malika, dem Kind mit dem kurzen Haar. Sie konnten zusammen nicht bleiben, aber dann – “ – „… trafen sie einander wieder“, ergänzte Margarethe schmucklos. Malika sah auf: „Und alles ist anders.“ – „Vollkommen anders“, bestätigte Margarethe, dachte: zum Teufel mit der Erwachsenendistanz – und begann Malika ohne Vorwarnung zu kitzeln. „Hör auf!“, stieß diese unter Lachen hervor und krümmte sich, um weniger Angriffsfläche zu bieten. Aber Margarethe hatte plötzlich mindestens vier Hände, und so musste Malika die Angreiferin auch mit Füßen abwehren. „Gleiches stößt einander ab“, rief sie von Kichern unterbrochen. Margarethe machte ein Friedensangebot: „Gibst du auf?“ – „Ich gebe auf.“ Außer Atem presste Malika eine Hand auf das strapazierte Zwerchfell. Die andere hielt sie Margarethe hin, aber die traute ihr nicht und stand vorsichtshalber vom Teppich auf. „Friede, versprochen“, japste Malika. Margarethe ergriff ihre Hand und half ihr auf die Beine. Dann standen sie knapp voreinander. Moos auf Glimmerschiefer, dachte Malika, das Grün der Augen erforschend. Ein Blick, das Flüstern des Engels im Traum – Malika fröstelte. Der Mann, dieser Voyeur, hatte Margarethe auch wie hypnotisiert angestarrt. Und sie hatte ihm ins Ohr geflüstert. Jetzt musste Malika es wissen. „Was hast du ihm geflüstert, dem Voyeur, was?“ Margarethe antwortete nicht gleich. Aber dann sagte sie es: „Wir wissen alles über dich.“ Sie erinnerte sich, wie schnell daraufhin alles gegangen war. Die flatternden Lider, wie sich die Augen des Mannes geschlossen hatten und sein Kopf vornübergesunken war. Reflexartig hatte Margarethe ihre Arme vorgestreckt und ihn gerade noch halten können, bevor er am Boden aufschlug. Sie war groß gewachsen und doch hatte sie Mühe gehabt, den Männerkörper zu halten. Er war nach vorne gekippt und sein Gewicht drückte sie in die Knie. „Malika, hilf mir“, hatte sie gerufen. Aber die hatte nur mit großen Augen geschaut. Mit jeder Sekunde wurde der Mann schwerer, bis er mit einem Mal leicht war. Margarethe sah ein Paar Hände, die dem Bewusstlosen unter die Arme griffen. Die Hände gehörten zu einem Mann: ein Passant. Schon ließ er den anderen vorsichtig zu Boden gleiten. „Was ist passiert?“, fragte er. – „Ihm ist schlecht geworden.“ Margarethe hatte Malikas Blick im Rücken gespürt. Der Fremde hatte eine Jacke unter den Kopf des am Boden Liegenden gebettet. Der kam wieder zu sich. Blickte zuerst auf Margarethe und dann in das Gesicht des Passanten: graublaue Augen, besorgter Blick, dunkle Bartstoppeln. Margarethe hatte unwillkürlich nach der Hand des Liegenden gegriffen. Graublaue Augen voll Angst, dunkle Bartschatten auf Kinn und Wangen. Über sich gebeugt sah er sein eigenes Gesicht. Dann hörte er den anderen mit seiner Stimme fragen: „Verstehen Sie mich?“ Er schluckte, stammelte: „Das … das ist nicht …“ Margarethe spürte, wie seine Hand die ihre drückte. Malika stand immer noch abseits. Der Fremde begann, ihm aufzuhelfen. „Wie fühlen Sie sich?“ Er stützte ihm den Rücken. Der Mann, der eben noch am Boden gelegen war, sah das zur Seite gewandte Gesicht des Helfers: sein eigenes Profil. In der Abenddämmerung waren die Straßenlaternen und Neonreklamen angegangen. Wie fühlte er sich? Ein Neonlicht flackerte. Die Straße wie ausgestorben. Eine Frauenhand hielt seine Rechte. Er sah in das Gesicht, das zu der Hand gehörte, und empfand die Farbe der Augen, deren Intensität ihn noch vor wenigen Minuten bedroht hatte, beruhigend. Malika beobachtete, wie der Mann den Blick auf Margarethe richtete, während ihm der Passant auf die Beine half. Beide Männer waren in etwa gleich groß und von ähnlichem Wuchs. Im Licht der Laternen sahen sie beinahe wie Doppelgänger aus. „Wird es gehen?“, hörte sie den Helfer fragen. Der andere legte ein seltsames Verhalten an den Tag. Er vermied es, den Fremden anzublicken und nickte. Da hatte Malika beschlossen, einzugreifen. „Danke für Ihre Hilfe. Wir kümmern uns schon weiter um unseren … Bekannten.“ Kurz stand der Passant unschlüssig. Malika und Margarethe fassten den vormaligen Verfolger demonstrativ unter. Da sah sie der Fremde noch einmal durchdringend an, sagte: „Also gut, dann …“ drehte sich mit einer Abschiedsgeste um und ging. Alle drei blickten ihm nach. Kleiner und kleiner wurde seine Silhouette, bis sie schließlich in der Biegung einer Gasse verschwand. Der Mann zwischen ihnen atmete auf. Malika fragte: „Wer sind Sie eigentlich?“ Die Beantwortung dieser Frage wurde ihm sichtlich durch die Tatsache erschwert, dass beide Frauen ihn an den Armen hielten. Etwas mehr Distanz hätte gutgetan. Doch er war noch zu schwach.

Mitten im Geschehen. Ich bin da in etwas hineingeraten, hab meine Beobachterposition verloren, mehr noch: sogar mein Bewusstsein. Braucht’s noch Beweise, wie wenig ich geschaffen bin für aktive Rollen? Nun werd ich mich erklären müssen. Tief Luft holen, Anlauf nehmen und los: „Ich bin Schriftsteller.“ Zwei Paar Augen auf mich gerichtet.

Margarethe sah, wie dem Mann schon wieder der Schweiß auf die Stirn trat. Versöhnlich drückte sie seinen Arm. „Kommen Sie, gehen wir auf einen Kaffee … oder was Stärkeres.“ Malika zögerte. So sollte der Abend enden, an dem sie sich nach Jahren wiedergetroffen hatten? Es gab noch so viel zu erzählen, zu fragen. Da störte ein Fremder doch. Erst recht der hier: ein Spanner und … Schriftsteller. Malika sah ihn von der Seite an: Er räusperte sich, nickte und wirkte derart verstört, dass sie einlenkte. Nun gut, ein kurzer Kaffeehausbesuch, danach hätten sie hoffentlich immer noch Zeit, sich zu zweit zu unterhalten.

ABEND EINES VOYEURS

Malika betrachtete abwechselnd das Gesicht der früheren Freundin und das des Mannes. Margarethe trank einen Schluck Cola, gut gelaunt. Malika war nicht sicher, ob es nicht doch ein Fehler gewesen war, den Fremden in diesen Abend miteinzubeziehen. Sie spürte, dass seine Gegenwart sie zurückhaltend machte. Wie er da allerdings in vorsichtigen Schlucken Kaffee trank, schaffte sie es nicht, ihn ganz unsympathisch zu finden. Es arbeitete sichtlich in seinem Kopf.

Meine Nervosität hat nachgelassen. Das ist die Wirkung vertrauten Terrains: Kaffeehaus. Gleich werde ich eine rauchen und meine Fassung wiedergewinnen. Kreislaufschwäche, werde ich sagen, ein heißer Tag in der Stadt und die hohen Ozonwerte. Ich sei da so empfindlich. Nein, oder doch nicht. Sie haben meine Nachstellung ja bemerkt, zumindest hat das die Blonde gesagt. Oder sowas in der Art … Mir wird schon wieder heiß. Anders, ich muss es anders angehen. Zuerst einmal eine rauchen. Mich entspannen, die Beine ausstrecken und – du meine Güte: jetzt hab ich aus Versehen auch noch Fußkontakt mit einer aufgenommen.

Margarethe fand die Situation amüsant. Dieser Schriftsteller suchte hinter seiner gerunzelten Stirn so offensichtlich nach Worten, dass sie Mühe hatte, ihm nicht wohlwollend auf die Schulter zu klopfen. Er solle es gut sein lassen. Malika blickte ab und zu irritiert auf den Mann und, wenn sie glaubte, sie bemerke es nicht, neugierig zu Margarethe. Sie hatten einander das letzte Mal gesehen, als Margarethe achtzehn war. ‚Schwestern im Leben und Schwestern im Tod …‘ – Schon den ersten Freund Margarethes hatte das nicht überstanden. Mit sechzehn war es gewesen, dass sie sich unsterblich in Mikey, einen Hippie-Jüngling, verliebt hatte. Und Mikey hatte ihre Liebe so glühend erwidert, wie es seine Coolness zuließ. Jede freie Minute ihres Lebens mussten sie miteinander verbringen. Da war Malika auf der Strecke geblieben. Wie eifersüchtig sie gewesen war. Aber schon vor Mikey war ihre Freundschaft nicht mehr die gleiche gewesen. Aus der bewundernden Jüngeren, die Margarethe kennengelernt hatte, war eine launische Pubertierende geworden. Ein Bein, das plötzlich gegen ihres stieß, holte Margarethe in die Gegenwart zurück. Sie blickte auf den Schriftsteller, dessen Gesicht wieder Farbe bekommen hatte. Er entschuldigte sich und begann in seiner Jackentasche zu kramen. Ob es sie stören würde, wenn er rauche, ob sie auch eine Zigarette wollten. „Nein“, verzog Malika das Gesicht. – „Ja“, antwortete Margarethe. Zwar gingen ihre einzigen Raucherfahrungen auf die Zeit mit Mikey zurück – wobei sie nicht unbedingt Zigaretten geraucht hatten –, aber ein ungewöhnlicher Abend verlangte nach ungewöhnlichen Entscheidungen. Der Schriftsteller gab ihr Feuer. Seine Hand zitterte leicht. Margarethe, die eben noch an Mikey gedacht hatte, fand das mit einem Mal süß. So unsicher. Er nahm einen Zug und schien entspannter. Die Bartschatten an Kinn und Wangen waren dunkler geworden. Margarethe fand ihn nicht unattraktiv.

Jetzt ist der Moment zum Reden, die Blonde schaut so. „Es tut mir leid, wenn ich Ihnen Unannehmlichkeiten bereitet habe.“ Sie betrachtet mich durch blauen Rauch. Die Milchkaffeebraune sieht auf meine Hände. Ich räuspere mich, setze fort: „Es war nur … die Hitze …“ – „Und die Ozonwerte?“, unterbricht mich die Schwarzhaarige. Immer die Schwarzhaarigen, die sind noch mein Unglück. Um meinen Unwillen runterzuschlucken, genehmige ich mir einen extratiefen Zug. Dann sage ich: „Ich mache das aus beruflichen Gründen.“ – „Was, das Bewusstloswerden?“, fragt jetzt auch die Blonde spöttisch. „Das Beobachten“, korrigiere ich, denn nun habe ich mich entschieden, nah an der Wahrheit zu bleiben. „Sehen Sie“, fange ich von Neuem an, „ich bin Ihnen vom Park aus gefolgt und habe Sie auf Ihrem Weg die Einkaufsstraße entlang beobachtet. Etwas an Ihnen ist mir aufgefallen, dem musste ich nachgehen. Schriftstellerneugier: eine Berufskrankheit, déformation professionnelle, verstehen Sie?“ Mit diesen Worten schließe ich meinen Redebeitrag und blicke beide erwartungsvoll an. Die Schwarzhaarige reagiert als Erste: „Ich bin Malika.“ Sie reicht mir die Hand. „Friedrich“, erwidere ich und gebe ihr meine. „Ich heiße Margarethe“, schließt sich die Blonde der reichlich verspäteten Vorstellungsrunde an.

MALIKAS NACHT

Gegen halb drei in der Früh war Margarethe aufgebrochen. Sie hatten auch über den Voyeur-Schriftsteller gesprochen. Ein bemerkenswerter Tag in jeder Hinsicht. Margarethe hatte in sich hineingelächelt. Zufall, freilich. Beim Abschied wurde ausgemacht, dass sie ab nun wieder Kontakt halten würden. Sie tauschten Telefonnummern aus. Malika lauschte Margarethes Schritten im Treppenhaus nach, bis sie die Eingangstür des Wohnhauses ins Schloss fallen hörte. Für einen Moment drängte sich das Weiß der Wand unnachgiebig in ihr Gesichtsfeld. Dann ebbten die Aufregungen des Tages ab und bleierne Müdigkeit überkam sie. Ein kurzer Blick auf ihre bloße Gestalt im Spiegel, bevor sie in den Schlafanzug schlüpfte. Déformation professionnelle – von wegen. Malika zeigte ihrem Spiegelbild die Zunge. Licht aus. Keine Spiegel mehr heute, auch keine Bilder.

Wir wissen alles über dich … Friedrich … und dann habe ich Sie beobachtet … eine Gretchenfrage … im Märchen, Märchen … was hast du ihm geflüstert, was, was, was …? Rot pulsten die Satzfragmente in Malikas Kopf und hinderten sie am Einschlafen. Musik war das Einzige, was da half. Musik im Kopf. Was war das letzte Konzert, das Malika gehört hatte? Musik und Musiker, aber Ismael nicht. Nicht Ismael. Nicht diese Nacht.

Es blies der Engel das Fagott. Jedes Mal, bevor er das Mundstück umfasste, wurde seine rosa Zunge im geöffneten Mund sichtbar. Dann umschlossen die Lippen den Ausläufer des Instruments, er verzog die Augen, als ob er weinen, und die Mundwinkel, als ob er lachen wolle. So spielte er bis zur nächsten Pause seines Einsatzes, und Malika bewunderte die gesenkten Lider, den Zug der Mundwinkel und den Schatten des Kinns am Hals. Zweimal dachte sie, er würde in ihre Richtung blicken, und jedes Mal setzte ihr Herzschlag aus. Dann kam der nächste Einsatz, wieder wurde die Zunge sichtbar, die Lippen umschlossen das Mundstück und entlockten ihm Töne. Und während das Streicher-Solo die Nervenenden ihres Rückgrats unwiderruflich in Schwingung versetzte, der Kontrabass die Epithelzellen ihrer Haut zum Vibrieren brachte, sah Malika unaufhörlich nur in sein Gesicht, des dunklen Engels Gesicht, und betete jede Regung an. Dann spürte sie, noch bevor sie ihn sah, den Trompeter im Hintergrund. Der Trompeter konzentriert zählend, mit leichtem Silberblick, rührte sie an, rührte sie auf in jeder Sekunde, da sie ihn betrachtete. Bestürzt fiel ihr Blick auf den dunklen Engel zurück und aus den Augenwinkeln sah sie die Schlange. Sie wand sich schmal und schwarz, zuckte bisweilen mit dem vorderen Leib, ringelte sich grazil um eine Violine. Die ganze Figur ein Fraktal: im Detail sich selbst wiederholend. Wo man auch hinblickte: Schlangen. Rührend gewunden der rechte Arm, gerichtet auf den Hals des Instruments, gebogen für die Dauer des Spiels. Von zarter Schlangenhand geführt der Bogen. Das Handgelenk selbst ein Schlangenhals, aus dem fein die Finger wuchsen, sich zierlich um das Instrument zu winden. Das glänzende Haar, ein Wasserschleier, fiel glatt über den Rücken. Die Musik floss durch Malika hindurch nicht auf die Erde, sondern nach oben. Inverse Blitzenergie, die emporstrebte und Malika mitriss. Lauschend war sie an keinem bestimmten Ort mehr, sondern ging in dem, was sie wahrnahm, auf. Sie sah den dunklen Engel sich mit der Zunge die Lippen befeuchten und fühlte ihren Mund trocken. Sie sah ihn das Fagott auf dem rechten Bein abstützen und schlug die Beine übereinander. Er senkte die Lider. Ganz nah fühlte sie sich ihm da. Hätte ihn gerne geküsst, die knabenhaften Schultern berührt. Die Musik strömte weiter, Malika wandte den Blick zum Trompeter. Konzentriert lauschte er, und sie war ganz bei ihm. Lautlos zählend bewegte er die Lippen. Ganz nah fühlte sie sich ihm da. Wäre ihm gerne durchs Haar gefahren und hätte ihm über die Stirn gestrichen. Weiter floss die Musik, und Malika wandte den Blick zur zierlichen Schlange. Unendlich zart bog sie den feinen Leib zu der Violine Tönen. Malika lehnte sich vor. Sah Hals und Kopf aufs Instrument gesenkt. Ganz nah fühlte sie sich ihr da. Hätte gerne die Arme um sie geschlungen und sie sanft in den Nacken gebissen. Die Musik versetzte Malika in Aufruhr. Aufgelöst, überströmend übertrug sich ihr Gefühl von der Musik auf die Musikerinnen und Musiker. Kein Wort mehr zum Festhalten. Immer wieder die sich ringelnde, windende Violinistin. Immer noch der dunkelbewimperte Engel mit dem Fagott. Und am Ende der Trompeter bestürzten Blicks, süßer Silberblick, Aufruhr. Anbetungswürdige Trias im Augenblick der Musik: Frau und Engel und Mann.

Malika seufzte im Traum und drehte sich auf die andere Seite. Draußen die Nacht war sternenklar.

EIN VOYEUR PRIVAT

Noch eine Zigarette, ah … das beruhigt. Was jetzt kommen wird von den beiden? Malika – ein exotischer Name – klar, bei dieser Hautfarbe. Margarethe ist altmodisch, aber assoziationsgeladen. Hab ich sogar schon mal in einer Kurzgeschichte verwendet. Bloß nichts für Romanfiguren. Im Namen ist ja, geht man’s richtig an, schon die halbe Geschichte angelegt. Frauen wie diese müssten in einem Roman Esmeralda und Stella heißen. Stella, die hohe Blonde, Esmeralda, die andere. Von da aus kann man weiterspinnen … – „Sie sind uns also aus Schriftstellerneugier gefolgt“, unterbricht Stella, nein, Margarethe meine dem Kaffeehausterrain geschuldete Abschweifung. „Und dann?“ Ihr forschender Blick in mein Gesicht. Wirklich unüblich meine Lage. Ich kann’s noch immer nicht glauben, einfach ins Geschehen geworfen zu sein. „Ich … ähm … verarbeite normalerweise meine Beobachtungen später allein zu Hause.“ – „Ich verstehe.“ Margarethe dämpft ihre Zigarette aus. „Da lassen Sie sich ungern in die Karten schauen.“ Wieder liegt mir die ganze Wahrheit auf der Zunge. Wenigstens ein Stück davon will ich noch loswerden. „Es ist ja so, dass ich meist nicht bemerkt werde. Und kollabiert bin ich das letzte Mal Ouzo-bedingt in einem Griechenlandurlaub.“ Das ist nicht die ganze Wahrheit. Nicht einmal die halbe. Aber etwas Privatsphäre muss ich wahren. Ist nun diese Malika näher an mich herangerückt? Deutlich kann ich den Geruch ihrer Haut wahrnehmen … blumig … nein, das ist jetzt verkehrt. Auf sowas darf ich mich nicht einlassen, sonst rudere ich in die ganz falsche Richtung. Zusammenreißen, Friedrich. Ich blicke Malika direkt in die Augen. Die folgende Bemerkung muss sitzen: „Eine Beobachtung in Bezug auf Sie habe ich schon: Sie mögen keine Voyeure.“ – „Scharf kombiniert“, macht sie sich über mich lustig. Na gut, soll sie nur spotten. Sag ich halt nichts mehr. Die andere schaut nachdenklich. Ihr werde ich noch was verraten: „Ich habe auch eine Vermutung zu Ihnen.“ – „Und zwar?“ – „Sie waren nicht immer so.“ – „So – wie?“ – „So, verzeihen Sie, wenn ich das jetzt sage, so androgyn.“ Jetzt starrt sie mich an. Macht dann jedoch eine wegwerfende Handbewegung und erwidert: „Horoskopweisheiten, da passt alles und nichts. Sie sind zu allgemein in Ihren Beobachtungen, zumal für einen Schriftsteller.“ In meinem Kopf blinkt mittlerweile die ganze Wahrheit in Neonleuchtschrift: Ich bin auch privat ein Voyeur. Ein ganz gewöhnlicher oder vielmehr: ein traditioneller. Aber das kann ich ihnen beim besten Willen nicht sagen. Es ist so eine Sache mit dieser Tradition. Oft missverstanden, gerade, wenn man ehrlich ist. Sicher: Schöne Mädchen und Frauen sind es, die ich beobachte, denen ich nachstelle. Und warum auch nicht? Warum sollte gerade ein schreibender Künstler nicht von wohlproportionierten Körpermaßen und harmonischen Gesichtszügen angesprochen werden? Heuchler sind alle, die es leugnen.

„Wünschen Sie noch etwas?“ – Der Kellner wollte die letzten drei Gäste loswerden. „Zahlen, bitte“, reagierte wunschgemäß die Blonde. Sie zahlten getrennt und verließen schweigend das Café. Komische Partie. Der Mann ging hinter den Frauen her. Er wirkte erschöpft.

Ich bin erledigt. So ein Tag … bloß nach Hause jetzt. „Dann Tschüss!“, sagt die Blonde, „Servus“, die Braune. Sie haken sich unter. Mir ist alles egal. Die seh ich nie wieder. Brrr, kalt die Nacht heute. Oder kommt’s mir nur so vor, weil ich übernachtig bin? Wie spät …? Blöde Handy-Kramerei … ich sollte mir wieder eine Armbanduhr zulegen. Halb ein Uhr früh. Auch schon besser draufgewesen um diese Uhrzeit. Man wird halt nicht jünger.

DER FEHLENDE VATER