Bretter, die die Welt bedeuten

Die lärmende Schülermeute bildete einen nahezu unerträglichen Kontrast zu den letzten Sonnenstrahlen, die der Herbst zu bieten hatte. Vier Jahre lang hatte ich versucht, mich an den Klang zu gewöhnen. Vergeblich. Ich war nur besser darin geworden, ihn zu ignorieren. So wie ich alles ignorierte, was meinen Seelenfrieden gefährdete. Ja, selektive Scheuklappen waren am Torquasso Lyceum ein unverzichtbares Accessoire.

Ich rupfte ein paar unschuldige Grashalme aus der Wiese. Die armen Dinger konnten nichts dafür, dass mein Leben die unspektakuläre kleine Schwester einer miesen Seifenoper war. Sie hatten lediglich Pech und wuchsen dort, wohin ich mich verkroch, wenn mein Frust mal wieder überhandnahm. Zwei Tage war das neue Schuljahr alt und fünfmal hatte ich der mächtigen Kastanie hinter der Mensa schon einen Besuch abgestattet. Traurigerweise nicht mein Rekord.

Das Motto hieß durchhalten. Durchhalten, gute Noten schreiben und ein Stipendium ergattern, damit ich von hier wegkonnte. Am besten an irgendeinen Ort, der nicht vor Banalität zu implodieren drohte.

Zwei kalte Hände rissen mich aus meinen Fluchtgedanken.

»Na, bereit für ein wenig ›Sein oder Nicht Sein‹?«

Meine beste Freundin Felizitas – Lizzy – hatte ein Faible für große Auftritte. Als sie sich voller Elan neben mir auf die Wiese plumpsen ließ, kalibrierte ich meine Scheuklappen neu. Lizzy strahlte einfach zu viel gute Laune aus. Mehr, als es selbst das schöne Wetter gerechtfertigt hätte.

»Du weißt, dass du mir dafür mindestens lebenslang Pannendienst schuldest!?«, grollte ich.

Sie zuckte nur mit den Schultern und schlürfte lautstark die Reste ihres Bananen-Kiwi-Smoothies durch den Strohhalm.

»Felizitas’ unübertroffener Rundum-zufrieden-Pannen- und-Abschleppservice steht dir zur freien Verfügung«, meinte sie großzügig. »Obwohl ich dich immer noch nicht verstehe! Wenn man schon eine Schrottkarre fährt, dann doch wohl, um sich von heißen, ölverschmierten Jungs in eng anliegenden Muskelshirts abschleppen zu lassen.«

Ich seufzte. Lizzy war hoffnungslos testosteronfixiert. Und das war noch die netteste Umschreibung, die mir zum neuen Lebenskonzept meiner besten Freundin einfiel. Innerhalb eines Schuljahres war sie von einer bezahnspangten Raupe zu einem schrillen Schmetterling mutiert. Einem Schmetterling mit Modetick und rot gefärbtem Lockenkopf. »Straßenköterblond« wäre für ihr letztes Schuljahr schlichtweg zu wenig »glamourös«, wobei sie geflissentlich überging, dass sie damit auch meine Haarfarbe beleidigte.

Entgegen meiner Erwartungen und jeglicher Vernunft wirkte die neue Signalfarbe auf Lizzys Kopf tatsächlich wie ein Leuchtfeuer. Seit letztem Sommer standen die Verehrer Schlange, um ihren endlosen Beinen zu huldigen. Zeitgleich und nicht unbedingt ganz nüchtern hatte Lizzy geschworen, jeden Zentimeter davon dem »Gott des Spaßes« zu weihen. Aktuell hieß dieser Gott Jeremy. Er war der Star der Dramatic Association, der Theatergruppe unserer Schule.

»Und du bist dir sicher, dass er die Mühe wert ist, ellenlange, öde Texte zu lernen und unsere Dienstagnachmittage in einem modrigen Kellergewölbe zu verbringen?«, erkundigte ich mich. »Jeremy wird dich nicht mal bemerken.«

»Und ob er das wird! Das hier, Schätzchen«, schnurrte Lizzy, zog ihre Schulter in perfekter Modelpose nach vorne und strich sich über die miniberockten Beine, »kann man nicht ignorieren.«

Ich versuchte vergeblich, nicht in schallendes Gelächter auszubrechen, was mir einen schmerzhaften Schlag meiner Freundin einbrachte.

»Komm schon, in dieser ganzen versnobten Schule, die sie Lyceum nennen, gibt es außer dir keine normal denkende Person. Du musst mit mir da hin!«

»Wenn das mal Jeremy gehört hätte!«

»Das zählt nicht, er ist heiß. Und er hat außerdem eine unglaublich sexy Stimme. Und er spielt Klavier. Und du bist meine beste Freundin, was dich verpflichtet, mir beizustehen!«, schmollte sie. Ihre roten Locken hüpften trotzig auf und ab. »Bitte, bitte, biiiiitte. Ich werde auch nie wieder etwas Böses über deine Rostlaube sagen und dich immer und überall abholen und hinfahren. Ohne dich überlebe ich da doch keine zwei Minuten!«

Zum finalen Todesstoß setzte Lizzy ihren besten Welpenblick auf und klimperte mit den Wimpern. Mit dieser Taktik hatte sie ihren Vater um zwei Fernreisen und einen roten Mini Cooper erleichtert. Ich seufzte schwer und gab mich geschlagen. Keine Sekunde nach meinem leisen »Also gut« wurde ich von einer heftigen Umarmung gepackt.

»Und jetzt«, sagte Lizzy im Aufstehen und fuchtelte eine theatralische Acht in die Luft, »trödle sie nicht gar zu lang. Die Bretter, die die Welt bedeuten, erwarten den allesverändernden Kuss zweier Liebenden. Jeremy«, rief sie, packte sich ans Herz und blickte sehnsüchtig in Richtung der Kulturvilla, »ich komme.«

Und schon war Lizzy unaufhaltsam und eine halbe Stunde zu früh auf dem Weg zum Theaterkurs. Kopfschüttelnd sammelte ich ihren Smoothie-Müll ein und folgte meiner Freundin den Hang hinauf zu den Unterrichtsgebäuden.

Glaubte man den schweren schmiedeeisernen Lettern über dem Eingangstor, war das Torquasso Lyceum ein Internat. Allerdings wohnte inzwischen nur noch die Hälfte der Schüler tatsächlich in den ehemaligen Klostergebäuden. Die anderen wurden jeden Nachmittag von ihren Butlern oder Nannys abgeholt und in die schicken Villen ihrer meist abwesenden Eltern gebracht. Wer alt genug war, fuhr selbstverständlich selbst. Das war eine Frage des Prestiges, immerhin war das Standardgeschenk zum achtzehnten Geburtstag ein fahrbarer Untersatz der luxuriösen Sorte. Je teurer das Auto, desto höher das Ansehen. Schlusslicht in diesem Ranking bildeten ich und der kleine Toyota, auf den ich gerade zuhielt, um meine Sachen in den Kofferraum zu werfen. Das bescheidene Häufchen Metall war ein nicht zu übersehender Störfaktor in der glänzenden Armada aus Limousinen und Sportwagen. Er passte einfach nicht hierher. Ebenso wenig wie ich.

Der Grund, warum ich diese Institution trotzdem besuchte, war recht simpel: eine richterliche Anordnung. Ein Umstand, den ich meinem Vater zu verdanken hatte. Ich wusste nicht viel von ihm, außer dass er schwerreich und schwer gestört war. Das letzte Mal hatte ich ihn mit zwölf gesehen, als er umgeben von seinen Anwälten den Gerichtssaal verlassen hatte. Drei Jahre und einen Rosenkrieg später war das Urteil endlich gefallen – natürlich zu seinen Gunsten. Meine Mum bekam eine lächerlich kleine Abfindung unter der Bedingung, dass ich meine Ausbildung am Torquasso Lyceum absolvieren würde. Darüber hinaus zahlte er uns keinen Cent.

Ich hatte nie kapiert, warum meinem Vater das Lyceum so wichtig war, kostete es doch monatlich dreimal so viel, wie meine Mutter und ich benötigt hätten, um uns woanders über Wasser zu halten. Wahrscheinlich wollte er einfach einen Keil zwischen uns treiben. Seine Tochter auf einem abgelegenen Internat, in dem es den lieben, langen Tag nur um Geld und Status ging. Eine schöne glitzernde Welt. Das Einzige, was meine Mutter mir nicht bieten konnte. In seinen Fantasien war ich wohl schon auf allen vieren angekrochen gekommen, um bei ihm zu betteln.

Aber sein Plan war nicht aufgegangen. Mit ihrer Abfindung hatte sich meine Mutter ein kleines Häuschen in der Nähe gekauft, sodass ich bei ihr wohnen konnte. Und was die Versuchungen des Reichtums betraf …? Nichts auf der Welt würde mich dazu bringen, so zu werden wie mein Vater.

Gerade wollte ich auf die andere Seite des Parkplatzes wechseln, als ein schwarzer, nagelneuer Mustang mir den Weg abschnitt.

Richtig, Schulanfang …! Jetzt geht die Mein-Daddy-hat-mir-ein-neues-Auto-geschenkt-Parade wieder los, dachte ich seufzend und blieb stehen, um nicht über den Haufen gefahren zu werden. Langsam schob sich der Mustang an mir vorbei. Langsamer, als er müsste. Natürlich waren die Scheiben verdunkelt. Was auch sonst! Kaum hatte das Fahrerfenster mich passiert, beschleunigte der Wagen und fuhr zu einem der hinteren schattigen Parkplätze, die für die Elite der Eliten reserviert waren.

Mit einem Kopfschütteln nahm ich meinen Weg wieder auf. Spätestens morgen früh würde ich erfahren, welcher meiner ach so liebenswerten Mitschüler dieses neue Spielzeug besaß.

»Hey, Ariana, springt das Ding, das du Auto nennst, mal wieder nicht an?«, rief eine weibliche Stimme. Ich musste mich nicht umsehen, um zu wissen, dass Doris und Denise irgendwo hinter mir standen. Sie kicherten. »Hätt nicht gedacht, dass du nach Brendon noch einen heißen Typen abschießt, aber danke. Bleibt mehr für uns!«

Keine Ahnung, was die beiden meinten. Es war auch egal. Ich nahm sie ohnehin nie ernst. Sie hatten erst Kenntnis von mir genommen, als ich mit Brendon zusammengekommen war. Und seit dem Ende dieser Beziehung, die ich den größten Fehler meines Lebens nannte, stand ich auf ihrer Abschussliste. Wir hatten Doris und Denise in der Mittelstufe Schickimicki-Doppel-D getauft. Inzwischen bezog sich der Spitzname nicht mehr nur auf ihre Initialen. Silikon und Daddy sei Dank … Definitiv nicht meine Wellenlänge.

Vor dem alten Holztor der Kulturvilla empfing mich Lizzy mit wedelnden Armen.

»Mach endlich, wir kommen noch zu spät. Jeremy ist schon drinnen«, zischte sie und zog mich in das ehemalige Wasserwerk, das die künstlerischen Fächer beherbergte. Ich fragte sie, ob die Liebe auf den ersten Blick denn schon zugeschlagen hätte, aber sie ignorierte meinen Sarkasmus und trieb mich weiter die steile Wendeltreppe zur Studiobühne hinab.

»Benimm dich anständig, stell keine doofen Fragen und blamier mich nicht!«, lautete die knappe Anweisung. Sie warf ihr leuchtend rotes Haar nach hinten und atmete tief durch. Dann betrat sie den Raum mit einer Anmut, die dazu gedacht war, königlich zu wirken. Leider war das Gegenteil der Fall.

Ein Storch mit roten Locken und ich soll sie nicht blamieren? war der einzige Gedanke, zu dem ich fähig war. Ich verdrängte ihn, immerhin ging es hier um meine beste, nein, einzige Freundin.

Jeremy saß an der Bühnenrampe. Ein kleines Lächeln huschte über sein Gesicht, als er Lizzy entdeckte. Ich konnte ihr Herz förmlich höherschlagen hören. Sie setzte sich ihm gegenüber in die erste Reihe und hob eines ihrer endlosen Beine, um es über das andere zu schlagen.

Oh Gott, bitte lass sie Unterwäsche tragen, hoffte ich inständig. Im selben Moment wurde diese Frage beantwortet, denn Lizzy rutschte polternd von der Stuhlkante und landete so auf dem Boden, dass nicht nur Jeremy, sondern alle Anwesenden unter ihrem Rock die rote Spitzenunterwäsche zu sehen bekamen. Der Rotton entsprach ungefähr der Farbe, die ihr Gesicht gerade annahm. Ich wollte ihr schon zu Hilfe eilen, aber Jeremy war schneller. Mit einer vollendeten Verbeugung bot er Lizzy seine Hand an.

»Wenn es nicht gar so peinlich ausgesehen hätte, könnte man fast auf den Gedanken kommen, dass es Absicht war«, meinte eine rauchige Stimme an meinem Ohr.

Gerade als ich mich wundern wollte, warum ich nicht zu Tode erschrocken war, zog sich der Sprecher mit einem leisen Lachen von mir zurück und streifte dabei meinen Pferdeschwanz. Ein kaltes Kribbeln kroch meinen Nacken hoch. Bevor ich mich umdrehen konnte, um zu sehen, wer diesen durchaus scharfsinnigen Kommentar abgelassen hatte, schob sich ein breiter Rücken an mir vorbei. Ein Rücken, den ich noch nie zuvor gesehen hatte. Der Rücken steckte in einem dunkelblauen Shirt, dessen hochgeschobene Ärmel sich um zwei sonnengebräunte, muskulöse Arme spannten. Oh Mann, ich bin schon schlimmer als Lizzy!

Bemüht, den Jungen nicht weiter auf Körperteile zu reduzieren, und überhaupt bemüht, den Jungen nicht weiter zu betrachten, lief ich etwas schneller als beabsichtigt zu Lizzy, die mich mit einem strahlenden Lächeln willkommen hieß.

»Ariana, darf ich dir Jeremy vorstellen. Du wirst es nicht glauben, aber er hat letztes Schuljahr tatsächlich die Hauptrolle in Moulin Rouge gespielt. Zu schade, dass wir die Vorstellung nicht sehen konnten«, log sie mit ihrem besten Spielmit-Blick, »weil wir uns doch um deine Mutter kümmern mussten. Aber stell dir vor, wenn wir mal etwas Zeit finden, will Jeremy nur für uns noch einmal Come What May singen. Eine Privatvorstellung sozusagen.«

Ich zwang mich vor Jeremy zu einem überraschten Lächeln, während Lizzy einen Darüber-reden-wir-nachher-Blick abbekam. Gott sei Dank rettete mich in diesem Moment Mr Storm vor weiteren Lügen meiner sogenannten besten Freundin und begann seinen Kurs.

»Tausend Dank«, formten Lizzys Lippen lautlos hinter Jeremys Rücken, gefolgt von einem »Ist er nicht süß!«.

Ich antwortete mit einem Augenrollen und wandte mich Mr Storm zu, der grade irgendetwas von »Das ganze Leben ist Theater« und »Hier lernt ihr vermutlich mehr als im Rest des Lyceums« redete. Nach weiteren fünfzehn Minuten des Vortrags darüber, wie wichtig die D.A. für das Fortbestehen der Menschheit wäre, war ich kurz davor, Lizzy dafür zu erwürgen, mich hergeschleppt zu haben. Dieses dringende Bedürfnis verstärkte sich, als der grauhaarige Alt-Hippie mit einem übertrieben offenen »In der Theaterwelt duzen sich alle, meine Lieben!« meinte, wir sollen ihn fortan Cornelius nennen, und erreichte seinen Höhepunkt, als er uns aufforderte, uns auf die Bühne zu setzen und mit geschlossenen Augen die Präsenz der anderen zu »erfühlen«. Einzig Lizzys flehender Blick hielt mich davon ab, sofort aus dem Raum zu stürmen und mich mit einem Eiskaffee in die Sonne zu legen. Also schloss ich meine Augen. Sooft ich sie auch aufzog, Lizzy war mehr wert, als zwei Stunden mit ein paar Freaks in einem Keller sitzen zu müssen. Ich hatte sie bei Gericht kennengelernt. Sie war die Tochter unseres Anwalts und hatte gemeint, wir könnten auch gleich Freundschaft schließen, da wir offensichtlich bald auf dieselbe Schule gehen würden. Sie war es gewesen, die ihre Mutter dazu überredet hatte, die ersten zwei Jahre einen Umweg zu fahren, damit ich nicht den Bus zur Schule nehmen musste. Sie war es, die mich vor den anderen Schülern immer mit einem entschiedenen »Kümmer dich um deinen eigenen Kram!« verteidigte. Sie hatte mich letzten Sommer täglich zu meiner Mum in die Nervenklinik gefahren und mir geholfen, einen Nebenjob als Bedienung zu finden, damit ich mir an meinem achtzehnten Geburtstag endlich ein Auto leisten konnte.

Plötzlich bemerkte ich wieder dieses seltsame Kribbeln im Nacken. Wie lange saß ich nun schon hier rum? Zehn Minuten? Zwanzig? Ich wusste es nicht, aber ich wusste, dass mich jemand beobachtete. Vorsichtig öffnete ich die Augen. Wenn mich dieser verschrobene Cornelius anstarrt, dann war das das letzte Mal, dass mich die D.A. gesehen hat, schwor ich mir und schaute mich verstohlen um. Cornelius saß mit geschlossenen Augen am anderen Ende des Saals. Aus seinem seligen Lächeln schloss ich, dass er sich tatsächlich einbildete, die Präsenz seiner Schüler zu spüren. Pfft

Lizzy hockte im Schneidersitz neben mir. Ihre Brust hob und senkte sich schneller, als man es nach etwas In-sich-Kehren erwarten konnte. Allerdings berührte ihr Handrücken Jeremys Knie, also war das nicht wirklich verwunderlich. Ich blickte weiter in die Runde und blieb an einem dunkelgrünen Augenpaar hängen, das mich direkt ansah. Die Augen gehörten zu einem Schüler, den ich noch nie gesehen hatte. Fast nie, erinnerte ich mich selbst. Es war der Typ im blauen Shirt, der Lizzys unangenehme Situation vorhin so treffend zusammengefasst hatte. Ein angedeutetes Lächeln umspielte seine Mundwinkel, aber er senkte weder den Blick, noch schloss er die Augen. Er starrte mich einfach nur an. Nach einer Weile reichte mir das kindische Wer-schaut-eher-weg-Spielchen. Ein Schnauben und eine gehobene Augenbraue signalisierten deutlich »Wer’s braucht«, bevor ich mich wieder der »Präsenz« meiner Mitschüler zuwandte.

Aber wem machte ich was vor? Natürlich war es diese eine Präsenz, die mich nicht losließ. Ich spürte, dass er mich noch immer ansah. Mit diesen grün funkelnden Augen, in denen sowohl der Schalk als auch etwas Unergründliches lauerte. Seine markanten Brauen waren eine Nuance zu weit zusammengeschoben gewesen, um seinen Gesichtsausdruck entspannt zu nennen. Und dann war da dieses kleine Lächeln, das mir die Härchen im Nacken zu Berge stehen ließ. Woher kam dieser Kerl? Dem Bartschatten nach musste er mit mir im Abschlussjahrgang sein. Nein, eigentlich müsste er längst seinen Abschluss haben. Er war einer dieser Typen, deren Alter man einfach nicht schätzen konnte. Er könnte achtzehn sein oder auch Ende zwanzig. Bestimmt war er einer von diesen Millionärssöhnen, die an mehreren Schulen vergeblich versucht hatten, ihren Abschluss zu machen, um nun im Lyceum durchgeboxt zu werden. Oder er besuchte die Additumkurse für Absolventen, die sich auf die Universität vorbereiten wollten. Obwohl die Absolventen normalerweise nie am normalen Schulalltag teilnahmen …

Endlich erlöste mich Cornelius aus meinen erschreckend ausführlichen Gedanken über den neuen Mitschüler. Er klatschte in die Hände und rief mehrfach »Bravi«, bevor er uns seine nächste Übung erläuterte. Ich wollte gar nicht wissen, ob der Neue mich immer noch ansah. Deshalb bemühte ich mich, nicht in seine Richtung zu gucken. Ich streckte mich und massierte mein eingeschlafenes Bein, als plötzlich eine Hand in meinem Gesichtsfeld auftauchte. Am Zeigefinger steckte ein breiter Ring aus schwarzem Leder und Silber. Er passte gut zu dem Lederband, das um ein sehniges Handgelenk gewickelt war. Das Handgelenk führte zu einem trainierten Unterarm, der wiederum … –

Ari, du tust es schon wieder!, ermahnte ich mich und zwang meinen Blick höher, obwohl ich wusste, dass mich dort grüne Augen erwarten würden. Um nicht noch unhöflicher zu sein, ergriff ich seine Hand und hievte mich daran hoch. Ich murmelte ein leises »Danke«, aber er ließ mich nicht los. Sein Blick glitt zu meiner Hand und zurück zu meinem Gesicht. Seine Augen wurden schmal, sein Blick forschend, als würde er nach etwas suchen. Irritiert legte ich meine Stirn in Falten.

»Darf ich meine Hand wiederhaben?«, fragte ich und verfluchte meine Stimme, die eher flehend klang als wie beabsichtigt vor Sarkasmus triefend.

Der Neue blinzelte ein paar Mal, als wäre er mit seinen Gedanken woanders gewesen.

»Klar«, antwortete er, »du wirst sie ja vermutlich noch brauchen.«

Meine Hand kribbelte, als er seinen Griff löste. Ich widerstand dem Drang, sie zu schütteln, und verstaute sie stattdessen in meiner Hosentasche.

Was für ein seltsamer Typ.

Fast schon abwesend strich er sich durch seine dunklen Locken. Ein sinnloses Unterfangen, denn sie fielen ihm sofort wieder ins Gesicht. Als hätte der Schöpfer dieses männlichen Kunstwerkes beschlossen, dass die wie gemeißelten Züge einen lebendigen Rahmen bräuchten, um vollends zur Geltung gebracht zu werden. Jedem anderen hätte ich einen guten Friseur empfohlen, aber angesichts dieser Vollkommenheit juckte es mich nur in den Fingern, durch die wild glänzende Pracht zu fahren. Ob sie wohl so weich wären, wie sie aussahen?

Hinter der widerspenstigsten Locke funkelte es belustigt.

Hör schon auf!, befahl ich mir und sah weg.

Der Typ machte keine Anstalten, sich wieder dem Unterricht zu widmen. Im Hintergrund hörte ich Cornelius irgendetwas von Aktion, Reaktion und Spiegelbildern reden. Mehr war wirklich nicht zu verstehen, solange dieser Junge mit seinen durchdringenden Augen mich fixierte, als wäre ich ein Regal in einem Einrichtungshaus, das vielleicht oder auch nicht in sein Zimmer passen könnte.

»Ich bin Ariana«, sagte ich einer Eingebung folgend. Könnte ja die Stimmung lockern …

Eine Braue wanderte erstaunt nach oben, als hätte sein Regal gerade zu sprechen begonnen … Und da war es wieder, dieses gefährliche Lächeln.

»Ich weiß.«

Oh Mann, seine Stimme klang wie eine Mischung aus schwarzem Samt und Reibeisen. Damit könnte er Millionen als Synchronsprecher für Bösewichte machen.

Ohne mich weiter zu beachten, drehte er sich weg. Im selben Moment überrannte mich Lizzy, die mich unbedingt als Partnerin in dieser seltsamen Spiegel-Aktion-Reaktion-Übung haben wollte. Den Rest des Kurses imitierte ich einen Spiegel und doppelte alle Bewegungen meiner Freundin detailgetreu. Als schließlich die Schulglocke durch die Lautsprecher schrillte und Cornelius sich abermals in Bravi-Rufen erging, las ich in Lizzys leuchtenden Augen, dass das nicht unser letzter Besuch in der D.A. gewesen war. Und dass mir noch mindestens eine Stunde schmierigste Jeremy-Schwärmerei bevorstand. Zwei Tatsachen, die in mir den sehnlichen Wunsch weckten, nach Hause zu gehen.

Kaum waren wir vor der Tür, ging es los.

»Jeremy ist so …« … bla bla bla …

Die Sonne versank gerade hinter den Wäldern und verwandelte den Himmel in ein Flammenmeer.

bla bla bla … »… hast du gesehen, wie er …« … bla bla bla

Mir war bislang nicht aufgefallen, wie früh es mittlerweile dunkel wurde. Ich sah auf die Turmuhr der ehemaligen Kapelle. Es war kurz nach sieben.

»Und als er mir die Hand gereicht hat …« … bla bla bla

Wir wanderten den schmalen Kiesweg an der Rosenvilla vorbei zum Parkplatz. Der Mädchentrakt trug seinen Namen wegen der dicht mit Rosen bewachsenen Rankgitter im Erdgeschoss. Das sah zur Blütezeit wirklich hübsch aus, diente aktuell aber eher der Abwehr von nächtlichen Besuchern als der Optik.

bla bla bla … »… und erst sein Lächeln …« … bla bla bla … »Ari.«

Inzwischen waren wir an der verwitterten Wehrmauer angekommen, die das Internatsgelände von den umliegenden Weinhängen trennte.

»Ari!«, zischte Lizzy erneut und packte mich am Arm. Ihre Schritte hatten sich verlangsamt und ihr Blick glitt immer wieder zu der alten Buche, die an der Zufahrt zum Parkplatz stand. Ich wusste erst nicht, warum Lizzy sich plötzlich so komisch benahm, bis mir ein paar Gestalten auffielen, die auf der runden Steinumfassung der Buche herumlungerten.

Etwas in meinem Bauch verkrampfte sich.

Brendon.

»Wenn du willst, können wir außenrum gehen.«

»Ich habe nicht zwölf Jahre meinen Vater ertragen, um jetzt vor Brendon zu kneifen.« Ich dankte dem Himmel dafür, dass meine Stimme überzeugter klang, als ich es war. So konnte ich mir wenigstens vormachen, mir selbst zu glauben.

Also dann, auf in den Kampf.

Nach einem prüfenden Blick nickte Lizzy, reckte sich stolz und blieb mit langen Schritten an meiner Seite. Ich konnte förmlich den epischen Soundtrack hören, der sich in ihrem Kopf abspielen musste. Unser gemeinsamer Mut schraubte sich gerade seinem Höhepunkt entgegen, als wir die kleine Gruppe passierten.

»Hey, Brendon, ist das nicht deine Ex?«, fragte einer der Jungs und zeigte grinsend in meine Richtung. Ich hasste diese Art von Grinsen.

»Ariana …« Brendons Stimme ließ mir einen kalten Schauer über den Rücken laufen. »Schön, dich mal wieder zu sehen. Scheint fast, als versuchst du, mir aus dem Weg zu gehen.« Er schwang sich von dem Steinsims und kam gemächlich auf mich zu. Ich ignorierte ihn, auch wenn es mir schwerfiel, da unvermittelt ein Haufen unguter Erinnerungen auf mich einprasselte. Wieder war Lizzy meine Rettung. Sie hakte sich bei mir unter und zog mich einfach weiter.

»Gib doch zu, dass wir ’ne tolle Zeit hatten!«, rief Brendon mir nach. Meine Finger klammerten sich krampfartig an Lizzys Jacke, was ihr natürlich nicht entging.

»Bevor oder nachdem sie dir die Nase gebrochen hat, du Volltrottel?«, fauchte sie und warf Brendon einen giftigen Blick über die Schulter zu. Ich konnte förmlich spüren, wie sich sein schönes Gesicht zu einer wütenden Fratze verzog.

»Ist das die Geschichte, die du deiner Freundin erzählt hast, Ari?« Der Hohn in seinem Tonfall traf mich, obwohl ich wusste, dass der sein einziger Ausweg war. Aber ich wollte ihm nicht zeigen, wie sehr er mich verletzt hatte. Weder damals noch heute. Also drehte ich mich langsam um und zwang mich zu einer kühlen Antwort.

»Ich habe es nicht nötig, Geschichten zu erfinden, Brendon.« Seinen Namen zog ich bewusst in die Länge, um meinen Worten mehr Nachdruck zu verleihen. Im Hintergrund brachen seine Freunde in Gelächter aus, wie es nur Jungs konnten, die der Pubertät offensichtlich noch nicht gänzlich entwachsen waren. Mein Ex ließ sich davon nicht anstecken. Er trug seine blonden Haare jetzt kürzer als vor einem Jahr. Seine rehbraunen Augen blitzten spöttisch, fast als würden sie versprechen, mit mir noch nicht fertig zu sein. Wie hatte ich mich nur jemals in ihn verlieben können?

Der bittere Geschmack von Blut breitete sich in meinem Mund aus. Ich hatte mir auf die Backe gebissen.

»Komm«, flüsterte Lizzy und schob mich in Richtung Parkplatz. »Ich bin stolz auf dich und keine Widerrede: Ich fahr dich heim. Diese Idioten bekommen heute keine weitere Gelegenheit.«

Als ich in Lizzys Mini einstieg, raste mein Herz noch immer. Sie gab sofort Gas und fuhr exakt im richtigen Tempo an Brendon und seinen Freunden vorbei, um nicht den Eindruck einer Flucht zu erwecken. In solchen Momenten liebte ich Lizzy nur noch mehr. Und genau das wollte ich ihr eben sagen, als ich an der Mauer hinter der alten Buche eine dunkle Gestalt lehnen sah. Ich konnte gerade noch ein Paar grüne Augen erkennen, die mich nachdenklich musterten.

Bei solchen Freunden ...

Wie jeden Morgen weckte mich mein Handy mit einem schrillen Alarmton. Unglücklicherweise hatte es nichts davon gewusst, dass ich heute erst zur dritten Stunde in den Unterricht musste. Gut, ich hätte es ihm sagen können, immerhin war Kommunikation der Grundstein einer jeden guten Beziehung. Aber mein Handy und ich hatten damit so unsere Probleme.

Ich ließ meine Mum schlafen, weil ich wusste, wie anstrengend der Schichtdienst im Altenheim war. Also setzte ich mich alleine an den Küchentisch und schaufelte mein Müsli in mich hinein. Ich war drei Löffel weit gekommen, als mein Handy erneut einen Ton von sich gab. Eine Nachricht von Lizzy, der Einzigartigen wurde auf dem Display angezeigt. Diesen Namenszusatz hatte sich meine Freundin selbst verliehen und genau so eingespeichert.

MORGEN, DU FAULENZER. WAR SCHON BEIM FRÜHSPORT. PILATES IM PARK.

Ich verschluckte mich fast an meinem Müsli. Lizzy beim freiwilligen Frühsport im Lyceum? Das konnte nur eines bedeuten.

MACHT DA REIN ZUFÄLLIG EIN GEWISSER J. MIT?

Keine fünf Sekunden später kam die überflüssige Antwort: HMMM SEUFZ :-)

HAST DU NICHT WAS VERGESSEN?, schrieb ich leicht angesäuert zurück. Da ich gestern mit ihr heimgefahren war, hätte sie mich eigentlich heute zum Lyceum mitnehmen sollen. Schließlich stand mein Toyota noch immer am Schulparkplatz.

Mein Handy klingelte erneut.

OH – OH :-(

Ja, oh-oh traf es ziemlich genau. Eine weitere Nachricht von Lizzy versprach ICH MACH ES WIEDER GUT, HAND AUFS HERZ!!!! Aber das war mir egal. Grollend beendete ich mein Frühstück und stapfte die Treppe nach oben. Jetzt nicht zu antworten, wäre für alle Beteiligten besser. In meiner momentanen Laune würde ich Lizzy sogar den plötzlichen Kälteeinbruch anlasten.

Eine heiße Dusche später und eingepackt in mehrere warme Schichten, schloss ich die Haustür hinter mir.

Wir wohnten in einer kleinen Siedlung, die nur aus einer Handvoll Häusern bestand. Offiziell gehörten wir zum drei Kilometer entfernten Saint-Peters, doch bekamen wir hier draußen vom Dorfleben kaum etwas mit. So unrecht war mir das nicht, denn höchstens Touristen hätten Saint-Peters als verschlafen bezeichnet. Hat man erst einmal hinter die hübschen Fassaden des Örtchens geschaut, mutierte jeder Einwohner – ob Oma oder Kleinkind – zum Spion in einem Überwachungsstaat, dessen einzige Währung der neueste Klatsch und Tratsch war. Nein danke. Davon hatte ich am Lyceum schon genug.

Nebenan holte der Sohn unserer Nachbarn gerade die Post. Ich nickte ihm flüchtig zu und ging schnell weiter, bevor er mich in ein Gespräch verwickeln konnte. Felix war ein paar Jahre älter als ich und arbeitete in einer Werkstatt in Saint-Peters. Beim Einzug hatte er mir geholfen, Kisten zu schleppen und die Möbel in meinem Zimmer aufzustellen. Er war immer nett gewesen und roch auf faszinierende Weise nach Feuer und Schnee. Deshalb war ich zweimal mit ihm ins Kino gegangen, bis er mir ein wenig zu anhänglich wurde. Felix gehörte zu den Typen, die einen sogar beim Atmen beobachteten und dabei jedes Gesprächsthema aus den Augen verloren.

Als die Straße vom Wald verschluckt wurde, seufzte ich erleichtert auf. Wahrscheinlich bildete ich es mir nur ein, aber ich hätte schwören können, dass sein treuherziger Blick mir bei jedem Schritt gefolgt war.

Jetzt gehörte mir der Morgen wieder ganz allein. Zu Fuß würde ich zwar über eine Stunde ins Lyceum brauchen, aber das war immer noch besser, als zuerst in die andere Richtung nach Saint-Peters marschieren zu müssen, um dann eine halbe Stunde mit dem Bus über die Felder zu tuckern. Außerdem tat die Bewegung gut, ebenso die frische Luft. Ich nahm mir vor, das viel öfter zu machen, auch wenn ich genau wusste, dass ich diesen Vorsatz nie einhalten würde. Dafür schlief ich viel zu gern.

Ein grauer BMW rauschte hupend an mir vorbei. Ich konnte grade noch einen Blick auf Schickimicki-Doppel-D erhaschen, wie sie lachend in meine Richtung zeigten.

Pfft, wenigstens hätten sie bei einem Unfall zwei Paar zusätzliche Airbags …

Unbeeindruckt stapfte ich weiter, bis meine Tasche anfing zu vibrieren. Lizzy.

»Was gibt’s?«, fragte ich knapp ins Handy.

»Ich hab ein schlechtes Gewissen, weil ich über diesen Pilateskram vergessen hab, dich abzuholen. Und dann hast du dich nicht mehr gemeldet und mein Gewissen ist noch schlechter geworden. Aber sieh’s mal so: Ich bin gestraft genug. Es gibt in meinem Körper keinen einzigen Muskel, der mir nicht wehtut. Und das jetzt schon. Morgen werde ich mich gar nicht mehr bewegen können. Und ich schwöre hiermit hoch und heilig, ich werde mich auch nie wieder mehr bewegen als unbedingt nötig.«

Trotz aktueller Vorbehalte bezüglich meiner Freundin schlich sich ein Lächeln auf mein Gesicht.

»Ist schon gut. Ich hab heute ja erst in der dritten Stunde Unterricht. Ich bin einfach zu Fuß gegangen.«

»Bist du verrückt? Bei dem Wetter?! Wie weit bist du? Ich hol dich ab.« Wenn es etwas gab, das Lizzy noch mehr hasste als Sport und Bewegung, war es Kälte.

»Kein Stress, ich bin schon beim Timeon-Gatter«, übertrieb ich ein wenig, um sie zu beruhigen. Aber Lizzy ließ nicht mit sich handeln.

»Bleib dort, ich bin in sieben Minuten da.«

Grinsend steckte ich mein Handy weg und fiel in einen leichten Trab. Wenn ich mich beeilte, würde ich rechtzeitig am Gatter ankommen, um meine kleine Lüge zu decken.

Ich bog von der Bergstraße auf einen steilen Waldpfad ab. Er schnitt eine lange Kurve und bedeutete somit eine zehnminütige Abkürzung. Als ein teures Röhren einen weiteren schicken Wagen ankündigte, kletterte ich schnell über ein paar Felsen. Damit war ich außer Sichtweite der Straße. Ich hatte keine große Lust, nach Doppel-D noch anderen meiner liebevollen Mitschüler zum Spott zu dienen.

Hinter mir ging das Röhren in ein gleichmäßiges Brummen über. Ich hielt inne. Hatte mich doch jemand gesehen? Es verstrichen einige Sekunden, bevor das Motorengeräusch wieder anschwoll und schließlich irgendwo im Wald verschwand. Statt weitere Gedanken an das seltsame Verhalten irgendwelcher Sportwagenbesitzer zu verschwenden, konzentrierte ich mich lieber auf die Äste und losen Felsbrocken, die mir im Weg lagen. Ich sprang und schlitterte den steilen Hang hinunter und landete mit einem triumphierenden Lachen wieder auf der geteerten Straße. Vor mir lag das Timeon-Gatter. Ein verwittertes Schild mit dem Schriftzug Betreten verboten pendelte daran. Überflüssig, denn der Wald hinter dem Zaun war zugewachsen und alles andere als einladend.

Da von Lizzy weit und breit nichts zu sehen war, kletterte ich auf das Gatter, um dort zu warten. Das Holz knarzte bedenklich, aber die Balken hielten meinem Gewicht stand. Dafür spendierten sie mir zum Dank ein paar eingezogene Splitter. Ich saugte gerade an dem betroffenen Finger, als das Röhren zurückkehrte. Ein schwarzer Mustang bog viel zu schnell um die Kurve. Es war derselbe Mustang, der schon gestern am Parkplatz Schaulaufen betrieben hatte. Auch diesmal konnte ich durch die verdunkelten Scheiben nicht erkennen, wer der Fahrer war. Er rauschte einfach vorbei. Kein Hupen, kein Angeben, kein Spott.

Ich atmete auf, als plötzlich das Geräusch einer Vollbremsung durch die ländliche Idylle peitschte. Es vergingen einige viel zu lange Augenblicke, in denen nur ein paar Vögel zwitscherten. Ich starrte das Heck des Wagens an. Mein Herz schlug mir unerklärlicherweise bis zum Hals. Dann kam der Schock, dicht gefolgt von Fluchtinstinkt: Die Rückfahrscheinwerfer gingen an. Ich wollte vom Gatter springen, konnte aber meine Beine nicht bewegen. Der Mustang rollte zu mir zurück. Wohin hätte ich auch rennen sollen? In den Wald?!

Auf meiner Höhe stoppte der Wagen. Die Tür flog auf und der merkwürdige Schüler aus der D.A. sprang heraus. Er war ganz in Schwarz gekleidet, was zusammen mit seinen dunklen Haaren eine beeindruckend bedrohliche Einheit bildete. Seine Augenbrauen waren zornig zusammengeschoben, als er direkt auf mich zustapfte.

»Was machst du hier?«, fragte er mit seiner Rockstar-Stimme. Es klang, als könnte er sich nur mit Mühe unter Kontrolle halten.

Wie bitte?!

»Dir auch einen guten Morgen!«, maulte ich in meinen Schal.

Glücklicherweise düste im gleichen Moment Lizzys roter Mini um die Kurve und kam unmittelbar vor dem Mustang zum Stehen. Ich war selten so froh gewesen, den roten Schopf meiner Freundin zu sehen. Meine Beine gehorchten mir wieder und ich hüpfte möglichst elegant vom Gatter. Leider verhedderte sich mein Schal im spröden Tor, was bedauerlicherweise alle Eleganz sofort zunichtemachte. Ich versuchte mich zu befreien, als eine Hand mich am Arm packte.

»Du hast meine Frage nicht beantwortet«, zischte der Neue.

»Guten Morgen, ihr zwei Hübschen«, rief Lizzy durch das geöffnete Beifahrerfenster. Der Kerl beachtete sie nicht. Oh, jetzt hatte er es sich endgültig verscherzt.

»Ich wüsste nicht, was dich das zu interessieren hat«, fauchte ich ihn an und riss mich los. Ich ignorierte Lizzys seltsam mitleidigen Blick. Stattdessen warf ich meine Tasche durch das offene Fenster des Minis und schenkte meiner Freundin anstelle einer Begrüßung ein knappes »Lass uns fahren!«.

Ich zog am Türgriff, aber nichts geschah. Ich rüttelte fester daran und sah Lizzy vorwurfsvoll an.

»Verschwinde, Rossi. Das hier geht dich nichts an«, tönte die dunkle Stimme hinter mir. Innerlich grinste ich. Jetzt konnte dieser Typ sich auf etwas gefasst machen. Niemand sprach so mit Lizzy.

Besagte Lizzy sah von mir zu dem Fremden und zurück, dann überlegte sie kurz und zu meinem Entsetzen nickte sie.

»Wir sehen uns in der Schule«, meinte sie mit einem Zwinkern und legte den Rückwärtsgang ein.

»Das ist nicht dein Ernst. Du kannst mich hier doch nicht mit einem Wildfremden stehen lassen?!« Ich war völlig perplex. Erlaubte sie sich da gerade einen Spaß?

»Hör mal, Süße. Ich weiß, wir haben vereinbart, ihn wie Luft zu behandeln, aber Lucian hat wohl was Wichtiges mit dir zu bereden.«

»Lucian?! Du kennst diesen Wahnsinnigen?« Meine Stimme überschlug sich.

»Jetzt hör schon auf. Ich weiß, drei Monate sind keine drei Jahre, aber er hat ein Recht darauf zu erfahren, warum du damals Schluss gemacht hast.«

Ich hab WAS?! Wie konnte Lizzy nur so etwas behaupten?

Hinter meiner Schulter ertönte ein zufriedenes »Danke, Felizitas. Ich bring sie dann in die Schule«.

Wieder zwinkerte mir meine sogenannte beste Freundin zu, als täte sie mir den größten Gefallen der Welt. Dann fuhr sie los. Ich war fassungslos.

»Sehr witzig. Haha. Jetzt haben alle genug gelacht!«, rief ich, aber Lizzy hatte schon gewendet. Ich starrte dem roten Mini hinterher, bis er hinter der dicht bewaldeten Kurve verschwand. Warum hatte sie das getan?

Ein kaltes Kribbeln kroch mein Rückgrat hoch und erinnerte mich daran, dass ich nicht alleine war. Gleichzeitig kochte die Wut in meinem Bauch über. Ich fuhr herum.

»Was hast du mit ihr gemacht?«, schrie ich den Fremden an, der offenbar Lucian hieß.

»Beantworte meine Fragen und ich antworte auf deine«, entgegnete er ungerührt.

»Du kannst mich mal!«

Worauf auch immer dieses kranke Spiel abzielte, ich wollte nicht mitspielen. Fest entschlossen, die Polizei zu rufen, fiel mir ein, dass mein Handy in meiner Tasche und damit in Lizzys Auto war. Ich fluchte innerlich, beschloss aber, mir nichts anmerken zu lassen. Also trat ich meine Flucht zu Fuß an.

Ich kam keine zwei Meter weit. Etwas blockierte mich, als wäre die Luft vor mir aus unsichtbarem Schaumstoff.

»Du gehst hier nicht weg, solange ich nicht bekomme, was ich will.«

Ich versuchte es erneut. Erfolglos. Mir war bewusst, dass mein Mund offen stand wie der eines toten Karpfens, aber dagegen konnte ich in diesem Moment einfach nichts tun. Lucian hatte seine Arme vor der Brust verschränkt und musterte mich kühl.

»Wie machst du das?«, presste ich hervor.

Er lachte leise. »Das weißt du genau, also spar dir deine Unschuldsmiene für die anderen.«

»Jetzt reicht’s aber!« Was auch immer mich davon abhielt, von dort wegzukommen, hinderte mich nicht, auf diesen unverschämten Lucian loszugehen. Und eben das tat ich.

»Was soll ich denn bitte genau wissen? Dass du mit mir zusammen warst? Warst du nicht! Ich kenne dich nicht! Wie du das hier machst?« Ich fuchtelte mit einer Hand in Richtung der Luftblockade. »Keinen blassen Schimmer! Wer du bist? Ich habe keine Ahnung. Doch halt, warte: Du bist ein völlig übergeschnappter Psychopath!«

Zornig funkelte ich ihn an. Die Tatsache, dass er einen Kopf größer war als ich, störte mich dabei nicht. Das war ich gewohnt. Leider hatte ich nicht bedacht, dass mein Ausraster mich direkt zwischen ihn und seinen Mustang geführt hatte. Er machte einen Schritt auf mich zu.

»Was hast du heute Nacht bei Timeon gemacht?«

Ein weiterer Schritt.

»Du bist total wahnsinnig. Ich war zu Hause!«

»Wie schaffst du es, mir den Zugang zu verwehren?«

Noch ein Schritt.

»Welchen Zugang denn jetzt schon wieder?!« Langsam wich mein Zorn etwas anderem. Ich bekam es mit der Angst zu tun. Was, wenn das gar kein Scherz war? Wenn er Lizzy irgendwie bestochen, erpresst oder hypnotisiert hatte? Ganz ruhig, Ari. Nur die Nerven behalten.

Er stand jetzt direkt vor mir. Seine grünen Augen fixierten mich unerbittlich. Plötzlich packte mich Müdigkeit und ein warmes Gefühl legte sich um meine Schläfen. Mein Rücken stieß sanft gegen den Mustang. Ich bemerkte es kaum. Stattdessen versank ich in seinen Augen.

»Ah.« Seine raue Stimme legte sich wie Honig über meine Gedanken. »Diesen Zugang habe ich gemeint. Du bist stärker, als ich erwartet hatte.«

Stärker? Was meint er mit ›stärker‹?

»Ariana, wo ist Thanatos?«

Ich blinzelte. Hatte ich richtig gehört? Thanatos … Den Namen kannte ich nicht. Oder doch? Aber woher? Ich versuchte die Müdigkeit abzuschütteln.

»Thanatos?«, wiederholte ich matt. Selbst meine Stirn in Falten zu legen, war beinahe ein Ding der Unmöglichkeit. Lucian stützte eine Hand neben meinem Gesicht am Mustang ab. Er roch so gut. Frische Erde, Regen, Wind, eine drückende Schwüle über tosender Brandung. Er roch wie ein Sommersturm am Meer.

Sag es mir, Ariana! Drängte er mich sanft. Ich brauchte einen Augenblick, bis ich registriert hatte, dass seine Stimme in meinem Kopf war. Warum auch immer, ich akzeptierte es. Wo ist Thanatos? Du warst dort, ich rieche ihn an dir. Wo ist er? Seine behutsamen Worte waren Verführung pur. Er schmeichelte, forderte.

Erinnere dich! Er lockte.

Erzähl es mir! Dein Vater hat nichts dagegen. Weil er dir vertraut. Weil er dich liebt.

ER RIET!

Schlagartig wurde mein Kopf wieder klar und jede Müdigkeit fiel von mir ab.

»Mein Vater soll in der Hölle schmoren!«, zischte ich.

Ein Wahnsinniger tauchte auf und bedrohte mich? War ja klar, dass mein Vater da seine Finger mit im Spiel hatte.

Lucian sah mich verwundert an und … brach in schallendes Gelächter aus.

»Ja, das sollte er.« Was auch immer er mit mir gemacht hatte, es war vorbei. Das wusste ich einfach. Ich war wieder allein in meinem Kopf.

»Du bist hartnäckiger, als ich erwartet hab.«

Er zog ein Messer. Nein, er hatte es plötzlich in der Hand. Mein Herz setzte einen Schlag aus. Ich konnte die Augen nicht von der Klinge nehmen. Ein seltsames, leuchtendes Muster zog sich über das Metall. Als würde das Messer von innen heraus glühen.

»Ariana, ich will dir nicht wehtun, aber ich werde es tun, wenn du mir nicht verrätst, was du weißt.«

Meine Hände begannen zu zittern.

»Ich weiß nicht, was du meinst«, stammelte ich.

Plötzlich blitzte eine Erinnerung in mir auf. Nemesis VII. Izara. Thanatos. Das hatte beim Scheidungsgericht auf einer Akte gestanden. Der Anwalt meines Vaters hatte die ganze Verhandlung über mit seinem Kugelschreiber darauf herumgeklopft. Natürlich hatte ich die Namen gegoogelt, war aber nur auf lauter Artikel über griechische Götter gestoßen. Das würde mir hier wohl wenig weiterhelfen.

Lucian stieß sich vom Mustang ab und packte mich stattdessen an der Kehle. Mein Hinterkopf schlug hart gegen die Karosserie. Alles drehte sich. Meine Augen füllten sich mit Tränen.

»Du weißt etwas!« Seine Stimme war mittlerweile kaum mehr als ein Knurren. Ein gefährliches Knurren. Er presste die Spitze seines Messers an meinen Hals. Das glühende Metall war eiskalt. Sein Körper warm.

Ich kratzte den letzten Rest Trotz zusammen, den ich finden konnte.

»Na, los. Tu es endlich!«, krächzte ich und war stolz, dass meine Stimme nicht brach. »Ich habe mich schon gefragt, wann mein Vater jemanden schickt, um mich umzubringen!«

Da war ich plötzlich frei. Er hatte mich so abrupt losgelassen, als hätte er sich verbrannt.

Ich rieb mir die schmerzende Kehle und beobachtete wachsam, wie er vor mir auf und ab tigerte. Wäre der Mustang nicht gewesen, an den ich mich lehnen konnte, wäre ich längst zusammengebrochen. Unablässig fuhr Lucian sich durch die dunklen Haare. Zwischen seinen Brauen tauchten zwei steile Falten auf. Man konnte förmlich sehen, wie sein Gehirn arbeitete. Dann blieb er unvermittelt stehen und sah mich an. Wind kam auf. Blätter peitschten über die verlassene Straße. Ich nahm allen Mut zusammen und sah ihm in die Augen. Sie waren nicht mehr grün, sondern schwarz. Er begann in einer fremden Sprache zu sprechen. Ich zitterte, wollte wegrennen. Es ging nicht. Er hob das Messer, schnitt sich in die Handfläche und kam auf mich zu.

Was zum Teufel tut er da?, fragte ich mich, wobei mir klar war, dass die Frage lauten müsste: Was zum Teufel ist dieser Kerl?

Ohne den stetigen Fluss fremdartiger Worte zu unterbrechen, hob er die blutige Hand und presste sie mir an die Stirn. Da kam der Schmerz. Alles war Schmerz. Unendlicher Schmerz. Ich schrie und fiel. Dann war alles schwarz.

Der Feind meines Feindes ...

Als ich die Augen wieder aufschlug, sah ich als Erstes das verschwommene Gesicht meiner Mutter. Ich lag in meinem Zimmer. Draußen war es bereits dunkel.

»Ah, du bist wach. Wie geht es dir?«, fragte sie mit der für sie so typischen mütterlichen Fürsorge.

Wie es mir ging? Ich war verwirrt. Wie war ich nach Hause gekommen? Was war passiert? Und warum zog mir meine Mutter gerade ein Thermometer aus dem Mund? Ansonsten ging es mir erstaunlich gut.

Mit einem zufriedenen Seufzer desinfizierte sie das Thermometer und beantwortete die letzte meiner unausgesprochenen Fragen.

»Keine Temperatur.«

»Wieso bin ich im Bett, Mum?«

»Ich habe dich hineingelegt, Schätzchen.« Sie schüttelte mitleidig den Kopf. »Weißt du das nicht mehr? Wir haben heute Morgen gemeinsam gefrühstückt und dann bist du ganz bleich geworden und hast das Gleichgewicht verloren«, erklärte sie. »Ich habe im Lyceum angerufen.«

»Wir haben gemeinsam gefrühstückt?!«, stammelte ich.

»Ja, du hattest doch zwei Stunden später Unterricht. Deshalb dachte ich mir, ein kleines Familienfrühstück könnte nicht schaden.«

Ich verzichtete darauf, weiter nachzufragen. Wenn ich meiner Mum offenbaren würde, was meiner Ansicht nach wirklich passiert war, würde sie entweder vor Sorge um mich verrückt werden oder schlimmstenfalls einmal mehr an ihrer eigenen geistigen Gesundheit zweifeln. So labil, wie sie zurzeit war, wollte ich auf jeden Fall verhindern, dass sie einen neuen Nervenzusammenbruch erlitt. Zumal ich selbst nicht genau wusste, was eigentlich los war.

Meine Mum gab mir einen Kuss auf die Stirn und schloss mit einem Lächeln die Zimmertür. Sofort griff ich mir mein Handy und rief Lizzy an.

Nach dem vierzehnten Klingeln ging sie endlich ran.

»Heyho, du Kranke. Wie geht es dir?« Im Hintergrund waren Gitarrenmusik und die typischen Geräusche zu hören, die eine Horde Jugendlicher am Lagerfeuer fabrizierte. Sie war am Leonard-Steg.

»Ich bin nicht krank!«, sagte ich bockig.

»Du bist nicht … – ah, du schlauer Fuchs. Du hast dich erfolgreich um unseren Chemietest gedrückt.« Offensichtlich ließ sie noch immer nicht von ihrem seltsamen Lügenspiel ab. Ich entschied mich für einen Frontalangriff.

»Warum hast du mich mit Lucian allein gelassen?«

»Ich hab was?«

»Heute Morgen. Am Timeon-Gatter.«

»Süße, ich hab dich heute nicht gesehen. Und wenn du mit Lucian gesprochen hast, warum zum Geier erfahr ich dann erst jetzt davon?! Was hat er gesagt? Habt ihr euch ausgesöhnt? Seid ihr wieder zusammen, oder sollen wir weiterhin so tun, als wäre er Luft? Er ist nämlich gerade hier.«

»Ich war nie … – Er ist was?«

»Er ist hier. Am See.«

»Rühr dich nicht vom Fleck. Ich komme.«

»So kenn ich mein Mädchen. Schule schwänzen und abends auf ’ne Party.«

»Fünfzehn Minuten«, sagte ich noch. Dann legte ich auf.

Es war sinnlos, Lizzy am Telefon weitere Fragen zu stellen. Nach allem, was passiert war, wusste ich auch nicht, ob Lizzy mit Lucian unter einer Decke steckte oder ob sie von ihm manipuliert wurde.

Ich zog mir rasch ein Paar Jeans und einen petrolfarbenen Rollkragenpulli über und schnappte mir meine Tasche. Meine Tasche? Wie kommt die hierher? Lizzy konnte sich wirklich auf etwas gefasst machen.

Da fiel mir ein, dass mein Auto noch immer am Lyceum stand. Aber das war ein Notfall. Ich würde mir den Wagen meiner Mutter leihen müssen. Ihren Protest erstickte ich, indem ich ihr versicherte, dass es mir gut ging und ich nur kurz zu Lizzy wollte, um ihre Aufzeichnungen aus dem Unterricht abzuholen. Nach einem schnellen Stoßgebet, dass ich den Kombi rechtzeitig erreichte, bevor meine Mutter mich zurück ins Bett zerren konnte, startete ich den Motor und trat das Gaspedal durch.

Der Leonard-Steg war eine morsche Anlegebrücke, die jeden Mittwoch Schauplatz der legendären See-Partys wurde. Schon von Weitem wehte mir der Geruch des Lagerfeuers entgegen. Ich stellte den Kombi unter einer Eiche ab und hielt auf das Gelächter und den leisen Klang von Hotel California zu.

Die halbe Oberstufe und ein paar Jugendliche aus dem Dorf hatten sich um die Feuerstelle gesammelt und lauschten Toby Sullivan, wie er sich selbst mit der Gitarre begleitete. Toby hatte seinen Abschluss längst, besuchte aber noch einen der Additumkurse für Absolventen. Stilmäßig war er irgendwo in den goldenen Zwanzigern hängen geblieben. Anzughose, hochgekrempeltes Hemd, Hosenträger, Hut … irgendetwas davon war immer an ihm zu finden. Er hatte es an meinen Scheuklappen vorbei geschafft, weil er einer der wenigen Schüler am Lyceum war, die mich grüßten, wenn ich ihnen über den Weg lief.

Ich ließ meinen Blick über die illustre Gesellschaft wandern, in der Hoffnung, einen roten Haarschopf zu entdecken. Bingo. Unten am Steg stand Lizzy. Ich schlitterte grade den Hang hinunter, als sich eine dunkle Gestalt vor mich schob. Tosende See, peitschender Regen zwischen Sonnenstrahlen. Der Geruch eines Sommersturms. Ein kalter Schauer lief mir über den Rücken.

»Was tust du hier?«, fragte mich Lucian. Der ferne Schein des Lagerfeuers tauchte eine Hälfte seines Gesichts in warmes Gold und die andere in tiefe Schatten.

»Komm mir nicht zu nah!« war das Einzige, was ich herausbrachte. Die Erinnerung an die Schmerzen, die mir heute Morgen das Bewusstsein geraubt hatten, schnürte mir die Kehle zu. Irgendetwas hatte sich geändert. Die Musik hatte aufgehört. Fernes Johlen. Ich registrierte es nur am Rande. Lucian packte mich am Arm und schaute mich eindringlich an.

»Vergiss, was passiert ist, Ariana!«, beschwor er mich. Seine Stimme war ruhig, hatte aber einen besorgniserregenden Unterton. Sein Blick zuckte zum Lagerfeuer.

»Tu einfach so, als wäre nichts geschehen! Hast du verstanden?«

Zu einer Antwort kam ich nicht, weil Toby unvermittelt neben uns auftauchte.

»Hey, Ari. Schön, dass du auch hier bist«, sagte er und schenkte mir sein charmantestes Lächeln.

In diesem Augenblick hätte ich ihn küssen können.

»Willst du nicht zu uns zum Feuer kommen? Du kannst deine Begleitung auch mitbringen.«

Und da war besagter Augenblick auch schon vorbei. Ich wollte die Verhältnisse schnellstens klären, aber Lucian kam mir zuvor.

»Macht euch wegen mir keine Gedanken«, murmelte er, »ich wollte ohnehin gerade gehen.«

Mit einem letzten Blick, der nur zu deutlich »Vergiss nicht, was ich dir gesagt habe« sprach, zog er sich zurück.

Toby sah ihm nach und hob fragend eine Augenbraue.

»Hat er dich belästigt?«

Jetzt ist es offiziell. Ich bin wahnsinnig.