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Bertrand Russell

Warum ich kein Christ bin

Aus dem Englischen von Grete Osterwald

Mit einem Vorwort von Martin Walser
und einem Nachwort von Sebastian Kleinschmidt

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Inhalt

Vorwort: Die Theologie des Mangels. Ein Versuch, Bertrand Russell zu ergänzen

von Martin Walser

Bertrand Russell

IWarum ich kein Christ bin

IIHat die Religion nützliche Beiträge zur Zivilisation geleistet?

IIIÜberleben wir den Tod?

IVÜber katholische und protestantische Skeptiker

VNette Menschen

VIKann Religion ein Heilmittel gegen unsere Schwierigkeiten sein?

1. Teil

2. Teil

VIIReligion und Moral

VIIIWas ich glaube

Vorwort

1. Natur und Mensch

2. Das gute Leben

3. Moralische Regeln

4. Heil – individuell und gesellschaftlich

5. Wissenschaft und Glück

Nachwort: Russells Religionskritik und die Theologie des Als-ob

von Sebastian Kleinschmidt

Martin Walser

Vorwort: Die Theologie des Mangels Ein Versuch, Bertrand Russell zu ergänzen

Weil Bertrand Russell seine Unchristlichkeit so fein, so klug, so kenntnisgesättigt, so humorvoll, so stimmungsreich, so argumentierfreudig, so geschichtsmächtig darstellt, ist es unmöglich, ihm in der von ihm gewählten und in so hinreißend beherrschter Sprache zu widersprechen. Es ist die hellste Version der Sprache des Rationalismus. Und damit fängt mein Eigenleben an. So viel Vergnügen es macht, so geistreich unterhalten zu werden, mit der Zeit merkt man, merke ich, dass diesem so gelassen geistreichen Mann etwas fehlen könnte. Ich will eine der heftigen Stellen zitieren, die ihn kurzatmiger erscheinen lassen, als er ist: »Das Wissen, das uns erlauben könnte, einen Zustand allgemeiner Zufriedenheit zu schaffen, ist vorhanden; das Haupthindernis, es für diesen Zweck einzusetzen, besteht in der Religionslehre. Die Religion hindert unsere Kinder, eine vernünftige Erziehung zu bekommen; die Religion hindert uns daran, die grundlegenden Ursachen des Krieges zu beseitigen; die Religion hindert uns daran, statt der grimmigen alten Lehren von Sünde und Strafe eine Ethik wissenschaftlicher Zusammenarbeit zu lehren. Es kann sein, dass die Menschheit an der Schwelle eines goldenen Zeitalters steht; aber wenn dem so ist, muss zuerst der Drache getötet werden, der das Tor bewacht, und dieser Drache ist die Religion.«

Diese Sätze enthalten alles, was den Philosophen dazu bewog, kein Christ sein zu können.

In seiner Sprache kann man Russell nicht widersprechen. Mir käme es lächerlich vor, seinen Argumenten andere Argumente entgegenzusetzen. Aber mir wurde, je länger ich las, umso deutlicher, warum ich ihn bewundern, aber ihm nicht zustimmen konnte. Der erste und einfachste Grund dafür: Er spricht häufiger von und über Religion als von und über Gott. Das weckt die Vermutung, er reagiere so intensiv auf das, was er gesellschaftlich per Tradition und Milieu als Religion erlebte. Und es erinnerte mich an einen Satz aus Nietzsches Nachlass: »Der gläubige Mensch ist der Gegensatz des religiösen Menschen.« Nietzsche war ein Pfarrerssohn und wurde dann berüchtigt durch seinen Satz, dass Gott tot sei. Dass er damit den Gott meinte, den die damalige, die sogenannte liberale Theologie verkündete, wurde vergessen.

Russell ist trotz seines auftrumpfenden Temperaments immer auch der, der mehr, der weiter denken kann als alle vergleichbaren »Freidenker«. Zum Beispiel: »Ich behaupte nicht, beweisen zu können, dass es keinen Gott gibt.« Aber gleich der nächste Satz hebt diesen vernünftig daherkommenden Satz fast auf: »Ich kann auch nicht beweisen, dass der Teufel eine Fiktion ist.« Womit doch gemeint ist: Der Teufel und Gott, beide sind eine Fiktion.

Die Epochen, in denen es noch sinnvoll zu sein schien, Gottesbeweise zu führen, sind längst vorbei. Aber für Russell war es fast lebenslänglich notwendig, immer wieder vorzutragen, warum er kein Christ sei. Das stellt er in immer neuen Versionen vor. Zusammenfassend darf man sagen, dass es für ihn nicht weniger als eine Zumutung gewesen wäre, Christ zu sein. Es vertrüge sich nicht mit dem Rang eines Denkers, der die Principia Mathematica geschrieben hatte, die Schrift On Denoting und so vieles mehr.

Das glaube ich zu verstehen, aber eines verstehe ich nicht, und das muss ich gleich auf mich lenken, auf mich reduzieren: Ich verstehe nicht, warum jemand, der so deutlich die Abwesenheit Gottes erlebt, warum dem dann Gott nicht fehlt. Ich konnte verstehen, dass er sich zwar in die obsolete Debatte, ob es Gott gebe oder nicht gebe, nicht verstricken lassen wollte, aber ich musste auch erleben, dass ihm nichts fehlte, wenn es Gott nicht gäbe.

Von da an wuchs in mir das Bedürfnis, dem wahrlich übergroßen Philosophen eine Ergänzungsbedürftigkeit nachzusagen. Das will ich tun. Und ich behaupte einmal leichtfertig: Ob ich das darf, entscheidet nicht die Zuständigkeit, sondern das Bedürfnis, das ich auch die persönliche Notwendigkeit nennen könnte. Ich kann auch einen Satz von ihm selber herrufen: »Unserer Erkenntnis von Wahrheit ist immer ein Schuss Zweifel beigemischt, und eine Theorie, die diesen Umstand vernachlässigt, wäre schlicht falsch.« Das hat er 1912 gesagt. Und 1951 veröffentlichte er im New York Times Magazine einen Dekalog unter dem Titel »Die beste Antwort auf Fanatiker: Liberalismus«. Das erste Gebot hieß: »Fühle dich keiner Sache völlig gewiss.«

Dass Gott, wenn es ihn nicht gibt, fehlt, das ist meine Erfahrung. Und gleichzeitig wäre alles anders, als es ist, wenn es ihn gäbe; mir waren immer zwei Aussagen gleich weit weg: Den Satz, es gebe Gott, kann ich so wenig nachsagen wie den Satz, dass es ihn nicht gebe. Ich habe in dieser Unentscheidbarkeit gelebt und erfahren, dass es nicht nur mir so geht. Ich habe gelesen, von Augustinus bis Karl Barth. Aber ich habe auch erlebt, wie in den Künsten vorkommt, was wir Religion nennen. In der Literatur, in der Malerei, in der Musik. Von Dante bis Dostojewski. Von Michelangelo bis Tübke. Von Bach bis Bruckner.

Ich muss die, die mir geholfen haben, mit der Uneindeutigkeit umzugehen, beim Namen nennen. Es sind Namen, die bei Russell nicht oder kaum vorkommen. Zuerst Hegel. Er hat den damals von der evangelischen Theologie verkündeten Gott einen »sinnlosen Laut« genannt. Es verrät ein empfindliches Denken, dieses so tradierte und so verkündete Hauptwort der Religion einen sinnlosen Laut zu nennen. Nicht Begriff, nicht Ausdruck, sondern Laut! Und im 20. Jahrhundert hat Karl Barth in dem Buch Der Römerbrief alles gesagt, was dadurch, dass Gott fehlt, gesagt werden kann, gesagt werden muss. Und so sagt er es: »… unsere Religion besteht in der Aufhebung unserer Religion, unser Gesetz ist die grundsätzliche Außerkraftsetzung alles menschlichen Erfahrens, Wissens, Habens und Tuns.« Und: »Es ist sentimentale … Selbsttäuschung zu meinen, dass etwa von Natur und Geschichte, von Kunst, Moral, Wissenschaft oder sogar Religion aus direkte Wege zu der unmöglichen Möglichkeit Gottes führen.« Und das ist sein Credo: »Als der unbekannte Gott wird Gott erkannt: … als der, an den man nur ohne Hoffnung auf Hoffnung hin glauben kann.« Und was ist dann glauben? »Glauben ist für alle der gleiche Sprung ins Leere.«

Es kann kaum vorwerfbar sein, dass man lesend etwas erlebt, was einem hilft, mit einem Mangel umzugehen, den man bis dahin eher verkommen ließ, als dass man sich um ihn kümmerte.

Bis ich Karl Barth las, war Kierkegaard der Schriftsteller gewesen, in dessen Sprache ich meinen Bedürfnissen wieder begegnete: »… das religiöse Handeln ist am Leiden kenntlich.« Oder: »… die Offenbarung ist am Geheimnis kenntlich.« Und jetzt Bertrand Russell, der vernünftig und kenntnisreich nachweist, was alles die Religion nicht vermag; egal ob es sich um Gerechtigkeit, um Wissen, um Wissenschaft, um Tod, um Unsterblichkeit, um Moral handelt. Meistens wirkt seine Kritik vernünftig, weil sie sich gegen zu voluminöse bzw. anmaßende Behauptungen der Religion richtet. Unsterblichkeit, nein; aber ein bisschen weniger Angst vor dem Tod, ja!

Wenn wir noch in einem Zeitalter religionsgestützter Herrschaft lebten, könnten seine angenehm geführten Beweise durchaus hilfreich sein. Was er gegen den Glauben, gegen das Glaubenkönnen formuliert, das bezieht sich letzten Endes auf das, was er als Glauben in seiner Zeit und Gesellschaft erlebte.

Karl Barths Buch erschien zuerst im Jahre 1919. Es war eine Kampfansage gegen die liberale Theologie, repräsentiert von dem epochal führenden Adolf von Harnack. Barth war ein Pfarrer im Aargau. Aber dass sein Buch eine Denkrevolution war und auch noch eine Glaubens-revolution, das spielte sich mehr in den theologischen Fakultäten ab als in der Wirklichkeit. Russell, der in zahlreichen aktuellen Fragen und Situationen keine der Aufklärung dienende Aktivität scheute, Gefängnisstrafe inklusive – von dem Pfarrer im Aargau hat er, dem die deutsche Sprache geläufig war, nichts gewusst.

Was Karl Barth entwickelt hatte, hieß Dialektische Theologie. Der Glaube ist das Gegenteil eines Zustands, er ist eine Bewegung, in der kein Ja ohne ein Nein bleibt. Und eben ein »Sprung ins Leere«. Das hätte Russell gefallen können. Hieß es doch bei Barth:

»Der Glaube bleibt nur als Glaube übrig, ohne Selbstwert (auch ohne den Selbstwert der Selbstverleugnung), ohne Eigenkraft (auch ohne die Eigenkraft der Demut!), ohne eine Größe sein zu wollen vor Gott noch vor den Menschen. Das ist der Boden, die Ordnung, das Licht, wo der ›Ruhm‹ aufhört und die reale Gerechtigkeit Gottes anfängt. Also kein Boden, auf den man sich stellen, keine Ordnung, die man befolgen, keine Luft, in der man atmen kann.«

Der Pfarrer Barth wurde sofort Honorarprofessor in Göttingen.

In seinem Römerbrief-Buch hat er die Religion als Kirche in zwei Namen dargestellt: die Kirche Esaus und die Kirche Jacobs. Von den zwei Söhnen Rebekkas heißt es in der Genesis, dass Gott den Esau vorgeburtlich gehasst, den Jakob aber ebenso vorgeburtlich geliebt habe. Karl Barth schreibt: »Es ist die Kirche Esaus grundsätzlich die allein mögliche, anschauliche und bekannte Kirche, Jerusalem, Rom, Wittenberg, Genf … Und es ist die Kirche Jacobs ebenso grundsätzlich die unmögliche, unanschauliche, unbekannte Kirche, die Kirche ohne Ausdehnung noch Beschränkung, ohne Ort noch Namen, ohne Geschichte, ohne mögliche Mitgliedschaft noch Ausschluss dieser oder jener, und in ihr ist Gottes freie Gnade, Berufung und Wahl.«

Davon kann man sich nicht distanzieren. Wohl aber von dem, was hier wie dort als Kirche herrschte. Hier Adolf von Harnack, 1900, Das Wesen des Christentums. Zu den englischen Entsprechungen dieses Christentums hat sich Bertrand Russell verhalten mit seinem Satz: »Warum ich kein Christ bin«. Und wenn Russell diesen Barth hätte lesen können:

»Denn keine menschliche Gebärde ist an sich fragwürdiger, bedenklicher, gefährlicher als eben die religiöse Gebärde … Und man täusche sich nur nicht: Von demselben Verdacht und Duft umgeben ist auch alles, was sich am Gegensatz zu der religiösen Erscheinungswelt orientiert: also das religiöse Jasagen sowohl wie das antireligiöse Neinsagen … Also auch der Protest gegen die religiöse Gebärde überhaupt, von Nietzsche bis hinab in die Niederungen der gewöhnlichen Pfaffenfresser …«

Und dann der radikale Höhepunkt: »Was sich nicht aufheben lassen sondern sich (als Ja oder Nein!) selbst rechtfertigen will, das ist eben um deswillen gerichtet.« Russell hätte sich doch mit seinem Nein gerichtet sehen müssen.

Und um nicht terminlich belangbar zu erscheinen, schreibt Karl Barth noch: »Wir wissen, dass wir, wenn wir von der Herrlichkeit Gottes reden, eine Zukunft meinen, die nie und nimmer Zeit sein wird.« Also absolute Utopie. Einen Parallelvorgang kann man in Nietzsches Zarathustra erleben. Auch bei ihm kein bisschen hiesige Erreichbarkeit. Der Übermensch bleibt reine Utopie!

Noch ein dritter Zeuge bzw. Helfer: Hölderlin.

»Was ist Gott? unbekannt, dennoch

Voll Eigenschaft ist das Angesicht

Des Himmels von ihm.«

Und:

»Je mehr ist eins

Unsichtbar, schicket es sich in Fremdes.«

Und Nietzsche am Schluss in den »Dionysos-Dithyramben«:

»Da floh er selber,

mein letzter einziger Genoss,

mein grosser Feind,

mein Unbekannter,

mein Henker-Gott! …«

Und dann:

»Oh komm zurück,

mein Unbekannter Gott! mein Schmerz!

Mein letztes Glück! …«

Ich habe den bekennenden Atheisten Nietzsche in seiner Schlusslage gezeigt, in der er sich nicht mehr von Karl Barth unterscheidet. Dass er Briefe mit »Der Gekreuzigte!« unterschreibt, kann nur von Gelehrten als Geisteskrankheit bezeichnet werden. Allerdings bleibt ein Unterschied: Bei Karl Barth ist die Theologie des Mangels abhängig allein von Gnade. Bei Nietzsche ist das am Ende Ausschlaggebende die Schönheit.

Jetzt zurück zu Bertrand Russell, zurück zu seinem Satz: »Religion gründet sich vor allem und hauptsächlich auf Angst. Zum Teil ist es der Schrecken vor dem Unbekannten …«

Also Angst und Schrecken machen uns religiös!? Jeder hat Erfahrungen, die das bestätigen. Mir kommt es vor, als wäre da etwas übersehen oder unterschlagen oder verschwiegen oder einfach nicht wahrgenommen. Das ist, glaube ich, unser Bedürfnis, zu verehren. Das entsteht durch unsere Fähigkeit, etwas schön zu finden. Diese Fähigkeit ist oft genug beschrieben und auch gefeiert worden. Nietzsche sagt in seinem grandiosen Erstlingswerk Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik: »… denn nur als ästhetisches Phänomen ist das Dasein und die Welt ewig gerechtfertigt«. Und er lehrt uns, die Dissonanz in der Musik »lustvoll« zu empfinden. Und so fasst er alles zusammen: »Das Dionysische, mit seiner selbst am Schmerz perzipierten Urlust, ist der gemeinsame Geburtsschoß der Musik und des tragischen Mythos.« Dass wir die Dissonanz genießen können, das drücke unsere Fähigkeit aus, in der Tragödie mehr zu sehen, als uns gezeigt wird. Und dieses Buch hat er abgeschlossen mit dem Satz, mit dem Aischylos seine Prometheus-Tragödie schließt: »Wie viel musste dieses Volk leiden, um so schön werden zu können!«

Was musste Dante leiden, um die Göttliche Komödie schreiben zu können? Was müssen wir überhaupt erörtern, wenn wir doch Religionsdenkmale haben wie die Sixtinischen Kapelle, das Weihnachtsoratorium, die Matthäus-Passion, das Mozart-Requiem und das Bruckner’sche Te Deum! Das sind, sage ich anmaßend, auch Argumente. Etwas muss schön sein, und schön wird es durch Schmerz, durch erlittenen Schmerz. Gnade ist das Bewegende in der Theologie des Mangels bei Karl Barth. Schönheit ist das Bewegende bei Dante, Michelangelo, Bach, Mozart, Bruckner oder Nietzsche. Beides, Gnade und Schönheit, kommt in dem Bekenntnis Warum ich kein Christ bin nicht vor.

Zweifellos ist in diesem Bekenntnis viel mehr praktizierbare Vernunft enthalten als in den Werken, in denen Gnade und Schönheit gefeiert werden. Wenn die tägliche Wirklichkeit einer Gesellschaft zu organisieren ist, dann wäre man mit allem, was Russell schreibt und beschreibt und vorschreibt, besser beraten als wenn man Karl Barth und Nietzsche zurate zöge. Trotzdem kann ich dieses Ergebnis nur halbherzig hinschreiben. Ziel der Russell’schen Schrift ist Schmerz-Vermeidung. Das ist als Ziel und Sinn menschlichen Handelns unbestreitbar vernünftig. Das menschliche Leben mit jeder Sorte Wissen erträglicher zu machen, ist nichts als wünschenswert. Anzunehmen, dass das erträglicher gemachte Leben dann befreit sei von Leiden, also von Religion, das kommt mir jedoch verwegen vor.

Unsere Fähigkeit zu verehren, etwas schön zu finden, die Dissonanz lustvoll zu genießen, ist unmittelbar und unwillkürlich eine Steigerung des Daseinsgefühls. Durch Wissenschaft leidfrei: Das ist eine rationale Utopie, die nur so lange vernünftig ist, als sie die Grenze ihrer Zuständigkeit kennt und respektiert. Von dieser prinzipiellen Vorsicht ist bei Bertrand Russell wenig zu sehen. Allein deshalb ist hier ein kurzer Ausflug in eine Spracherfahrung nötig, die dem Rationalismus – und sei er noch so brillant vorgetragen – offenbar fehlt. Ich lasse in diesem fiktiven Gerichtssaal Zeugen auftreten, mit deren, von deren Aussagen ich selber lebe.

Zuerst Kleist: »Man könnte die Menschen in zwei Klassen abteilen, in solche, die sich auf eine Metapher und 2) in solche, die sich auf eine Formel verstehen. Deren, die sich auf beides verstehen, sind zu wenige, sie machen keine Klasse aus.«

Dann hat Kant für unsere Vernunft formuliert, »daß die Vernunft nur das einsieht, was sie selbst nach ihrem Entwurfe hervorbringt«. Und dazu gehört Religion nicht!

Dann der junge Nietzsche: »Eine Religion, die durch und durch wissenschaftlich erkannt werden soll, ist am Ende dieses Weges zugleich vernichtet.«

Und Kierkegaard: »Mein eigentümliches Verfahren liegt in der Gegensätzlichkeitsform der Mitteilung.« Und: »Durch direkte Mitteilung ließ es sich nicht machen, da sich diese immer nur zu einem Empfänger in Richtung auf sein Wissen, nicht wesentlich zu einem Existierenden verhält.« Und warum ist die direkte Mitteilung im Religiösen nicht möglich? Wegen der Inkommensurabilität von innen und außen, Endlichkeit, Unendlichkeit usw. Aber auch die indirekte Mitteilung, sagt der Meister des religiösen Sagens, erlaube kein direktes Verständnis. Da sind wir der Musik nahe.

Karl Barth, der sich, was die Mitteilung des Religiösen angeht, am »leeren Offenbarungskanal« sah, verlangt, Theologie müsse unter allen Umständen erzählerisch sein; und Kierkegaard: die indirekte Mitteilung und Gegensätzlichkeitsform; und Hölderlin: Was ist Gott? Unbekannt …; und Nietzsche: Mein unbekannter Gott! Mein Schmerz! Und Karl Barth: Als der unbekannte Gott wird Gott erkannt … Ja, was denn noch, möchte man da sagen.

Die Erfahrungen dieser Autoren – Gottesmänner möchte ich sie nennen – lassen vermuten, dass dem Rationalisten – und sei er noch so brillant – etwas fehlt. Kierkegaard hat Schriftsteller, die die Welt direkt verbessern wollen, Prämissenschriftsteller genannt. Und das Risiko der nicht auf Wissensvermittlung zielenden Mitteilung hat er in einem seiner Pseudonymen-Bücher als Johannes Climacus so formuliert: »Selbst wenn er mit der indirekten Mitteilung keinen erreiche, so dürfe er doch sagen, sich nicht der geringsten Anpassung schuldig zu machen, um einen zu bekommen, der ihn versteht.«

So viel kann klar geworden sein: Über Religion darf auch noch in einer anderen Sprache als der des Rationalismus gesprochen und geschrieben werden. Eine zumindest ergänzungsbedürftige Kompetenz darf dem Rationalismus also doch bescheinigt werden. Aber bei Kierkegaard, dem schärfsten Denker des Religiösen überhaupt, gibt es auch noch einen Satz, mit dem Bertrand Russell ein Trost gespendet werden kann, dessen er natürlich nicht bedarf: Die Größe des Glaubens, sagt Kierkegaard, sei kenntlich an der Größe des Unglaubens.

Was hätte denn Russell wohl zu dem Satz von Kant gesagt, »daß die Vernunft nur das einsieht, was sie selbst nach ihrem Entwurfe hervorbringt«? Und dabei kann man Kant nicht zu den Gottesmännern zählen, die von einer Seelenfrequenz leben und zeugen, die dem Rationalismus fremd ist. Deshalb wagt man, dem Rationalisten, dem man nicht widersprechen kann, vorzuhalten, ob grundsätzlich eine andere Sprache als die des Rationalismus infrage kommen könnte; also ernst zu nehmen sei. Was die Meister des religiösen Sagens anbieten, sind keine Beweise. Was Russell schreibt, ist immer Beweis. Die Sprache der Religiösen ist Zeugnis. Beweise überzeugen. Zeugnisse helfen.

So wenigstens habe ich es erlebt. Russell überzeugt mich. Aber eben nur von dem, was er als Religion kritisiert, das Christentum englischer Prägung. Die Meister des religiösen Sagens nehmen mich ein. Sie machen aus dem Gottesmangel keine Tugend, aber auch kein kluges Achselzucken. Dass Nietzsche die Dissonanz lustvoll erlebt hat, das ist zwar nur eine ästhetische Spezialität, aber es ist doch auch eine Augen und Ohren öffnende Mitteilung über eine menschliche Fähigkeit, die keiner rationalen Beweisführung bedarf. Es ist die Fähigkeit, aus Daseinsnot und erlittenem Schmerz etwas zu schaffen, was schön ist und was dann als Schönes eine Wirkung hat, die zur Hilfe wird für alle, die ihrer bedürfen. Die Folgen dieser menschlichen Fähigkeit kann man erleben in der doch unbestreitbar reichen Ausdruckswelt des christlichen, zumindest christlich gewesenen Europa. Da gibt es Zeugnisse jeder Art. Die Wirkung dieser Zeugnisse ist erlebbar als europäische Kulturgeschichte. Sie ist aber auch – und das ist wichtiger – erlebbar als Hilfe in der Not jeder menschlichen Existenz. Und da kann ich sagen: usw.

Zum Glück darf ich mich jetzt noch von einer Nachricht begleiten lassen, die nicht schöner sein könnte. Der achtzigjährige alte Bertrand Russell war in Griechenland in einer christlichen Kirche und teilt im dritten Band seiner Autobiografie mit: »Nachdem ich von all den gediegenen großen Leistungen, welche ein jeder bewundert, tief beeindruckt war, geriet ich in eine kleine Kirche, die entstanden war, als Griechenland zum byzantinischen Reich gehörte hatte. Hier fühlte ich mich zu meinem Erstaunen weit mehr zuhause als etwa im Parthenon oder in irgendeinem anderen Gebäude aus heidnischen Tagen. Dabei wurde mir klar, dass christliches Lebensgefühl weit mehr Einfluss auf mich besaß, als ich geglaubt hatte. Es war dies eine Macht über meine Gefühle, nicht jedoch über meine Anschauungen. Den Unterschied zur Neuzeit sah ich vor allem im Fehlen jeglichen Sündenbegriffs in der griechischen Welt …«

Mir ist, wenn ich mich mit den Sprachen für Religion beschäftigte, schon der Gedanke gekommen, dass man in tausend Jahren Nietzsche von Thomas von Aquin kaum noch unterscheiden wird. Man wird uns alle, was auch immer wir gesagt haben werden, für durch und durch religiös halten. Bertrand Russell inklusive.

I
Warum ich kein Christ bin

Dieser Vortrag wurde am 6. März 1927 unter der Schirmherrschaft der Südlondoner Niederlassung der National Secular Society1 im Rathaus von Battersea gehalten.

Wie Ihr Vorsitzender Ihnen bereits angekündigt hat, möchte ich heute Abend über das Thema »Warum ich kein Christ bin« sprechen. Vielleicht sollten wir vorab zu klären versuchen, was mit dem Wort »Christ« überhaupt gemeint ist. Heutzutage wird es meistens in einem sehr weiten Sinne gebraucht. Manche meinen damit nicht mehr als jemanden, der bestrebt ist, ein gutes Leben zu führen. In diesem Sinne gäbe es wohl Christen aller Sekten und Überzeugungen; aber ich glaube nicht, dass dies der eigentliche Sinn des Wortes ist, schon deshalb, weil es bedeuten würde, dass alle Menschen, die keine Christen sind – alle Buddhisten, Konfuzianer, Muslime und so weiter –, nicht bestrebt wären, ein gutes Leben zu führen. Ich meine mit Christ nicht jeden, der versucht, seinen Vorstellungen gemäß anständig zu leben. Ein gewisses Maß an entschiedenem Glauben ist meiner Ansicht nach Voraussetzung für das Recht, sich als Christ zu bezeichnen. Das Wort hat heute keine so kraftvolle Bedeutung mehr wie zu den Zeiten Augustinus’ oder von Thomas von Aquin. Wenn damals ein Mensch sagte, er sei Christ, wusste jeder, was gemeint war. Man bekannte sich zu einer ganzen Reihe von Glaubenssätzen, die äußerst präzise gefasst waren, und man glaubte mit der vollen Kraft seiner Überzeugungen an jede einzelne Silbe davon.

Was ist ein Christ?

Heute ist das nicht mehr ganz das Gleiche. Unsere Definition von Christentum ist etwas verschwommener. Ich bin allerdings der Meinung, dass es zwei Punkte gibt, die für jeden, der sich Christ nennt, ziemlich wesentlich sind. Der erste ist dogmatischer Natur – dass man nämlich an Gott und die Unsterblichkeit glauben muss. Wer nicht an diese beiden Dinge glaubt, wird sich kaum als richtiger Christ bezeichnen können. Ferner, und darüber hinaus, muss man, wie schon der Name sagt, irgendeine Art von Christusglauben haben. Die Muslime beispielsweise glauben ebenfalls an Gott und an die Unsterblichkeit, trotzdem würden sie sich niemals Christen nennen. Die Mindestvoraussetzung scheint mir der Glaube zu sein, dass Christus, wenn nicht göttlich, so doch wenigstens der beste und weiseste aller Menschen war. Wer nicht einmal dies von Christus glaubt, hat meiner Ansicht nach kein Recht, sich Christ zu nennen. Natürlich gibt es noch einen anderen Sinn, den Sie in Whitaker’s Almanack oder in Geografiebüchern finden, wo es heißt, die Bevölkerung der Erde sei eingeteilt in Christen, Muslime, Buddhisten, Fetischverehrer und so weiter; und in diesem Sinne seien wir alle Christen. Die Geografiebücher zählen uns alle miteinander dazu, jedoch in einem rein geografischen Sinne, den wir hier, meine ich, außer Acht lassen können. Wenn ich Ihnen also sagen will, warum ich kein Christ bin, gehe ich davon aus, dass ich Ihnen zwei Dinge erklären muss: Erstens, warum ich nicht an Gott und an die Unsterblichkeit glaube; und zweitens, warum ich Christus nicht für den besten und weisesten aller Menschen halte, auch wenn ich ihm ein sehr hohes Maß an moralischer Güte zugestehe.

Ohne die erfolgreichen Anstrengungen Ungläubiger in der Vergangenheit könnte ich mich nicht mit einer so dehnbaren Definition des Christentums begnügen. Wie gesagt, in früheren Zeiten war seine Bedeutung viel kraftvoller. So schloss sie zum Beispiel den Glauben an die Hölle ein. Es ist nicht lange her, dass der Glaube an die ewige Hölle ein wesentliches Element des christlichen Glaubens war. In unserem Land hat er, wie Sie wissen, dank einer Entscheidung des Geheimen Kronrats aufgehört, ein solches zu sein, obwohl der Erzbischof von Canterbury und der Erzbischof von York die Entscheidung missbilligten; aber da die Religion hierzulande per Parlamentsbeschluss geregelt wird, konnte sich der Kronrat über Ihro Gnaden hinwegsetzen, sodass die Hölle für einen Christen nicht mehr nötig ist. Infolgedessen will ich nicht darauf beharren, dass ein Christ an die Hölle glauben muss.

Die Existenz Gottes

Um zur Frage der Existenz Gottes zu kommen, so handelt es sich um ein weitreichendes und ernstes Problem, und wenn ich versuchen wollte, dem auch nur einigermaßen gerecht zu werden, müsste ich Sie hierbehalten bis in alle Ewigkeit; daher mögen Sie mir nachsehen, wenn ich sozusagen in Kurzfassung darauf eingehe. Wie Sie wissen, hat die katholische Kirche es zum Dogma erhoben, dass die Existenz Gottes durch bloße Vernunft bewiesen werden könne. Das ist ein recht merkwürdiges Dogma, aber es ist eines. Es musste eingeführt werden, weil die Freidenker zu einer bestimmten Zeit die Gewohnheit angenommen hatten, zu sagen, es gebe diese oder jene Argumente, welche die schiere Vernunft gegen die Existenz Gottes anführen könne, aber als Sache des Glaubens wüssten sie natürlich, dass Gott existiere. Die Argumente und Begründungen wurden sehr ausführlich dargelegt, bis die katholische Kirche meinte, dem ein Ende setzen zu müssen. Also schrieb sie fest, die Existenz Gottes könne durch bloße Vernunft bewiesen werden und musste sich dementsprechend mit Argumenten rüsten, die ihr beweiskräftig erschienen. Nun gibt es derer natürlich viele, aber ich werde mich nur mit einigen beschäftigen.

Das Argument der Ersten Ursache