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Guillaume Paoli

Die lange Nacht
der Metamorphose

Über die Gentrifizierung der Kultur

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Inhalt

Prolog: #theorierecycling

1. Mutantengedanken

2. Der unüberschreitbare Horizont

3. Konfusionismen

4. Strandgut

5. Am Pflock des Augenblicks

6. Selfiction

7. When the music’s over

8. Die Welt als Hotel

9. Weder Volk noch Raum

10. Schreckgespenster

11. Dissensfindung

Literatur

Prolog: #theorierecycling

Nach den Regeln der intellektuellen Konfektionsindustrie muss ein Buch, sobald es einen theoretischen Anspruch erhebt, eine eigentümliche Begriffsschöpfung in sich tragen. Der Leitsatz der Branche lautet: Einzige Aufgabe des Philosophen ist, stets von Neuem Begriffe zu schneidern. In der hart umkämpften Welt des Prêt-à-penser konkurrieren die Topmodelle der Deutung um die beschränkte Aufmerksamkeit einer übersichtlichen Klientel. Ein Autor macht sich durch sein eigenes Vokabular identifizierbar. Hier wie überall kennt die Akzeleration keinen Halt. Manche Nachwuchstheoretiker bringen es bereits fertig, alle fünf Minuten einen neuen Begriff per Twitter in die Welt zu schleudern. Dieser wird dann von Followern wie ein Abzeichen getragen, um die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Denktrend zu signalisieren. Dabei müssen Begriffsschneider so wenig fürchten, von Kollegen widerlegt zu werden, wie sie selbst andere widerlegen wollen. Das wäre so unflätig, wie wenn auf dem Laufsteg zwei Mannequins anfingen, sich zu prügeln. Die Zeit der großen Duelle ist vorüber. Alle leben in friedlicher Koexistenz, sitzen artig in denselben Talkshows, liefern nacheinander ihre eigene Interpretation des Weltgeschehens und beglückwünschen sich gegenseitig für die anregende Debatte. Jeder soll nach seinem Jargon selig werden. Von den Jargonauten dürfen wir aber nicht erwarten, dass sie das Goldene Vlies finden. Sie haben es zur Chimäre erklärt.

Selbstverständlich reicht es für einen saisonalen Neologismus nicht aus, neu zu sein. Er muss auch vor Radikalität strotzen, unkonventionelle Antworten liefern, einen verstörenden Blick auf das Gewöhnliche werfen, den Leser provozieren und ihn zum Umdenken bringen. Ließe sich der Zustand der Kultur nach den Klappentexten der Bestseller beurteilen, erlebten wir die permanente Revolution. Seltsam ist nur, dass man zur gleichen Zeit überall hören kann: Hilfe, wir ersticken zwischen den aufgeblähten Zitzen der Konsenskultur! Alles scheint voraussehbar, selbstgefällig und lau. Wegen Konformismus beklagen sich ja alle über alle: die Journalisten über die Medien, die Leser über die Journalisten, die Literaturkritiker über die Nachwuchsautoren, die Professoren über ihre Studenten, die Restaurantgäste über die Gastronomie, die Hipster über ihre gentrifizierte Umgebung, und überhaupt: die Deutschen über die Deutschen. Es scheint also einen allgemeinen Konsens über die Unerträglichkeit des Konsenses zu geben. Nichts ist konformistischer, als den Konformismus anzuprangern. Entsprechend schwierig erweist sich die Suche nach ungebahnten Wegen. Doch wieder und wieder treten eloquente bis brillante Redner auf die Bühne, die ihre Zuhörer mit einer gut dosierten Mischung aus Professoralität und Unterhaltung zu fesseln wissen, welche den geistigen Appetit so nachhaltig befriedigt wie Zuckerwatte.

Die übliche Erklärung für die wunderbare Begriffsvermehrung lautet: Da die Welt immer komplexer und abstrakter wird, bedürfen Theorien, die ihr gerecht werden wollen, eines immer höheren Niveaus an Komplexität und Abstraktion. Auf den ersten Blick ist die Erläuterung plausibel. In der Tat sind viele plumpe, unterkomplexe Erklärungen im Umlauf, und sie machen uns das Leben nicht einfacher. Doch ist das Argument ein trügerisches. Wer mit unentwirrbaren Problembündeln überfordert ist, wäre gut beraten, dem Vorschlag zu folgen: Simplify! Das gute alte Rasiermesser des Wilhelm von Ockham muss her. Zur Erinnerung: Es war gerade seine Empörung gegen die Komplexität, die Kopernikus dazu brachte, ein einfacheres, eleganteres Weltbild zu entwerfen. Allein aus ästhetischen Gründen konnte er sich mit dem vertrackten ptolemäischen System und dessen wuchernden Epizyklen nicht abfinden. Gott konnte doch nicht so schlampig gewesen sein! Freilich geht es uns heute nicht mehr darum, Gottes Plan zu entschlüsseln (außerdem ist hoffentlich keiner so größenwahnsinnig, sich für Kopernikus zu halten). Wir wären schon damit zufrieden, wenn unsere Lebensumstände einigermaßen entzifferbar wären. Dabei haben wir gelernt, dass Komplexität auch ein Alibi ist, mittels welchen Experten sich einer demokratischen Kontrolle entziehen. Denken wir an die Finanzsphäre. Wer hat schon den Überblick über hochabstrakte Konstrukte wie Subprimes, Derivate oder Credit Default Swaps? Und wer will ihn überhaupt haben? Gezielt wurde ein undurchsichtiges System errichtet, damit Gemeinsterbliche nicht erahnen können, was mit ihrem Geld geschieht (2008 wurde offenkundig, dass selbst die Finanzjongleure keinen Überblick hatten, doch änderte das nichts an der Toxizität ihrer Fabrikate). In diesem Fall zumindest kann als sicher gelten: Selbstermächtigung geht nur mit dem Abbau der Komplexität und der Aufstellung klar definierter Regeln einher.

Während der fünf Jahre, die ich in Leipzig meine philosophische Praxis betrieb, verwendete ich viel Energie darauf, meine sich ihrer mangelnden Kenntnisse schämenden Gäste davon zu überzeugen, das Denken sei zu kostbar, um es den Berufstheoretikern zu überlassen. Wer das tut, schwelgt in jener selbst verschuldeten Unmündigkeit, von der einst das Projekt der Aufklärung den Menschen zu befreien versprach. Gewiss ist die Anstrengung des Begriffs nicht jedem ohne Weiteres zugänglich. Aber so wie die finanzielle sollte die theoretische Expertise überprüfbar sein. Meinen Besuchern empfahl ich einen kleinen Test, der von einer Forderung Noam Chomskys inspiriert ist: Die Kompetenz fähiger Physiker, Laien hochabstrakte Gegenstände wie schwarze Löcher oder Gravitationswellen verständlich machen zu können, indem sie die ganze Mathematik weglassen, auf Details verzichten und zusammenfassen, worum es im Großen und Ganzen geht, sollte – so Chomsky – auch von einem Linguisten, Poststrukturalisten oder einem Soziologen erwartet werden – und erst recht von einem spekulativen Realisten, möchte man anfügen. Verlangt also nach Erklärungen in gemeingebräuchlichen Worten! Denn ist der Baum der Erkenntnis einmal vom Weihnachtsschmuck der Phrasendrescherei entblößt, weist er allzu oft ein ärmliches Geäst auf. Betrübliche Plattitüden wie: Rassismus ist böse. Kapitalismus ist ungerecht. Alles ist relativ.

Es sind zu viele Begriffe unterwegs. Wie die monetäre kommt die semantische Hyperinflation einer Hyperentwertung gleich. Wer zum Einkaufen eine Schubkarre voller Geldscheine braucht, ist nicht deswegen reicher. Die geistige Ökologie gebietet, die Produktion zu verringern. In dieser Domäne wie in der materiellen heißt also der bewusste Umgang: Recycling. Gebrauchte Theorien werden gesammelt und aussortiert, abgenutzte Teile von wiederverwertbaren getrennt, ideologische Giftstoffe entsorgt. Eher sollten wir von theoretischem Upcycling sprechen, bei dem es nicht darum geht, alte Ideen kaputt zu schlagen, sondern ihnen in Kombination mit anderen Teilen einen höheren Wert zu geben, so wie aus alten Autoreifen und Plastikschnüren Flipflops hergestellt werden. Was verwendet werden kann, wird verwendet. Das, was sich nach genauerer Prüfung als redundant oder inkonsistent erweist, kann weg.

In diesem Sinne unterscheidet sich der Recyclinghof grundlegend vom geläufigen intellektuellen Baumarkt. Wie wir wissen, ist seit Foucault unter Denkern üblich, die eigene Produktion als »Werkzeugkiste« anzubieten. Die Metapher zeugt von falscher Bescheidenheit: »Ich liefere nur das Werkzeug; den Praktikern oder zumindest der Leserschaft überlasse ich die Aufgabe, es richtig anzuwenden.« Das hört sich an wie ein Echo aus der Zeit, als stalinistische Bürgersöhne sich vor der Gestaltungsmacht der Arbeiterklasse – sprich der Partei – demütig verbeugten. Zudem kann sich der Theoretiker auf diese Weise der peinlichen Frage entziehen, welchen konkreten Nutzen seine Gedankenkonstrukte wohl hätten: »Für Anweisungen bin ich nicht zuständig, über den Gebrauch sollen Gruppen und Individuen selbst entscheiden.« Als ob die Gestalt eines Schraubendrehers seine Funktion, Schrauben zu drehen, nicht bedingen wurde! Zwar kann man mit dem Hammer philosophieren und mit einem Küchenmesser jemanden umbringen, vorausgesetzt, dass es scharf genug ist. Meistens stellt sich aber heraus, dass nur eine Anwendung der theoretischen Werkzeugkiste praktikabel ist und zwar: sie auseinanderzunehmen, um eine weitere Werkzeugkiste zusammenzustellen.

Dementsprechend werde ich im Folgenden keine These, sondern eine Hypothese aufstellen. Sie ist nicht meine, es gab sie schon. Wie eine vorgefundene Brille möchte ich sie anprobieren, testen, ob sie richtig sitzt und wie die Welt durch ihre Gläser aussieht. Anschließend wird sich vielleicht herausstellen, dass sie unbrauchbar ist und in die Mülltonne gehört. So entspräche die Methode in etwa der reductio ad absurdum der alten Logiker. Dafür müssen wir aber in einem ersten Schritt so tun, als ob die Behauptung absolut erwiesen und unwiderlegbar sei. Ohne Wenn und Aber. Behalten wir dabei die Anekdote über Niels Bohr und das Hufeisen im Kopf. Als Heisenberg einmal bei Bohr zu Besuch war, staunte er darüber, dass über seiner Tür ein Hufeisen hing. Auf die Frage, ob er etwa an Glücksbringer glaube, antwortete sein Gastgeber: »Natürlich nicht, aber es wird erzählt, dass es auch funktioniert, wenn man nicht daran glaubt.«

Mit dieser Brille auf der Nase begeben wir uns durch die »Lange Nacht der Metamorphose«. Darunter ist weder ein kulturpessimistischer Klagegesang noch ein zwangsoptimistischer Weckruf zu verstehen. Gemeint ist Folgendes: Bekanntlich werden in Großstädten öffentliche Einrichtungen periodisch für Events zu ungewöhnlichen Zeiten mit dem Ziel geöffnet, nach einem ruhelosen Tag die Aufmerksamkeit der überforderten Bewohner zu gewinnen. Auf die »Lange Nacht der Museen« folgte bald die »Lange Nacht der Wissenschaften«, dann unzählige andere, die manchmal eine unfreiwillige Komik aufweisen – was sollen wir von der »Langen Nacht der Religionen« halten? An diesen Brauch anknüpfend wird in der Langen Nacht der Metamorphose ein Shuttledienst durch ein Universum sonderbeleuchteter Erscheinungen der Jetztzeit angeboten, mit vielseitigem Programm für Jung und Alt.

1. Mutantengedanken

Nehmen wir vorübergehend diese Behauptung für unbezweifelbar: Eine anthropologische Mutation ist in vollem Gange. In letzter Zeit fand eine brachiale Veränderung statt, die die geistige Verfasstheit der Individuen betrifft. Sitten und Denkweisen, die vormals als selbstverständlich galten, scheinen nicht mehr nachvollziehbar, dafür werden Zustände akzeptiert, gegen die vergangene Generationen sofort auf die Barrikaden gegangen wären. Ohne dass eine physische Veränderung sichtbar wäre, unterscheidet sich der Jetztzeitgenosse in seiner Subjektivität, in seinem Bezug auf die äußere Welt, in seiner Art, mit anderen zu kommunizieren, in seiner Intimität, in seiner Kultur im weitesten Sinne des Wortes vom herkömmlichen Menschentyp so substanziell wie der Hund vom Wolf. Die Hypothese klingt erst einmal eher unseriös und wie aus einem schlechten Horrorstreifen, ich weiß. Einstweilen sei zur Begründung bloß ein subjektiver Eindruck erwähnt. Immer häufiger begegnen sich Menschen, die sich, obwohl sie in derselben Stadt leben, dieselbe Sprache teilen und mehr oder weniger demselben sozialen Milieu und derselben Altersgruppe angehören, auf eine ganz neuartige Art fremd sind. Die einen gerieren sich wie die letzten Mohikaner und halten an Dingen fest, die offenbar im Begriff sind zu entschwinden, während die anderen die ganze Positivität eines unaufhaltbaren Wandels auf ihrer Seite zu haben scheinen. Als ich verschiedene Leute auf diese mysteriöse Entwicklung ansprach, fiel in der Unterhaltung manchmal so ganz nebenbei der Terminus »anthropologische Mutation«, als ob dieses Phänomen nun einmal allseits bekannt sei und keiner weiteren Erläuterung bedürfe. Woher stammt die Vorstellung? Sie wurde von keinem Philosophen oder Wissenschaftler aus der Taufe gehoben, sondern von einem Schriftsteller und Filmemacher. Seinerzeit verkündete Pier Paolo Pasolini, dass die Konsumgesellschaft einem Tsunami ähnlich die vertraute soziale Landschaft weggespült habe. Alle Eigenschaften, die Menschengruppen voneinander differenzierten (soziale Herkunft, Denkweise, Umgangssprache, Wertekodex, Sexualität, Fantasie) seien durch einen einheitlichen, radikal neuen Typus ersetzt worden. Wenn er dafür den Begriff der »anthropologischen Mutation« auswählte, dann eben um zu betonen, dass in seinen Augen die Transformation, obgleich er sie speziell in Italien beobachtete, ein planetares Ausmaß angenommen hatte. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie die entlegensten Regionen aller Kontinente heimsuchen würde. Und sie war unumkehrbar, weil zusammen mit der Welt von gestern die Bedingungen für eine alternative Zukunft unwiderruflich zerstört worden waren.

Es ist jetzt eine Weile her, als Pasolini seine kühne Hypothese äußerte. Wenn sie stimmt, dürfte der Umbruch in allerlei Gegenständen und Artefakten nachspürbar sein, so winzig und peripher diese auch immer sind. Wie seinerzeit Walter Benjamin von unscheinbaren Objekten eine ganze Welt herleitete, könnte eine symptomatologische Untersuchung nach und nach den Verlauf der Wasserscheide vorzeichnen, die das Gebiet vor der Mutation (v. d. M.) von dem Gebiet nach der Mutation (n. d. M) trennt. Dabei ist es ratsam, sich auf wenige Fallbeispiele zu beschränken. Tatsächlich wurde diese Übung bereits unternommen: In einem anregenden Essay machte sich der Schriftsteller Alessandro Baricco (auch ein Italiener) den »Barbaren« auf die Spur, und zwar, wie er betont, nicht um diese zu kritisieren (das ewige Dekadenz-Gejammer), sondern um sie zu verstehen. Dafür wählte er drei Beispiele aus: Fußball, Bücher, und Wein. Von Ersterem habe ich keine Ahnung, zum Zweiten kommen wir später, doch da mir Letzterer am Herzen liegt, möchte ich Bariccos Beispiel folgend mit ihm anfangen, sozusagen als Aperitif.

Diese eine Wandlung ist offensichtlich: Noch vor relativ kurzer Zeit wurde Wein allein in wenigen Ländern Europas getrunken, in noch weniger Regionen angebaut, und die edlen Tropfen stammten ausschließlich aus Frankreich und Italien. Heute wird er vornehmlich von Chinesen wie Amerikanern konsumiert und an immer mehr Flecken auf der Erde hergestellt. Auf den ersten Blick ist also die Veränderung bloß eine Ausbreitung, sie hängt mit der Globalisierung des Geschmacks und der Produktionsverhältnisse zusammen. Nur ist in dem Prozess alles verloren gegangen, was den Wein v. d. M. ausmachte. Angefangen mit seiner intimen Bindung zum terroir. Darunter wurden die physikalischen Begebenheiten des Bodens und die örtliche Sonneneinstrahlung verstanden, aber nicht nur. Im Grunde stellte das terroir den besonderen Bund zwischen Natur und Kultur dar, welcher von einem Weinbaugebiet zum anderen variierte. Es waren Erfahrungen und Praktiken, die über Jahrhunderte die lokalen Gegebenheiten transformiert hatten. Für die Veredelung eines Weines ist das terroir wichtiger als die Rebsorten. Hinzu kommt das göttliche Wunder, dass ein bestimmter Wein besonders mit Speisen harmoniert, die ausgerechnet in derselben Region vorzufinden sind. Ein Hautes-Côtes de Beaunes eignet sich kongenial zu einer Andouillette à la lyonnaise, Glasaale aus der Loire-Mündung zu einem gut gekühlten Muscadet. Der Gaumen ergötzt sich an der Vielfalt der Erfahrungen, die mit jedem Ortswechsel zunehmen.

Alles veränderte sich, als in den Siebzigerjahren (merken wir uns den Zeitpunkt: auf der Suche nach den Anfängen der Mutation werden wir immer wieder auf ihn stoßen) Propheten aus den USA eine häretische Botschaft predigten. Wein, verkündeten sie, lässt sich so gut wie überall anbauen. In den meisten Regionen der Welt ist genug Sonne da, der Boden lässt sich entsprechend aufarbeiten, einzige Voraussetzung ist eine gute Klimaanlage, um die Gärung zu regulieren. Plötzlich spielte das terroir nur noch eine untergeordnete Rolle. Das Hauptmerkmal, das auf den Etiketten n. d. M. hervorgehoben wird, ist die Rebsorte. Ein Merlot ist ein Merlot ist ein Merlot, ganz gleich, ob er aus Kalifornien, Südafrika oder Australien kommt. Weit davon entfernt, die Vielfalt zu fördern, führte die Ausbreitung des Weinbaus zu einer Angleichung (auf diese Paradoxie werden wir immer wieder stoßen). Auch der sakrale Bund zwischen Glas und Teller wurde aufgelöst; in einer hippen Enoteca wird eine beliebige Flasche n. d. M. mit Oliven, Avocado-Dips oder Sushi verkostet. In einem Wort: Der Wein wurde deterritorialisiert. (Auch diese Vokabel werden wir häufig antreffen.) Hier lässt sich bereits ein wichtiger Aspekt feststellen. Vom Standpunkt des Mutanten ist die Tatsache unannehmbar, dass ein bestimmtes Produkt nur an einem bestimmten Ort vorzufinden ist. Dahinter werden sowohl ein Verstoß gegen den Freihandel als auch spießiger Lokalchauvinismus geargwöhnt. Mutierte Weltbürger wollen in Deutschland ägyptische Kartoffeln essen, in Italien holländische Tomaten und in Burgund an einem kalifornischen Cabernet nippen können. Alles andere wäre rückwärtsgewandte Sozialromantik.

Zum Wesen des Weins v. d. M. gehörte seine Einbettung in die lange Zeit. Mit der Abfüllung war sein Leben längst nicht zu Ende. Über Jahre verbesserten sich die Flaschen, in passenden Kellern geduldig liegend, bis sie ihr Optimum erreichten. Zur allgemeinen Bildung eines Franzosen gehörte, die guten Jahrgänge auswendig zu lernen, um die richtige Flasche zu wählen und den idealen Zeitpunkt des Verzehrs nicht zu verpassen. Andächtig wurde der Saft von Reben genossen, welche vierzig Jahre zuvor von Winzern geerntet worden waren, die nun vermutlich unter der Erde lagen. Ludwig Feuerbach hatte recht: Das Abendmahl in flüssiger Gestalt war eine Kommunion mit dem Gott gewordenen Menschengeist, welcher über Generationen hinweg seine Gefälligkeiten schenkte. Chronologisches Wissen, geduldiges Warten, Pilgergang in den Keller, Zeitreise des Gaumens: Das ist jetzt alles Rausch von gestern. Der Wein n. d. M. hat keine Zeit. Ihn zu lagern wäre sinnlos, er wird für den schnellen Konsum gemacht, kann nicht in Würde altern. Sein Jahrgang ist eine überflüssige Information. Da treffen wir auf ein weiteres Merkmal der Mutation: das Gebot der unmittelbaren Verfügbarkeit. Der mobile Mensch hat keinen Keller. Dafür will er auf sein Wunschobjekt überall und jederzeit ohne Verzögerung zugreifen können. Wie Cola, Koks oder Computer wird sein Wein im Just-in-time-Verfahren produziert. Immer war mit einer Flasche v. d. M. das Risiko verbunden, sie könnte maderös oder verkorkt sein. Dank Kunstkorken oder Schraubverschluss bietet hingegen eine junge Flasche n. d. M. absolute Zuverlässigkeit.

Viele Weine waren kompliziert. Es war selten Liebe auf den ersten Schluck. Ihr Charakter war so schwer bestimmbar wie die Schönheit eines Gesichts. In beiden Fällen kommt der besondere Charme von einer unmerklichen Asymmetrie, ist also von einer Missbildung nie sehr weit entfernt. Standardisiert, unterkomplex, der global wine ähnelt dem mit Photoshop retuschierten Portrait eines schönheitsoperierten Models. Mit ihm ist keine böse Überraschung zu erwarten, aber auch keine gute. Eigentlich wird er für Menschen hergestellt, die keinen Wein mögen.

Auch die Sprache hat sich verändert. Es war nicht einfach, sich des önologischen Vokabulars zu bemächtigen, um die wechselreichen Empfindungen, die bei einer Verkostung aufkamen, genau zu charakterisieren. Dagegen besteht die Beschreibung eines mutierten Weines darin, den Katalog der aromatischen Extravaganzen durchzudeklinieren, die mit chemischen Hefen gewonnen werden: ein frischer Geschmack von schwarzen Beeren, Cassis und Kaffee. Nuancen von reifen Kirschen und dunkler Schokolade. Ein fruchtiger Duft von Pflaume und Veilchen. Elegante Anklänge von Brombeere und Leder, von feinen Balsam- und Eichennoten unterstrichen. Wie in der zeitgenössischen Kunst hat der Kurator die Oberhand über den Kritiker gewonnen. Er vermittelt, welche Flasche in welchem Kontext »relevant« ist, dabei spielt die Ästhetik der Etiketten eine wichtigere Rolle als der Inhalt.

All diese Bemerkungen können selbstverständlich nur von einem Noch-nicht-Mutierten kommen. Viele werde sie kopfschüttelnd als elitäres Gedöns abtun, stattdessen werden sie die Demokratisierung des Weinkonsums als Fortschritt loben und die Globalisierung des Geschmacks als unvermeidlich betrachten. Sie werden die Sehnsucht des Weingenießers auf eine Stufe mit der des Aristokraten stellen, der seufzend das Pläsier der Parforcejagd an einem dunstigen Morgen auf dem privaten Waldgrundstück vermisst. Sie werden eben wie Mutanten sprechen. Dafür haben sie auch starke Argumente. Gegen die Romantisierung der guten alten Zeit spricht die Tatsache, dass das Gros der Weinproduktion damals aus schlimmem, am liebsten mit Wasser verdünntem Fusel bestand. Nicht weniger als die modernen Weine war dieser Trank für den unmittelbaren Konsum gedacht, mit dem Unterschied, dass ein unvorsichtiger Verzehr für Magensäure und Kopfschmerzen sorgte, und er machte die Zunge blau. Immerhin sind die schlimmen Tafelweine verschwunden. In den Gebieten, wo sie angebaut worden waren, wurden sie von durchaus genießbaren Sorten ersetzt. Wer würde das beklagen? So viel ist klar: Früher berauschten sich Bauer und Proletarier auch nicht täglich mit Corton-Charlemagne. Nicht, dass ihnen edle Tropfen vorenthalten waren: Zu besonderen Anlässen wurde die liebevoll gelagerte Sonderflasche geöffnet, so wie die Sonntagskleidung angezogen wurde, um die Lumpenwoche hinter sich zu lassen. Der Genuss war heilig weil außerordentlich. Ist es aber ein Verlust, keinen Sonntagsanzug mehr zu tragen, dafür auch keinen Blaumann? Auch um diese Frage scheiden sich vormutierte und mutierte Geister.

Wie wir sehen, haftet unserer Hypothese ein Hauch von Hysterie und, blamabler noch, von Kulturpessimismus an. Dennoch, und genau das macht sie untersuchenswert, spukt die Idee in vielen Schriften und Aussagen der Gegenwart umher. So selten eine anthropologische Mutation explizit erwähnt wird, implizit ist sie in verschiedenen Denkrichtungen enthalten, die ansonsten wenig verbindet; ja man kann sagen, dass sie den gemeinsamen, unausgesprochenen Fluchtpunkt zweier entgegengesetzter Perspektiven darstellt: einer, die die Gegenwart uneingeschränkt bejaht, und einer, die sie radikal verwirft. Was die erste betrifft: Wenn von dem nie da gewesenen Wohlstand der westlichen Gesellschaft geschwärmt wird, von den technischen Errungenschaften, die alle Lebensbereiche revolutioniert haben, von der wachsenden Toleranz, der Wahlfreiheit und dem Frieden, die uns beschert sind, dann wird stillschweigend, doch kategorisch vorausgesetzt, wir hätten uns von einem historischen Menschentypus mit all seinen falschen Vorstellungen und abscheulichen Sitten definitiv verabschiedet. Freilich sei die Metamorphose noch nicht überall vollendet. Offenbar bestehen noch Konflikte, doch werden deren Ursachen der Hartnäckigkeit von Ewiggestrigen zugeschrieben, ob religiöse Fundamentalisten, Homophobe, Rechtspopulisten, Gewerkschafter oder Raucher. Noch-nicht-Mutierte also, gegen die sich die Mutantenwelt wehren und ausweiten muss. In dieser Hinsicht besteht die Mutation aus einem Set von Meinungen, Geschmäckern, Korrektheiten und Verhaltensregeln, die nicht mehr hinterfragt werden, da dies sonst der schimpflichen Rückständigkeit verdächtig machen könnte. Die objektiven Bedingungen hätten sich halt verändert, und es zeuge vom Wirklichkeitssinn, sich entsprechend umzustellen. Um auf unser Beispiel zurückzukommen: Es spricht ein ultimatives Argument für die Mutation des Geschmacks. Mit der Klimaerwärmung verlieren die terroirs sowieso ihre Sondereigenschaften. Wegen veränderter Regen- und Einstrahlungsverhältnisse mussten eingegangene frühere Weinberge ohnehin aufgegeben werden. Anstatt der vergangenen Wonne nachzutrauern, sei es also ratsam, die Tropfen der Anpassung beherzt zu schlucken.

Auf der anderen Seite wird von vielen kritischen Theoretikern ein geradezu katastrophales Bild der Gegenwart gemalt. Gewiss lässt sich dafür zu Genüge Material finden. Auffällig ist allerdings, dass sich die düsteren Diagnosen nicht auf äußere Bedingungen beschränken wie technologische Innovationen, Arbeitsverhältnisse oder die ökologische Krise. Nachdrücklich wird beschrieben, wie sich diese Umbrüche in die Subjektivitäten und gar ins neuronale System eingegraben haben. Anhand zahlreicher Abhandlungen über Flexibilisierungsdrang, Selbstoptimierungswahn, Konsumsucht, Narzissmus und Depression wird ein Phantombild des Mutanten erstellt, selbst wenn dieser nicht beim Namen genannt wird. Die Bewohner des ausgeweiteten Westens hätten sich ihrem verwüsteten Milieu, durch Verführung und Zwang, wohl oder übel derart angepasst, dass Korrektur nicht mehr denkbar sei, selbst wenn sie gewünscht wäre. Damit geht die Behauptung über die banale Feststellung hinaus, »wir« seien mit digitaler Revolution, Überbevölkerung oder Klimawandel dramatischen Veränderungen ausgesetzt. Der Schwerpunkt hat sich eben auf das »Wir«, das angebliche Passivsubjekt, verschoben. So meinte etwa Jaime Semprun, dass die Frage nicht mehr laute »Welche Welt werden wir unseren Kindern hinterlassen«, sondern umgekehrt: welche Kinder unserer Welt! So plausibel solche Feststellungen auch sind, es fragt sich unwillkürlich, an wen sie gerichtet sind und mit welcher Absicht. Wenn sie stimmen, dann warum überhaupt noch Bücher schreiben, anstatt seinen Garten zu bestellen? Wahrscheinlich gehen die Verfasser davon aus, dass genug Noch-nicht-Mutierte übrig bleiben, um ihre verzweifelte Hellsichtigkeit zu teilen. In manchen Fällen ist dabei ein gewisses Kokettieren mit dem vorgeführten Weltschmerz nicht auszuschließen. Von einem gut gepolsterten Lehrstuhl herab lässt sich die Zwecklosigkeit allen Widerstands mit stoischer Gleichmut wohl aushalten. Andererseits kann man nicht ausschließen, dass das Bildnis des Mutanten meistens einem bestimmten Darstellungsmodus zuzuschreiben ist. Gemeint ist jene »methodische Übertreibung« die Günther Anders (mit seiner Antiquiertheit des Menschen ein Pionier des Genres) beanspruchte. Anders meinte: Um gewisse Phänomene sichtbar zu machen, muss man sie überzeichnen. Sonst bleiben sie unbemerkt, der Hegel’schen Maxime getreu: Was bekannt ist, ist nicht erkannt. Tendenzen werden als vollendete Tatsachen in der Absicht beschrieben, die Vollendung noch abwenden zu können. Ob auch die uns als Leitmotiv dienende vorgefundene Brille mit Vergrößerungsgläsern ausgestattet ist, die Schärfe durch Entstellung bewirken? Wir werden sehen.

Nun wird die Hypothese jedoch ungewollt auch von klugen Köpfen genährt, die sie mit aller Vehemenz abweisen würden. Noch gibt es sie, die Vernunftoptimisten, die an die Kontinuität der menschlichen Erfahrung glauben, sei diese auch von gelegentlichen Betriebsunfällen gestört. Sie entwerfen rationale Lösungen, machen bescheidene Reformvorschläge, bauen auf technische Innovationen, ziehen Lehren aus der Vergangenheit, um sie in einer besseren Zukunft zu verwirklichen. Ihre Pläne strotzen vor gesundem Menschenverstand, man denke nur an die vielen Klimaforscher, die seit Jahren warnen und Pläne zur Schadstoffreduzierung entwerfen. Dennoch wirken sie seltsam unglaubwürdig und unrealistisch. Der Argumentationskette fehlt einfach ein Glied, nämlich das Subjekt, das sie verwirklichen könnte. Mit dem guten Willen, dem strategischen Sinn und der Durchsetzungskraft einer aufgeklärten Weltelite kann heute keiner mehr ernsthaft rechnen. Ebenso zweifelhaft ist allerdings die Vorstellung, eine kollektive Kraft (hieße sie Volk, Proletariat oder Multitude) könnte sich effektiv und affirmativ konstituieren, um die erwünschten Reformen durchzusetzen. Gelegentlich schaffen es zwar Gegenbewegungen, den Gang der Dinge zu drosseln (im Mutantensprech ist »Bremser« ein geläufiges Schimpfwort), aber für eine Kursänderung scheinen die Energien nicht zu reichen. Lange Zeit wurde heftig darüber gestritten, ob der richtige Weg Reform oder Revolution hieße. Mit der Mutation wurde der Streit auf merkwürdige Weise beigelegt: Selbst die bescheidenste Reform benötigte eine radikale Strukturänderung, um umgesetzt werden zu können; sie setzt also eine revolutionäre Erhebung voraus, die der auferlegten Bescheidenheit widersprechen würde. »Demokratisierung« oder »Klimawende« klingt heute nicht weniger utopisch als »Weltrevolution«. Solche Begriffe gehören zur vergangenen Ära. Bleibt nur die Reform als Synonym für Anpassungsmaßnahme.

Diesen Anfangsbemerkungen erläutern bereits, welchen methodologischen Vorteil die Mutationshypothese hat. Auf einmal wird die alte Opposition zwischen Fortschritt und Regression außer Kraft gesetzt. Durch die Verwandlung gingen manche Dinge verloren, andere wurden hinzugewonnen, doch Gewinne und Verluste können nicht in derselben Bilanz verrechnet werden, weil sie verschiedener Natur, ja inkommensurabel sind. Konservative und Fortschrittsfreunde stehen einfach auf verschiedenen Seiten der Metamorphose. Die einen können den Nutzen nicht nachvollziehen, der durch die Mutation entstanden ist. Die anderen können nicht erkennen, welche Vorteile des Alten verschollen gegangen sein sollen. Treffen sich der Hund und der Wolf. Sagt der Wolf zum Hund: »Wahrlich, deine Lebensweise wäre mir ein Gräuel! Gut dressiert. Immer fügsam. An der Leine geführt. Nur pinkeln dürfen, wenn der Besitzer es will. Du hast keine Ahnung von Freiheit!« »Falsch«, antwortet der Hund, »im Gegensatz zu dir bin ich gut versorgt und ernährt, ich lebe lang, gesund und friedlich. Wenn du nur wüsstest, wie kostbar Sicherheit ist!« Und ewig heulen sie aneinander vorbei. Offenbar birgt die Unterstellung einer Mutation auch eine Gefahr, nämlich die willkürliche Formierung unüberbrückbarer Fronten. Hier Freund, dort Feind. Es sei also deutlich gemacht, dass es zwischen Mutanten und nicht Mutierten keine klare Trennung gibt. Niemand wacht eines Morgens auf, um wie Gregor Samsa in Kafkas Erzählung festzustellen, er sei plötzlich in ein abstoßendes Ungeziefer verwandelt worden (wobei diese Empfindung keinem Arbeitnehmer ganz fremd sein dürfte). Es gibt allerlei Mischformen und Zwischenstufen. Wer kann schon sicher sein, dass ihm diskret hinter den Ohren keine Kiemen oder Flossen wachsen? Auch geistige Organe können sich mangels Gebrauchs so vollständig zurückbilden wie bei Menschenaffen der Schwanz, als jene aufhörten, sich von Ast zu Ast zu schwingen.

Per definitionem erfolgt eine Mutation als Anpassung an die veränderte Umwelt. Äußere, heterogene Faktoren mischen sich, um auf Kognition und Stoffwechsel gebündelt einzuwirken. Zum großen Teil geschehen diese Prozesse unbewusst. Und wenn sie überhaupt wahrgenommen werden, dann in einem ersten Schritt als lauter entfremdende Eingriffe. Bald erweist sich jedoch die Abwehrreaktion als wirkungslos gegenüber dem unaufhaltsamen, unwiderstehlichen Lauf der Dinge. Man mag diesen verteufeln, wie man will, die Wahl, nicht mitzumachen, ist nicht gegeben – es sein denn um den Preis eines schmerzhaften, solitären Ausstiegs. Allmählich mutiert also selbst die diskursive Verarbeitung der Mutation. Die vermeintliche Rationalisierung der Welt wird von der Rationalisierung im psychologischen Sinne flankiert: einer nachträglichen Rechtfertigung des Gewordenen. Der Akzent wird auf die positiven Aspekte des Prozesses verschoben. Es gelte, diese zu vervollständigen, um die negativen Effekte zu beseitigen. Mutierende werden aufgerufen, die Evolution mitzugestalten, anstatt von alternativen Wegen zu träumen, die nichts als Fehlanpassungen seien. Überhaupt wird die Gegenwart mit dem unschlagbaren Argument pauschal bejaht, früher sei es auch nicht besser gewesen. Ein Beispiel dazu liegt auf der Hand. Es ist nur wenige Jahre her, als Menschen, die im öffentlichen Raum ungeniert telefonierten und ihre unfreiwilligen Mithörer mit uninteressanten Details ihres Lebens belästigten, gemeinhin als asoziale Ungeheuer angesehen wurden. Jetzt regt sich niemand mehr auf, und das mit gutem Grund, denn mehr oder weniger dezent macht doch jeder mit.

Ich weiß schon. Spätestens jetzt kommt der Vorwurf: Das, was du Mutation nennst, ist ganz einfach ein Generationswechsel. Du hältst deine eigene Antiquiertheit für das Maß aller Dinge, verstehst nicht mehr, wie die Millennials ticken, und willst ihnen deine altbackenen Vorstellungen oberlehrerhaft aufdrängen. Das mag schon sein. Schließlich kann ich mich gut erinnern, wie mein Großvater Rockmusik, Entchristianisierung und Miniröcke für sichere Beweise des im Untergang befindlichen Abendlandes hielt. Das war es schon immer, definitionsgemäß ist Abenddämmerung seine Stunde, Zwielicht seine Atmosphäre. Und mit der heutigen allgemeinen Beschleunigung muss man kein Großvateralter mehr erreichen, um von den Zeitläufen überholt zu werden. Bereits Fünfundzwanzigjährige erzählen, dass sie mit den jüngeren Geschwistern in puncto Kommunikationsplattformen und Medien nicht mithalten können. Gegen die Reduzierung des Phänomens auf einen generation gap spricht jedoch einiges. Denn wie wir sehen werden, kann der Anfang der Mutation ziemlich genau datiert werden, nämlich auf die Siebzigerjahre. Das ist schon eine Weile her, und einige ihrer aktiven Förderer haben bereits ein fortgeschrittenes Alter erreicht, wenn sie nicht bereits tot und einbalsamiert sind. Es sind oft die Ü50er, die aus Angst vor Alterung jeden neuen Trend enthusiastisch mitmachen, so dusselig dieser auch immer sei. Andererseits bedeutet Mutation Anpassung, und es bleibt ein Attribut der Jugend, sich nicht anpassen zu wollen, selbst wenn das beinah unmöglich geworden ist. Vor allem kann heute von keinem Generationskonflikt die Rede sein. Gerade in dieser Hinsicht ist die Gegenwart radikal neu. Dazu eine Anekdote.

Die Geschichte ist schon lange her, sie ereignete sich Mitte der Neunziger. Ich sitze in England, genauer in Südyorkshire bei meinem Freund John, der Bergarbeiter gewesen war, bis nach einem hart gekämpften Streik die Kohlenreviere geschlossen wurden. Wir trinken Whisky und John entrollt seine Familiengeschichte im Schnelllauf. Besser gesagt, die Konflikte, die jeden Generationswechsel begleiteten. Angefangen mit dem Urgroßvater: Dieser, aus Irland nach Yorkshire eingewandert, schwört dem Katholizismus seiner Vorfahren ab. In der Bergarbeitergemeinde ist Methodismus Pflicht. So kommt es zum ersten Familienstreit. Zwei Jahrzehnte später wechselt der Sohn, Johns Großvater, zu den gottlosen Roten über. Und wieder bebt es am Küchentisch. Dem nächsten Sprössling wiederum, Johns Vater, ist die Labour-Bewegung zu zaghaft, er wird Kommunist. Erneuter Stoff für Zoff. Und schließlich rebelliert der junge John, langhaarig und linksradikal, gegen den autoritären Bürokratismus des Vaters. Der Kampf geht weiter. Diese Folge von Brüchen darf nicht täuschen, sagt John, denn paradoxerweise blieb damit eine Kontinuität gewährleistet. Jeder Vater erwartete von seinem Sohn, dass er sich gegen ihn auflehnen würde. So leidenschaftlich er die eigene Sache gegen die zersetzende Kraft der jungen Generation verteidigte, so ahnte er auch diffus, dass eine Art Entwicklungsgesetz mit im Spiel war. An jedem Küchentisch im Bergarbeiterdorf zeichnete sich fraktalartig ein Ebenbild der großen gesellschaftlichen Umwälzungen nach. Beim Suppenkochen wurde Geschichte gemacht. Schließlich glaubten alle an den sozialen Fortschritt. Eine reibungslose Nachahmung des Vergangenen wäre Verrat gewesen. Mochten die Väter den Protestantismus, Sozialismus oder Anarchismus der Söhne auch mit aller Kraft ablehnen, sie erkannten doch stillschweigend an, dass der Konflikt zur Erhaltung der Tradition beitrug, ebenjener grundlegenden Konflikttradition. Umgekehrt vergaßen die Söhne selbst in ihren hitzigsten Wutausbrüchen nicht, dass sie damit den Alten eine Ehre erwiesen. Die Erbschaft wurde gut gehütet. Die Weltanschauungen kamen und gingen, Hauptsache der kämpferische Geist blieb. Als John mit der Erzählung fertig ist, kommt sein Sohn Alan zufällig auf einen Besuch vorbei. Mittlerweile ist ziemlich viel Whisky geflossen, und John beginnt, Alan zu beschimpfen: »Und du, wann hast du jemals gekämpft? Wann wirst du endlich aufhören, den Schwanz einzuziehen?« Darauf fragt der Sohn, gegen wen er bloß kämpfen solle, er sei ja arbeitslos, lege am Wochenende höchstens etwas als DJ in einem angesagten Club auf. Der Streit eskaliert, bis schließlich John seinem Sohn einen Strick reicht: »Hier, nimm dir den und häng dich auf! Wer sich nicht wehrt, hat keine Daseinsberechtigung!« Jetzt wird es Alan zu viel. Seufzend verabschiedet er sich und schleicht nach Hause. Der Vater ist niedergeschmettert, wollte er doch eine vitale Reaktion des Sohnes provozieren, so zum Beispiel einen Schlag in sein Gesicht, genauso wie er sich früher mit seinem Vater (insgeheim liebevoll) prügelte. Nun ist klar: Der Faden ist definitiv gerissen. Es gibt keinen gemeinsamen Nenner mehr, keinen geteilten Boden, auf dem gestritten werden könnte. Alle Generationen sind zur ewigen Eintracht verdammt. An diesem dramatischen Abend verstand ich, welch irreparables Unheil Margaret Thatcher angerichtet hatte.