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Friedrich Reck

Auf der Flucht

Ein Berlin/Buenos Aires-Krimidrama aus den 1920er Jahren

Friedrich Reck

Auf der Flucht

Ein Berlin/Buenos Aires-Krimidrama aus den 1920er Jahren

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019
1. Auflage, ISBN 978-3-954188-59-8

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Inhaltsverzeichnis

Über kri­mis­chaet­ze.de

Über den Au­tor

Über die­ses Buch

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kri­mis­chaet­ze.de

Dan­ke

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Über krimischaetze.de

Kri­mi­nal­ro­ma­ne sind heut­zu­ta­ge er­folg­reich wie nie. Kri­mi-Klas­si­ker? Da den­ken die meis­ten so­fort an Aga­tha Chris­tie (1890-1976) oder Ed­gar Wal­lace (1875-1932). Tat­säch­lich ge­hör­ten die bri­ti­schen Au­to­ren zu den ers­ten, die in den »wil­den« 1920er Jah­ren ins Deut­sche über­setzt wur­den. Kri­mi-Fans ken­nen oft auch den Schwei­zer Fried­rich Glau­ser (1896-1938), den Na­mens­ge­ber des Glau­ser-Prei­ses – eine der wich­tigs­ten Aus­zeich­nun­gen für deutsch­spra­chi­ge Kri­mi-Au­to­ren. Wie viel­fäl­tig die Kri­mi-Sze­ne in der Wei­ma­rer Re­pu­blik war, ist in der brei­ten Öf­fent­lich­keit je­doch voll­kom­men in Ver­ges­sen­heit ge­ra­ten. Für kri­mis­chaet­ze.de ha­ben sich Jür­gen Schul­ze, Ver­le­ger des Null Pa­pier-Ver­la­ges, und Se­bas­ti­an Brück, Au­tor und Jour­na­list, zu­sam­men­ge­tan, um alte Kri­mi-Best­sel­ler neu zu ent­de­cken und als E-Book ver­füg­bar zu ma­chen – über­ar­bei­tet, in neu­er Recht­schrei­bung und mit er­klä­ren­den Fuß­no­ten ver­se­hen.

Über den Autor

Fried­rich Per­cyval Reck-Mal­lec­ze­wen, ei­gent­lich Fried­rich (Fritz) Reck (1884-1945) ist heut­zu­ta­ge in ers­ter Li­nie durch sei­ne post­hum ver­öf­fent­lich­ten Ta­ge­bü­cher be­kannt, in de­nen er sich von 1936 bis 1944 scho­nungs­los mit der Dik­ta­tur der Na­tio­nal­so­zia­lis­ten aus­ein­an­der­setz­te. In Mün­chen war der Au­tor ein be­kann­tes Ge­sicht der Bohè­me und mach­te aus sei­ner Ver­ach­tung für Hit­ler nie einen Hehl. Nach ei­ner De­nun­zia­ti­on wur­de der er 1945 ins KZ Dach­au ge­bracht, wo er kurz dar­auf un­ter nicht ge­klär­ten Um­stän­den verstarb. Ge­mein­sam mit sei­ner Ehe­frau ver­steck­te Reck-Mal­lec­ze­wen eine be­freun­de­te Jü­din auf sei­nem Land­gut im Chiem­gau vor der Ge­sta­po. 2014 wur­de er da­für von der Ge­denk­stät­te Yad Vas­hem als »Ge­rech­ter un­ter den Völ­kern« ge­ehrt.

Reck-Mal­lec­ze­wens schrift­stel­le­ri­sche Vor­bild war der Schot­te Ro­bert Louis Ste­ven­son. Sein von zahl­rei­chen Rei­sen in an­de­re Län­der ge­präg­tes un­ter­hal­tungs­li­te­ra­ri­sches Werk ist heu­te weit­ge­hend in Ver­ges­sen­heit ge­ra­ten. Zu Reck-Mal­lec­ze­wens Leb­zei­ten wur­den sei­ne Bü­cher ins Schwe­di­sche, Spa­ni­sche, Ita­lie­ni­sche, Fran­zö­si­sche, Nie­der­län­di­sche und Eng­li­sche über­setzt. Auf der eng­lisch­spra­chi­gen Ebay-Sei­te wer­den sei­ne Wer­ke heu­te ger­ne mit dem Slo­gan »Book ban­ned by Adolf Hit­ler« an­ge­prie­sen.

Über dieses Buch

Ber­lin, zu Zei­ten der Wei­ma­rer Re­pu­blik: Ei­gent­lich läuft es gut im Le­ben der jun­gen Sif Bengt­son, Toch­ter von schwe­di­schen Ein­wan­de­rern. Sie hat Rob­by, einen Kunst­ma­ler aus wohl­ha­ben­der Fa­mi­lie, ken­nen­ge­lernt. Doch dann ge­rät sie völ­lig un­vor­her­ge­se­hen in einen Stru­del un­heil­vol­ler Er­eig­nis­se – und lässt sich mit­zie­hen: Am Sams­tag in der Ma­ri­en­kir­che Rob­by ge­hei­ra­tet, am Sonn­tag Hünd­chen Binky er­schla­gen, am Mon­tag ver­se­hent­lich bei Schwa­ger Lex über­nach­tet, am Diens­tag die Wit­we Grand­jean er­würgt, am Mitt­woch ins Ex­zel­sior­ho­tel ge­flüch­tet, am Don­ners­tag früh kraft ei­nes ta­del­lo­sen, na­gel­neu­en Pas­ses ver­wan­delt in die ar­gen­ti­ni­sche Staats­an­ge­hö­ri­ge Ani­ta The­si­ger, Dol­met­sche­rin und Se­kre­tä­rin des Oberst Mi­ra­mon.

Mi­ra­mon nimmt Sif mit nach Bue­nos Ai­res. Schnell wird klar, dass der Oberst nicht der un­ei­gen­nüt­zi­ge Be­schüt­zer ist, für den er sich aus­gibt. Eine atem­lo­se »Flucht auf der Flucht« be­ginnt, bis die ver­meint­li­che Mör­de­rin Sif zum über­ra­schen­den Fina­le doch wie­der in Ber­lin lan­det ...

In die­sem schnell ge­schnit­te­nen Krimi­dra­ma spie­gelt Fried­rich Reck die dunklen Sei­ten von Ber­lin und Bue­nos Ai­res. Sein­er­zeit war das Buch sehr er­folg­reich, wur­de auch ins Eng­li­sche und Fran­zö­si­sche über­setzt und 1927 mit den Stars Gre­te Mos­heim und Paul We­ge­ner ver­filmt (»Arme klei­ne Sif«). Mit die­ser Aus­ga­be ist es erst­mals sei den 1920er Jah­ren wie­der er­hält­lich – an die neue Recht­schrei­bung an­ge­passt und mit er­klä­ren­den Fuß­no­ten ver­se­hen.

Cher­pens Bin­scham, dem Land­strei­cher und Hans Bei­ser, dem Dich­ter, Walz­bru­der und Ka­me­ra­den ge­wid­met

Eu­sta­che Graf zu Pla­ter-Sy­berg an »Fritz« Reck-Mal­lec­ze­wen.

Mein lie­ber Reck!

Sechs Jah­re ist es her, dass ich Sie al­ten ca­me­lot du roi in Mün­chen sah, sechs Jah­re, dass ich ge­gen ver­le­ge­ri­sche In­do­lenz an mei­nem sehr be­schei­de­nen Tei­le Ihrem lei­der noch im­mer ein­zi­gen Dra­ma die Wege eb­ne­te. Und dann er­reich­te mich Ihr Brief mit sei­nen Be­kennt­nis­sen von Eu­ro­pa­mü­dig­keit und Re­si­gna­ti­on, die­ser Brief, in dem Sie mir ein re­si­gnier­tes Buch ver­hie­ßen. Und nun, da die­ses Buch vor mir liegt: mein lie­ber al­ter Jun­ge, wo denn ist Ihre Re­si­gna­ti­on, Ihre Mü­dig­keit? Jung und stark wie je ei­nes von Ih­rer Hand ist es, und ich hof­fe, Afri­ka wird Ih­nen in­zwi­schen die letz­ten Ge­dan­ken von Eu­ro­paflucht ver­scheucht ha­ben!

Las­sen Sie sich nicht dü­pie­ren von Ihren Zeit­ge­nos­sen, al­ter Kampf­ge­nos­se! Dass Sie von Ihren deut­schen Li­te­ra­ten, den Horn­bril­len­trä­gern, die­sen hoff­nungs­lo­sen See­len-Uhr­ma­chern für einen Kri­mi­nal­ro­man­cier ge­hal­ten wer­den, weil Sie Tem­po und Schwung ha­ben, weil Ihre Fi­gu­ren nicht schwat­zen, son­dern han­deln: das, lie­ber Reck, ge­hört zu Ih­nen, le­gi­ti­miert Sie vor den we­ni­gen be­sinn­li­chen Kri­ti­kern der Zeit. Denn der große Epi­ker – be­her­zi­gen Sie das auch in Zu­kunft – spricht ja nicht aus, was er denkt: Er ver­schwin­det hin­ter sei­nen Wer­ken. Ja, sa­gen Sie mir, wo in die­sem Ro­man von Lu­ci­en de Ru­bem­pré etwa Balzac, wo in der No­vel­le der »Tol­len Män­ner« Ihr großer Lehr­meis­ter Ste­ven­son zu ent­de­cken wäre?

Er­zäh­len kön­nen heißt ver­schwei­gen.

Sich selbst vor al­lem ver­schwei­gen! Den­ke ich aber an Sie, der so bit­ter mit lei­det mit der großen ge­gen­wär­ti­gen Not von Mensch, Land­schaft und Krea­tur … sehe ich dann Ihre Bü­cher an, wo Sie so bla­siert, als gin­ge das al­les Sie nicht an, im Klub­ses­sel ge­wis­ser­ma­ßen von den Got­tes­we­gen Ih­rer Fi­gu­ren er­zäh­len: Dann weiß ich, dass Sie in Deutsch­land, wo die Kunst des Er­zäh­lens nie zu Hau­se war, ei­ner der ganz we­ni­gen sind, die die ein­sa­me, die wun­der­vol­le Gabe des großen Epi­kers be­sit­zen.

Wie, man ver­kennt Sie? Man sieht nicht Ihren bäu­risch un­be­irr­ten Glau­ben an die rei­ni­gen­de Kraft der Land­schaft? Man schilt Sie einen düs­te­ren Pes­si­mis­ten, weil Ihre Fi­gu­ren statt auf den Pols­tern ei­nes Rolls-Roy­ce-Wa­gens im­mer auf dem Schüd­de­r­ump, auf dem Pest­kar­ren Ihres see­li­schen Nähr­va­ters Raa­be1 zu Gott ge­fah­ren wer­den?

Lie­ber Reck, wenn es in Ihrem ar­men, ab­ge­hetz­ten Lan­de wirk­lich so ist: was ficht Sie es an?

Weil Sie von Schnei­de­rin­nen und Drosch­ken­kut­schern miss­ver­stan­den wer­den, weil man an Ih­nen gar den aus Ame­ri­ka nun auch bei Ih­nen ein­ge­schlepp­ten gro­ben Un­fug des »hap­py end« ver­misst: Des­we­gen wol­len Sie ver­ein­sa­men? Es le­ben trotz­dem, mein lie­ber Jun­ge, in Eu­ro­pa noch ein paar tau­send letz­ter Men­schen, die wis­sen, dass es nur ein ein­zi­ge­s hap­py end gibt: näm­lich aus dem gan­zen, zum Tode ver­ur­teil­ten Spuk von Ver­nig­ge­rung2 und Mecha­ni­sie­rung sei­ne See­le ret­ten. Auch um den Preis des phy­si­schen Ster­bens!

Sie aber, der aus der Erde ge­kom­me­ne und im Bo­den wur­zeln­de Jun­ker, Sie lie­ben un­se­re Zeit nicht. Und wenn Sie sie lie­ben, so lie­ben Sie sie mit Ihrem gan­zen gi­gan­ti­schen Has­se. Wol­len Sie sich da wun­dern, wenn Ihre »Smo­king­be­sit­zer«, wenn die­se ar­men La­kai­en, die vor her­ab­ge­brann­ten Lich­tern an ab­ge­ges­se­ner Ta­fel heu­te Ge­sell­schaft spie­len: wenn die­ses of­fi­zi­el­le Eu­ro­pa sich Ih­nen ver­schließt, Zau­ber­ber­ge er­klimmt, statt in jene Ka­ta­kom­ben hin­ab­zu­stei­gen, in de­nen, wie einst die ers­ten Chris­ten, Ihre letz­ten Men­schen woh­nen?

Sie aber wis­sen um den gi­gan­ti­schen Kampf zwi­schen Land­schaft und Tech­nik, zwi­schen Ma­schi­ne und See­le. Wie kaum ei­ner ken­nen Sie, der Wel­ten­wan­de­rer, die wun­der­voll­teuf­li­schen Mecha­nis­men der Welt­städ­te, das Ver­dor­ren und die Sehn­süch­te ih­rer Men­schen. Ja, blei­ben und wer­den Sie das, was Sie sind: der großen Städ­te Epi­ker.

Sie al­ter Raub­rit­ter wer­den ja doch früh­zei­tig ge­nug in ir­gend­ei­nem Aben­teu­er Ihren Ab­gang von die­ser Welt fin­den. Leb­ten Sie aber wirk­lich lan­ge ge­nug: Sie wür­den es se­hen, dass eben die­se un­ter­ir­di­schen Men­schen, de­ren Schick­sal Sie er­zäh­len, aus ih­ren Grüf­ten stei­gen, in de­nen sie heu­te le­ben müs­sen. Em­por­stei­gen und dank­bar Ihre Hand fas­sen, mein al­ter Jun­ge.

Von je­ner Dame aus New York, die aus dem Sa­lon kommt und im Chi­ne­seng­het­to en­det, von je­ner No­vel­le, wo von »sei­nem ahor­nen Thron un­ter herbst­gel­ber Bir­ke der große Bau­ern­gott der öst­li­chen Men­schen« pre­digt: bis zu die­ser klei­nen Sif, die als gleich­gül­ti­ge Bür­gers­frau wee­kend im Gru­ne­wald fei­ert und mit dem un­sicht­ba­ren Hei­li­gen­schein von dan­nen geht, ist die Rei­he Ih­rer Wer­ke ein großes ver­pflich­ten­des Ver­spre­chen.

Lö­sen Sie’s ein!

Vor Ih­nen lie­gen die großen Ge­fech­te Ihres Le­bens, den­ken Sie dar­an! Ge­hen Sie wei­ter und wan­dern Sie Ru­he­lo­ser durch die Welt und be­her­zi­gen Sie selbst je­nes schö­ne, männ­lich-tie­fe Crom­well­wort,3 das Sie mir neu­lich schrie­ben: »Nie steigt ein Mann hö­her, als wenn er nicht weiß, wo­hin er geht.«

Es gilt Ih­nen, es ruft Sie auf, des großen Welt­en­got­tes ge­lieb­ten Rauf­bold!

Po­si­ta­no, 3. Juli 26.

Ihr
Pla­ter-Sy­berg.


  1. »Der Schüd­de­r­ump« ist ein 1869 er­schie­ne­ner Ro­man von Wil­helm Raa­be (1831-1910)  <<<

  2. Zu dem aus heu­ti­ger Sicht klar ras­sis­ti­schen, da­mals aber nicht nur von Na­zis be­nutz­ten Be­griff »Ver­nig­ge­rung« schreibt Joa­chim Fest in DER SPIEGEL Nr. 3/1967: »(..) Hier wie dort stößt man, in der für die kon­ser­va­ti­ve Kul­tur­kri­tik be­zeich­nen­den Mi­schung von Scharf­blick und gänz­li­cher Wirk­lich­keits­ver­feh­lung, auf einen bis zum li­te­ra­ri­schen Er­bre­chen ge­stei­ger­ten Ab­scheu vor dem 19. Jahr­hun­dert und al­lem, was es meint: Li­be­ra­lis­mus und Ra­tio­na­lis­mus, Tech­nik und Fort­schritts­glau­ben, Herr­schaft der Bour­geoi­sie, Ver­städ­te­rung, Ent­wur­ze­lung und Ver­mas­sung be­zie­hungs­wei­se, wie Reck nicht un­gern for­mu­liert, Ver­nig­ge­rung. (…)«  <<<

  3. Oli­ver Crom­well, 1599-1658, Lord­pro­tek­tor von Eng­land, Schott­land und Ir­land  <<<

1

Es gibt Ber­li­ner Stra­ßen, die so fins­ter und schau­rig sind, als schaue man in die Mün­dung ei­ner Ka­no­ne. Und so bar al­ler äu­ße­ren Ehren sind die­se Stra­ßen, dass die­se Ehr­lo­sig­keit selbst auf ihre Kir­chen ab­färbt, und dass es scheint, als wer­de hier ein be­son­de­rer, auf For­ma­li­tä­ten we­nig Wert le­gen­der Gott ver­ehrt.

Und so, wie die­se ti­ta­ni­sche Stadt, heu­te dar­in schon dem Gi­gan­ten New York ähn­lich, sich ein Sla­wen- und ein Chi­ne­sen­vier­tel an­zu­le­gen be­ginnt, wie es in ihr eth­no­gra­fisch und re­gio­nal be­ding­te Las­ter, Um­gangs­for­men und Spei­se­kar­ten gibt: So zeu­gen auch die Kir­chen die­ser Stadt, die hier vor­nehm ist wie al­ter Bro­kat1 und dort ge­mein wie Press­kris­tall, von ei­nem durch das je­wei­li­ge Stadt­vier­tel ge­präg­ten Got­tes­be­griff.

Dass, wer die Hed­wigs­kir­che2 be­sucht, vor­nehm ist, wie ein Malthe­ser­rit­ter, hängt, da Ka­tho­li­ken hier nun ein­mal rar sind wie Thun­fi­sche im Wann­see, mit der Sel­ten­heit der Kon­fes­si­on zu­nah­men.

Da­für aber gibt es höchst pro­tes­tan­ti­sche Kir­chen mit vor­wie­gend weib­li­chen und ade­li­gen Ge­mein­den, da steht ein ju­gend­li­cher Di­vi­si­ons­pfar­rer auf der Kan­zel mit ro­sa­rot po­lier­ten Nä­geln und weiß ei­gent­lich selbst nicht ge­nau, ob er nicht am Ende ein Gar­de­leut­nant ist. Ist aber der Gott, von dem er spricht, nicht ein an­de­rer als der, der etwa in der Lich­ten­ber­ger Glau­bens­kir­che ver­ehrt wird?

Ich für mein Teil habe mei­ne ei­ge­nen Ge­dan­ken über den Gott der im neu­en Wes­ten von Ge­hei­men Re­gie­rungs­baurä­ten zu schau­ri­gen Got­tes­läs­te­run­gen auf­ge­türm­ten Mons­ter­kir­chen. Und selbst vor die­ser Be­haup­tung will ich nicht zu­rück­schre­cken, dass Ehen, die etwa in der Par­ochi­al­kir­che3 ge­schlos­sen sind, an­ders ver­lau­fen, als die aus der Kai­ser-Wil­helm-Ge­dächt­nis­kir­che stam­men­den, wo die Braut­paa­re so vor­nehm sind, dass sie wäh­rend der Trau­ung sit­zen und wo auf der Or­gelem­po­re ein aus­ge­kräh­ter Te­nor singt: »Wo du hin­gehst, da will auch ich hin­ge­hen.«

Was dann durch den wei­te­ren Ver­lauf die­ser Ehen ja meis­tens de­men­tiert wird.

Was nun aber für ein Gott über der Ehe der klei­nen Sif ge­wal­tet hat, die an ei­nem an­er­kannt scheuß­li­chen Ok­t­ober­sams­tag des Jah­res 1922 in der Ber­li­ner Ma­ri­en­kir­che4 mit dem klei­nen Kunst­ma­ler Rob­by ge­traut wur­de: Dies will ich lie­ber nicht un­ter­su­chen. Dass die Rit­ter un­se­rer lie­ben Frau, die einst die­ser Kir­che den Na­men ga­ben, über den Kur­fürs­ten­damm rit­ten, ist schon all­zu lan­ge her. Und da steht nun der Dom, um­braust von dem fer­nen Don­ner der La­st­au­to­mo­bi­le und der irr­sin­ni­gen Kla­via­tur der Bosch­hör­ner5 … steht un­zeit­ge­mäß in die­sem Ber­lin wie ein ka­tho­li­scher Mär­ty­rer, der sich’s ein­fal­len lie­ße, mit sei­nen Fol­ter­werk­zeu­gen die Bar des Ad­lon-Ho­tels zu be­tre­ten.

Und so wol­len wir dann auch lie­ber von dem al­ten go­ti­schen Gott, der einst so eine Frau­en­hand durch die fest­ge­füg­te klei­ne Welt lei­te­te von Kinds­bet­ten und Tau­fen und Ster­ben und viel Leid und spär­li­chen Freu­den … Nein, wir wol­len von ihm lie­ber nicht spre­chen. Und von dem an­de­ren, der es zu lie­ben scheint, dass sei­ne Ge­schöp­fe tief in den Staub fal­len und der ei­gent­lich ein Gott der Men­schen­kin­der mit zwei Jah­ren und sechs Mo­na­ten Zucht­haus ist: Von ihm las­sen sich einst­wei­len nur sol­che höchst ein­fa­che Ge­schich­ten er­zäh­len wie die die­ser klei­nen Li­tho­gra­fen­toch­ter, die an je­nem an­er­kannt scheuß­li­chen Ok­to­ber­ta­ge des Jah­res 1922 Rob­by hei­ra­te­te.

Dass die­se Hei­rat in der Ma­ri­en­kir­che sich voll­zog, ob­wohl sie ei­gent­lich doch in den Wes­ten ge­hört hät­te, lag wohl dar­an, dass der Bräu­ti­gam als Kunst­ma­ler für go­ti­sche Dome schwärm­te. Und wenn es der ab­ge­le­ge­nen Kir­che zum Trotz eine ganz erst­klas­si­ge Hoch­zeit war mit ro­tem Plüsch und Pal­men, so war es eben eine erst­klas­si­ge Fa­mi­lie, in die die klei­ne Sif hei­ra­te­te … eine Fa­mi­lie mit Re­gie­rungs­rä­ten und Staats­an­wäl­ten; und selbst­ver­ständ­lich woll­te eine sol­che Fa­mi­lie durch das Äu­ße­re der Trau­ung al­lein es ver­de­cken oder wie­der gut­ma­chen, dass ihr Rob­by eine klei­ne ver­wais­te Hand­wer­ker­toch­ter hei­ra­te­te, de­ren Va­ter von ir­gend­wo­her, von Schwe­den, vom Mon­de oder aus ei­nem Mär­chen ein­ge­wan­dert war.

Item6: in dem Ok­to­ber­wind, un­ter den Bot­tich­güs­sen des Re­gens fah­ren die Kut­schen auf. Und die Kut­schen ent­lee­ren Ma­jo­re a. D. und alte Jus­tiz­rä­tin­nen, die ei­gent­lich wie freund­li­che Kro­ko­di­le aus­se­hen. Und alte hoch­be­ti­tel­te Roués7 stei­gen aus, Ge­hei­me Räte mit ge­stei­ger­tem Blut­druck und Or­den auf Blind­darm und Milz; Freun­de des Bräu­ti­gams … Aka­de­mie­jüng­lin­ge mit Wel­t­an­schau­ung und ge­lie­he­nem Frack … Staats­an­walt Alex­an­der, Lex ge­nannt, Rob­bys Bru­der, statt­li­cher Mann mit Hit­ler­bart un­ter der Nase und Peau d’Espa­gne im Ta­schen­tuch.

Und dann wie­der Da­men … Braut­jung­fern und alte Da­men mit re­prä­sen­ta­ti­ven Staats­ro­ben, de­ren Sil­ber­or­na­men­te si­cher­lich von ei­nem erst­klas­si­gen Spe­zia­lis­ten für Fleck­ty­phus und Ma­ser­naus­schlag ent­wor­fen sind.

Wie nun die klei­ne Sif, ohne zu ah­nen, wie schön sie ist in ih­rer her­ben Jung­mäd­chen­pracht … wie sie alle Gaf­fer glück­lich pas­siert hat und das In­ne­re be­tritt, da eben ge­schieht et­was höchst Selt­sa­mes: dass näm­lich in dem Mit­tel­gang, der doch sorg­fäl­tig frei­ge­hal­ten ist für den Braut­zug, ein Mann steht, der sie al­lem An­schein nach nicht an sich vor­über­las­sen will.

Und selt­sam ist, dass Rob­by den Mann gar nicht zu se­hen scheint, und sehr selt­sam ist die­ses bart­lo­se alte Ge­sicht mit den großen trau­ri­gen Au­gen, das gar nicht zu dem ei­gent­lich kna­ben­haf­ten Kör­per pas­sen will. Und höchst son­der­bar ist auch das Ding, das der Frem­de da in der Hand schwenk­t… eine Hals­ket­te oder ein Ro­sen­kranz … und das Al­ler­selt­sams­te ist, dass er in dem glei­chen Au­gen­blick, wo Sif ihn ins Auge fasst, auch schon ver­schwun­den ist.

Eine Sin­ne­stäu­schung also und nichts wei­ter! Sie geht tap­fer ge­ra­de­aus auf den Al­tar zu, geht über alte in die Flie­sen ein­ge­leg­te Grab­stei­ne, de­ren Fi­gu­ren wie Pfef­fer­ku­chen­män­ner aus­se­hen, geht und ist durch­aus ent­schlos­sen, das alte trau­ri­ge Ge­sicht des Ne­bel­man­nes zu ver­ges­sen. Aber dann eben setzt das vol­le Werk der Or­gel ein, und halb ist das sehr schreck­haft wie die Po­sau­ne des Jüngs­ten Ge­rich­tes, und halb wie­der er­in­nert es sie an die Jahr­markts­mu­sik zu Schau­er­bil­dern, die sie als Kind ge­se­hen hat: der Damp­fer »Ti­ta­nic« geht un­ter mit hän­de­rin­gen­den Men­schen und fun­ken­stie­ben­den Ka­mi­nen und grel­len Schein­wer­fer­bah­nen … Raub­mör­der Ster­ni­ckel8 be­an­sprucht sechs Bil­der mit tür­kisch­rot ge­mal­ten Blut- und Le­ber­wurst­tra­gö­di­en, und den ar­men Rus­sen, die ge­ra­de in die ma­su­ri­schen Seen sprin­gen müs­sen, geht es auch gar nicht gut bei die­ser schreck­li­chen Or­gel­mu­sik.

Und wenn die klei­ne Braut sich auch gleich er­in­nert, dass es höchst un­pas­send ist, mit sol­chen Erin­ne­run­gen vor den Tisch des Herrn zu tre­ten, so muss sie sich doch schon in ei­ner un­er­klär­li­chen Mat­tig­keit auf den Arm des staats­an­walt­li­chen Schwa­gers Lex stüt­zen, der als Braut­mar­schall ne­ben ihr geht. Und dann wie­der ist es die­ser süß­li­che Hauch, der aus den un­ter­ir­di­schen Ge­heim­nis­sen der Dom­grüf­te kom­men mag, und dann wie­der die­se all­zu enge Hoch­zeits­ro­be und end­lich wie­der die Erin­ne­rung an den rät­sel­haf­ten Men­schen vor­hin im Gang.

Noch kämpft sie tap­fer mit dem Schwin­del, der an ihr zerrt. Aber dann fällt ihr Blick ge­ra­de auf das Bild mit dem To­ten­tanz, und da muss sie se­hen, wie ein braun­be­le­der­tes To­ten­ge­rip­pe ge­ra­de so eine klei­ne Sif-braut aus den Ar­men ei­nes mit­tel­al­ter­li­chen Rob­by reißt, und am Ende ver­fan­gen in den Ge­wöl­ben oben sich die­se schreck­haf­ten Po­sau­nen der Or­gel und stür­zen sich nie­der in über­mäch­ti­gen Ton­ka­ta­rak­ten auf eine klei­ne auf­ge­reg­te Braut. Und plötz­lich wird vor ih­ren Au­gen ein Cha­os von Lich­tern und Or­gel­tö­nen und ro­tem Plüsch und sil­ber­be­stick­ten Kro­ko­di­len, und Tat­sa­che ist es, dass auf die­ser kor­rek­ten Trau­ung die Braut ohn­mäch­tig vor dem Al­tar liegt.

Die Or­gel bricht ab mit kläg­li­chem Mi­au­en, der Skan­dal ist fer­tig. Da­lie­gend fühlt sie, wie je­mand ih­ren Kopf tief la­gert, wie eine Hand, die brei­te be­haar­te Hand ei­nes Orang-Utan an ih­rer Robe nes­telt. Und nun kommt die­se ab­scheu­li­che Hand, nun legt sie sich mit wi­der­li­cher Wär­me auf ihr Fleisch, nun weht ein Ge­misch von Peau d’Espa­gne,9 und männ­li­chem Be­geh­ren sie an … ein ab­scheu­lich gei­ler Hauch, der die Mu­mie ei­ner Isispries­te­rin aus tau­send­jäh­ri­gem Schlaf er­we­cken wür­de: Ne­ben der Furcht vor dem Skan­dal ist es ei­gent­lich der Ekel vor die­sem Bro­dem10 der sie auf­schreckt aus ih­rer Ohn­macht. Als sie sich auf­rich­tet, er­kennt sie, dass es ihr Schwa­ger Lex ge­we­sen ist, der sich da um sie be­müht hat.

Dann steht sie wie­der an Rob­bys Sei­te und klam­mert sich an sei­nen Arm. Dann gibt es ein paar halb­lau­te Wor­te zwi­schen Braut­füh­rer und dem Geist­li­chen, dann winkt der Geist­li­che dem Or­ga­nis­ten zu wie ein mit­tel­al­ter­li­cher Ge­richts­herr dem Hen­ker, dann fah­ren wie­der durch die Ge­wöl­be, über die Grüf­te der ver­weh­ten To­ten die Don­ner des Ge­rich­tes: Ein zwan­zig­jäh­ri­ges schö­nes Ge­schöpf kämpft, da es auf ei­ner erst­klas­si­gen Hoch­zeit kei­nen Skan­dal ge­ben darf, ihre töd­li­che Schwä­che nie­der und ver­spricht dem klei­nen Jun­gen an ih­rer Sei­te, ihm treu zu sein, bis dass der Tod sie schei­de.

Und dann die­se Hoch­zeits­ta­fel mit den schö­nen Tisch­re­den … On­kel Mi­nis­te­ri­al­rat mit dem Haus­or­den »zum Hal­se her­aus« … Schwa­ger Lex mit der be­haar­ten brei­ten Hand und dem ob­szö­nen ro­ten Stein im Sie­gel­ring: ein statt­li­cher Mann, ein Mann wie ein Stier… wie man sich nur hat fürch­ten kön­nen vor sol­chem Man­ne!

Und dann end­lich Rob­bys arm­se­li­ge Ate­lier­woh­nung nicht gar weit vom Schle­si­schen Bahn­hof11 … der Mor­gen, an dem man, die Hand ge­füllt mit Herr­lich­kei­ten, er­wacht als jun­ges Weib … die­ser Mor­gen, der alle Re­gen­wol­ken ver­scheucht und einen letz­ten bren­nend schö­nen Ok­to­ber­tag her­auf­ge­führt hat. Und da ei­nes bis­lang er­folg­lo­sen klei­nen Kunst­ma­lers Hoch­zeits­rei­se sich ge­ra­de bis zu ei­nem der klei­nen Gru­ne­wald­seen er­stre­cken kann, so sit­zen an die­sem Nach­mit­tage eng an­ein­an­der­ge­schmiegt die bei­den Men­schen­kin­der in dem schüt­teren Wal­de zwi­schen fort­ge­wor­fe­nen Eier­scha­len und Zi­ga­ret­te­ne­tu­is und all die­sen häss­li­chen Re­si­du­en der Groß­stadt, ko­chen auf Spi­ri­tus eine ma­ge­re Erb­sen­sup­pe, füt­tern mit den Res­ten das Ba­stard­hünd­chen »Binky«, das Sif als ein­zi­ges Braut­gut in die Ehe mit­ge­bracht hat.

Und Rad­fah­rer­ver­ei­ne kom­men vor­über auf der na­hen Stra­ße, die ha­ben in Form von bun­ten Fähn­chen ihre po­li­ti­sche Ge­sin­nung auf ih­rer Lenk­stan­ge ge­hisst … klei­ne Bü­ro­mäd­chen dann, die, um nur nicht schon prä­nu­me­ran­do12 den Schreib­ma­schi­nen­lärm des nächs­ten Ta­ges in den Ohren zu ha­ben, so jäm­mer­lich laut zu ei­ner zwei­fel­haf­ten Beglei­tung Lau­ten­lie­der sin­gen. Und bru­ta­ler Lärm kommt von der Gar­ten­wirt­schaft des Jagd­schlos­ses, das sich in­mit­ten von Wei­ber­ge­kreisch und Kin­der­ge­quäk nach den Hift­hör­nern13 und der Wal­des­s­til­le ver­gan­ge­ner Jahr­hun­der­te sehnt, und un­barm­her­zig wie ges­tern im Dom dröh­nen von der an­de­ren See­sei­te, von den Rum­mel­plät­zen die Or­che­strio­ne der Ach­ter­bah­nen, ver­mengt zu ei­nem ab­scheu­li­chen Brei mit dem Kei­fen zan­ken­der Ehe­paa­re und dem Hu­pen­ge­heul der Höl­len­wa­gen auf der Stra­ße.

Ja, da sit­zen sie und ver­su­chen, die häss­li­chen Be­mer­kun­gen zu über­hö­ren, die vor­über­zie­hen­de halb­wüch­si­ge Lüm­mel ih­rer Ver­liebt­heit zu­schi­cken, über­tö­nen mit ih­ren Zu­kunfts­plä­nen die ge­hei­me Angst vor dem »Knock out« der großen schreck­li­chen Stadt: Mor­gen schon fährt Rob­by nach Mün­chen, ver­han­delt über sei­ne Gra­phi­ken mit ei­nem Ver­le­ger … gib acht, klei­ne Sif, nach vier Ta­gen ist er zu­rück, be­han­gen mit Auf­trä­gen wie ein Weih­nachts­baum … im nächs­ten Jah­re muss man stun­den­lang bei Rob­by an­ti­cham­brie­ren, wenn man sich por­trä­tie­ren las­sen will bei ihm … im nächs­ten Jah­re schon ma­chen sie sich frei von der großen Stadt … ja, um Got­tes wil­len, wo ist ei­gent­lich Binky ge­blie­ben?

Dort un­ten auf der Stra­ße, wo eben mit flat­tern­den Fah­nen der Jung­trupp der po­li­ti­schen Kon­gre­ga­ti­on »Neu­es Le­ben« vor­über­ge­zo­gen ist und nach sich eine Wol­ke von Ge­gröhl und Staub zieht, dort un­ten liegt als win­seln­des klei­nes Bün­del Binky, der es of­fen­bar ge­wagt hat, einen der Jüng­lin­ge an­zu­kläf­fen, und dem ein Stock­hieb das Rück­grat ge­bro­chen hat: lang­ge­zo­ge­nes Heu­len, zier­li­che wei­ße Vor­der­pföt­chen, die nach sich den ge­lähm­ten Hin­ter­leib schlep­pen … arme, um Gna­de bet­teln­de Au­gen, in de­nen schon der Tod um­geht …

»Töte es«, schluchzt die klei­ne Sif und weiß ge­nau, was hier noch zu tun ist … »so töte es doch end­lich!«

Und da, als Rob­by nichts an­de­res kann, als mit hem­mungs­lo­sem Wei­nen zu er­wi­dern, da ge­schieht et­was Selt­sa­mes: Sie stampft wü­tend mit dem Fuß, sie fährt Rob­by an, sie bricht, als al­les nichts nützt, einen so­li­den Knüp­pel ab, sie schlägt zu … zwei­mal, drei­mal, bis das klei­ne Bün­del still liegt. Dann geht sie wei­nend in den Wald, um dem to­ten Binky sein Hun­de­grab zu gra­ben.

Auf der abend­li­chen Heim­fahrt dann der rohe Kampf um die Plät­ze … Men­schen, die wie Trau­ben an den Wa­gen hän­gen … Ge­brüll der heim­keh­ren­den Fuß­ball­mann­schaft »Cam­per­down« … die Ver­liebt­heit, mit der sie sich dann doch um­schlin­gen in­mit­ten all des ro­hen Lärms … der ers­te Zwi­schen­fall die­ser Ehe scheint über­wun­den.

Fol­gen­des er­eig­net sich am nächs­ten Abend: Rob­bys Kof­fer sind ge­packt, um sie­ben sit­zen sie in der Stadt­bahn, um acht Uhr wol­len sie sich mit Schwa­ger Lex in der Bar des Ex­cel­sior­ho­tels tref­fen, bis um neun Rob­bys Zug geht. Und dann, wäh­rend der Fahrt, vom Fluss her­auf der fri­sche Wind mit dem Hauch von Teer und Was­ser, die Stadt, die ih­ren Syn­ko­pen­rhyth­mus von Tram­bahnklin­geln und Hu­pen­lärm her­auf­schickt, die schö­nen Lich­ter­dia­de­me der stumm vor­über­glei­ten­den Fern­zü­ge: Rei­se­lust, Le­bens­mut … si­cher­lich bringt Rob­by aus Mün­chen einen gan­zen Kof­fer zu­rück mit er­füll­ten Sif-Wün­schen.

In der Nähe des Alex­an­der­bahn­ho­fes ge­schieht es, dass der Herr, der als ein­zi­ger Mit­pas­sa­gier ih­nen ge­gen­über­sitzt, die klei­ne Sif in höchst un­zwei­deu­ti­ger Wei­se zu fi­xie­ren be­ginnt: gu­ter Ver­die­ner mit voll­blü­ti­gem Ge­sicht … auf der Wes­te des blau­en An­zu­ges eine fet­te Hand mit Bril­lant­ge­schwü­ren … wo sah man schon sol­che Hand, und wo spür­te man schon ein­mal die­sen schwei­ßi­gen Hauch des Be­geh­rens, der von die­sem Men­schen nun zu ihr kommt?

Sie steht auf, starrt, um den schmie­ri­gen Bli­cken, den halb­laut ge­mur­mel­ten Be­mer­kun­gen zu ent­ge­hen, durchs Fens­ter, fragt, um Un­be­fan­gen­heit zu heu­cheln, ob der Bör­sen­bahn­hof vor dem der Fried­rich­stra­ße kom­me, setzt sich schließ­lich wie­der.

Es ge­schieht zwi­schen bei­den Bahn­hö­fen – hier, wo die Miet­ka­ser­nen ihre ver­räu­cher­ten Rück­fron­ten scham­los wie kah­le Hin­tern prä­sen­tie­ren mit er­leuch­te­ten gar­di­nen­lo­sen Fens­tern und auf­ge­schwemm­ten Män­nern in ver­schwitz­ten Woll­hem­den und ver­härm­ten krebs­kran­ken Fünf­zi­ge­rin­nen in nie ge­lüf­te­ten Wohn­kü­chen — hier in dem Halb­dun­kel des schlecht er­leuch­te­ten Coupés ge­schieht es, dass der an­de­re plötz­lich, völ­lig über­zeugt von der Un­wi­der­steh­lich­keit sei­ner Rei­ze, sei­ne Hand auf ihr Knie legt.

Und nun ist es schon ge­sche­hen, das Ent­setz­li­che: Es ist der klei­ne überz­ar­te Rob­by, der dem an­de­ren ins Ge­sicht schlägt … ein­mal, zwei­mal … es ist Rob­by, der im nächs­ten Au­gen­blick selbst tau­melt un­ter ei­nem Brust­stoß, es sind bei­de Män­ner, die im nächs­ten Au­gen­blick rin­gend am Bo­den lie­gen.

Wer der Sie­ger bleibt in die­sem Kampf, kann ja nicht zwei­fel­haft sein: Zu­erst reißt der an­de­re Rob­by hoch, wirft ihn mit dem Kopf ge­gen die Coupé­tür, wälzt sich über ihn mit sei­nem schwe­ren Kör­per. Es nutzt Rob­by zu nichts, dass er sich in die­ser Stel­lung noch ge­gen den, der über ihm kniet, mit schwäch­li­chen von un­ten ge­führ­ten Schlä­gen wehrt: Am Ende kommt die­se feis­te Hand, dreht den klei­nen Ma­ler ein­fach um, stößt ihn un­ter har­ten Be­schimp­fun­gen mit dem Ge­sicht, wie man einen jun­gen Hund mit der Nase in sei­ne Sün­den stupft, auf den Bo­den die­ses Vo­r­ort­coupés, auf dem seit die­sem Mor­gen Ar­bei­ter, Zu­häl­ter, Kon­sis­to­ri­al­rä­te und Gym­na­sias­ten ihre Früh­stücks­res­te und alle sons­ti­gen Spu­ren ih­res Er­den­wan­dels hin­ter­las­sen ha­ben.

Der Kampf en­det un­mit­tel­bar vor der Fried­rich­stra­ße. Der Sie­ger hält, als der Zug steht, noch eine freund­li­che an Rob­by ge­rich­te­te Rede, droht für den Fall der Wie­der­ho­lung ei­nes sol­chen An­grif­fes die Wehr­macht des deut­schen Staa­tes, die Po­li­zei, die gött­li­che Vor­se­hung in Be­we­gung zu set­zen, wid­met der sü­ßen klei­nen Sif ein Schelt­wort, vor dem ein Ham­bur­ger Zu­häl­ter vor Scham in den Bo­den sin­ken wür­de, ist zu se­hen, wie er an der Sei­te ei­ner un­wahr­schein­lich ele­gan­ten Dame im Fond ei­ner Au­to­drosch­ke ver­schlun­gen wird von dem brül­len­den Ra­chen der Fried­rich­stra­ße.

Und dann ras­selt der Om­ni­bus mit dem ver­prü­gel­ten Rob­by und sei­ner Gat­tin das Rie­sen­ther­mo­me­ter der Fried­rich­stra­ße ent­lang vor­bei an dem gan­zen un­hei­li­gen Ge­trie­be von Schau­fens­tern und blit­zen­der Tal­mi­pracht, an Gro­schen-Au­to­ma­ten und Bar­knei­pen mit zwei­fel­haf­ten Würs­ten und Stra­ßen­händ­lern mit hoch­ge­stell­ten Sarot­ti­kis­ten und Dir­nen und Ta­schen­die­ben und In­fla­ti­ons­dan­dys in krach­neu­en Le­der­män­teln. Er sitzt ge­duckt und ver­prü­gelt da mit zer­knit­ter­ter Wä­sche und blu­ten­der Lip­pe, er würgt die halb­lau­ten spöt­ti­schen Be­mer­kun­gen der Nach­barn her­un­ter, er weiß, dass sie sich sei­ner nun schä­men muss, die klei­ne Sif.

»Bleib’ hier und war­te.« Sie fer­tigt ihn sehr kurz ab vor der rie­si­gen Dreh­tür des Ho­tels, sie über­lässt ihn ein­fach der Neu­gier des Por­tiers … un­mög­lich, ihn hin­ein­zu­neh­men in die­sem Zu­stan­de. Sie fühlt, dass sie ei­gent­lich roh han­delt an ihm, sie könn­te sich selbst prü­geln da­für und weiß es doch nicht an­ders …

Da steht sie in die­ser Hal­le mit Geld­ma­chern, Hoch­zeits­paa­ren, hun­dert­pfer­di­gen Ben­zin­rit­tern, Smo­king­be­sit­zern und ver­hüll­ten So­wje­tagen­ten, klagt ihr Leid dem Schwa­ger Lex, der da in sei­nem un­ta­de­li­gen Abend­an­zug sie er­war­tet hat, schluchzt vor Är­ger über den ver­dor­be­nen Abend, über die Schmach.

»Un­er­hört«, sagt der Schwa­ger Lex und zahlt und geht mit ihr hin­aus zu dem Häuf­chen Elend, das da drau­ßen war­tet. Und dann wird Rob­by klar­ge­macht, dass er in die­ser Ver­fas­sung un­mög­lich hin­ein dür­fe, dass man doch eben­so gut auf dem Bahn­steig war­ten kön­ne. Und schließ­lich wird Rob­by von dem äl­te­ren Bru­der – ge­nau wie ein klei­ner Schul­bub, der mit ei­nem neu­en An­zug in eine Pfüt­ze ge­fal­len ist – in die Waschräu­me des An­hal­ter Bahn­hofs zur Ran­gie­rung sei­nes An­zugs ge­schickt, mit al­len sei­nen Plä­nen und Hoff­nun­gen, nach­dem man noch ein­sil­big eine hal­be Stun­de pro­me­niert hat, in den Münch­ner Schnell­zug ver­frach­tet. Und da ge­schieht es dann doch, dass sie, die sich des klei­nen hilflo­sen Jun­gen noch eben ge­schämt hat, ur­plötz­lich al­lem Pro­test­ge­schrei tü­ren­schlie­ßen­der Schaff­ner zum Trotz das Coupé noch ein­mal stürmt und ihn wei­nend um­armt … ein letz­tes und noch ein al­ler­letz­tes Mal, als müss­te sie sich tren­nen von ihm für ewi­ge Zei­ten.

Unend­li­che Trau­er be­schleicht sie, als sie die ro­ten Schluss­lich­ter des Zu­ges ver­schwin­den sieht. Am As­ka­ni­schen Platz, den sie am Arm ih­res Schwa­gers über­schrei­tet, sto­ßen sie auf einen Men­schen­auf­lauf: ein Blin­den­hund, der sei­nen Herrn durch den Wa­gen­strom hat ge­lei­ten sol­len, hat, ver­wirrt von dem Rie­sen­wir­bel des Ver­kehrs, einen ein­bie­gen­den feu­er­ro­ten Höl­len­wa­gen über­se­hen. Der Hund ist un­be­schä­digt ge­blie­ben; von sei­nem Herrn, der eben wie in einen Back­ofen ein Stück Brot in den Sch­lund des schwar­zen Un­fall­wa­gens ge­scho­ben wird, ist nur ein mä­ßi­ger, mit Ap­fel­scha­len und Öl­spu­ren un­ter­misch­ter Blut­fleck üb­rig.

Ein Po­li­zist no­tiert die Zeu­gen, zwei Drosch­ken­chauf­feu­re raun­zen halb­laut auf die un­er­wünsch­te Er­fin­dung des Fuß­gän­gers, un­ter den her­um­ste­hen­den Sach­ver­stän­di­gen des Pub­li­kums ha­ben sie­ben min­des­tens acht ver­schie­de­ne Mei­nun­gen: in der Mit­te un­tröst­lich, dass ihm das hat pas­sie­ren müs­sen, steht mit schwe­fel­gel­ben, rat­los nach dem ver­schwun­de­nen Herrn su­chen­den Au­gen der große schwar­ze Kö­nigs­pu­del, hebt hilf­los die Pfo­te, bricht in ein lang­ge­zo­ge­nes kläg­li­ches Heu­len aus, das den gan­zen Höl­len­lärm des Plat­zes über­tönt.

Sie strei­chelt den wol­li­gen Ne­ger­kopf, der Jam­mer der klei­nen ar­men Krea­tur greift nach ihr, aus Kin­der­zei­ten ein un­end­lich trau­ri­ger Vers fällt ihr ein:

Der Mond, der scheint,

Das Kind­lein weint.

Die Uhr schlägt zwölf,

Dass Gott doch al­len Kran­ken helf …

Da hat der Hund ur­plötz­lich die Wit­te­rung des Fleckes auf der Erde in die Nase be­kom­men, drängt sich vor­über an zwei halb­wüch­si­gen Bur­schen, emp­fängt einen Fuß­tritt, quit­tiert mit schmerz­li­chem Jau­len, setzt im Ga­lopp dem Wa­gen nach, der in­zwi­schen auf sei­nem Wege nach Nor­den, nach den großen Kran­ken­häu­sern ver­schwun­den ist im Ge­wühl der Stra­ße.

Nein, un­ter kei­nen Um­stän­den lässt es der Schwa­ger Lex zu, dass sie in die­ser trü­ben Stim­mung nach Hau­se geht: hin­ein noch ein­mal in die Bar und mit weißem Bur­gun­der den Abend ein­ge­renkt!

Und wie­der sitzt sie in den wei­chen Klub­ses­seln des nie­de­ren Rau­mes, gießt, um die Trau­rig­keit los­zu­wer­den, zwei große Kel­che Hau­tes Sau­ter­nes her­un­ter, sucht sich zu zer­streu­en an dem Thea­ter der großen Hal­le: Ge­ne­ral­kon­sul Stu­demund aus Ham­burg hat doch zwei Zim­mer ohne Bad vor­aus­be­stellt zum Don­ner­wet­ter … Herr Per­zin­ski aus Wien wird von ei­nem Drei­kä­se­hoch in Ho­te­l­uni­form ans Te­le­fon di­ri­giert … Frau Ge­ne­ral­di­rek­tor Kru­se ist die Hand­ta­sche nebst Bar­geld und Schmuck ab­han­den ge­kom­men …

Ir­gend­je­mand in der Nach­bar­lo­ge muss sie wohl fi­xie­ren! Sie kann nichts se­hen, ihr Rücken ist dort­hin ge­wandt … sie fühlt trotz­dem deut­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­