images

images

Sie sind am Anfang ihrer schriftstellerischen Karriere und nicht älter als 35 Jahre. Sie suchen nach einer ernsthaften Herausforderung in der Literaturszene. Dazu haben sie die Chance – als Teilnehmerinnen und Teilnehmer des open mike.

Der open mike ist der Wettbewerb für junge Literatur. Längst ist er über die Grenzen Deutschlands hinaus bekannt. Viele Autor*innen, deren Namen heute im Literaturbetrieb bekannt sind, haben ihre Karriere beim open mike in der Literaturwerkstatt Berlin, heute Haus für Poesie, gestartet. Dazu gehören zum Beispiel Karen Duve, Rabea Edel, Julia Franck, Björn Kuhligk, Kathrin Röggla, Terézia Mora und Tilman Rammstedt.

Sechs Lektorinnen und Lektoren aus renommierten Verlagen – Sabine Baumann (Schöffling Verlag, Frankfurt), Florian Kessler (Hanser Verlag, München), Tom Müller (Aufbau Verlag, Berlin), Andreas Paschedag (Berlin Verlag, Berlin), Juliane Schindler (S. Fischer Verlag, Frankfurt) sowie Christian Döring (Die Andere Bibliothek, Berlin) – haben anonymisierte Textberge abgetragen, sich durch 580 Einsendungen gelesen und die 20 interessantesten Texte herausgesucht. Die ausgewählten Autor*innen präsentierten im Finale vom 10. bis 12. November 2017 in Berlin ihre Texte dem Publikum und den Juror*innen Nico Bleutge, Olga Grjasnowa und Ingo Schulze.

Der 25. open mike ist eine Gemeinschaftsveranstaltung des Hauses für Poesie und der Crespo Foundation. In Kooperation mit dem Heimathafen Neukölln und dem Allitera Verlag. Mit freundlicher Unterstützung des Fachbereichs Kultur des Bezirksamtes Neukölln.

25. open mike

Wettbewerb für junge Literatur

Die 20 Finaltexte

images

Weitere Informationen über den Verlag und sein Programm unter:

www.allitera.de

November 2017

Allitera Verlag

Ein Verlag der Buch&media GmbH, München

© 2017 Anthologie: Buch&media GmbH, München

© 2017 Texte: bei den Autoren

Projektbetreuung: Heidi Keller, München

Corporate ID / Grafik: Beratung, Konzeption, Produktion,

Covergestaltung: studio stg; www.studio-stg.com

978-3-96233-008-8 (print)

978-3-96233-010-1 (epub)

978-3-96233-011-8 (PDF)

Printed in Europe

Inhalt

Florian Kessler Warum! Wozu!

Ann-Kathrin Ast Beat, in diesem trockenen, süßlich riechenden Nebel (Romanauszug)

Lukas Diestel Peter M. stellt sich vor.

Mariusz Hoffmann Dorfköter

Rainer Holl Prolog

Magdalena Kotzurek Podniebo

Eva Maria Leuenberger schlucht

Baba Lussi So kommt’s

Lauritz Müller renaturierte spielbretter die natur im verdacht (auszug)

Markus Ostermair Karl Maurers Streifzug

Ronya Othmann Gedichte

Tobias Pagel grenzgebiete II

André Patten zu viel Spaß

Timotheus Riedel Malkowski. Eine Szene

Laura Schiele Gedichte

Christian Schulteisz Hunger auf Schienen

Magdalena Sporkmann Date IV

Ralph Tharayil Das Liebchen

Matthias Emanuel Tonon Sam

Sarah Wipauer Wie früher die Männer an Säuglingen starben

Armin Wühle Leuchtquallen

Die Autorinnen und Autoren

Die Jury

Die Lektorinnen und Lektoren

Preisträger & Jury 1993–2017

Florian Kessler

Warum! Wozu!

Es ist viele Jahre her, und es war unglaublich spät, und es muss in einem Juli gewesen sein, denn im Juli ist seit Urzeiten immer die Abgabefrist für die open mike-Texte. Ein Freund von mir hatte bis in die Nacht an seinem Bewerbungstext herumgeschrieben, einer nahezu ereignislosen Short Story über einen Berliner Studenten mit Schreibhemmung in einer WG, ziemlich gut. Ich hatte bei ihm in der WG-Küche auf ihn gewartet und dreimal seine Ausdrucke gegengelesen und wie jeder zukünftige Lektor mit rotem Stabilo große Fragezeichen und Ausrufezeichen und meine beiden liebsten Lektoratskommentare an den Rand gemalt: »Warum?« und »Wozu?«.

Schließlich war er fertig, irgendwie. Das Ende der Short Story war äußerst offen, sie brach einfach unvermittelt ab, das fanden wir damals um vier Uhr morgens dem Inhalt mehr als angemessen. Mein Freund packte die zwölf Seiten und das Anschreiben an Jutta Büchter von der Literaturwerkstatt in eine Klarsichtfolie, die Klarsichtfolie in einen Umschlag, und dann radelten wir durch Berlin zur Anschrift des Wettbewerbs in der Kulturbrauerei im Prenzlauer Berg.

Leider haben wir dort an der Literaturwerkstatt nicht Hunderte andere open mike-Bewerberinnen und -Bewerber getroffen, die verzweifelt den Nachtbriefkasten suchten, um die Bewerbungsfrist noch einzuhalten. Aber ein, zwei, drei seltsam verstrahlt wirkende, vor lauter Schlaflosigkeit, Inspiration und Weltgeist aufgequollene, literarisch bleich pulsierende Gestalten sahen wir in meiner Erinnerung doch durch die Sommernacht wanken. Käsig enthusiastische Gestalten, ihre Bewerbungsmappen meiner Vorstellung nach innig und herzenswarm an sich drückend, weil sich doch so viele Momente ihres lebenslangen Umgangs mit Literatur vom ersten Vorlesen durch die Eltern an über all ihre Gedanken und Ideen und Vorstellungen der letzten Jahre bis hin zu ihrem wochenlangen Schreiben an diesem einzigen kleinen Text in dieser einen profanen Bewerbungsmappe materialisierten.

Ich will mich nicht über die open mike-Bewerberinnen und -Bewerber und ihre Mappen und ihre späten Abgaben lustig machen, und auch nicht über meinen Freund und seine schöne leere Geschichte. Im Gegenteil, im absoluten Gegenteil: Wie die Menschen Gottesbeweise brauchten und bisweilen eben noch brauchen, brauchen wir doch vielleicht auch Literaturbeweise – Liebesherleitungen, Gefühlsbegründungen, warum das, womit so viele von uns in ihrem Leben derart freiwillig derart viel Zeit verbringen, wahrhaft sinnvoll und sinnstiftend sein könnte, wichtig und schön, wunderschön. Und denke ich über solche möglichen Literaturbeweise nach, dann spielen in meinem Denken die open mike-Bewerberinnen und -Bewerber und überhaupt die Rituale rund um den Wettbewerb mit seinem unfassbar aufmerksamen Publikum und den Lektorinnen und Lektoren und Kritikerinnen und Kritikern und diesen immer wieder schon allein als Bild tollen weihevoll schweigenden Jurys eine zentrale Rolle.

Denn ich glaube absolut nicht, dass nur die große Literatur oder gar das, was so gerne allen lebendigen Zugriff zubetonierend Weltliteratur genannt wird, das Zeug zum Literaturbeweis hat. Sondern andersherum, wenn wir uns für erst noch entstehende Gegenwartsliteratur interessieren, dann sind wir der genau umgekehrten Herangehensweise an Literatur auf der Spur: dem generell allseits um Empathie bemühten Interesse an einer herrlich lebendigen, unbefestigten Landschaft von chaotisch unterschiedlichen Textversuchen und Gedanken zum Stand der Gegenwart und dem, was Literatur in dieser Gegenwart gesellschaftlich und politisch und ästhetisch bewirken könnte und sollte.

580 open mike-Bewerbungen wie in diesem Jahr sind da schon an und für sich ein herrlicher Literaturbeweis. Man kann ganz grundsätzlich gutheißen, dass wir in einer Gesellschaft leben, in der es Menschen wichtig ist und – wenigstens – sie dazu in der Lage sind, 580 jeweils völlig unterschiedliche Texte zu verfassen, die alle etwas erzählen vom menschlichen Enthusiasmus und von der menschlichen Versenkung, vom Nachdenken über Ästhetik und über Politik, von der Wut und vom Hadern und von der stilistischen Meisterschaft und von der herrlichen Schnoddrigkeit und vom geglückten Gedanken und von der treffenden Beobachtung und von den viel zu großen schriftstellerischen Plänen und vom kleinem, stillen, freundlichen, in sich fantastisch geglückten Text, der plötzlich irgendwann in einer Nacht vor irgendjemandem auf seinem Laptop in die Welt blinkt und einfach da ist und nie mehr verschwinden wird.

Für mich ist auf diese Weise nicht nur die Literatur ein Literaturbeweis, sondern für mich sind auch die Literaten ein Literaturbeweis, und zwar ein schöner: Meine Güte, ganz ehrlich, in dem riesigen Stapel, der uns sechs aus dem gewaltigen Textstapel auswählenden Lektorinnen und Lektoren zugesandt wurde, waren unglaublich viele Sachen drin, die ich nicht toll fand. In vielen Fällen irrte ich mich dabei sicher auf niederschmetternde Weise, immer wieder lag ich peinigend daneben, wie sich das eben bei ästhetischen Urteilen gehört, bei denen wir allesamt gemeinsam auf schwankendem Boden urteilen und nur die ununterbrochene Revision unserer Urteile und Meinungen uns manchmal zumindest kurzfristig so etwas wie das Gefühl davon geben kann, dass sich dieses Kunstwerk oder diese Inszenierung oder eben dieser eine kleine seltsame neunseitige open mike-Bewerbungstext gerade jetzt für unsere Gegenwart genau richtig anfühlt – dass diese merkwürdigen 13.000 Zeichen da plözlich einfach nur wunderbar und innovativ und schön sind, wunderschön.

Ich habe vor Jahren mal den open mike-Wettbewerb in einem großen Artikel in brutal polemischer Absicht angegriffen, weil ich beschreiben wollte, wie sehr sich die jüngere Literatur innerhalb weniger Jahre durchprofessionalisiert hat und inwieweit der Literaturbetrieb längst schon in jedes noch so gut gemeinte Schreiben hineinragt. Das bleibt natürlich richtig, und ich bin mir sicher, dass man eine Geschichte der Ausweitung und Umstrukturierung des Literaturmarkts nach 1989 bereits darstellen könnte, wenn man nur einige wenige kleine Szenen der drei Stationen des open mike seit 1993 von der Pankower Villa des ersten Ministerpräsidenten der DDR im Majakowskiring über die Wabe im Prenzlauer Berg bis in den Neuköllner Heimathafen beschreiben würde.

Ich bin mir auch sicher, dass sich in den nächsten Jahren noch ganz andere Debatten am open mike entzünden werden. Immer wieder werden hoffentlich verschiedenste politische und ästhetische Kriterien an die Texte gerichtet werden – wogegen sich die Autorinnen und Autoren dann ja wehren können oder auch nicht, wenn es jedenfalls keine solchen kritischen Nachfragen mehr gäbe, wäre die Literatur-Angelegenheit ganz schön am Ende. Ganz unabhängig vom Ausgang solcher Debatten sind sie natürlich erst mal gut. Wenn um Literatur gerungen wird, muss selbstredend auch um ihre Bedingungen gerungen werden. Das geschieht bei jeder Feuilletondebatte wie bei jeder einzelnen Bekundung in diesem Internet. Und das geschieht nicht zuletzt auch auf eine unerhörte Weise, die ich wie so viele andere sehr liebe, beim open mike-Wettbewerb.

Denn ich als Lektor habe ständig und geradezu berufsmäßig keine Ahnung, was das ist: gute Literatur, große Literatur, wichtige Literatur. Ich muss das herausfinden, unbedingt, immer wieder! Wir alle müssen das herausfinden. Und ein Wettbewerb wie der open mike stürzt uns alle gemeinsam hinein in einen Raum, in dem so viele Menschen gemeinsam so herrlich wenig starre Ahnung haben und haben können – und alle um ihre Meinungen ringen müssen, immer wieder, zwanzigmal, wenn zwanzigmal in diesem wunderbarsten aller open mike-Momente eine neue Autorin oder ein neuer Autor auf die Bühne kommt, und unten im Publikum alle in ihren Anthologien nach dem Text blättern, oder aber sich einfach zuhörend hineinfallen lassen in die ersten Sätze, und dabei neugierig denken: Was macht die da jetzt auf der Bühne? Was liest die, was soll das? Ist das neu, ist das gut? Wie funktioniert das, ist das schön, was bedeutet das alles für mich, was bedeutet das bloß, was soll das?

Um immer wieder literarisch pulsierend in all den Köpfen beim gemeinsamen Zuhören mit diesen gut basalen Lektoratsanmerkungen zu enden, die wir alle jedem einzelnen open mike-Text und der Gegenwartsliteratur und einfach uns allen unerbittlich immer wieder stellen sollten: »Warum?«, »Wozu?«, Fragezeichen! Ausrufezeichen!

Ann-Kathrin Ast

Beat, in diesem trockenen, süßlich riechenden Nebel(Romanauszug)

4

Zuerst hört Beat nichts. Dann das Rauschen vom Meer, es muss bereits vorher dagewesen sein. Früher Morgen, der langgezogene Strand weitgehend leer. Ein Kinderschrei aus der Ferne. Badetuch ausbreiten. Hammer, was da hinten abgeht, hört er die Stimme eines jungen Manns hinter sich sagen. Beat blickt auf und sieht eine weißquellende, heranrauschende Wellenwand im sonst glatten, hellblauen Meer. Eine Frau hinter ihm antwortet auf Thailändisch, was Beat nicht versteht. Die Wellenwand bewegt sich näher, ist aber noch sehr weit entfernt. Neben Beat fängt eine ältere thailändische Frau an zu schreien, RUN RUN GO GO, Beat beobachtet ihre aufgeregten Armbewegungen, offenbar will sie die Badenden unbedingt warnen. Merkwürdigerweise fühlt er sich gut. Was ist das, fragt der junge Mann wieder, Tsunami, antwortet ein anderer. Ja?, fragt der erste, neugierig, fast hoffnungsvoll. Kinder und Erwachsene rennen aus dem Wasser und Beat entgegen, an ihm vorbei. Ein einzelner Mann ist nah am Wasser im nassen Sand stehen geblieben, will er sich nicht mehr bewegen oder steht er unter Schock? Angst vermischt sich mit Faszination, als die Wellenwand sich über dem Mann überschlägt. Die braunschlammige, schäumende und hochhausgroße Wand rast sehr schnell über den nassen Sand, Menschen, Schiffe, kleine Häuser, Autos schieben sich unter die sich überschlagende Masse – Beat sieht nur noch verschwommene, abgehackte Bilder, während er rennt, den Boden, die bunten Kleider anderer Touristen, rennt, Palmenbäume, asphaltierter Boden jetzt, so frisch fühlte er sich seit Tagen nicht, so lebendig. Es ist nicht zu leugnen, er blüht auf angesichts der realen Gefahr, umgeben von Leid, das seinen seit Tagen störenden, sinnlosen Trauergefühlen endlich Grund gibt. Brummen und Rauschen schiebt sich herein, von Kaffeemühlen, Siebträgermaschinen, auch fröhliche Stimmen hört er. Die Rufe in thailändischer Sprache werden leiser, glatte Bossa Nova-Musik erfüllt den Raum, orangefarbenes Abendlicht streut durch die bodentiefen Fensterscheiben und in Beats Augen, das ist sein Lieblingscafé, überfüllt wie immer, die Stimmen der Gäste, der Mädchen am Tresen vermischen sich, Beat hört alles, aber hört es gedämpft. Er fühlt sich wie betäubt, sind seine Ohren zu? Als bestünde da eine Glaswand zwischen ihm und der Umgebung. SHOCKING – SCARY WAVES liest Beat am Bildschirmrand über weiteren Videos, die ihm vorgeschlagen werden. Er scrollt herunter zu den Kommentaren, »thank you so much for posting this video, it’s great« schreibt jemand, »did the man die«, will eine Nutzerin namens Kitara wissen, Beat klappt den Laptop zu, konzentriert sich ganz auf den Caféraum, die orangefarbenen Gläschen, in denen echte Teelichter brennen. Durch die Scheibe sieht er das vertraute Teppichgeschäft, seit drei Jahren »Jetzt Total-Ausverkauf, 70 % Preisnachlass« verkündend. Widersteht der Versuchung, nachzusehen, ob auf den Nachrichtenseiten etwas Neues zu finden ist. Seit mehr als zwei Stunden sitzt er alleine hier, fällt ihm auf. Wie ein Besessener hatte er bis gerade eben immer wieder sämtliche Nachrichtenportale auf neue Ereignisse hin gecheckt. Geschieht nie mehr etwas Überraschendes, Neues, hatte er gedacht, hier in Deutschland, wo seit der Wiedervereinigung, seinem Geburtsjahr, keine wesentlichen Ereignisse mehr stattgefunden haben. Das Land zu satt, langsam und langweilig geworden, unmöglich, dass sich etwas ändert. Beat wünscht sich, dass etwas Schlimmes passiert. Haben seine Kollegen recht, die fast alle seit Jahren keine Zeitung lesen?

Dicht vor der Scheibe geht der Cellist aus dem zehnten Stock vorbei, Viktor, fällt ihm wieder ein. Viktor winkt und schlägt mit Gesten vor, hereinzukommen, zusammen etwas zu trinken. Beat schüttelt den Kopf und zeigt auf die Uhr, sodass Viktor sich langsam wieder in Bewegung setzt. Dass es doch möglich sein müsste, irgendetwas Sinnvolles zu tun, denkt Beat weiter vor sich hin, Probleme gibt es wohl genug, doch er weiß nicht, wie anknüpfen, wie mit echten Problemen, Menschen in Kontakt kommen? Soll er etwa für sie Musik spielen? Schon der Gedanke scheint ihm lächerlich. Aber er hat auch seine Schulkollegen nie verstanden, die nach dem Abitur nach Ghana oder Eritrea gingen, konnten die dort wirklich etwas Sinnvolles tun? Vielleicht hätte ich mit einem Jurastudium mehr machen können? Du willst nur, dass es dir selbst besser geht, indem du dich für andere einsetzt. Herzlichen Glückwunsch, schließt er den Gedanken ab und packt den frisch gekauften Laptop zurück in die Tüte, auf der (er bemerkt es erst jetzt) Everything is going to be alright steht. (Nimmt sich vor, die Tüte wegzuwerfen, sobald er zu Hause ist.)

Als Beat das Café verlässt, ist das Licht immer noch orangefarben, alle Gegenstände, seine Umgebung, in dieses betäubende Licht getaucht, das andere Wellenlängen als die seinige aufzusaugen scheint. Beat spürt rosa-orangefarbenen, noppigen Boden unter den Füßen. Das Bild verwischt unter dem ausströmenden Klang eines Tam-Tams, zwei weiche Gongschläge. Wie er den Klingelton vor mehr als einem Jahr selbst aufnahm. Gleichzeitig blinkt das Bild seiner erschreckt in die Kameralinse blickenden Mutter. So lange hat er ihre Stimme nicht gehört; doch er lehnt den Anruf ab. Kannst du das entbehren?, hört er, einen Bogendurchgang passierend, unter dem zwei Obdachlose beieinander stehen, den einen zum anderen sagen (der, der fragte, steckt einen Geldschein ein, den der andere ihm anscheinend leiht, nur wozu?). Entbehren, was für ein schönes Wort, denkt Beat und empfindet einen Schwall Sympathie. Dann ist das orangefarbene Licht weg, und alle Farben sehen aus wie gewohnt.

Trockener, süßlich riechender Nebel umgibt ihn, steigt nach oben. Rote und blaue Lichtstrahlen überkreuzen sich auf Augenhöhe, sie nähern sich und fahren wieder zurück. Eine an Banalität nicht zu überbietende Basslinie vibriert durch seinen Körper. Der Stick in seiner linken Hand bewegt sich auf das Fell der Snare-Drum zu, bremst kurz vor dem Berühren ab. Beat hört den Ton, den er eben beinahe gespielt hätte, eine Millisekunde zu früh. Trotz des ihn von allen Seiten anstrahlenden Lichts, diese Hitze, ich hasse Scheinwerfer, strengt er sich an, die Augen offen zu halten, zieht seine Lippen, wann immer es ihm wieder einfällt, zu einem künstlichen Lächeln, ja, bewegt sich viel mehr, als nötig wäre, um diesen Allerwelts-Rhythmus zu spielen, damit die Bewegung ihm das Gefühl gibt, überhaupt etwas zu tun. Als endlich das Klatschen einsetzt und er zusammen mit den Geigen- und Celli-Mädchen, denen allen die Haare je kranzförmig um den Kopf geflochten sind, den niedrigen Raum verlässt, fällt ihm auf, dass die Sitzreihen nur an einer Seite besetzt sind, die restlichen Plätze weitgehend im Dunklen liegen. Dass Fernsehshows wie Verstehen Sie Spaß?, die er als Kind gerne sah, in unscheinbaren Allzweckhallen wie dieser aufgenommen werden, hätte er nicht gedacht. Auch die Umkleidekabinen lassen nichts von Glamour oder wenigstens Komfort erahnen; Geruch nach gammligen Turnschuhen, Schweiß. Zudem muss Beat sie sich teilen mit den zehn Mädchen, die nun für das nächste Lied ihr Make-up auffrischen, ihn immerhin konsequent ignorieren. Zu eng hier – er flieht in einen langen Gang, findet ein leeres Zimmer, in dem nur ein Schreibpult steht, darauf ein aufgeklappter Laptop, und in dem es schwach nach Salz und Schwefel riecht, oder bildet er sich das ein? Hier ist niemand, dem er genug vertrauen würde, danach zu fragen. Er tritt näher und tippt auf eine Taste des Laptops; tonlos springt er an. Auf dem Sperrbildschirm ein langsam strömender Wasserfall, Beat vertieft sich in das Bild – bis ihm langweilig wird; er verlässt das Zimmer. Zu den Toiletten geht’s da lang, sagt ein leicht geschminkter Mann zu Beat und zeigt auf eine weiße Wand neben sich. Danke, ich möchte gar nicht, sagt Beat und bemerkt, dass es sich um einen der vier Solosänger der Schlager-Boygroup handelt, mit der er gleich wieder auftreten wird. Ich habe früher auch Musik studiert, klassischen Gesang, sagt der Mann mit hoher Stimme, und dass er Alex heiße. Mit einer zarten Armbewegung gibt er Beat die Hand. Nur wenige Jahre älter als Beat ist er, also für einen Schlagersänger überraschend jung, unruhige Augen, seine Hände fließen beim Reden durch die Luft. Später sang ich in einem Theaterchor, aber die Qualität gefiel mir nicht, ständig Koordinationsprobleme im Chor, zwischen Chor und Orchester, schlechte Dirigenten, schlechte Solisten, deshalb bin ich hier gelandet. Bevor Beat antwortet, spricht Alex schon weiter: Mag sein, die Musik ist schlichter, dafür wird hier alles bis zur Perfektion getrieben: der Soundcheck, die Kamerafahrten, der Moderator hat ein ausgeschriebenes Drehbuch, alles perfekt organisiert, die ganze Perfektion ist sonst kaum zu finden, mir ist lieber, ich mache das, was ich mache, richtig gut, es ist nicht einfach, perfekt Playback zu singen, gute Unterhaltung abzuliefern, kannst du mir glauben. Stille – der Mann sieht Beat hilfesuchend an. Beat nickt ihm zu, während eine Frau in großen Schritten auf sie beide zustakst. Sie bleibt stehen, strahlt eine Selbstverständlichkeit aus, die Beat irritiert. Hier bist du, sagt sie zu Alex, in einem Tonfall, dem man nicht widerspricht. Ihr müsst in drei Minuten wieder raus. Die Mädchengruppe steht bereits aufgereiht mit ihren Instrumenten im Gang vor der geschlossenen Tür. Und denkt daran, bevor ihr rausgeht, noch einmal in die Bäckchen kneifen, die Lippen fest zusammenpressen für die Durchblutung, sagt die Frau. Sie kneift Beat als Vorbild für die anderen in die Wangen. Ich möchte nur glückliche Gesichter sehen! Schon eilen die Mädchen und Beat leise zurück in die Halle, während der Moderator immer noch spricht. Hinter dem Sofa mit zwei Gästen ist ein großer Bildschirm mit einem fließenden Wasserfall aufgestellt. Zunächst läuft alles glatt, Beat lächelt sogar hinüber zu Alex, sein Körper bewegt sich zur Musik.

Die Farben werden blasser. Diese Zähigkeit, als bewegte sich seine Umgebung und die Musik in Zeitlupe, nur er selbst in schnellerem, zu schnellem Tempo. Fraglich, wie es ihn derart anöden kann, auf einer Bühne zu sitzen. Sein Blick bleibt an dem langsam strömenden Wasserfall hängen, an Kaskaden, fließenden Fäden, die ihn schläfrig werden lassen, angenehm ist das.

Er öffnet die Augen, zuckt zusammen – kann es sein, dass er gerade eingeschlafen ist? An die letzten Sekunden erinnert Beat sich nicht. Er bewegt sich nicht mehr im Takt. Seine Hände fangen an zu zittern, Herzrasen, was soll das? (Als wäre dieser Auftritt es wert, nervös zu sein, peinlich.) Er muss aufpassen, die Sticks in der Hand zu behalten, eine Kamera auf einem durch die Luft fahrenden Gestell kommt gerade auf ihn zu.

Während er sich zwingt, wieder zu lächeln und im Takt Playback zu spielen, erfasst ihn Wut, unpassend und aus einer anderen Zeit. Wie er als Jugendlicher das Schlagzeug im Keller malträtierte, etwas aus sich herausschlug, stundenlang, ohne Rhythmus, kontrolllos, antimusikalisch. Auch jetzt möchte er das Schlagzeug hauen, es malträtieren, am liebsten zerbeißen. Aber er darf höchstens leicht die Felle und Becken berühren. Dass er hier Töne von sich gibt, ist nicht erwünscht. Ob er allein mit dem echten Schlagzeug vor ihm die laut vom Band dröhnende Musik zerschlagen könnte?

Es reicht – Beat lässt beide Sticks gleichzeitig fallen; doch der Ton des Aufpralls ist viel zu leise. Alles unverändert: Keine Blicke; die Musik vom Band, der Nebel, das Licht spulen sich weiterhin ab. Hat niemand bemerkt, dass der Schlagzeuger einfach aufgehört hat? Niemand reagiert auf ihn!

Er putzt sich die Nase. (Hätte er doch wenigstens Nasenbluten.) Wie lange dauert dieses Lied noch? Er betrachtet die lächerlich kleine, billig aussehende Bühne, wieso wirkt alles im Fernsehen viel größer und hochwertiger?

Die Mädchen verausgaben sich in ihren Bewegungen, die vier Sänger drehen sich alle gleichzeitig einmal um sich selbst, endlich setzt das Klatschen ein. Beat steht schnell auf und zieht sich aus der Halle zurück. Genug gesehen. Seine Kontodaten sind hinterlegt. Kein Bedürfnis, sich von irgendjemandem zu verabschieden.

Stille Erleichterung, als er wieder im Wagen sitzt, sein eigenes Schlagzeug unberührt, unbeschmutzt, denkt er fast. Er fährt los. Müdigkeit ergreift seinen Körper. Seine Bewegungen werden zäher. Allein, den Arm auszustrecken, den Gang zu verstellen, eine langsame Überwindung.

Im Parkhaus beschließt er, noch in einer Bar auf den Kapuzinerplanken einen Whisky zu nehmen, da es Freitagabend ist. Rote Polstersessel, die Lampe sieht aus, als flögen Hunderte weiße Zettel aus der Glühbirne. Es ist zu laut, um Wörter aus fremden Gesprächen herauszuhören (was Beat gefällt). Auf das Getränk wartend (einen schottischen Islay Single Malt, Beat stellt sich vor, er wäre wieder auf der gräsernen Insel), öffnet er auf dem Handy mehrere Nachrichtenportale parallel. Eine ihm flüchtig bekannte Bassistin am anderen Ende des kleinen Raums lächelt ihm über den Kopf ihres Gesprächspartners hinweg zu. Flugzeugabsturz über Frankfurt, 224 Tote – so die erste Nachricht auf allen Portalen. Erst kann er es nicht glauben. Steht das in Zusammenhang mit – hat er sich das gewünscht? Die Gäste um ihn herum trinken, lachen, reden einfach weiter. Beat spürt leichte Übelkeit, seine Gesichtshaut rot und heiß.

Um sich abzulenken, sucht er nach dem Video von Verstehen Sie Spaß?, seinem heutigen Auftritt, findet es sofort in der Mediathek. Beat spult bis fast ans Ende, zum letzten Lied, bei dem er die Sticks fallen ließ.

Hinter dem Schlagzeug sitzt ein sicher sechzigjähriger, dunkelhäutiger und muskulöser Mann, bewegt sich fließend im Takt, seine Sticks berühren die Snare-Drum nicht. Kurz hält er in der Bewegung inne, lächelt in die Kamera, winkt.

Lukas Diestel

Peter M. stellt sich vor.