Über Arne Blum

Arne Blum ist seit Jahren in der Verlagsbranche tätig und schreibt erfolgreiche Kriminalromane. Seine Schweinekrimireihe um die kluge Ermittlerin Kim mit der unfehlbaren Spürnase machte ihn nicht nur zu einem bekennenden Freund aller Schweine, sondern veranlasste ihn auch, ein Pseudonym für diese andere Seite in seinem kreativen Schaffen zu wählen.

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Kim weiß nicht mehr, wo ihr der Rüssel steht. Mit ihrem Verehrer Lunke, einem Wildschwein aus dem angrenzenden Wald, wird sie Zeugin eines Mordes. Den Zweibeinern kann sie ihr Wissen nicht mitteilen, und so richtet sie in ihrer Ratlosigkeit ein heilloses Chaos an. Als auch noch der Schweinehirt umgebracht wird, bleibt der Trog fortan leer, und die Schweine müssen nicht nur unschöne Sauereien aufdecken, sondern auch Mundraub begehen. Zu allem Überfluss taucht eine erbitterte Rivalin um Lunkes Gunst auf – und das ausgerechnet in der Rauschzeit.

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Arne Blum

Schöne Sauerei

Ein Schweinekrimi

Inhaltsübersicht

Über Arne Blum

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Die Schweine

Die Menschen

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Epilog

Kleines Schweine-ABC

Impressum

»Ich weiß von keinem anderen Tier, das ausdauernder neugierig wäre und darauf aus, mehr aus neuen Erfahrungen zu machen, und keines, das bereiter wäre, der Welt mit offenmäuligem Enthusiasmus zu begegnen. Schweine sind rettungslos optimistisch, und allein ihr Dasein gibt ihnen den gewissen Kick.«

LYALL WATSON, THE WHOLE PIG

(ZITIERT NACH: KARL LUDWIG SCHWEISFURTH, TIERISCH GUT. VOM ESSEN UND GEGESSENWERDEN, FRANKFURT A. M. 2010)

»Manche Schweine haben zwei Beine und machen Geschäfte.

Andere haben vier Beine und werden geschlachtet.«

EIN UNBEKANNTER MÜNCHENER TAXIFAHRER

Die Schweine

Kim  – Deutsche Landrasse, hat die Neigung, Schwierigkeiten zu wittern, tummelt sich gerne im Wald bei den wilden Schwarzen, verabscheut Fleischfresser, ist erstaunt über sich selbst, dass sie immer wieder in Schwierigkeiten gerät.

Che  – Husumer Protestschwein, träumt von der großen Revolution der Schweine, hat insgeheim Angst vor starken Sauen, verabscheut die wilden Schwarzen.

Brunst – Deutsches Sattelschwein, träumt unaufhörlich vom Fressen, verabscheut es, nachzudenken und sich zu bewegen.

Doktor Pik  – Deutsche Landrasse, der Methusalem unter den Schweinen, hat schon alles gesehen und ist im Zirkus aufgetreten, berühmt für seinen legendären Kartentrick, liebt es, den Wolken nachzublicken, verabscheut jede Form von Schwierigkeiten.

Cecile – Minischwein, wurde aus dem Fenster einer Zoohandlung gerettet, liebt es, zu reden und den anderen nachzulaufen, ist überaus neugierig und ohne jeden Sinn für Gefahren, hasst es, nicht ernst genommen zu werden.

Sus Scrofa – angeblich ein Gottschwein. Niemand weiß aber, ob es existiert.

Lunke  – eigentlich Halunke, gehört zu den wilden Schwarzen, liebt es, große Reden zu schwingen und allein durch den Wald zu streifen, behauptet, vor nichts und niemandem Angst zu haben, hält sich auch für sexuell attraktiv; ist in Kim verliebt.

Michelle – eine wilde Schwarze, offenbar in Lunke verliebt.

Rocky – ein wilder Schwarzer, der immer im falschen Moment auftaucht.

Eine Rotte wilder Schwarzer

Die Menschen

Dörthe – Lebenskünstlerin, Schauspielerin, eingefleischte Vegetarierin, verliebt sich zu oft und zu gerne, ist schwanger, ohne genau zu wissen, von wem; hat den Hof von ihrem früheren Geliebten Robert Munk, einem berühmten Maler, überlassen bekommen.

Jan  – Schauspieler mit schwieriger Kindheit, glaubt an seine Chance auf eine große Karriere; ist leider zur falschen Zeit am falschen Ort.

James – Musiker, blond und sehr charmant, mag Dörthe, nimmt es leider mit der Wahrheit nicht so genau.

Sabeth – schöne blonde Frau, Freundin von Jan; mag offensichtlich keine Schweine.

Deng  – Chinese, wurde widriger Umstände wegen Schweinehirt bei Dörthe; möchte seinem großen Vorbild Konfuzius nacheifern und ein philosophisches Buch schreiben, um seine große Liebe zurückzugewinnen.

Husemann – Pfarrer, liebt es, überall seine Kreuzzeichen in die Luft zu malen.

Marten  – Makler, liebt es, üble, aber lohnende Geschäfte zu machen.

Melker  – Detektiv, kennt nicht Freund oder Feind, sondern nur Partner, mit denen man Geschäfte machen kann.

Kotter – Gehilfe von Melker, versteht was vom Feuermachen; hasst Schweine.

Marcia Pölk – Hauptkommissarin, muss die schlechte Laune ihres Kollegen David Bauer ertragen.

David Bauer  – Hauptkommissar mit langen Haaren und dunkler Haut, arrogant, glaubt, dass er jeden Fall aufklären kann; irrt sich manchmal; insgeheim in Marcia Pölk verliebt.

Max Windeck  – Tierarzt mit der Figur eines Boxers; rettet die Schweine und Dörthe.

1

»Da kannst du sehen, zu was die Menschen fähig sind«, grunzte Che.

Sie standen am Zaun und blickten auf den Hof hinüber. Kim war schlechter Stimmung. Sie fühlte eine unbestimmte Sehnsucht – der Sommer ging allmählich zu Ende, und irgendwie machte sie dieses Gefühl traurig. Außerdem hatte sie Liebeskummer, nein, Liebeskummer war das völlig falsche Wort; sie war auch nicht eifersüchtig oder gereizt, nur weil dieser … Ach nein, sie wollte gar nicht darüber nachdenken, in welcher Stimmung sie war.

»Was machen die Menschen da?«, quiekte Cecile, das Minischwein, nachdem sie sich neugierig neben Kim geschoben hatte. Wie immer, wenn sie aufgeregt war, wedelte ihr Schwänzchen auf und ab.

Kim antwortete nicht. Sie wusste selbst nicht genau, was die Menschen da trieben.

Am Morgen waren eine Menge Leute auf den Hof gekommen, die meisten hatten sich seltsam angezogen, nicht wie sonst mit Hemd und Hose. Einige Frauen trugen lange Gewänder, etliche Männer hatten Stöcke in den Händen und merkwürdige glänzende Gebilde auf dem Kopf, und einer mit langen braunen Haaren hatte sich ganz ausgezogen und trug lediglich ein weißes Tuch.

»Sie bringen einen von sich um«, knurrte Che. »Das sieht man doch!«

»Wirklich?«, kreischte Cecile. »Den Mann mit den langen Haaren?«

Che nickte. »Auf den haben sie es abgesehen – so sind die Menschen. Sie können es nicht ertragen, in Frieden zu leben, deshalb ist es auch an der Zeit, dass wir uns endlich aufraffen, uns gegen die Menschen zu solidarisieren, zu kämpfen und ihnen …«

»Ja, schon gut, Che«, unterbrach Kim ihn. »Wir wissen Bescheid.« Wie lange ertrug sie dieses Gerede von Krieg und Revolution nun schon? Eigentlich wusste sie es genau: von dem Moment an, als Dörthe sie gerettet und auf ihren Hof gebracht hatte. Aber Che war ein Husumer Protestschwein, er musste unentwegt das große Wort führen.

Sie spielen, wollte Kim sagen, Menschen macht es Spaß, sich zu verkleiden und irgendetwas aufzusagen, aber dann sah und hörte sie, wie der nackte Mann mit den langen Haaren schrie und wie einer der Männer mit den glänzenden Gebilden auf dem Kopf ihm seinen Stock in die Seite stieß. Und dann … Kim konnte vor Aufregung kaum atmen, während sie die Augen zusammenkniff, um alles genau zu beobachten. Drei Männer banden den Langhaarigen an ein Holzkreuz, ein vierter drückte ihm etwas ins Haar, ein Geflecht aus Stacheldraht, den Kim von den Zäunen kannte. Der Langhaarige schrie immer lauter. Eine der Frauen fing an zu weinen, aber sie griff nicht ein, versuchte nicht, ihm zu helfen. Die anderen Männer stellten sich um das Kreuz auf und begannen wild zu rufen.

Plötzlich verstand Kim auch, was sie schrien, dunkel und hässlich: »Tötet ihn! Schlagt ihn ans Kreuz, den falschen König! Kreuzigt ihn!«

Verdammt, Che hatte recht – vor ihren Augen wurde ein Menschen getötet. Das war schon einmal passiert. Nachts war Munk, der berühmte Maler, direkt vor ihrem Stall ermordet worden, doch das war heimlich geschehen. Dieses Mal taten die Menschen es vor aller Augen.

Wie konnte Dörthe so etwas zulassen? Dörthe war ihre Herrin und Beschützerin, ihr gehörte der Hof; sie aß nie Fleisch und war die Freundlichkeit in Person, wie selbst Che zugeben musste.

Der langhaarige Mann schrie noch lauter. Er warf den Kopf hin und her, doch er konnte den Stacheldraht nicht abschütteln.

»Was soll der Unsinn?« Brunst, das fetteste Schwein auf ihrer Wiese, trabte vorbei und bedachte das Geschehen auf dem Hof mit einem flüchtigen Blick. »Die machen mich mit ihrer Schreierei ganz nervös.« Er kaute auf einem Kohlkopf herum; wenn die anderen Schweine längst satt waren, musste er immer weiterfressen.

Die vier Männer zogen den Langhaarigen in die Höhe. Er hing an dem Kreuz und bewegte sich nicht mehr. Mit leerem Blick starrte er vor sich hin und beachtete nicht einmal eine Frau in einem weißen Gewand, die neben den Männern schluchzend auf die Knie gefallen war.

Warum half dem Mann denn keiner? Wehrlos, nur mit seinem winzigen Tuch bekleidet hing er da. Wo blieb Dörthe? So etwas konnte sie auf ihrem Hof nicht zulassen.

Kim begann laut zu grunzen, aber niemand hörte sie in dem Tumult. Wieder begannen die anderen Männer zu brüllen. »Kreuzigt ihn! Kreuzigt ihn!«

Noch einmal stach ein Mann mit seinem Stock zu. Die anderen Männer applaudierten. Dann hob der nackte Mann am Kreuz unvermittelt den Kopf. Er sagte etwas, das Kim nicht verstehen konnte, ein paar geflüsterte Worte. Einen Moment später, als hätten diese Worte seine ganze Kraft gekostet, sank ihm der Kopf auf die Brust.

»Machen die den Mann wirklich tot?«, fragte Cecile mit ihrer nervigen Piepsstimme.

Auch Doktor Pik hatte sich mittlerweile zu ihnen gesellt. Er war das älteste der fünf Schweine des Hofes. Für gewöhnlich konnte ihn nichts aus der Ruhe bringen, doch nun wirkte auch er aufgeregt.

»In meinem Wanderzirkus«, meinte er, »da hat es einen Mann gegeben, der hat mit Messern auf andere Menschen geworfen, große scharfe Messer, aber er hat sie nie getroffen. Wahrscheinlich weil er es nicht wollte. Ich bin ihm immer aus dem Weg gegangen.«

»Ist mir eigentlich egal, ob die Menschen sich gegenseitig umbringen«, rief Che und wandte sich grummelnd ab. Er brachte nie viel Geduld für eine Sache auf.

Der Mann am Kreuz starb tatsächlich. Er hatte inzwischen die Augen geschlossen und rührte sich nicht mehr. Kim konnte es nicht fassen. So schnell konnte ein Mensch sterben! Ihr drehte sich der Magen um. Sie sollte sich abwenden, sagte sie sich, zurück in den Stall laufen und ein wenig Stroh zusammenkratzen. Aber sie konnte nicht  – diese verdammte Neugier hatte sie im Griff.

Mittlerweile war es totenstill geworden; einzig die Frau in dem weißen Gewand schluchzte noch, doch leiser, unauffälliger, während die anderen Männer und Frauen, so viele, dass Kim sie gar nicht zählen konnte, wie gebannt auf den Nackten am Kreuz starrten.

Unvermittelt erklang Musik, ein Donner ertönte. Kim schrak zusammen. Was war das? Sie quiekte vor Schrecken auf.

Plötzlich löste sich Dörthe aus der Menge, sie war nicht verkleidet; ihr roter Haarschopf leuchtete zu Kim herüber. Seltsamerweise war sie kein bisschen entsetzt. Sie weinte auch nicht, sondern klatschte in die Hände. Ihr Bauch war ein kleiner Ballon; man sah ihr an, dass sie bald ein Kind bekommen würde.

»Großartig, Leute!«, rief sie. »So machen wir es am Sonntag! Da wird die Gemeinde staunen.« An den Männern mit den seltsamen Kopfbedeckungen vorbei ging sie zu dem Kreuz und klopfte an das Holz. »Reife Leistung, Jan! Gut gemacht!«

Der Mann am Kreuz schlug die Augen auf und lächelte. »Wenn du das sagst, Dörthe. Bist eine tolle Lehrerin!«

Kim brauchte einen Moment, um zu verstehen. Es war tatsächlich ein Spiel – die Menschen spielten, einen anderen ans Kreuz zu binden, und ausgerechnet Dörthe war die Leiterin dieses Spiels.

Na großartig, sie hatte für nichts und wieder nichts einen Heidenschrecken bekommen. Kim schnaufte empört, doch wieder einmal bekam es niemand mit, nicht einmal Doktor Pik, der sich bereits wieder zu den anderen gesellt hatte.

Missmutig machte Kim kehrt. Gut, es war auch ihr Fehler gewesen. Sie interessierte sich einfach zu sehr für die Angelegenheiten der Menschen, da hatte Che vielleicht gar nicht so unrecht.

»Kim!«, hörte sie auf einmal eine sehr vertraute Stimme. »Kim, wir müssen reden!«

Als sie sich zur anderen Seite der Wiese umwandte, sah sie seinen mächtigen Schatten im Abendlicht. Lunke, der wilde Schwarze – er stand da und grinste sie an. »Am besten sofort!«

2

»Merk dir das!«, hatte ihre Mutter, die fette Paula, ihr stets gesagt. »Wir werden geschlachtet. Das ist unser Schicksal, nichts anderes!«

Kim hatte ihre Mutter geliebt, noch immer sehnte sie sich gelegentlich nach ihr, nach dem Gefühl von Wärme und Geborgenheit, obwohl es schon zwei Sommer her war, dass Paula eines Morgens von einem großen Transporter abgeholt worden war. Kim selbst hatte sich retten können. Der große Lastwagen, auf den man sie viel später mit zwanzig anderen Schweinen verfrachtet hatte, war umgekippt. Unter einem riesigen blauen Himmel hatte sie gelegen und sich dann in einem Gebüsch versteckt, bis Dörthe sie gefunden und mitgenommen hatte. Paula hatte also unrecht gehabt, sie waren nicht auf der Welt, um geschlachtet zu werden, aber weshalb waren sie dann da? Um den Menschen etwas beizubringen? Oder um gegen die Menschen Krieg zu führen, wie Che meinte? Nein, das glaubte Kim nicht. Wenn sie ehrlich war, meinte sie, dass Menschen und Schweine nicht alles waren, dass es hinter dem blauen Himmel noch etwas anderes gab, dass Stroh nicht nur Stroh war, Wasser nicht nur Wasser … Na ja, so ähnlich jedenfalls.

Dann, wenn ihr von diesen Gedanken, denen sie immer unter ihrem Apfelbaum nachhing, ganz schwindlig war, kam es ihr allerdings so vor, dass ihr Kopf vielleicht doch nicht zum Denken gemacht war.

Langsam, damit er nicht das Gefühl bekam, er wäre zu wichtig, trabte sie zu Lunke hinüber. Er war ein wilder Schwarzer und sorgte stets dafür, dass sie einen Durchschlupf in dem Zaun hatte, durch den sie die Wiese verlassen konnte. Kaum hatte Deng, der junge Chinese, der sich tagsüber um sie kümmerte und ihnen Futter brachte, den Pfosten wieder aufgerichtet, kam Lunke und riss ihn mit einem Tritt seines Hinterlaufes erneut um.

Kim und Lunke waren … nun, kein richtiges Paar. Wilde Schwarze pflegten sich für gewöhnlich nicht mit Hausschweinen abzugeben, sie waren also nur miteinander bekannt. Ja, so musste man es bezeichnen, sie waren gute Bekannte. Lunke nahm sie manchmal zu einem kleinen See im Wald mit, wo sie sich suhlten, und zu ein paar schönen Fressplätzen, an denen Farn und saftiges Gras wuchsen. Und er war auch nicht so langweilig wie Che und Brunst.

»Worüber müssen wir reden?«, fragte Kim, nachdem sie sich vorsichtig durch den Durchschlupf gezwängt hatte.

Lunke grinste sie an. Es begann bereits zu dämmern, da war er besonders munter. »Na, du weißt schon, über uns … darüber, ob und wann wir …«

Kim wollte sich am liebsten abwenden. Ging das schon wieder los? Erst kürzlich hatte er gemeint, sie solle zu seiner Rotte in den Wald übersiedeln, ja, übersiedeln, genau diesen Ausdruck hatte er verwendet, um möglichst großspurig aufzutreten.

»Fängst du schon wieder damit an?«, fragte Kim vorwurfsvoll.

Lunke näherte sich ihr, so dass sie seinen heißen Atem spüren konnte, und … Moment, er roch anders als sonst. War er etwa mit einer aus seiner Rotte zusammen gewesen?

»Meine Mutter … also … bald kommt die Rauschzeit, und diesen Herbst muss auch ich meine Pflicht erfüllen, hat sie gesagt … damit die Rotte nicht untergeht …« Er geriet ins Stammeln, doch Kim hatte den Verdacht, dass er nur so tat, als wäre er verlegen oder unsicher. Mit seinem unversehrten rechten Eckzahn strich er sanft über ihr Fell. Sie ließ ihn einen Atemzug lang gewähren, bevor sie einen Schritt zurückmachte.

»Heute sind viele Menschen auf unseren Hof gekommen, und sie haben einen Mann …«, versuchte Kim abzulenken, doch Lunke durchschaute ihr Manöver sofort. Er war nicht der Klügste, aber so dumm war er nicht, um nicht zu verstehen, dass Kim von der Rauschzeit und dem Einen, das alle Eber und Sauen, Keiler und Bachen taten, nichts wissen wollte.

»Eine gewisse Zeit kann ich Emma noch hinhalten, doch nicht mehr sehr lange. Du weißt, dass ich der stärkste Keiler im Wald bin … na ja, fast der stärkste …«

Wieder drang Kim dieser unangenehme Geruch in den Rüssel, aber sie bemühte sich, nicht darauf zu achten.

Lunke warf sich in Pose und schnaubte. »Ich bin heute besonders guter Stimmung«, sagte er, »und wollte dich fragen  – ganz förmlich und feierlich …« Er grinste, nun doch ein wenig verlegen. »… ob du mit mir einen Bund eingehen möchtest …«

Kim schloss die Augen. Sie hatte diese Frage gefürchtet und immer versucht, keine Antwort darauf geben zu müssen. Ob du mit mir einen Bund eingehst, damit wir eine Familie …

»Lunky – wo bist du?« Ein schriller Ruf hallte zu ihnen herüber.

Lunky? Kims Augen sprangen förmlich auf, gleichzeitig spürte sie, wie ihr Magen sich vor Ärger zusammenzog.

»Lunky  – wir waren doch verabredet … du wolltest mir …«

Lunke wandte den Kopf. »Gleich, Michelle!«, rief er, ohne auch nur eine Spur von Überraschung zu zeigen. »Ich komme gleich.«

Kim starrte ihn an. Michelle? Nun wusste sie endlich, wie dieses schwarze weibliche Wesen hieß, nach dem Lunke so penetrant roch, als hätten sie einen halben Tag lang zusammengelegen.

»Ich glaube, du wirst erwartet. Eine deiner Verehrerinnen.« Süffisant lächelte Kim ihn an. »Damit hat sich unsere Unterredung wohl erledigt.«

Lunke hob die Augenbrauen  – er schien nicht ganz sicher zu sein, ob er sich amüsieren oder über die Störung verärgert sein sollte. »Nein, nicht ganz«, erklärte er. »Du wolltest mir noch eine Frage beantworten.«

»Nein, wollte ich nicht – jetzt jedenfalls nicht mehr«, erwiderte Kim.

Aus dem Wald war eine Gestalt getreten, eine hässliche, gedrungene wilde Schwarze mit einem viel zu kleinen Kopf. Sie tänzelte auf dem schmalen Pfad auf sie zu und warf dabei ständig den Kopf hin und her. Ihre Ohren bewegten sich affektiert auf und ab. Offenbar sollte dieses Getue Lunke beeindrucken. Noch nie hatte Kim ein Schwein gesehen, das sich so albern bewegte.

»Oh!« Michelle blieb abrupt stehen und tat so, als hätte sie Kim erst jetzt bemerkt. »Wusste nicht, dass du nicht allein bist.« Sie schaute Lunke treuherzig an und zwinkerte. Und sie stank – nach einem ausgiebigen Bad im See, nach Algen und Erde und Gras, eine widerliche, aufdringliche Mischung von Gerüchen.

»Ich gehe dann wohl besser.« Kim wandte sich ab, allerdings nicht ohne ihrer Rivalin einen vernichtenden Blick zuzuwerfen. Na, Rivalin war vielleicht ein zu großes Wort. »Man sieht sich!«

»Am besten morgen  – morgen brauche ich unbedingt eine Antwort«, rief Lunke ihr nach, während Kim schon wieder auf den Durchschlupf zuhielt.

»Wer war das?«, hörte sie Michelles lächerlich schrille Stimme. »War diese rosige Kleine etwa das ängstliche Hausschwein, von dem du mir erzählt hast?«

Ängstliches Hausschwein? Und Lunke erzählte von ihr? Kim war kurz davor, sich umzudrehen und Michelle Bescheid zu geben, dass sie vor niemandem Angst hatte, stattdessen stieß sie jedoch nur einen beleidigten Schnaufer aus und bekam dadurch leider nicht mit, was Lunke der affektierten Bache geantwortet hatte. Sie hörte nur noch, wie er Michelle beinahe zärtlich beim Namen nannte.

Drehte er sich nach ihr um? Am Zaun riskierte Kim einen kurzen Blick zur Seite. Nein, Lunke verschwand tatsächlich geradewegs in den Wald.

Am Durchschlupf nahm Deng sie in Empfang. Er war ein ziemlich kleiner Mensch mit merkwürdigen Augen. Er war noch recht jung, trotzdem war sein Gesicht vom unentwegten Lächeln schon ganz faltig. In der einen Hand hielt er einen Hammer.

Mit der anderen Hand winkte er ihr zu. »Hattest du wieder Ausgang?«, fragte er mit seinem schönsten faltigen Lächeln. »Der Narr tut das, was er nicht lassen kann.« Dann kicherte er und strich Kim sanft über den Hinterlauf.

3

Die Menschen waren vom Hof verschwunden, auch Dörthe war nicht mehr zu sehen.

Brunst lief schnüffelnd über die Wiese. »Irgendwo muss hier noch ein Kohlkopf liegen«, grummelte er vor sich hin.

Cecile quiekte aufgeregt, weil Doktor Pik ihr versprochen hatte, ihr etwas von dem Wanderzirkus zu erzählen, in dem er früher einmal aufgetreten war. Er war mittlerweile so alt, dass er morgens kaum noch auf die Beine kam – zwölf oder dreizehn Sommer zählte er, genau wusste er es selbst nicht mehr.

Kim legte sich unter ihren Apfelbaum. Noch immer hatte sie Michelles schreckliche Stimme im Ohr. Wie konnte Lunke es sich gefallen lassen, von dieser dämlichen Bache »Lunky« genannt zu werden? Sie würde ihn endgültig abweisen, schwor Kim sich. Von wegen Bund eingehen … Ihr Platz war hier auf dieser Wiese, obwohl … im Wald war das Leben eindeutig interessanter. Den ganzen Tag über diese öde Wiese zu laufen war eigentlich langweilig. Ja, jeden Tag dasselbe Fressen und dieselben Sprüche von Brunst und Che, obendrein das nervige Geplapper von Cecile. »Kann man fliegen lernen? Wie machen Vögel das  – fliegen?« Das Minischwein hatte sich in den Kopf gesetzt, irgendwann einmal zu fliegen, und fing jeden Tag aufs Neue davon an. Michelle dagegen war zwar nur eine dumme Schwarze, aber sie konnte laufen, wohin sie wollte, ins Dorf der Menschen und über die breite Straße in den anderen Wald; im Vergleich zu Kims Leben war ihres bestimmt voller Abenteuer. War Lunke mit Michelle zum Waldsee gegangen oder zu dem Platz, wo die alten Eichen standen, oder vielleicht in den hohen Farn, wo man sich ungestört aneinanderschmiegen konnte?

»Lunky!«, äffte Kim die Stimme der affektierten Bache nach.

Plötzlich, als hätte sie etwas Ungehöriges gedacht, traf sie ein winziger glühender Gegenstand am rechten Vorderlauf. Sie zuckte zusammen und quiekte vor Schmerz leise auf.

Als sie den Blick entrüstet hob, erkannte Kim einen Menschen mit langen Haaren, der am Gatter stand und sich soeben eine neue Zigarette anzündete, nachdem er die andere zu ihr in die Wiese geschnippt hatte. Kim grunzte so erbost, dass die Gestalt aufblickte. Der Nackte vom Kreuz stand vor ihr. Er hieß Jan, jedenfalls hatte Dörthe ihn so genannt. Nun trug er ein dunkelblaues Hemd und eine schwarze Hose. Sinnend blickte er über Kim hinweg, als würde er sie gar nicht registrieren. Er war nicht verletzt worden, zumindest war auf den ersten Blick nichts zu erkennen. In seinem langen Haar steckte auch kein Drahtgeflecht mehr. Aber etwas umgab ihn; etwas Dunkles, Trauriges. Ja, seine Augen wirkten düster, und seine Kiefer bewegten sich, als mahlten sie an irgendwelchen unaussprechlichen Worten. Hatte Jan mit Dörthe Probleme  – so ähnlich wie Kim mit Lunke? Man mochte sich, aber wusste nicht genau, wie weit dieses Mögen ging. Dörthe war mit ihren roten Haaren nach menschlichen Maßstäben eine sehr schöne Frau, und sie bekam ein Kind, das keinen Vater hatte, jedenfalls zeigte er sich nie, aber daran konnte Kim nichts Ungewöhnliches finden. Von ihrem Vater hatte ihre Mutter Paula auch nie gesprochen, obwohl Kim oft nach ihm gefragt hatte.

Jan zog wieder an seiner Zigarette, die in der Dämmerung aufleuchtete. »Ich werde«, sagte er plötzlich, als habe er einen Entschluss gefasst, »meine Klage am Kreuz vorbringen, wenn alles still ist, wenn alle gebannt lauschen. Mit lauter Stimme werde ich seinen Namen rufen und …«

Abrupt verstummte Jan. Kim glaubte, zuvor ein seltsames Sirren gehört zu haben, das ihn möglicherweise aufgeschreckt hatte, dann sah sie, wie der große stattliche Jan in den Knien einknickte, er hielt sich am Gatter fest und blickte sich erstaunt um.

Kim trabte näher heran. War Jan plötzlich schlecht geworden? Ungelenk richtete er sich wieder auf und tastete sich über den Rücken, zerrte an seinem Hemd und stöhnte.

»Mein Gott!« Er zog einen länglichen Gegenstand aus seinem Rücken und starrte ihn voller Unverständnis an. »Ein Pfeil – wieso?« Seine Knie gaben wieder nach, so dass er sich auch mit der zweiten Hand festhalten musste und den Pfeil fallen ließ. Er sah eindeutig nicht mehr gesund aus, sondern bleich und krank.

Kim grunzte auf. Ein Fall für Dörthe  – wo war sie? Oben in einem Fenster brannte Licht, aber sonst war das Haus dunkel.

Jan griff mit seiner zitternden linken Hand in seine Hosentasche und holte einen silberfarbenen Gegenstand hervor, den Kim bereits kannte. Jeder Mensch hatte so ein Gerät, ein Telefon, in das er gerne und laut hineinsprach.

Doch bevor Jan etwas in das Telefon sagen konnte, sank er auf die Knie. Er fluchte, und plötzlich, als hätte sein Fluch sie angelockt, standen zwei Menschen vor ihm: zwei mittelgroße Gestalten, deren Gesichter Kim nicht erkennen konnte, weil sie unter einer schwarzen Mütze mit Sehschlitzen verborgen lagen.

»Hallo, Jan«, sagte eine der beiden Gestalten, ein Mann, der irgendwie nach Garten und Kräutern roch. »Kennst du mich noch?«

Jan blickte auf, seine Augen waren geweitet, er nickte oder versuchte es zumindest, doch irgendwie gehorchten ihm seine Muskeln nicht mehr.

»Die Betäubung wirkt«, erklärte die zweite Stimme, eine Frau. »Gleich gehen bei ihm die Lichter aus. Er wird uns keinen Ärger mehr machen.«

Der Mann nickte, dann holte er aus und verpasste Jan einen harten Schlag mit der flachen Hand ins Gesicht. Jan fiel zu Boden und rührte sich nicht mehr.

Kim quiekte. Hier ging es eindeutig nicht mit rechten Dingen zu. Erst quälte man Jan am Kreuz, und nun wurde er niedergeschlagen.

»Schnell!« Die Frau sprang auf und holte einen Karren, der ein Stück weiter auf dem Hof stand. Darin hatten die Menschen am Nachmittag Getränke und andere Dinge transportiert. Offenbar hatten sie den Karren dann vergessen. Oder die beiden vermummten Gestalten hatten ihn irgendwann am Abend zurückgebracht.

Sie packten den betäubten Jan und wuchteten ihn auf den Karren. Hastig schoben sie ihn in Richtung Straße. Die Räder verursachten auf dem Asphalt einen ziemlichen Lärm, aber Dörthe ließ sich trotzdem nicht blicken. Mit dem Kind im Bauch war der Tag wohl zu anstrengend gewesen.

Unvermittelt hörte Kim Schritte hinter sich. Voller Schrecken zuckte sie herum. Eine neue Gefahr? Nein, der kleine Deng schlenderte über die Wiese. Er hatte einen Beutel über der Schulter, in dem er silberfarbene Döschen mit seinem Essen herumtrug und das kleine, schwarze Buch, in dem er oft las, wenn er sie gefüttert und den Stall ausgemistet hatte. Im Vorbeigehen strich er Kim über den Kopf. Hatte er auch gesehen, was mit dem armen Jan passiert war?

Deng öffnete das Gatter, dann hielt er inne und bückte sich. Als er sich wieder aufrichtete, hatte er den Pfeil in der Hand, den Jan sich aus dem Rücken gezogen hatte. Nachdenklich starrte er ihn an.

»Drei Dinge kann man nicht mehr ändern«, sprach Deng vor sich hin. »Das gesagte Wort, den abgeschossenen Pfeil und die verpasste Gelegenheit.« Mit einem lächelnden Blick auf Kim öffnete er seinen Beutel und legte den Pfeil hinein.

Dann ging er gemächlich in Richtung Straße.

4

»Wenn wir gegen die Menschen in den Krieg ziehen, dann müssen wir zusehen, dass unsere Truppen richtig aufgestellt sind!« Che hatte sich mitten im Stall aufgebaut. Er hatte den Kopf hoch aufgerichtet und stand breitbeinig da.

Kim gähnte. Wie oft hatte sie dieses Gerede und Gehabe schon über sich ergehen lassen? Sie legte sich in ihre Ecke und schloss die Augen. Das Bild, wie man den betäubten Mann auf den Karren gehoben hatte, ging ihr nicht aus dem Kopf. Sie hatte es nicht geschafft, Dörthe herbeizurufen.

»Wir müssen den Kampf gegen die Menschen aufnehmen!«, rief Che aus. »Zuerst müssen die wilden Schwarzen in die Schlacht ziehen. Dafür sind die Schwarzen gemacht, dass sie als Erste kämpfen. Sie haben die Statur dafür und sind nicht so klug wie wir weißen Schweine. Wir weißen Schweine bleiben zurück und leiten die Schwarzen an, wir warten ab, wie der Kampf verläuft, bis wir eingreifen …«

He, Che, komm runter, wollte Kim ihm zurufen, von welchem Kampf sprichst du? In seiner Phantasie schien er unaufhörlich gegen die verhassten Menschen anzurennen.

»Wer gibt uns eigentlich etwas zu fressen, wenn wir kämpfen?«, fragte Brunst und schmatzte laut, weil er noch an einem Maiskolben kaute, den er in einer Ecke des Stalls vor den anderen versteckt hatte. »Glaubst du, die Menschen füttern uns noch, wenn wir gegen sie in die Schlacht ziehen?«

»Wo soll denn diese tolle Schlacht sein?«, piepste Cecile. »Etwa hier bei uns auf der Wiese? Und was ist mit Dörthe? Müssen wir auch gegen sie kämpfen?«

Che schnaufte unwillig. »Es geht um den einen großen letzten Kampf, der alles entscheidet«, knurrte er, als habe er es nur mit Dummköpfen zu tun, die seine genialen Gedanken nicht begreifen konnten.

Einmal hatte er eingestanden, dass er in Kim verliebt war, dass er nur deshalb so große Reden schwang. Vielleicht sollte sie ihm sagen, dass es nun genug war, dass sie überlegte, mit Lunke in den Wald zu gehen …

Sie öffnete die Augen und sprang aus einem Impuls heraus auf. »Kann mir einer sagen, was Rauschzeit ist … und was da genau mit unsereins passiert?«

»Rauschzeit?« Che sprach das Wort angewidert aus. Lunke hatte einmal gemeint, dass allen Ebern auf ihrer Wiese das Wichtigste fehlte, dass sie eigentlich gar keine richtigen Eber mehr seien. »Wieso kommst du mir mit so einer Frage, wenn ich von der Schlacht aller Schlachten spreche?«

»Interessiert mich eben.« Kim verzog schmollend das Gesicht und legte sich wieder hin.

Doktor Pik, der aussah, als hätte er geschlafen, hob den Kopf. »Da müsste uns eigentlich Brunst Auskunft geben können.« Er kicherte geheimnisvoll, wie es sonst nicht seine Art war.

Brunst sah ihn verständnislos an. »Ich – wieso ich? Mit Fressen hat das nichts zu tun  – da bin ich mir ziemlich sicher.«

Doktor Pik schüttelte weise den Kopf. »Nein, da hast du recht. Mit Fressen hat das nichts zu tun. Es geht eher darum, woher wir kommen … Ich meine, wir fallen schließlich nicht vom Himmel.«

»Du meinst, es geht ums Vögeln«, rief Kim, »so hat Dörthe das jedenfalls mal genannt, glaube ich«, fügte sie leiser hinzu, nachdem Doktor Pik sie strafend angeschaut hatte.

»Vögel?«, quiekte Cecile. »Hat diese Rauschzeit was mit Fliegen zu tun? Ist das die Zeit, in der auch wir Schweine fliegen können?«

»Nicht ganz.« Doktor Pik sprach zu Cecile, doch er hatte seine Augen immer noch durchdringend auf Kim gerichtet. »Es geht um Fortpflanzung. Irgendwann sterben wir, und damit es weiter Schweine gibt, müssen wir Nachkommen zeugen. Das passiert in der Rauschzeit. Der Eber umwirbt …« Er verstummte abrupt. Sein Blick veränderte sich, wurde nachdenklich und wehmütig. »Ich war vor vielen Sommern einmal richtig verliebt … Habe ich wohl schon erzählt … Sie hieß Anna und sah Kim ein wenig ähnlich. Als unsere Rauschzeit kam, haben wir die Gelegenheit genutzt und die ganze Nacht …«

»Was habt ihr die ganze Nacht?«, fragte Che, ungewohnt neugierig, für gewöhnlich interessierte er sich nicht dafür, was die anderen zu sagen hatten.

Doktor Pik schniefte. »Egal. Als es so weit war, ist Anna eines Morgens abgeholt worden. Es war Winter, alles war weiß, im Schneelicht stand sie da. In meinem Herzen halte ich diesen Moment ganz fest – ich werde ihn bis zu meinem Ende nicht vergessen.«

Tiefes Schweigen legte sich über den Stall. Selbst der fette Brunst hörte auf zu kauen, weil er begriff, wie traurig Doktor Pik plötzlich war. Immer häufiger sprach der alte Eber von seinem nahenden Tod.

Kim bedauerte, das Thema aufgebracht zu haben, aber sie war ratlos. Was sollte sie tun? Lunke würde sie morgen wieder fragen. Sollte sie ihm für eine Weile aus dem Weg gehen? Aber diese Wehmut, dieses fatale Gefühl, dass der Sommer zu Ende ging … nur Lunke konnte sie von ihren dunklen Gedanken abbringen. Und was war mit dieser Michelle? Musste Kim aufpassen, dass Lunke nicht auf falsche Gedanken kam?

Plötzlich wurde die Tür ihres Stalles aufgestoßen. Das grelle Licht sprang an, nicht die kleine Lampe neben der Tür. Dörthe eilte herein, so schnell, dass ihre Haare förmlich flogen. Sie sah abgehetzt aus.

»Jan?«, rief sie. »Jan, bist du hier?« Hektisch blickte sie sich um, ohne ihre Schweine zu begrüßen, was sonst nicht ihre Art war. Sie holte ihr silberfarbenes Telefon hervor und wählte. Dann lauschte sie aufmerksam. Gleichzeitig wischte sie sich eine rote Strähne aus dem Gesicht. »Jan«, sagte sie dann, »ich suche dich. Melde dich doch mal. Wir müssen noch ein paar Kleinigkeiten wegen der Aufführung morgen durchsprechen. Pfarrer Husemann hat auch angerufen. Er würde dich gerne kennenlernen, und die Zeitung will ein Interview mit dir machen.« Dann seufzte sie und steckte ihr Telefon wieder ein.

Kim erhob sich und lief zu ihr. Wie gerne hätte sie Dörthe von Jan erzählt, von dem, was ihm passiert war. Sie grunzte einmal. Dörthe schaute auf. Im Gesicht hatte sie rote Flecken, irgendwie wirkte sie müde, so als würde sie nicht mehr schlafen.

»Hallo, Kim«, sagte Dörthe und lächelte. Sie strich sich über den Bauch. »In ein paar Wochen ist es so weit. Dann bekommen wir Nachwuchs auf dem Hof. Ein Mädchen, ich hoffe, dass es ein Mädchen wird.«

Kim fand keine Ruhe. Brunst schnarchte vor sich hin, Cecile strampelte im Schlaf, und Che murmelte irgendwelche unverständlichen Worte. Wahrscheinlich befand er sich auch im Traum im Krieg. Was musste es für eine Qual sein, Tag und Nacht nur an die Revolution zu denken? Ihr selbst ging Lunke nicht aus dem Kopf. Die Entscheidung, die sie zu treffen hatte. Ein Hausschwein und ein wilder Schwarzer – konnte das gut gehen? Und wie würde Emma, die mächtige Bache, die ganz zufällig auch noch Lunkes Mutter war, reagieren, wenn ihr Sohn Kim in den Wald auf den Sammlungsplatz führte? Schon allein bei dem Gedanken drehte sich ihr der Magen um. Und selbst wenn Emma sie akzeptierte, wie wäre das Leben im Wald? Bald käme der Winter  – Schnee konnte fallen. Bei Kälte war es in ihrem Stall doch recht angenehm. »Du legst dich zu mir, und ich wärme dich«, hatte Lunke ihr gesagt, als sie ihn auf die Kälte im Winter angesprochen hatte. »Ich werde dir schon warme Gedanken machen.« Dabei hatte er süffisant gegrinst.

Und wie war es, Nachwuchs zu haben? Daran hatte Kim überhaupt noch nicht denken können. Kleine Jungen würden aus ihr herausfallen – irgendwie. Ihrer Mutter hatte es nichts ausgemacht, wenn zehn Ferkel an ihren Zitzen lagen und nuckelten, aber Kim wurde schon schlecht, wenn sie nur daran dachte. Sie wollte nicht, dass irgendjemand an ihr nuckelte. Lunke hatte da gut reden – er musste sich nur irgendwie von hinten nähern und das Eine machen, von dem sie immer noch nicht genau wusste, was es war. Den Rest würde sie erledigen müssen.

Liebte sie Lunke?

Ja, das war die große Frage, die über allem stand. Konnte sie einen wilden Schwarzen lieben, der ein großes Maul hatte, sich oft und gerne in den See stürzte, um sich zu suhlen, und frühmorgens ins Dorf lief, um völlig furchtlos Blumenzwiebeln auszugraben?

Sie wusste es nicht. Doch sie wusste, dass es ihr gefiel, neben ihm im hohen Gras zu liegen, seinen Geruch einzuatmen … Vielleicht war das ja schon Liebe …

Ach, es war alles zu verwirrend. Sie seufzte. Das Leben war kompliziert, wenn man nicht wie Brunst mit Fressen und Saufen zufrieden war.

Gegen Morgen schreckte Kim plötzlich auf. Hatte sie geschlafen? Sie wusste es nicht genau. Sie erhob sich. Im Schlaf hatte sie einen Entschluss gefasst: Sie würde auf der Wiese bleiben, bei Che und den anderen. Hier war ihr Platz. Schläfrig trabte sie zur offenen Tür.

Doktor Pik hatte die Augen geöffnet und schaute sie an. »Kommst du wieder?«, fragte er leise, als hätte er längst ihre Gedanken erraten.

Sie drehte sich um. »Ja«, sagte sie. »Ich muss Lunke nur etwas ausrichten. Bin bald zurück.«

Draußen begannen die ersten Vögel zu singen. Die Sonne zog auf; ein paar Wolken waren am Himmel. Tau bedeckte die Wiese oder genauer das, was der gefräßige Brunst von ihr übrig gelassen hatte. Eigentlich ein schöner Tag, doch Kim fühlte Trauer. Lunke würde es nicht verstehen – er hielt sich für den Schönsten, Stärksten. Und vermutlich würde er sich dann der dämlichen Michelle zuwenden. Kim spürte einen Stich. Ach, am liebsten wäre ihr, es würde sich nichts verändern. Sie würde hin und wieder in den Wald traben, Lunke sehen, mit ihm ein Bad nehmen und ihn abweisen, wenn er zu aufdringlich wurde. Verdammte Rauschzeit!

Der Durchschlupf war verschlossen. Deng hatte in seiner Ordnungsliebe den Zaunpfahl wieder aufgerichtet. Kim versuchte sich zu erinnern, wie Lunke stets mit seinen Hinterläufen ausholte. Sollte sie es auch versuchen, um den Pfosten umzuwerfen? Sie stellte sich mit den Hinterflanken zum Zaun und holte aus, doch sie traf nicht den Pfahl, sondern geriet mit einer Klaue in den Draht. Ein höllischer Schmerz durchzuckte sie. Verdammt!

»Ach, Kleine!«, rief Lunke zu ihr hinüber. »Ich kann gar nicht mit ansehen, was du alles tust, um zu mir zu gelangen.« Er lachte dreckig. »Mach mal Platz!«

Kim bekam kaum mit, wie schnell er mit seinen Hinterläufen austrat. Mit einem lauten Ächzen stürzte der Pfosten um. »Wünsche fröhlichen Ausgang!« Lunke lächelte. »Da kann euer kleiner Grinser nachher wieder kommen und an dem Pfahl rumbasteln. Wird nicht viel nutzen.«

»Er heißt Deng«, sagte Kim, »und er kümmert sich wirklich sehr fürsorglich um uns.« Sie wollte es rasch hinter sich bringen – ihre Botschaft loswerden. Du, Lunke, du bist ja ganz nett, aber ich habe mir überlegt … Ja, so ähnlich sollte sie es anstellen, doch als sie sich umdrehte, war Lunke verschwunden. Nein, er war nicht zurück in den Wald, sondern am Rand entlanggetrabt.

»He«, rief er. »Ich habe eine neue Futterstelle ausfindig gemacht. Da können wir in aller Ruhe erst was fressen und dann reden.«

Ich glaube nicht, dass das so eine gute Idee ist, wollte sie ihm nachrufen, doch er hatte sich schon wieder umgedreht. Es tat ihr leid, ihm wehtun zu müssen, aber irgendwie fiel ihr keine andere Lösung ein. Denn was würde sein, wenn Lunke zu ihr in den Stall zog? Nein, undenkbar. Doktor Pik hätte es noch toleriert, und Cecile hätte es großartig gefunden, einem wilden Schwarzen all ihre Fragen stellen zu können, aber Che und Brunst hätten es bestimmt nicht ertragen.

»Hier ist es!«, rief Lunke und deutete mit dem Kopf auf einen Flecken üppig wachsenden Farn. »Schmeckt köstlich!« Er biss herzhaft hinein und kaute.

Plötzlich hatte Kim das Gefühl, dass er sie nur deshalb hierher geführt hatte, weil er im Wald ungebetene Lauscher fürchtete – wie etwa Michelle, die sich als Schwarze gewiss leise anpirschen konnte.

»He, warum frisst du denn nichts!« Lunke trabte auf sie zu. »Machst du dir Sorgen wegen Michelle? Babe, das ist nichts Ernstes, wirklich nicht!« Er grinste so breit, dass man seine schiefen Zähne sehen konnte. So grinsen konnte nur er. Che lachte fast nie, und Brunst fraß nur ständig …

Irgendwie wurde sie immer wehmütiger und trauriger.

Sie schluckte und starrte Lunke an; er hatte den Kopf ein wenig schief gelegt, während er sie musterte.

»Nun, Lunke«, begann sie, »ich wollte dir etwas sagen … Es ehrt mich sehr, und ich mag dich auch …«

»Toll«, unterbrach Lunke sie. »Genau das wollte ich hören. Großartig, können wir also weiterfressen und danach alles Weitere besprechen …«

»Nein, warte!«, rief Kim, doch er hatte seinen riesigen Kopf schon wieder in den Farn gesteckt und schmatzte. »Da ist noch etwas … Ich muss dir leider mitteilen …« Sie verstummte abrupt. Am Waldrand, von der anderen Seite näherte sich jemand – zwei Gestalten. Sie zerrten einen Karren hinter sich her, der verdächtig dem Gefährt ähnelte, mit dem am Abend Jan vom Hof transportiert worden war.

Lunke zog seinen Kopf zurück. »Babe, solltest du wirklich auch probieren«, meinte er kauend. »Du musst dich jetzt stärken  – wir wollen doch nicht, dass du schlappmachst, wo wir beide uns endlich einig sind und die Rauschzeit …«

»Sei still!«, raunte sie ihm zu. Sie machte drei Schritte an Lunke vorbei, um die Gestalten genauer in Augenschein nehmen zu können.