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Originalcopyright © 2017 Südpol Verlag, Grevenbroich

Autor: Ina Krabbe

Illustrationen: Ina Krabbe

E-Book Umsetzung: Leon H. Böckmann, Bergheim

ISBN: 978-3-943086-58-4

Alle Rechte vorbehalten.

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1. Kapitel

Malu trat fester in die Pedale. Der kalte Fahrtwind zog durch ihre dünne Jacke und kroch unter die Jeans. Sie fröstelte. Was aber nicht nur an der feucht-kalten Herbstluft, sondern auch an dem einsamen Feldweg lag, in den sie jetzt einbog und der sich in der Dämmerung endlos zwischen Wiesen und Feldern entlangzog. Malu sah sich unbehaglich um, keine Menschenseele weit und breit. Es musste inzwischen fast halb neun sein, wer sollte sich um diese Zeit auch noch hier herumtreiben? Den Weg benutzten nur die Bauern, die zu ihren Feldern wollten, Hundebesitzer oder Besucher von Schloss Funkelfeld. Und außer ihr wollte da jetzt keiner mehr hin.

Sie war einfach viel zu spät vom Muffins aufgebrochen. Erst als Hennes, der Besitzer des kleinen Bistros, ihnen schon fast die Stühle unter dem Hintern weggezogen hatte, weil er endlich schließen wollte, hatte sie mit Lea kichernd das Muffins verlassen.

Ihre beste Freundin Lea hatte die erste Woche der Herbstferien mit ihrer Mutter in einem Wellnesshotel mit angeschlossener Schönheitsfarm verbracht. (Lea sah zum Glück genauso aus wie vorher!) Obwohl sie ihr jeden Tag mindestens hundert Nachrichten geschickt hatte (ein sicheres Zeichen dafür, dass Lea stinklangweilig gewesen war!) und Malu eigentlich schon alles hätte wissen müssen, hatten sich die beiden noch stundenlang Neues zu erzählen. Außerdem hatte Lea den ganzen Nachmittag geheimnisvolle Andeutungen gemacht, dass Malu am nächsten Tag eine Überraschung erleben würde – und was für eine! Damit würde sie niemals rechnen, sich aber garantiert freu­en. Vielleicht. Mehr war aus Lea nicht herauszubekommen. Malu platzte fast vor Neugier und ihre Freundin kringelte sich vor Lachen. Und so hatten die beiden gar nicht gemerkt, wie spät es plötzlich geworden war. Zum Glück hatte Malus Mutter heute Nachtschicht und würde gar nicht mitbekommen, um welche Uhrzeit ihre Tochter noch mutterseelenallein durch einsame Landschaften radelte. Spätestes um halb acht musste sie normalerweise zuhause sein. Sie hätte ihr auf jeden Fall eine Woche Hausarrest aufgebrummt oder – schlimmer noch – eine Woche Stallverbot!

Rechts von ihr zog sich jetzt das Stoppelfeld entlang, über das sie am Morgen noch mit Papilopulus geritten war. Natürlich nur langsam, erst im Schritt und dann nur ganz kurz im Trab. Papi war zwar das wundervollste Pferd der ganzen Welt, aber der dunkelbraune Wallach war schon ziemlich alt und Malu wollte ihn nicht überfordern. Sie seufzte. Mit ihm hätte sie sich jetzt irgendwie sicherer gefühlt als auf ihrem Mountainbike.

Endlich tauchte vor ihr der Wald auf, der schon zu den Ländereien von Schloss Funkelfeld gehörte. Jetzt war es nicht mehr weit. Ein Stückchen noch und dann konnte sie in die alte Kastanienallee einbiegen, die bis zum rostigen Schlosstor führte. In ihrer hinteren Hosentasche spürte Malu ein kurzes Vibrieren und dann kam dumpf ein DUBI-DÜLÜT-DUBIDUU daraus hervor. Sie lächelte, Lea war bestimmt gerade zuhause angekommen und hatte ihr eine Nachricht geschrieben. Ob sie Ärger bekommen hatte? Oder waren ihre Eltern noch bei Freunden gewesen, was Lea gehofft hatte? Sie würde ihr später zurückschreiben, jetzt wollte sie erst mal so schnell wie möglich selber nach Hause.

Malu löste die klammen Finger vom Lenker und hauchte hinein. Ob Edgar sie vermisst hatte? Bestimmt nicht, sonst hätte er längst angerufen und sie zur Schnecke gemacht. Manchmal übertrieb er seine Rolle als älterer Bruder schon ziemlich, obwohl er bis vor ein paar Monaten noch gar nicht gewusst hatte, dass er überhaupt eine Schwester hatte. (Genauer gesagt Halbschwester!) Und sie hatte von der Existenz ihres Bruders genauso wenig gewusst – na ja, sie hatte eine ganze Menge nicht gewusst, noch nicht mal, wer ihr Vater war! Und auch nicht, dass sie eine echte von Funkelfeld war. Eigentlich kam es ihr bis heute total unwirklich vor, dass ihr Vater, der auch Edgars Vater war, als Erbe von Schloss Funkelfeld das ganze Anwesen Edgar, seinem ältesten Kind, vererbt hatte und sie jetzt zusammen mit ihm und ihrer Mutter dort wohnte.

Es war ein bisschen wie in einem superkitschigen Traum und Malu hatte manchmal Angst davor aufzuwachen und wieder in ihrem Bett in der kleinen Dachgeschosswohnung in der Stadt zu liegen. Sie würde sich seufzend umdrehen und versuchen noch mal einzuschlafen, um zurück in diesen wunderbaren Traum zu kommen.

PFFFIITTT! Ein pfeifendes Geräusch riss Malu aus ihren Gedanken. Im nächsten Moment holperte ihr Vorderrad nur noch auf der Felge und der Mantel schlackerte luftlos herum. Fluchend hielt sie an und besah sich den Schaden. Der Reifen war komplett platt. Was für ein megamäßiger Mist!

Sie blickte sich etwas beklommen auf dem einsamen, dusteren Feldweg um. Hilfe konnte sie hier wohl keine erwarten. Aber es war ja auch nicht mehr weit bis zum Schloss. Musste sie eben schieben. Kurz spielte sie mit dem Gedanken Edgar anzurufen, aber dann würde sie sich eine ziemliche Standpauke anhören müssen und sie hoffte ja immer noch, es unentdeckt in ihr Zimmer zu schaffen.

Sie packte ihr Mountainbike und schob tapfer drauflos. Rechts kamen schon die Weiden in Sicht, die zum Schloss gehörten, aber an benachbarte Bauern verpachtet waren, da es im ehemaligen Gestüt Funkelfeld zur Zeit nicht besonders viele Pferde gab. Links von ihr erhob sich der Wald wie eine dunkle Wand, hinter der sich der Funkelsee verbarg. Malu versuchte zwischen den Bäumen einen Blick darauf zu erhaschen, aber alles, was sie sehen konnte, waren weiße Nebelschwaden, die langsam vom Seeufer durch die Bäume auf den Weg krochen. Malu lief ein Schauer den Rücken herunter und sie spürte, wie sich die Härchen auf ihren Armen aufstellten.

Ok, es war Herbst, da war es völlig normal, dass sich über Gewässern Nebel bildete, versuchte sie sich zu beruhigen. Trotzdem war es verdammt noch mal gruselig! Malu fiel in einen zügigen Laufschritt, so schnell das mit dem platten Fahrrad, das sie neben sich herzerrte, eben ging. Ihr Herz klopfte wie verrückt, als endlich die dicken Kastanienbäume vor ihr auftauchten. Gleich hatte sie es geschafft!

Da knackte es neben ihr im Wald – so laut, als ob sich etwas Großes, Schweres durch das Unterholz bewegte. Malu stoppte erschrocken und starrte in das undurchdringliche Gewirr aus Ästen. Ihr wurde eiskalt und gleichzeitig brach ihr der Schweiß aus. Was um Himmels willen war das?! Denn was es auch war, es kam direkt auf sie zu!

Wie angewurzelt stand sie da. Und auch wenn es in ihrem Kopf schrie: Lauf weg, hau ab! – es ging nicht, sie konnte sich einfach nicht bewegen. Sie starrte ins Gebüsch und versuchte in den Nebelschwaden etwas zu erkennen.

Doch was sie dann hörte, ließ augenblicklich alle An­­spannung von ihr abfallen: ein leises, warmes Schnauben. Malu hatte das Gefühl, nie ein lieblicheres Geräusch gehört zu haben: Pferdeschnauben! Erleichtert lockerte sie ihre Finger – sie hatte gar nicht gemerkt, wie krampfhaft sie den Fahrradlenker umklammert hatte.

Es knackte wieder, Hufe tappten auf festem Waldboden. Ob es eins von ihren Pferden war? Aber was machte das zu so später Stunde hier im Wald?

Malu ließ ihr Fahrrad auf den Grasstreifen fallen und näherte sich vorsichtig dem Waldrand. »Papilopulus«, rief sie leise nach ihrem Pferd. »Papi, komm.«

Im Wald war es plötzlich ganz still, das Pferd war stehen geblieben. Dann konnte es Papilopulus schon mal nicht sein, der wäre sofort zu ihr gekommen.

Zwischen den dichten Zweigen der Haselnusssträucher und Holunderbüsche entdeckte Malu eine kleine Lücke und zwängte sich hindurch. Dahinter war tatsächlich ein Weg zu erkennen – wenn auch ein ziemlich zugewachsener –, der in den Wald hineinführte. Verwundert drückte Malu ein paar Äste zur Seite, doch viel sehen konnte sie nicht. Schon nach ein paar Metern verschwand der Weg in einer dichten Nebelwand. Wie in einem Gruselfilm! Malu lief es schon wieder eiskalt den Rücken herunter.

»Rocco, Alibaba?«, krächzte sie die Namen der Pferde ihres Bruders. Vor ihr rührte sich immer noch nichts. Sollte sie umkehren? Vielleicht war es gar kein Pferd, sondern ein tollwütiges Wildschwein? Als ob sie kein Pferd von einem Wildschwein unterscheiden konnte! Malu kicherte. Aber das klang so grauenhaft in diesem stillen, dunklen Herbstwald, dass sie sofort wieder verstummte.

Vielleicht waren ja auch Luxor und Palisander ausgebüxt? Die beiden Turnierpferde, die seit letztem Monat auf Schloss Funkelfeld untergestellt waren, gehörten einer Freundin von Lenka. Mariella – Mariella Breitenstein! Malu verzog das Gesicht, als sie an das Gespann dachte. Lenka war eine ganz schön eingebildete Ziege, aber sie gehörte eben zur Familie (eine Art Halbcousine – leider!) und wohnte mit ihrem Vater Arno von Funkelfeld im alten Pförtnerhäuschen. Und Mariella? Malu konnte gar nicht so recht sagen, warum sie das Mädchen nicht mochte, eigentlich war sie immer freundlich, wenn auch ein bisschen überheblich. Wahrscheinlich reichte es auch schon, dass sie die Freundin von Lenka war. Auf jeden Fall waren die Breitensteins wohlhabend und ihre Pferde nicht irgendwelche Reitpferde, sondern reinrassige Holsteiner mit einem Stammbaum, der länger war als Malus eigener. (Obwohl sie da gar nicht so sicher war, die von Funkel­­felds ließen sich schließlich bis ins 16. Jahrhundert zurückverfolgen.) Die beiden Pferde hatten ein Vermögen gekostet, wie Mariella nicht müde wurde zu betonen. Der Umstand, dass diese edlen Tiere nun in den etwas heruntergekommenen Ställen von Schloss Funkelfeld standen, war nur der Tatsache zu verdanken, dass Mariella mit Lenka befreundet war. Und dafür mussten die Funkelfelds noch dankbar sein, denn die Breitensteins zahlten viel Geld für die Einstellplätze und das wurde auf dem Schloss dringend gebraucht. Zum Glück gab es seit diesem Sommer auch noch die Tauchschule von Mario Scherz, der ein Stück des Seeufers gepachtet hatte, um in dem klaren Wasser des Funkelsees Tauchkurse abzuhalten. Damit ließ sich wenigstens ein Teil der Kosten decken, die durch den Unterhalt des Schlosses entstanden.

Malu ging vorsichtig ein paar Schritte weiter und versuchte in dem Nebel die Umrisse eines Pferdes zu erkennen. Sollte es wirklich eines von Mariellas Pferden sein, das abgehauen war, würde das mit Sicherheit einen Riesenärger geben. Wenn Luxor oder Palisander auch nur einen Kratzer abbekamen, müssten sie wahrscheinlich eine horrende Summe Schmerzensgeld zahlen und Mariella würde in einen anderen Stall umziehen, Lenka hin oder her. Sollte sie vielleicht doch besser Edgar anrufen?

DUBI-DÜLÜT-DUBIDUU tönte es schon wieder aus ihrer Hosentasche und obwohl der Ton durch den Stoff gedämpft war, machte es einen Höllenlärm! Vor ihr im Wald krachte es laut, schnaubte und dann preschte etwas knackend und knirschend durch die Büsche davon. Malus Herz machte vor Schreck einen Satz bis zum Hals. Mit zitternden Fingern fummelte sie ihr Handy aus der Hosentasche. Drei neue Nachrichten von Lea.

Habs geschafft. Bin einfach in mein Zimmer geschlichen und Mum hat nichts gemerkt. Ich bin zu gut!!!

Mist!! War doch nichts! Hier ist megamiese Stimmung! Bist du zuhause?

Meld dich! Sonst rufe ich die Polizei oder schicke meine Mutter, rat mal, was schlimmer ist???

Malu stellte ihr Handy auf Lautlos, damit es nicht noch mal so in den Wald trompetete, und tippte schnell zurück.

Bin noch unterwegs. Hier läuft ein Pferd rum. Ich muss sehen, ob es von uns ist. Voll gruselig hier. Alles voller Nebel.

Wieso bist du noch nicht zuhause???, kam es in Se­­kun­den­schnelle zurück. Niemand konnte so schnell tippen wie Lea.

Reifen platt, schrieb Malu zurück.

SUMMEN – Lea:

Was für ein Pferd?

SUMMEN – Lea:

Nebel???? Gruselig???

SUMMEN – Lea:

Bist du bescheuert???? Fahr nach Hause!!!!

Malu:

Gleich! Ich guck erst nach dem Pferd.

Schnell steckte Malu das Handy in die Hosentasche zu­­rück, sonst würde sie hier in einer Stunde noch im Nebel stehen. Lea konnte ewig so weiterschreiben.

Aber komischerweise fühlte sie sich jetzt etwas bes­ser – es gab noch eine Welt hinter dem Nebel-Gruselwald! Sie holte tief Luft und folgte dann langsam dem Weg in den Wald hinein. Wenn sie in fünf Minuten das Pferd nicht gefunden hatte, wollte sie Edgar anrufen. Und diese fünf Minuten würde sie auch das beharrliche Summen und Vibrieren in ihrer Hosentasche ignorieren.

Der Nebel hing wie Watte zwischen den Baumstämmen und schien alle Geräusche zu schlucken. Ob das Pferd noch in der Nähe war? Malu blieb stehen und lauschte angestrengt. Ja, tatsächlich, sie hörte ein leises Schnauben aus der Nebelwand. Nach ein paar Schritten schälte sich langsam die Kontur eines riesigen Pferdekörpers aus dem Nebel. Luxor? Palisander war kleiner und zarter, das konnte nur Luxor sein! Malu streckte ihre Hand aus, als ob sie ein Leckerchen zu vergeben hätte. »Komm, Luxor, na komm, ich hab hier was für dich«, säuselte sie.

Das Pferd machte einen vorsichtigen Schritt auf sie zu, aber komischerweise wurden seine Konturen nicht klarer, es schien fast, als ob es mit dem Nebel verschmolzen war. Oder – als ob es selbst aus Nebel bestand! Malu zog ihre Hand zurück. Sie zitterte. Das war auf keinen Fall Luxor, der schwarze Wallach von Mariella. Das Pferd vor ihr wirkte durchsichtig, irgendwie schwebend. Ein Geisterpferd!

Als dieser Gedanke Malu durch den Kopf schoss, wollte sie schon über sich selber lachen. Ein Geisterpferd, so ein Quatsch! So etwas gab es nicht und schon gar nicht hier am Funkelsee. Aber das Lachen blieb ihr im Halse stecken und ihre Beine waren weich wie Quittengelee, als der weiße Riese jetzt gemächlich auf sie zukam. Zwei Schritte vor ihr blieb er stehen und reckte vorsichtig den Kopf nach vorne. Seine grauen Nüstern blähten sich weit, als versuchte er zu erschnuppern, ob Malu wirklich etwas in der Hand hatte.

Sie zeigte ihm ihre leeren Handflächen. »Gelogen«, flüsterte sie heiser. »Ich hab dich verwechselt. Tut mir leid. Ich wollte dich nicht stören.« Malu ging langsam rückwärts, doch der Schimmel folgte ihr. Und als er jetzt den Kopf hob und nach rechts drehte, lief es Malu eiskalt den Rücken herunter. Es war, als wäre sie mitten in einen Gruselfilm geraten: In dem weißen Pferdekopf war da, wo eigentlich das linke Auge sein sollte – nichts!

2. Kapitel

Malu blickte in eine leere Augenhöhle! Ein Geister­­­schimmel – ohne Augen! Der Schreck schoss ihr vom Kopf bis in die Zehenspitzen. Sie wich immer weiter zurück, ohne das große Tier (Konnte man so einen Pferdegeist überhaupt als Tier bezeichnen?) aus den Augen zu lassen. Dabei fummelte sie ihr Handy aus der Hosentasche und entsperrte es mit zittrigen Fingern. Sie las gerade noch 19 neue Nachrichten von Lea, da summte es auch schon los. Doch diesmal war es nicht Lea. Edgar ruft an. Erleichtert wischte Malu über das Display, manchmal war so ein großer Bruder echt nützlich!

»Malu, wo bist du?«, dröhnte es aus dem Handy.

»Im Wald«, flüsterte Malu mit heiserer Stimme. »Hier ist ein Geist ..., ein Pferd. Ohne Augen.«

»Was ist da? Sag mir sofort, wo du bist!« Ihr Bruder klang jetzt eindeutig besorgt – und wütend. Irgendwie beides.

Der Schimmel schüttelte unwillig den Kopf, als ob Edgars Stimme ihm unangenehm wäre.

»Ein Geister...pferd ...«, stammelte Malu und starrte dabei ungläubig auf den großen weißen Kopf, der sich gedreht hatte und aus dem sie jetzt ein dunkles Auge ängstlich anguckte. Ein höchst lebendiges dunkles Auge. Es war wohl eher ein einäugiges Geisterpferd. Oder nein, es war wohl doch gar kein Geisterpferd, sondern nur ein einäugiger Schimmel, der sich verlaufen hatte. Malu spürte, wie ein hysterisches Kichern in ihr hochstieg. »Es ist nur ein Schimmel, Edgar, nur ein Pferd«, gluckste sie ins Handy.

»Sag mal, hast du irgendwelche Drogen genommen im Muffins? Oder was getrunken?«

»Spinnst du? Natürlich nicht. Ich bin erst dreizehn!«

»Genau! Und in deinem Alter solltest du dich um diese Zeit auch nicht alleine da draußen herumtreiben. Warte mal eben ...« Edgar verstummte kurz und Malu wandte sich wieder dem Schimmel zu, der sich jetzt ganz nah herantraute. »Du hast mir vielleicht einen Schreck eingejagt«, murmelte sie. Ihre Beine fühlten sich immer noch an wie aus Gummi. »Das erzähle ich nicht mal Lea, dass ich dich für einen Geist gehalten habe. Die lachen sich ja alle scheckig über mich im Muffins.«

Das Pferd schnaubte bestätigend und bohrte dann seine samtene Schnauze in Malus Hand. Aber zu seiner Enttäuschung war da tatsächlich nichts zu holen.

»Bei uns im Stall hab ich was Leckeres für dich«, sagte sie tröstend. »Am besten nehme ich dich erst mal mit. Irgendjemand wird dich ja vermissen.«

»Malu?« Edgars Stimme schallte laut aus ihrem Handy.

Der Schimmel zuckte mit dem Kopf zurück.

»Schrei doch nicht so, ich bin ja nicht taub. Du verschreckst noch das Pferd.«

»Das Gespensterpferd?«, fragte Edgar skeptisch.

»Hab ich nie gesagt«, quetschte Malu hervor.

»Lea sagt, dass ihr nur einen riesigen Schoko-Eisbecher gegessen habt. Vielleicht bist du ja allergisch dagegen.«

»Bestimmt nicht! Schreibst du gerade mit Lea?«

»Und wenn?«

»Sag ihr bloß nichts von dem Geisterpferd!«, drohte Malu. Ihr Handy surrte. »Moment mal, Edgar.« Nachricht von Lea. Malu scrollte sich schnell durch Dro­hung­en wie Antworte gefälligst. – Ich kündige dir die Freundschaft. Du gehst sofort aus dem Wald. – Ich hetz dir meine Mutter auf den Hals! bis hin zur letzten Nachricht: Was hast du gesehen??? Ein Geisterpferd??? Ohne Augen???? Du weißt schon, dass es keine Geister gibt, oder??? Muss ich mir Sorgen machen?

Na toll! Danke, Edgar!

Quatsch Geisterpferd. Ein weißes Pferd! Hat Edgar wohl falsch verstanden, tippte sie schnell. (So eine alte Petze, ihr Bruder!)

Sie strich dem weißen Riesen beruhigend über den knöchernen Nasenrücken, als ihr Blick wieder auf die leere Augenhöhle fiel. Auch wenn sie jetzt wusste, dass dieses Pferd hier quicklebendig war, bekam sie eine Gänsehaut bei dem Anblick. Was war mit dem armen Tier nur passiert?

»Malu, bist du noch da?«

Ups, ihren Bruder hatte sie glatt vergessen. Gerade als sie antworten wollte, knackte es hinter ihr erneut in den Büschen und ließ sie und das Pferd aufschrecken. Ein Licht bahnte sich einen Weg durch die Zweige auf sie zu. Wer war das jetzt? Langsam reichte es Malu mit unheimlichen Begegnungen. Ob da jemand auf der Suche nach dem Pferd war? Sie wollte auf keinen Fall hier im Wald auf jemanden treffen, den sie nicht kannte!

»Edgar«, flüsterte sie ins Handy. »Da kommt einer. Was soll ich machen?«

»Wo bist du denn? Verdammt, Malu! Ich suche dich.«

»Der kommt immer näher«, krächzte Malu. »Und er hat eine Lampe dabei.«

Von Edgar ertönte ein völlig unpassendes Kichern aus dem Handy.

»Was gibt’s da zu lachen?« Malu war nur froh, den warmen Atem des weißen Pferdes im Nacken zu spüren. So fühlte sie sich wenigstens nicht ganz alleine in diesem Gruselwald.

»Bewegt sich das Licht jetzt hoch und runter?«, fragte Edgar.

Tatsächlich. Malu nickte, aber dann wurde ihr klar, dass Edgar das ja nicht sehen konnte. »Stimmt, woher weißt du das? Bist du irgendwo in der Nähe?«

»Kann man so sagen«, lachte ihr Bruder, dann legte er auf.

Verwirrt betrachtete Malu ihr Handy. Was sollte das denn jetzt? Doch im selben Moment wedelte die Lampe wild durch die Zweige und Edgar brüllte: »Malu, ich bin hier!«

Ihr fiel ein ganzer Felsbrocken vom Herzen. Das Licht war niemand anders als ihr Bruder Edgar! Der Schimmel war aber nicht annähernd so erfreut wie sie. Ängstlich warf er den Kopf hoch, blähte die Nüstern und mit einem letzten Blick aus seinem dunklen Auge machte er auf der Hinterhand kehrt und galoppierte in die Nebelwand zurück, aus der er gekommen war. Ein paar Sekunden später stolperte Edgar aus den Büschen und leuchtete Malu ins Gesicht. »Was machst du nur für einen Mist!«, stöhnte er.

Sie umarmte ihn erleichtert und griff dann nach der Taschenlampe. »Du hast das Pferd mit deinem Gebrüll vertrieben«, sagte sie vorwurfsvoll und leuchtete den Weg hinunter in die Richtung, in der es verschwunden war. Aber das Licht prallte gegen die Nebeltröpfchen und zeigte nur eine weiße Wand.

»Was denn? Dein Geisterpferd?«, grinste Edgar. »Ich glau­­be, der Nebel hat dir das Hirn vernebelt, Schwesterchen.«

»Der Schimmel ist hier entlanggelaufen.« Malu zog ihren Bruder hinter sich her. »Wir müssen ihn suchen, der Arme hat sich bestimmt verlaufen.«

Edgar schüttelte energisch den Kopf. »Vergiss es. Keine Chance. Wir zwei beide gehen jetzt hübsch nach Hause. Rebecca gibt sofort die Vormundschaft für mich zurück, wenn ich weiter mit dir durch den Wald stapfe.« Er packte sie an der Hand und zog sie in die andere Richtung. »Und was auch immer du gesehen hast, ich versichere dir, dass es kein Geist war.«

»Es war ein Schimmel, das hab ich doch gesagt!« Aber Malu gab sich geschlagen und folgte Edgar. Eigentlich war sie auch froh, endlich diesen Gruselwald verlassen zu können, aber das Pferd hätte sie gerne mitgenommen. Hoffentlich kam es zurecht, so ganz alleine im Wald. Sie würde sich morgen Früh gleich auf die Suche nach ihm machen.

Als die beiden zurück auf die Straße stolperten, merkte Malu mit einem Mal, wie müde sie war. Sie hätte im Stehen einschlafen können. Aber zuerst musste sie ihr plattes Fahrrad aufsammeln und neben Edgar nach Hause schieben. Auf der Kastanienallee sprang plötzlich ein Reh vor ihnen über den Weg und verschwand auf der anderen Seite im Wald.

»Guck mal, ein Geisterreh«, lachte Edgar. »Oder vielleicht sogar ein Geisterpferd?« Er zog fragend eine Augenbraue nach oben und musterte seine Schwester von der Seite.

»Da war ein Pferd im Wald, ob du es glaubst oder nicht!«, zischte Malu. In ihr brodelte es. Jaja, ihr Bruder war ihr nachts zu Hilfe gekommen und ja, sie hatte sich immer einen großen Bruder gewünscht. Aber sie hasste es, wenn man ihr nicht glaubte, und noch mehr, wenn man sich über sie lustig machte! Und deswegen würde sie mit Edgar kein Wort mehr reden! Den Rest des Jahres nicht mehr! (Oder die restlichen Ferien nicht – oder zumindest nicht bis morgen Früh!)

Im Schlosshof angekommen, lehnte Malu ihr Fahrrad an den Zaun und stapfte wortlos zu ihrer Wohnung hinüber, die im linken Seitentrakt des Hauptgebäudes untergebracht war. Sie schaffte es gerade noch im Vorbeigehen einen Blick in den Offenstall zu werfen. Papilopulus stand in entspannter Haltung da, den Kopf gesenkt, einen Hinterhuf angewinkelt und schlief. Direkt neben ihm sah sie die Hinterteile von Rocco und Alibaba, die sich dicht aneinandergedrängt hatten. Trotz allem musste Malu bei diesem friedlichen Anblick lächeln.

Eine Minute später lag Malu schon im Bett mit sehr flüchtig geputzten Zähnen. Was für ein Tag! Schon nach ein paar Sekunden verabschiedete sie sich in einen aufregenden Traum, in dem ein weißes einäugiges Pferd die Hauptrolle spielte.

Ein lautes Tröten drängte sich penetrant in Malus Traum. Irgendwann merkte sie, dass es da einfach nicht hineinpasste und wachte unwillig auf. Tatsächlich kam das Hupen vom Schlosshof. Malu quälte sich aus dem Bett zum Fenster und warf einen Blick nach unten. Edgar flitzte gerade zu dem großen Postwagen und nahm ein kleines Paket in Empfang. Dass dieser Kerl immer so hupen musste, wenn er hier etwas abzugeben hatte. Nur weil er keine Lust hatte, in dem großen Anwesen jemanden zu suchen. Obwohl nur die beiden Seitenflügel bewohnt waren, das Hauptschloss selbst war in einem so schlechten Zustand, dass es nur noch Mäusen und achtbeinigen Lebewesen als Unterschlupf diente. Aber es thronte immer noch stolz mit seinen drei Stockwerken, der großen Freitreppe und den beiden Türmchen, die aus dem Dach ragten, auf dem Schlossplatz.

Malu gähnte und warf einen sehnsüchtigen Blick auf ihr Bett. Aber wo sie nun schon mal aufgestanden war, wäre es albern, sich wieder hinzulegen. Obwohl – es waren schließlich Herbstferien! Da fiel ihr plötzlich die ganze Geschichte von gestern Abend wieder ein. Das Geisterpferd! Das Geisterpferd, was dann doch keins gewesen war. Auf ein­mal war Malu hellwach. Sie würde sich Papilopulus schnappen und nach dem Schimmel suchen. Und wenn sie dann erst mit dem Pferd in den Schlosshof geritten kam, dann würde Edgar schon sehen, dass sie recht gehabt hatte.

Sie suchte die Wiese nach dem alten Wallach ab. Das war eigentlich das Schönste an ihrem Zimmer, von hier guckte sie direkt auf die Wiese mit dem Offenstall. Aber jetzt konnte sie Papi nirgends entdecken. Doch, da, sein Hinterteil ragte aus dem Offenstall. Wahrscheinlich hatte Edgar schon eine Portion Heu an die Pferde verteilt. Ihr Bruder war echt ein Frühaufsteher. (Vollkommen unnatürlich!)

Aber was war das?! Malu riss ihre Augen auf und für einen Moment hatte sie das Gefühl, ihr Herz würde stehen bleiben. Papilopulus schwankte und plötzlich knickten seine Beine unter ihm weg!