Friedrich Reck
Auf der Flucht
Ein Berlin/Buenos Aires-Krimidrama aus den 1920er Jahren
Friedrich Reck
Auf der Flucht
Ein Berlin/Buenos Aires-Krimidrama aus den 1920er Jahren
Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019
1. Auflage, ISBN 978-3-954188-59-8
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Jürgen Schulze
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Kriminalromane sind heutzutage erfolgreich wie nie. Krimi-Klassiker? Da denken die meisten sofort an Agatha Christie (1890-1976) oder Edgar Wallace (1875-1932). Tatsächlich gehörten die britischen Autoren zu den ersten, die in den »wilden« 1920er Jahren ins Deutsche übersetzt wurden. Krimi-Fans kennen oft auch den Schweizer Friedrich Glauser (1896-1938), den Namensgeber des Glauser-Preises – eine der wichtigsten Auszeichnungen für deutschsprachige Krimi-Autoren. Wie vielfältig die Krimi-Szene in der Weimarer Republik war, ist in der breiten Öffentlichkeit jedoch vollkommen in Vergessenheit geraten. Für krimischaetze.de haben sich Jürgen Schulze, Verleger des Null Papier-Verlages, und Sebastian Brück, Autor und Journalist, zusammengetan, um alte Krimi-Bestseller neu zu entdecken und als E-Book verfügbar zu machen – überarbeitet, in neuer Rechtschreibung und mit erklärenden Fußnoten versehen.
Friedrich Percyval Reck-Malleczewen, eigentlich Friedrich (Fritz) Reck (1884-1945) ist heutzutage in erster Linie durch seine posthum veröffentlichten Tagebücher bekannt, in denen er sich von 1936 bis 1944 schonungslos mit der Diktatur der Nationalsozialisten auseinandersetzte. In München war der Autor ein bekanntes Gesicht der Bohème und machte aus seiner Verachtung für Hitler nie einen Hehl. Nach einer Denunziation wurde der er 1945 ins KZ Dachau gebracht, wo er kurz darauf unter nicht geklärten Umständen verstarb. Gemeinsam mit seiner Ehefrau versteckte Reck-Malleczewen eine befreundete Jüdin auf seinem Landgut im Chiemgau vor der Gestapo. 2014 wurde er dafür von der Gedenkstätte Yad Vashem als »Gerechter unter den Völkern« geehrt.
Reck-Malleczewens schriftstellerische Vorbild war der Schotte Robert Louis Stevenson. Sein von zahlreichen Reisen in andere Länder geprägtes unterhaltungsliterarisches Werk ist heute weitgehend in Vergessenheit geraten. Zu Reck-Malleczewens Lebzeiten wurden seine Bücher ins Schwedische, Spanische, Italienische, Französische, Niederländische und Englische übersetzt. Auf der englischsprachigen Ebay-Seite werden seine Werke heute gerne mit dem Slogan »Book banned by Adolf Hitler« angepriesen.
Berlin, zu Zeiten der Weimarer Republik: Eigentlich läuft es gut im Leben der jungen Sif Bengtson, Tochter von schwedischen Einwanderern. Sie hat Robby, einen Kunstmaler aus wohlhabender Familie, kennengelernt. Doch dann gerät sie völlig unvorhergesehen in einen Strudel unheilvoller Ereignisse – und lässt sich mitziehen: Am Samstag in der Marienkirche Robby geheiratet, am Sonntag Hündchen Binky erschlagen, am Montag versehentlich bei Schwager Lex übernachtet, am Dienstag die Witwe Grandjean erwürgt, am Mittwoch ins Exzelsiorhotel geflüchtet, am Donnerstag früh kraft eines tadellosen, nagelneuen Passes verwandelt in die argentinische Staatsangehörige Anita Thesiger, Dolmetscherin und Sekretärin des Oberst Miramon.
Miramon nimmt Sif mit nach Buenos Aires. Schnell wird klar, dass der Oberst nicht der uneigennützige Beschützer ist, für den er sich ausgibt. Eine atemlose »Flucht auf der Flucht« beginnt, bis die vermeintliche Mörderin Sif zum überraschenden Finale doch wieder in Berlin landet ...
In diesem schnell geschnittenen Krimidrama spiegelt Friedrich Reck die dunklen Seiten von Berlin und Buenos Aires. Seinerzeit war das Buch sehr erfolgreich, wurde auch ins Englische und Französische übersetzt und 1927 mit den Stars Grete Mosheim und Paul Wegener verfilmt (»Arme kleine Sif«). Mit dieser Ausgabe ist es erstmals sei den 1920er Jahren wieder erhältlich – an die neue Rechtschreibung angepasst und mit erklärenden Fußnoten versehen.
Cherpens Binscham, dem Landstreicher und Hans Beiser, dem Dichter, Walzbruder und Kameraden gewidmet
Eustache Graf zu Plater-Syberg an »Fritz« Reck-Malleczewen.
Mein lieber Reck!
Sechs Jahre ist es her, dass ich Sie alten camelot du roi in München sah, sechs Jahre, dass ich gegen verlegerische Indolenz an meinem sehr bescheidenen Teile Ihrem leider noch immer einzigen Drama die Wege ebnete. Und dann erreichte mich Ihr Brief mit seinen Bekenntnissen von Europamüdigkeit und Resignation, dieser Brief, in dem Sie mir ein resigniertes Buch verhießen. Und nun, da dieses Buch vor mir liegt: mein lieber alter Junge, wo denn ist Ihre Resignation, Ihre Müdigkeit? Jung und stark wie je eines von Ihrer Hand ist es, und ich hoffe, Afrika wird Ihnen inzwischen die letzten Gedanken von Europaflucht verscheucht haben!
Lassen Sie sich nicht düpieren von Ihren Zeitgenossen, alter Kampfgenosse! Dass Sie von Ihren deutschen Literaten, den Hornbrillenträgern, diesen hoffnungslosen Seelen-Uhrmachern für einen Kriminalromancier gehalten werden, weil Sie Tempo und Schwung haben, weil Ihre Figuren nicht schwatzen, sondern handeln: das, lieber Reck, gehört zu Ihnen, legitimiert Sie vor den wenigen besinnlichen Kritikern der Zeit. Denn der große Epiker – beherzigen Sie das auch in Zukunft – spricht ja nicht aus, was er denkt: Er verschwindet hinter seinen Werken. Ja, sagen Sie mir, wo in diesem Roman von Lucien de Rubempré etwa Balzac, wo in der Novelle der »Tollen Männer« Ihr großer Lehrmeister Stevenson zu entdecken wäre?
Erzählen können heißt verschweigen.
Sich selbst vor allem verschweigen! Denke ich aber an Sie, der so bitter mit leidet mit der großen gegenwärtigen Not von Mensch, Landschaft und Kreatur … sehe ich dann Ihre Bücher an, wo Sie so blasiert, als ginge das alles Sie nicht an, im Klubsessel gewissermaßen von den Gotteswegen Ihrer Figuren erzählen: Dann weiß ich, dass Sie in Deutschland, wo die Kunst des Erzählens nie zu Hause war, einer der ganz wenigen sind, die die einsame, die wundervolle Gabe des großen Epikers besitzen.
Wie, man verkennt Sie? Man sieht nicht Ihren bäurisch unbeirrten Glauben an die reinigende Kraft der Landschaft? Man schilt Sie einen düsteren Pessimisten, weil Ihre Figuren statt auf den Polstern eines Rolls-Royce-Wagens immer auf dem Schüdderump, auf dem Pestkarren Ihres seelischen Nährvaters Raabe1 zu Gott gefahren werden?
Lieber Reck, wenn es in Ihrem armen, abgehetzten Lande wirklich so ist: was ficht Sie es an?
Weil Sie von Schneiderinnen und Droschkenkutschern missverstanden werden, weil man an Ihnen gar den aus Amerika nun auch bei Ihnen eingeschleppten groben Unfug des »happy end« vermisst: Deswegen wollen Sie vereinsamen? Es leben trotzdem, mein lieber Junge, in Europa noch ein paar tausend letzter Menschen, die wissen, dass es nur ein einziges happy end gibt: nämlich aus dem ganzen, zum Tode verurteilten Spuk von Verniggerung2 und Mechanisierung seine Seele retten. Auch um den Preis des physischen Sterbens!
Sie aber, der aus der Erde gekommene und im Boden wurzelnde Junker, Sie lieben unsere Zeit nicht. Und wenn Sie sie lieben, so lieben Sie sie mit Ihrem ganzen gigantischen Hasse. Wollen Sie sich da wundern, wenn Ihre »Smokingbesitzer«, wenn diese armen Lakaien, die vor herabgebrannten Lichtern an abgegessener Tafel heute Gesellschaft spielen: wenn dieses offizielle Europa sich Ihnen verschließt, Zauberberge erklimmt, statt in jene Katakomben hinabzusteigen, in denen, wie einst die ersten Christen, Ihre letzten Menschen wohnen?
Sie aber wissen um den gigantischen Kampf zwischen Landschaft und Technik, zwischen Maschine und Seele. Wie kaum einer kennen Sie, der Weltenwanderer, die wundervollteuflischen Mechanismen der Weltstädte, das Verdorren und die Sehnsüchte ihrer Menschen. Ja, bleiben und werden Sie das, was Sie sind: der großen Städte Epiker.
Sie alter Raubritter werden ja doch frühzeitig genug in irgendeinem Abenteuer Ihren Abgang von dieser Welt finden. Lebten Sie aber wirklich lange genug: Sie würden es sehen, dass eben diese unterirdischen Menschen, deren Schicksal Sie erzählen, aus ihren Grüften steigen, in denen sie heute leben müssen. Emporsteigen und dankbar Ihre Hand fassen, mein alter Junge.
Von jener Dame aus New York, die aus dem Salon kommt und im Chinesenghetto endet, von jener Novelle, wo von »seinem ahornen Thron unter herbstgelber Birke der große Bauerngott der östlichen Menschen« predigt: bis zu dieser kleinen Sif, die als gleichgültige Bürgersfrau weekend im Grunewald feiert und mit dem unsichtbaren Heiligenschein von dannen geht, ist die Reihe Ihrer Werke ein großes verpflichtendes Versprechen.
Lösen Sie’s ein!
Vor Ihnen liegen die großen Gefechte Ihres Lebens, denken Sie daran! Gehen Sie weiter und wandern Sie Ruheloser durch die Welt und beherzigen Sie selbst jenes schöne, männlich-tiefe Cromwellwort,3 das Sie mir neulich schrieben: »Nie steigt ein Mann höher, als wenn er nicht weiß, wohin er geht.«
Es gilt Ihnen, es ruft Sie auf, des großen Weltengottes geliebten Raufbold!
Positano, 3. Juli 26.
Ihr
Plater-Syberg.
»Der Schüdderump« ist ein 1869 erschienener Roman von Wilhelm Raabe (1831-1910) <<<
Zu dem aus heutiger Sicht klar rassistischen, damals aber nicht nur von Nazis benutzten Begriff »Verniggerung« schreibt Joachim Fest in DER SPIEGEL Nr. 3/1967: »(..) Hier wie dort stößt man, in der für die konservative Kulturkritik bezeichnenden Mischung von Scharfblick und gänzlicher Wirklichkeitsverfehlung, auf einen bis zum literarischen Erbrechen gesteigerten Abscheu vor dem 19. Jahrhundert und allem, was es meint: Liberalismus und Rationalismus, Technik und Fortschrittsglauben, Herrschaft der Bourgeoisie, Verstädterung, Entwurzelung und Vermassung beziehungsweise, wie Reck nicht ungern formuliert, Verniggerung. (…)« <<<
Oliver Cromwell, 1599-1658, Lordprotektor von England, Schottland und Irland <<<
Es gibt Berliner Straßen, die so finster und schaurig sind, als schaue man in die Mündung einer Kanone. Und so bar aller äußeren Ehren sind diese Straßen, dass diese Ehrlosigkeit selbst auf ihre Kirchen abfärbt, und dass es scheint, als werde hier ein besonderer, auf Formalitäten wenig Wert legender Gott verehrt.
Und so, wie diese titanische Stadt, heute darin schon dem Giganten New York ähnlich, sich ein Slawen- und ein Chinesenviertel anzulegen beginnt, wie es in ihr ethnografisch und regional bedingte Laster, Umgangsformen und Speisekarten gibt: So zeugen auch die Kirchen dieser Stadt, die hier vornehm ist wie alter Brokat1 und dort gemein wie Presskristall, von einem durch das jeweilige Stadtviertel geprägten Gottesbegriff.
Dass, wer die Hedwigskirche2 besucht, vornehm ist, wie ein Maltheserritter, hängt, da Katholiken hier nun einmal rar sind wie Thunfische im Wannsee, mit der Seltenheit der Konfession zunahmen.
Dafür aber gibt es höchst protestantische Kirchen mit vorwiegend weiblichen und adeligen Gemeinden, da steht ein jugendlicher Divisionspfarrer auf der Kanzel mit rosarot polierten Nägeln und weiß eigentlich selbst nicht genau, ob er nicht am Ende ein Gardeleutnant ist. Ist aber der Gott, von dem er spricht, nicht ein anderer als der, der etwa in der Lichtenberger Glaubenskirche verehrt wird?
Ich für mein Teil habe meine eigenen Gedanken über den Gott der im neuen Westen von Geheimen Regierungsbauräten zu schaurigen Gotteslästerungen aufgetürmten Monsterkirchen. Und selbst vor dieser Behauptung will ich nicht zurückschrecken, dass Ehen, die etwa in der Parochialkirche3 geschlossen sind, anders verlaufen, als die aus der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche stammenden, wo die Brautpaare so vornehm sind, dass sie während der Trauung sitzen und wo auf der Orgelempore ein ausgekrähter Tenor singt: »Wo du hingehst, da will auch ich hingehen.«
Was dann durch den weiteren Verlauf dieser Ehen ja meistens dementiert wird.
Was nun aber für ein Gott über der Ehe der kleinen Sif gewaltet hat, die an einem anerkannt scheußlichen Oktobersamstag des Jahres 1922 in der Berliner Marienkirche4 mit dem kleinen Kunstmaler Robby getraut wurde: Dies will ich lieber nicht untersuchen. Dass die Ritter unserer lieben Frau, die einst dieser Kirche den Namen gaben, über den Kurfürstendamm ritten, ist schon allzu lange her. Und da steht nun der Dom, umbraust von dem fernen Donner der Lastautomobile und der irrsinnigen Klaviatur der Boschhörner5 … steht unzeitgemäß in diesem Berlin wie ein katholischer Märtyrer, der sich’s einfallen ließe, mit seinen Folterwerkzeugen die Bar des Adlon-Hotels zu betreten.
Und so wollen wir dann auch lieber von dem alten gotischen Gott, der einst so eine Frauenhand durch die festgefügte kleine Welt leitete von Kindsbetten und Taufen und Sterben und viel Leid und spärlichen Freuden … Nein, wir wollen von ihm lieber nicht sprechen. Und von dem anderen, der es zu lieben scheint, dass seine Geschöpfe tief in den Staub fallen und der eigentlich ein Gott der Menschenkinder mit zwei Jahren und sechs Monaten Zuchthaus ist: Von ihm lassen sich einstweilen nur solche höchst einfache Geschichten erzählen wie die dieser kleinen Lithografentochter, die an jenem anerkannt scheußlichen Oktobertage des Jahres 1922 Robby heiratete.
Dass diese Heirat in der Marienkirche sich vollzog, obwohl sie eigentlich doch in den Westen gehört hätte, lag wohl daran, dass der Bräutigam als Kunstmaler für gotische Dome schwärmte. Und wenn es der abgelegenen Kirche zum Trotz eine ganz erstklassige Hochzeit war mit rotem Plüsch und Palmen, so war es eben eine erstklassige Familie, in die die kleine Sif heiratete … eine Familie mit Regierungsräten und Staatsanwälten; und selbstverständlich wollte eine solche Familie durch das Äußere der Trauung allein es verdecken oder wieder gutmachen, dass ihr Robby eine kleine verwaiste Handwerkertochter heiratete, deren Vater von irgendwoher, von Schweden, vom Monde oder aus einem Märchen eingewandert war.
Item6: in dem Oktoberwind, unter den Bottichgüssen des Regens fahren die Kutschen auf. Und die Kutschen entleeren Majore a. D. und alte Justizrätinnen, die eigentlich wie freundliche Krokodile aussehen. Und alte hochbetitelte Roués7 steigen aus, Geheime Räte mit gesteigertem Blutdruck und Orden auf Blinddarm und Milz; Freunde des Bräutigams … Akademiejünglinge mit Weltanschauung und geliehenem Frack … Staatsanwalt Alexander, Lex genannt, Robbys Bruder, stattlicher Mann mit Hitlerbart unter der Nase und Peau d’Espagne im Taschentuch.
Und dann wieder Damen … Brautjungfern und alte Damen mit repräsentativen Staatsroben, deren Silberornamente sicherlich von einem erstklassigen Spezialisten für Flecktyphus und Masernausschlag entworfen sind.
Wie nun die kleine Sif, ohne zu ahnen, wie schön sie ist in ihrer herben Jungmädchenpracht … wie sie alle Gaffer glücklich passiert hat und das Innere betritt, da eben geschieht etwas höchst Seltsames: dass nämlich in dem Mittelgang, der doch sorgfältig freigehalten ist für den Brautzug, ein Mann steht, der sie allem Anschein nach nicht an sich vorüberlassen will.
Und seltsam ist, dass Robby den Mann gar nicht zu sehen scheint, und sehr seltsam ist dieses bartlose alte Gesicht mit den großen traurigen Augen, das gar nicht zu dem eigentlich knabenhaften Körper passen will. Und höchst sonderbar ist auch das Ding, das der Fremde da in der Hand schwenkt… eine Halskette oder ein Rosenkranz … und das Allerseltsamste ist, dass er in dem gleichen Augenblick, wo Sif ihn ins Auge fasst, auch schon verschwunden ist.
Eine Sinnestäuschung also und nichts weiter! Sie geht tapfer geradeaus auf den Altar zu, geht über alte in die Fliesen eingelegte Grabsteine, deren Figuren wie Pfefferkuchenmänner aussehen, geht und ist durchaus entschlossen, das alte traurige Gesicht des Nebelmannes zu vergessen. Aber dann eben setzt das volle Werk der Orgel ein, und halb ist das sehr schreckhaft wie die Posaune des Jüngsten Gerichtes, und halb wieder erinnert es sie an die Jahrmarktsmusik zu Schauerbildern, die sie als Kind gesehen hat: der Dampfer »Titanic« geht unter mit händeringenden Menschen und funkenstiebenden Kaminen und grellen Scheinwerferbahnen … Raubmörder Sternickel8 beansprucht sechs Bilder mit türkischrot gemalten Blut- und Leberwursttragödien, und den armen Russen, die gerade in die masurischen Seen springen müssen, geht es auch gar nicht gut bei dieser schrecklichen Orgelmusik.
Und wenn die kleine Braut sich auch gleich erinnert, dass es höchst unpassend ist, mit solchen Erinnerungen vor den Tisch des Herrn zu treten, so muss sie sich doch schon in einer unerklärlichen Mattigkeit auf den Arm des staatsanwaltlichen Schwagers Lex stützen, der als Brautmarschall neben ihr geht. Und dann wieder ist es dieser süßliche Hauch, der aus den unterirdischen Geheimnissen der Domgrüfte kommen mag, und dann wieder diese allzu enge Hochzeitsrobe und endlich wieder die Erinnerung an den rätselhaften Menschen vorhin im Gang.
Noch kämpft sie tapfer mit dem Schwindel, der an ihr zerrt. Aber dann fällt ihr Blick gerade auf das Bild mit dem Totentanz, und da muss sie sehen, wie ein braunbeledertes Totengerippe gerade so eine kleine Sif-braut aus den Armen eines mittelalterlichen Robby reißt, und am Ende verfangen in den Gewölben oben sich diese schreckhaften Posaunen der Orgel und stürzen sich nieder in übermächtigen Tonkatarakten auf eine kleine aufgeregte Braut. Und plötzlich wird vor ihren Augen ein Chaos von Lichtern und Orgeltönen und rotem Plüsch und silberbestickten Krokodilen, und Tatsache ist es, dass auf dieser korrekten Trauung die Braut ohnmächtig vor dem Altar liegt.
Die Orgel bricht ab mit kläglichem Miauen, der Skandal ist fertig. Daliegend fühlt sie, wie jemand ihren Kopf tief lagert, wie eine Hand, die breite behaarte Hand eines Orang-Utan an ihrer Robe nestelt. Und nun kommt diese abscheuliche Hand, nun legt sie sich mit widerlicher Wärme auf ihr Fleisch, nun weht ein Gemisch von Peau d’Espagne,9 und männlichem Begehren sie an … ein abscheulich geiler Hauch, der die Mumie einer Isispriesterin aus tausendjährigem Schlaf erwecken würde: Neben der Furcht vor dem Skandal ist es eigentlich der Ekel vor diesem Brodem10 der sie aufschreckt aus ihrer Ohnmacht. Als sie sich aufrichtet, erkennt sie, dass es ihr Schwager Lex gewesen ist, der sich da um sie bemüht hat.
Dann steht sie wieder an Robbys Seite und klammert sich an seinen Arm. Dann gibt es ein paar halblaute Worte zwischen Brautführer und dem Geistlichen, dann winkt der Geistliche dem Organisten zu wie ein mittelalterlicher Gerichtsherr dem Henker, dann fahren wieder durch die Gewölbe, über die Grüfte der verwehten Toten die Donner des Gerichtes: Ein zwanzigjähriges schönes Geschöpf kämpft, da es auf einer erstklassigen Hochzeit keinen Skandal geben darf, ihre tödliche Schwäche nieder und verspricht dem kleinen Jungen an ihrer Seite, ihm treu zu sein, bis dass der Tod sie scheide.
Und dann diese Hochzeitstafel mit den schönen Tischreden … Onkel Ministerialrat mit dem Hausorden »zum Halse heraus« … Schwager Lex mit der behaarten breiten Hand und dem obszönen roten Stein im Siegelring: ein stattlicher Mann, ein Mann wie ein Stier… wie man sich nur hat fürchten können vor solchem Manne!
Und dann endlich Robbys armselige Atelierwohnung nicht gar weit vom Schlesischen Bahnhof11 … der Morgen, an dem man, die Hand gefüllt mit Herrlichkeiten, erwacht als junges Weib … dieser Morgen, der alle Regenwolken verscheucht und einen letzten brennend schönen Oktobertag heraufgeführt hat. Und da eines bislang erfolglosen kleinen Kunstmalers Hochzeitsreise sich gerade bis zu einem der kleinen Grunewaldseen erstrecken kann, so sitzen an diesem Nachmittage eng aneinandergeschmiegt die beiden Menschenkinder in dem schütteren Walde zwischen fortgeworfenen Eierschalen und Zigarettenetuis und all diesen hässlichen Residuen der Großstadt, kochen auf Spiritus eine magere Erbsensuppe, füttern mit den Resten das Bastardhündchen »Binky«, das Sif als einziges Brautgut in die Ehe mitgebracht hat.
Und Radfahrervereine kommen vorüber auf der nahen Straße, die haben in Form von bunten Fähnchen ihre politische Gesinnung auf ihrer Lenkstange gehisst … kleine Büromädchen dann, die, um nur nicht schon pränumerando12 den Schreibmaschinenlärm des nächsten Tages in den Ohren zu haben, so jämmerlich laut zu einer zweifelhaften Begleitung Lautenlieder singen. Und brutaler Lärm kommt von der Gartenwirtschaft des Jagdschlosses, das sich inmitten von Weibergekreisch und Kindergequäk nach den Hifthörnern13 und der Waldesstille vergangener Jahrhunderte sehnt, und unbarmherzig wie gestern im Dom dröhnen von der anderen Seeseite, von den Rummelplätzen die Orchestrione der Achterbahnen, vermengt zu einem abscheulichen Brei mit dem Keifen zankender Ehepaare und dem Hupengeheul der Höllenwagen auf der Straße.
Ja, da sitzen sie und versuchen, die hässlichen Bemerkungen zu überhören, die vorüberziehende halbwüchsige Lümmel ihrer Verliebtheit zuschicken, übertönen mit ihren Zukunftsplänen die geheime Angst vor dem »Knock out« der großen schrecklichen Stadt: Morgen schon fährt Robby nach München, verhandelt über seine Graphiken mit einem Verleger … gib acht, kleine Sif, nach vier Tagen ist er zurück, behangen mit Aufträgen wie ein Weihnachtsbaum … im nächsten Jahre muss man stundenlang bei Robby antichambrieren, wenn man sich porträtieren lassen will bei ihm … im nächsten Jahre schon machen sie sich frei von der großen Stadt … ja, um Gottes willen, wo ist eigentlich Binky geblieben?
Dort unten auf der Straße, wo eben mit flatternden Fahnen der Jungtrupp der politischen Kongregation »Neues Leben« vorübergezogen ist und nach sich eine Wolke von Gegröhl und Staub zieht, dort unten liegt als winselndes kleines Bündel Binky, der es offenbar gewagt hat, einen der Jünglinge anzukläffen, und dem ein Stockhieb das Rückgrat gebrochen hat: langgezogenes Heulen, zierliche weiße Vorderpfötchen, die nach sich den gelähmten Hinterleib schleppen … arme, um Gnade bettelnde Augen, in denen schon der Tod umgeht …
»Töte es«, schluchzt die kleine Sif und weiß genau, was hier noch zu tun ist … »so töte es doch endlich!«
Und da, als Robby nichts anderes kann, als mit hemmungslosem Weinen zu erwidern, da geschieht etwas Seltsames: Sie stampft wütend mit dem Fuß, sie fährt Robby an, sie bricht, als alles nichts nützt, einen soliden Knüppel ab, sie schlägt zu … zweimal, dreimal, bis das kleine Bündel still liegt. Dann geht sie weinend in den Wald, um dem toten Binky sein Hundegrab zu graben.
Auf der abendlichen Heimfahrt dann der rohe Kampf um die Plätze … Menschen, die wie Trauben an den Wagen hängen … Gebrüll der heimkehrenden Fußballmannschaft »Camperdown« … die Verliebtheit, mit der sie sich dann doch umschlingen inmitten all des rohen Lärms … der erste Zwischenfall dieser Ehe scheint überwunden.
Folgendes ereignet sich am nächsten Abend: Robbys Koffer sind gepackt, um sieben sitzen sie in der Stadtbahn, um acht Uhr wollen sie sich mit Schwager Lex in der Bar des Excelsiorhotels treffen, bis um neun Robbys Zug geht. Und dann, während der Fahrt, vom Fluss herauf der frische Wind mit dem Hauch von Teer und Wasser, die Stadt, die ihren Synkopenrhythmus von Trambahnklingeln und Hupenlärm heraufschickt, die schönen Lichterdiademe der stumm vorübergleitenden Fernzüge: Reiselust, Lebensmut … sicherlich bringt Robby aus München einen ganzen Koffer zurück mit erfüllten Sif-Wünschen.
In der Nähe des Alexanderbahnhofes geschieht es, dass der Herr, der als einziger Mitpassagier ihnen gegenübersitzt, die kleine Sif in höchst unzweideutiger Weise zu fixieren beginnt: guter Verdiener mit vollblütigem Gesicht … auf der Weste des blauen Anzuges eine fette Hand mit Brillantgeschwüren … wo sah man schon solche Hand, und wo spürte man schon einmal diesen schweißigen Hauch des Begehrens, der von diesem Menschen nun zu ihr kommt?
Sie steht auf, starrt, um den schmierigen Blicken, den halblaut gemurmelten Bemerkungen zu entgehen, durchs Fenster, fragt, um Unbefangenheit zu heucheln, ob der Börsenbahnhof vor dem der Friedrichstraße komme, setzt sich schließlich wieder.
Es geschieht zwischen beiden Bahnhöfen – hier, wo die Mietkasernen ihre verräucherten Rückfronten schamlos wie kahle Hintern präsentieren mit erleuchteten gardinenlosen Fenstern und aufgeschwemmten Männern in verschwitzten Wollhemden und verhärmten krebskranken Fünfzigerinnen in nie gelüfteten Wohnküchen — hier in dem Halbdunkel des schlecht erleuchteten Coupés geschieht es, dass der andere plötzlich, völlig überzeugt von der Unwiderstehlichkeit seiner Reize, seine Hand auf ihr Knie legt.
Und nun ist es schon geschehen, das Entsetzliche: Es ist der kleine überzarte Robby, der dem anderen ins Gesicht schlägt … einmal, zweimal … es ist Robby, der im nächsten Augenblick selbst taumelt unter einem Bruststoß, es sind beide Männer, die im nächsten Augenblick ringend am Boden liegen.
Wer der Sieger bleibt in diesem Kampf, kann ja nicht zweifelhaft sein: Zuerst reißt der andere Robby hoch, wirft ihn mit dem Kopf gegen die Coupétür, wälzt sich über ihn mit seinem schweren Körper. Es nutzt Robby zu nichts, dass er sich in dieser Stellung noch gegen den, der über ihm kniet, mit schwächlichen von unten geführten Schlägen wehrt: Am Ende kommt diese feiste Hand, dreht den kleinen Maler einfach um, stößt ihn unter harten Beschimpfungen mit dem Gesicht, wie man einen jungen Hund mit der Nase in seine Sünden stupft, auf den Boden dieses Vorortcoupés, auf dem seit diesem Morgen Arbeiter, Zuhälter, Konsistorialräte und Gymnasiasten ihre Frühstücksreste und alle sonstigen Spuren ihres Erdenwandels hinterlassen haben.
Der Kampf endet unmittelbar vor der Friedrichstraße. Der Sieger hält, als der Zug steht, noch eine freundliche an Robby gerichtete Rede, droht für den Fall der Wiederholung eines solchen Angriffes die Wehrmacht des deutschen Staates, die Polizei, die göttliche Vorsehung in Bewegung zu setzen, widmet der süßen kleinen Sif ein Scheltwort, vor dem ein Hamburger Zuhälter vor Scham in den Boden sinken würde, ist zu sehen, wie er an der Seite einer unwahrscheinlich eleganten Dame im Fond einer Autodroschke verschlungen wird von dem brüllenden Rachen der Friedrichstraße.
Und dann rasselt der Omnibus mit dem verprügelten Robby und seiner Gattin das Riesenthermometer der Friedrichstraße entlang vorbei an dem ganzen unheiligen Getriebe von Schaufenstern und blitzender Talmipracht, an Groschen-Automaten und Barkneipen mit zweifelhaften Würsten und Straßenhändlern mit hochgestellten Sarottikisten und Dirnen und Taschendieben und Inflationsdandys in krachneuen Ledermänteln. Er sitzt geduckt und verprügelt da mit zerknitterter Wäsche und blutender Lippe, er würgt die halblauten spöttischen Bemerkungen der Nachbarn herunter, er weiß, dass sie sich seiner nun schämen muss, die kleine Sif.
»Bleib’ hier und warte.« Sie fertigt ihn sehr kurz ab vor der riesigen Drehtür des Hotels, sie überlässt ihn einfach der Neugier des Portiers … unmöglich, ihn hineinzunehmen in diesem Zustande. Sie fühlt, dass sie eigentlich roh handelt an ihm, sie könnte sich selbst prügeln dafür und weiß es doch nicht anders …
Da steht sie in dieser Halle mit Geldmachern, Hochzeitspaaren, hundertpferdigen Benzinrittern, Smokingbesitzern und verhüllten Sowjetagenten, klagt ihr Leid dem Schwager Lex, der da in seinem untadeligen Abendanzug sie erwartet hat, schluchzt vor Ärger über den verdorbenen Abend, über die Schmach.
»Unerhört«, sagt der Schwager Lex und zahlt und geht mit ihr hinaus zu dem Häufchen Elend, das da draußen wartet. Und dann wird Robby klargemacht, dass er in dieser Verfassung unmöglich hinein dürfe, dass man doch ebenso gut auf dem Bahnsteig warten könne. Und schließlich wird Robby von dem älteren Bruder – genau wie ein kleiner Schulbub, der mit einem neuen Anzug in eine Pfütze gefallen ist – in die Waschräume des Anhalter Bahnhofs zur Rangierung seines Anzugs geschickt, mit allen seinen Plänen und Hoffnungen, nachdem man noch einsilbig eine halbe Stunde promeniert hat, in den Münchner Schnellzug verfrachtet. Und da geschieht es dann doch, dass sie, die sich des kleinen hilflosen Jungen noch eben geschämt hat, urplötzlich allem Protestgeschrei türenschließender Schaffner zum Trotz das Coupé noch einmal stürmt und ihn weinend umarmt … ein letztes und noch ein allerletztes Mal, als müsste sie sich trennen von ihm für ewige Zeiten.
Unendliche Trauer beschleicht sie, als sie die roten Schlusslichter des Zuges verschwinden sieht. Am Askanischen Platz, den sie am Arm ihres Schwagers überschreitet, stoßen sie auf einen Menschenauflauf: ein Blindenhund, der seinen Herrn durch den Wagenstrom hat geleiten sollen, hat, verwirrt von dem Riesenwirbel des Verkehrs, einen einbiegenden feuerroten Höllenwagen übersehen. Der Hund ist unbeschädigt geblieben; von seinem Herrn, der eben wie in einen Backofen ein Stück Brot in den Schlund des schwarzen Unfallwagens geschoben wird, ist nur ein mäßiger, mit Apfelschalen und Ölspuren untermischter Blutfleck übrig.
Ein Polizist notiert die Zeugen, zwei Droschkenchauffeure raunzen halblaut auf die unerwünschte Erfindung des Fußgängers, unter den herumstehenden Sachverständigen des Publikums haben sieben mindestens acht verschiedene Meinungen: in der Mitte untröstlich, dass ihm das hat passieren müssen, steht mit schwefelgelben, ratlos nach dem verschwundenen Herrn suchenden Augen der große schwarze Königspudel, hebt hilflos die Pfote, bricht in ein langgezogenes klägliches Heulen aus, das den ganzen Höllenlärm des Platzes übertönt.
Sie streichelt den wolligen Negerkopf, der Jammer der kleinen armen Kreatur greift nach ihr, aus Kinderzeiten ein unendlich trauriger Vers fällt ihr ein:
Der Mond, der scheint,
Das Kindlein weint.
Die Uhr schlägt zwölf,
Dass Gott doch allen Kranken helf …
Da hat der Hund urplötzlich die Witterung des Fleckes auf der Erde in die Nase bekommen, drängt sich vorüber an zwei halbwüchsigen Burschen, empfängt einen Fußtritt, quittiert mit schmerzlichem Jaulen, setzt im Galopp dem Wagen nach, der inzwischen auf seinem Wege nach Norden, nach den großen Krankenhäusern verschwunden ist im Gewühl der Straße.
Nein, unter keinen Umständen lässt es der Schwager Lex zu, dass sie in dieser trüben Stimmung nach Hause geht: hinein noch einmal in die Bar und mit weißem Burgunder den Abend eingerenkt!
Und wieder sitzt sie in den weichen Klubsesseln des niederen Raumes, gießt, um die Traurigkeit loszuwerden, zwei große Kelche Hautes Sauternes herunter, sucht sich zu zerstreuen an dem Theater der großen Halle: Generalkonsul Studemund aus Hamburg hat doch zwei Zimmer ohne Bad vorausbestellt zum Donnerwetter … Herr Perzinski aus Wien wird von einem Dreikäsehoch in Hoteluniform ans Telefon dirigiert … Frau Generaldirektor Kruse ist die Handtasche nebst Bargeld und Schmuck abhanden gekommen …
Irgendjemand in der Nachbarloge muss sie wohl fixieren! Sie kann nichts sehen, ihr Rücken ist dorthin gewandt … sie fühlt trotzdem deut