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Über dieses Buch:

Noch schwelgt Dr. Ludwig Güterschild in der Pracht seiner Amtseinführung – doch schon am nächsten Morgen gerät das Hochgefühl des frisch ernannten Bischofs ins Wanken. Ein anonymer Brief droht mit dem „Zorn der Engel“ für das frevelhafte Verhalten des Klerus von Speyer. Die Kommissare Wagner und Rehles nehmen sich des Falls an. Sie gehen davon aus, dass der Briefeschreiber zwar geistig verwirrt, aber harmlos ist. Ein Fehler – denn kurze Zeit später wird ein hoher Geistlicher tot aufgefunden. Unter Hochdruck fahnden Wagner und Rehles nach dem Täter: Wenn man seinen Briefen Glauben schenkt, ist sein blutiges Werk noch längst nicht vollendet …

Über den Autor:

Paul Baldauf ist ein deutscher Autor und Übersetzer, der bereits mehrere Gedichte, Kurzgeschichten, Romane und Reiseführer veröffentlicht hat. Die Liebe zu seiner Heimat, dem pfälzischen Speyer, inspirierte ihn zu vielen seiner Werke.

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eBook-Lizenzausgabe November 2017

Copyright © der Originalausgabe 2011 Verlag Markus Knecht, Landau

Copyright © der eBook-Lizenzausgabe 2017 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/robypangy

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ml)

ISBN 978-3-96148-050-0

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Paul Baldauf

Kleriker im freien Fall

Kriminalroman

dotbooks.

Aufklärung

Die Handlung meines Kriminalromans Kleriker in freiem Fall spielt in der altehrwürdigen Stadt Speyer am Rhein. Die geschilderten Ereignisse sind Oberkommissar Wagners erster Fall, der Auftakt einer geplanten Serie aus der Domstadt. Wie es kaum anders sein kann, haben einige lebende Personen den Verfasser zu der ein oder anderen Figur ›inspiriert‹.

Die Leser mögen aber bedenken, dass ein Roman kein Tatsachenbericht, Romanfiguren daher mit realen nie identisch sind. So ähneln einiger der Figuren – wem wohl? raten Sie mit – einigen Vorbildern vielleicht in manchen Zügen, während der Autor sie auch mit anderen Eigenschaften ausgestattet hat, die seiner Phantasie entstammen.

Der oder die Täter sind freilich der Vorstellung des Schreibers entsprungen. In unserer liebenswerten Stadt wohnen grundsätzlich keine Leute dieser Art.

Der Autor hofft, dass Leser sich in Spannung versetzt und unterhalten fühlen, dass sie dem Ermittlerduo und den Geschichten um Täter und Opfer gerne folgen werden – in diesem Roman und in denen, die noch folgen werden.

Paul Baldauf, Speyer, Oktober 2011

1. Kapitel

Dr. Ludwig Güterschild, an diesem Nachmittag als neuer Bischof von Speyer eingeführt, atmete tief durch. Geschafft. Er öffnete die Tür zu seinem Arbeitszimmer, legte seine bischöfliche Schärpe über einen Sessel und schob die Ärmel seines Bischofsgewandes nach oben.

In diesem Moment klopfte Schwester Benedicta an die nur halb geschlossene Tür. Sie lugte hervor, hüstelte und sagte: »Kann ich, Herr Bischof, noch irgendetwas...«

Bischof Dr. Güterschild kam ihr zuvor: »Nein, wirklich nicht, sehr liebenswürdig, Schwester.«

Dann hielt er einen Moment inne und fügte rasch hinzu: »Vielleicht doch…, warten Sie. Wo haben wir eigentlich den Wein verstaut, den wir vom Winzerverein bekommen haben?«

Schwester Benedicta wies das »wir« in diesem Zusammenhang in aller Bescheidenheit von sich: »Ich bringe ihn gleich.«

Bischof Dr. Güterschild lauschte ihren rasch trippelnden, sich entfernten Schritten. Er schloss für einen Moment die Augen und atmete auf. ›Hast du, glaube ich, schon ganz gut hingekriegt – natürlich mit Gottes Hilfe. Fast 100 Bischöfe vor dir, seit dem ersten urkundlich erwähnten Bischof zu Speyer. Muss man sich mal vorstellen!‹

Diese Vorstellung wurde nur kurzfristig unterbrochen durch Äußerungen der Bischofsschwester, die die Weinflaschen vergeblich zu suchen schien. Doch schon entfuhr ihr ein kleiner Ausruf der Erleichterung. Sie näherte sich mit noch rascheren Schritten.

»So, Herr Bischof, ich hab die Flasche schon geöffnet und hier haben Sie noch ein Glas.«

Sie deutete mit ihrem Zeigefinger auf das Weinglas mit dem Wappen des neuen Bischofs. »Da kann der Herr Bischof aus dem Bischofsglas trinken.«

Bischof Dr. Güterschild lachte herzhaft – »Danke schön, Schwester Benedicta!« –  und erwiderte die Wünsche nach einer guten Nachtruhe.

Mit sicherer Hand füllte er sein Glas  – hatte er sich doch gleich mal erklären lassen: Region Weinstraße, sehr bedeutsam für die Pfalz  – und lehnte sich in seinem Sessel mit einem Gefühl tiefer Ergriffenheit zurück.

›Was für ein langer Weg.‹ Er gedachte gerührt und dankbar der ersten Wegbegleiter auf seinem Lebens- und Glaubensweg und blickte zurück auf seine erste Kaplanstelle. ›Pfälzer Wein, damit musst du dich vertraut machen.  Wichtiger Wirtschaftsfaktor für die Menschen hier. Fragt der mich doch glatt, ob ich schon mal an einer Weinprobe teilgenommen habe, dieser junge Reporter von der Rheinpfalz. War ich im ersten Moment schon etwas verdutzt. Aber gleich die Kurve gekriegt. Mentalitätsunterschiede, keine Frage. Viel direkter, machen nicht viel Federlesens. Aber alles gut gemeint. Aaah. Das tut gut jetzt, diese Stille. Dass ich mal in Speyer lande… Ja, die Wege des Herrn sind unergründlich.‹

Der neue Bischof hörte den dumpfen Schlag der von dunkelbraunem Holz umkleideten Wanduhr.

›Vor dem Einzug warst du ja etwas aufgeregt… Erhobenen Hauptes auf den Kaiserdom zugehen, jedoch im Bewusstsein, Diener zu sein. Ausgleich der Gegensätze, in höherer harmonischer Einheit. Ein kurzes Stoßgebet… Nach allen Seiten grüßen: Volksnah, will Euer Bischof sein.

Aber natürlich auch nicht übertreiben. Kein reines Volksfest: Heilige, liturgische Handlung später. Das muss klar zum Ausdruck kommen. Allerdings schon etwas merkwürdig, dass Umbau und Renovierung des Bischofspalais gerade noch fertig wurden. Die reinste Baustelle vorher…‹

Er goss nach. Nun bemerkte er, dass die umsichtige Schwester auf einem kleinen Tisch zu seiner Seite stillschweigend zwei Brezeln deponiert hatte. ›Wie aufmerksam. Morgen nicht vergessen, sie zu loben.‹

Der Bischof ließ noch einmal die Bilder seines feierlichen Einzugs an seinem Geist vorüberziehen. ›Hat schon ein Flair, dieser Domplatz. Rührend, wie ich abgeholt wurde. Alle versammelt, Pregnald und Schütz und der gute Weihrauh und wie sie alle heißen. Der Einstieg bei der Predigt »da können einem schon die Knie schlottern«, kam gut an, obgleich ich erst dachte, ob der Ausdruck nicht zu stark ist? Bin ja schließlich nicht ängstlich.‹

Der neue Hirte des Bistums zerbrach eine Brezel und führte ein Stück zum Mund. ›Brezeln. An jeder Ecke hier, nicht zu übersehen beim ersten Gang durch die Stadt. Liebenswert, unser Weihbischof, kauft mir eine große Brezel zur Stärkung nach der Dombesichtigung. Nicht übersalzt, nein, kann man nicht sagen. Brezel-Berzel... Na ja, wenn man Berzel heißt, ist der Berufsweg als Brezel-Lieferant wohl vorgezeichnet. Vorderpfälzer. Gewisse Leichtigkeit im Umgang. Französischer Einschlag? Haben ja schrecklich gewütet hier, die Franzosen, 1689. Was die sich da herausgenommen haben, mit Pferden in ein Gotteshaus reinreiten!

Spontaner Menschenschlag. Wenn ich da an den Mann denke, der mich gleich angesprochen hat, als ich erstmals über die Maximilianstraße ging. Da kennen die nichts! In einer Unbefangenheit, als wäre ich sein Schwager. Und wenn ich an die Pressekonferenz beim Pilger, unserem Bistumsblatt, denke. Fragt mich dieser Redakteur: »Was halten Sie eigentlich vom FCK?«

Der Bischof schmunzelte und schlug sich mit einer Hand auf das rechte Bein. ›Hätte ich gleich ein Eigentor schießen können. Gar nicht auszudenken, wenn ich mit der Abkürzung nichts hätte anfangen können… FCK, Kult in der Region. Hat Weihbischof Kündel daran gedacht, dich auch darüber zu informieren. Aber kennt man natürlich: Fritz Walter! Feiern können sie, die Pfälzer! Eine Begeisterung rings um den Domnapf! Schöner Brauch, den Domnapf mit Wein zu füllen. Kann man aber auch nicht flächendeckend in jedem deutschen Bistum einführen. Gar nicht daran zu denken, schon bei der Haushaltslage der einzelnen Bistümer.‹

Nun bemerkte er, dass die Anspannung des ereignisreichen Tages zusehends von ihm wich. Ein Gefühl dankbarer Genugtuung stellte sich ein, das durch die Wirkung des maßvoll zu sich genommenen Weins – ›Halt mal! War da noch was drin?‹ – nur unterstrichen wurde.

Durch das gekippte Fenster drang das Geräusch vorbeifahrender Autos zu ihm. Ein kurzer, lebhaft ausgetragener Wortwechsel, vom Domplatz kommend und schon kehrte wieder Ruhe ein.

›An den Dialekt wirst du dich natürlich erst gewöhnen müssen. Bei dem Speyerer, der dich ansprach, hast du ja kaum die Hälfte verstanden. Möchte gar nicht so genau wissen, ob meine Antwort zu seiner Frage passte.‹

Sein Geist kehrte zu den ersten Stunden unmittelbar nach seiner Einführung als neuer Bischof zurück: »Bestätige ich hiermit, dass Sie der rechtmäßige Bischof sind…« ›Ein großer Moment. Warst du gerührt! Der gute Pregnald. Wie er das »rechtmäßige« betont hat. Klang fast so, als könne sich hier ein Bischof einschleichen, oder als habe er das erst einmal überprüfen müssen. – Ist schon großartig, diese Fülle festlicher Ordnung. Die Einführungszeremonie samt Urkunde: Das hat der aber auch souverän gemacht, alle Achtung. Den Melzer hast Du dir ja gleich rausgegriffen. Menschenkenntnis, auch eine Gabe. Das sichere Gespür, wen du wo hinsetzen kannst. Kann fatal sein, ein Fehlgriff. Melzer… War das der, der aus Pirmasens kommt? Wie spricht man das eigentlich aus? Auf der ersten oder zweiten Silbe? Pirmaséns, habe ich auch schon gehört, klingt aber nicht gut. Schien der eine oder andere überrascht, als ich Melzer zu meinem Zeremonienmeister und Bischofssekretär ernannt habe. Soll an seiner Doktorarbeit schreiben über Anselm von Canterbury. Ich glaube, das passt.‹

Bischof Dr. Güterschild setzte den sich einstellenden Bildern und Erinnerungen keinerlei Widerstand entgegen. ›Wie gut war es an einem Tag solch sinn- und sinnenreicher Festlichkeit, alles ausklingen zu lassen in aller Stille. Ja, es war gut! Wie es auch gut war, dass der Wein, die Gabe Gottes und der Arbeit des Menschen zu einer gewissen Beschwingtheit führte, die musikalischer Begeisterung nicht unähnlich war, und man sich getragen fühlte, man sich tragen lassen durfte von der Fülle einströmender Gedanken, Bilder und Erinnerungen.‹

Bischof Dr. Güterschild, mit einer kraftvollen Gesundheit gesegnet, die in seiner Erscheinung harmonisch zum Ausdruck kam, schloss das gekippte Fenster und setzte sich wieder.

›Rührend, wer da alles aufmarschierte. Welch eine Fülle an Farben, Fahnen, Trachten und Vereinen, an Musikern und Geistlichkeit! Die Fülle des Glaubens wieder erfahrbar machen, den ganzen Reichtum an geistlicher Wahrheit und Schönheit. Wahrheit, Schönheit, Güte – Ein Dreiklang. Melzer und Weihrauh haben ja beide in Rom studiert. Da merkt man, ohne überheblich sein zu wollen, zuweilen den Unterschied. Sympathisch, diese Italiener, wie sie am Domnapf auf dich zugehen. Hattest du ja noch halbwegs parat, das Italienische: Abbiamo siempre una casa abierta! Sagt man so leichthin in einem solchen Moment, immer ein offenes Haus. Und wenn sie dann alle anrücken samt Schwiegermutter, Nichten und Neffen, können die Schwestern das ausbaden.

Nicht leicht zu deuten, dieser Weihrauh. Seine feinsinnigen Bemerkungen, die subtile Ironie. Soll philosophisch besonders kompetent sein. Den muss ich mal auf Guardini ansprechen.‹

Bischof Dr. Güterschild ließ die Gesichter einiger Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens Revue passieren, die ihm die Ehre erwiesen hatten, bis der Fokus seines Gedächtnisses den obersten Repräsentanten der Stadt in den Blickwinkel nahm. Wenn ich an den Oberbürgermeister denke: »Im Mittelalter hätten Sie Pech gehabt. Da hat man die Bischöfe schon mal fortgejagt oder in der Gruft begraben.« ›Unglaublich! Dachte, ich hör nicht recht. Eigenartiger Humor.‹ »Willkommen in der schönsten Stadt Deutschlands.« ›Mal wieder über die alte Tugend der Bescheidenheit predigen. War sicher nicht wörtlich gemeint, lieben halt ihre Stadt.

Hat ja alles seine Berechtigung. Ist schon schön, Speyer! Die Römer waren ja hier. Bezug zu Rom ist also durchaus gegeben. Das lässt hoffen.‹

Bischof Dr. Güterschild ließ die Fülle des Tages in sich nachklingen. Er dankte der Vorsehung insgeheim für die weiten und oft verschlungenen Wege, die ihn bis zum Bischofsstuhl in Speyer geführt hatten. Dann  machte er sich zur Nachtruhe zurecht. Nach einer ihn nur kurz überflutenden Woge an Bildern, Gedanken und Erinnerungen, versank er in tiefen Schlaf.

2. Kapitel

Bischofssekretär Melzer nahm die Berge von Post entgegen, die ihm Schwester Benedicta überreichte. Dann begab er sich auf leisen Sohlen an einen Schreibtisch, der schon zu Zeiten eines Paul Josef Nardini seinen Dienst getan haben mochte.

Behutsam nahm er erste Verteilungen vor, schob Glückwunschschreiben auf einen Stapel und arbeitete sich konzentriert und zielstrebig durch den zweiten Berg. Auf diesem stellte sich vorübergehend ein Ungleichgewicht ein, so dass ein Berg- oder Briefrutsch nicht mehr zu verhindern war. Geduld. Ein erneuter Zugriff und schon waren die früheren Verhältnisse wiederhergestellt.

Bischof Dr. Güterschild hatte ihm sein Vertrauen ausgesprochen und auch bei der Bearbeitung seiner Post freie Hand eingeräumt. Nicht alle Schreiben bedurften einer Inaugenscheinnahme durch den Herrn Bischof. Kooperativer Arbeitsstil, das war seine Devise.

»Hier haben sich zwei gefunden!«, so hatte ein Geistlicher seine Erwählung zum Bischofssekretär kommentiert. Kaplan Melzer schien, dass hier ein Anflug boshafter Häme vielleicht nicht ganz zu leugnen sei. Aber wer konnte schon uneingeschränkt in einen Menschen hineinschauen? Verbarg sich etwa Neid dahinter? Neid auf den ihm  gewährten unmittelbaren Zugang zur höchsten Ebene der Bistumsleitung? Sollte dieser Geistliche sich selbst Hoffnung gemacht haben, die Stelle anzutreten? Kaplan Melzer bezweifelte dies in Anbetracht des fortgeschrittenen Alters des Klerikers.

Natürlich war es Kaplan Melzer nicht entgangen, dass die Art und Weise, wie er sein Amt ausübte, kaum einen Schritt vom Bischof wich, jedem Fehlgriff zuvorkam, die vom Bischofshut fallenden Bänder zurechtrückte, wenn der Wind sie in unmögliche Position brachte, von manchem Kommentator mit dem Zeremonienmeister des Papstes verglichen wurde. Gerade so, als wolle er – als früherer Römer – diesem aus der Ferne Konkurrenz machen und sich für spätere höhere Aufgaben in römischen Gefilden empfehlen... Nun denn. Spöttern war nicht leicht zu entkommen, was kümmerte es ihn. Was zählte, war die Erfüllung seiner Pflichten, ob die Schreiben, in die er nun Einblick bekam, dem stilistischen und geistigen Rang eines Kardinal Newmann nun entsprachen oder nicht.

Er schlitzte einen weiteren Brief auf, überflog den Absender – ah, ja, der Winzerverein – und entwarf in Gedanken einen Antwortbrief. Diese Winzer mussten ja wissen, dass es bis zur nächsten Domnapffüllung noch eine ganze Weile dauern dürfte. Wenn er sich recht erinnerte, hatten sie drei Kisten á sechs Flaschen Wein geliefert. Raue, mit stoßdämpfendem Füllmaterial ausgelegte Holzkisten, die sie persönlich vorbeibrachten und nach dem Motto – Wo ist denn hier der Keller? – auch gleich, mit Stiefeln voranstapfend, etliche Treppen tiefer verstauen wollten. Zeremonienmeister Melzer schüttelte rückwirkend den Kopf. Nein, so ging es nun wahrlich nicht! Ein Bischofspalais ist schließlich kein Domhof!

Kaplan Melzer gedachte kurz des Domhofes, der in unmittelbarer Nähe des Domes gelegenen Gaststätte. Wie verwundert war er doch damals als junger Kaplan, als Domkapitular Schütz ihn regelrecht drängte, gemeinsam in den Domhof zu gehen. Wenn er daran dachte, wie er sich das dunkle Gebräu opferbereit zugeführt hatte... Ein solcher Domhof – schon die Erwähnung des Doms war in diesem rein weltlichen Zusammenhang unpassend – war doch wahrlich nicht der geeignete Ort, um sich beim Genuss von Braukunstprodukten über die Theologie eines Henri de Lubac zu unterhalten. Er schüttelte entschieden den Kopf und kehrte zu seiner Arbeit zurück. Eine überwiegend praktisch angelegte Tätigkeit war schon etwas anderes als in theologische Abgründe führende Studien oder metaphysische Höhenflüge im Umkreis von Plotin, Anselm von Canterbury und Bonaventura.

Zunächst kamen Schreiben geistlicher und weltlicher Autoritäten an die Reihe, Bundespräsidialamt, Bundeskanzleramt, Glückwünsche von Ministern, Staatssekretären usw. ›Ob der Herr Bischof im Einzelfall eine persönlich verfasste Antwort vorzog?‹ Kaplan Melzer verfasste eine entsprechende Notiz. Der nächste Brief stammte von protestantischer Seite. Kaplan Melzer musste wieder an Kardinal Newmann denken, den großen Theologen, Denker und glanzvollen Stilisten, dessen Lektüre ihn in manch schlafloser Stunde ganz in Anspruch nahm.

›Newmann war ja  konvertiert. Seine Autobiographie sollte man dem Kirchenratspräsidenten mal zur Lektüre empfehlen.‹

Bischofssekretär Melzer lachte in sich hinein. ›Humor musste sein, wo käme man sonst hin?!‹ Ein Anruf von Domkapitulars-Sekretärin Schaffner – so ihre eigene, inoffizielle Berufsbezeichnung – unterbrach seine Bemühungen. Domkapitular Schütz sei unpässlich, ob er morgen seine Messe übernehmen könne, fragte sie in fast schon provokant vorgetragenem vorderpfälzischem Singsang. Bischofssekretär Melzer dachte kurz nach und gab seufzend seine Zustimmung. »Morgen Heilige Messe, Ersatz für Schütz – in Kalender eintragen!«

»Darf ich noch eine Tasse Kaffee bringen?«

Schwester Benedicta war wieder aufgetaucht. Im Wissen darum, dass aller Anfang, auch der als Bischofssekretär, schwer ist, wollte sie dem Herrn Kaplan eine Stärkung anbieten.

»Danke sehr, Schwester, gerne«, erwiderte Kaplan Melzer, wobei er kaum aufsah.

›Gewiss, manch einem mochte sein Hang zur inneren Sammlung nicht schmecken, er mochte ihn voreilig als mangelnde Offenheit auslegen – gerade hier, in der Pfalz. Aber, war er etwa Priester, um sich nach dem Belieben der Leute zu richten? Nein, besser in sich gekehrt bleiben, als sich zur Plaudertasche zu entwickeln.‹

Die Schwester entfernte sich. Kaplan Melzer befreite den nächsten Brief aus dem Altpapierumschlag. Er vergewisserte sich, dass weit und breit niemand lauschen konnte. Dann las er sich, von neuer Arbeitsdynamik erfasst, den Inhalt des Briefes laut vor. Auf dem Kuvert war kein Absender zu erkennen. Der Brief war auch nicht frankiert, also wohl eingeworfen worden:

»Hochwürdigster Herr Bischof.«

›Die Anrede stimmte schon mal.‹

»Möge der allmächtige Herr Ihnen die Augen öffnen.«

›Wie bitte?!?‹

Kaplan Melzer, dem als feinem Beobachter die eigenwillige, monumental-manieriert wirkende Handschrift – altgotisch? – aufgefallen war, musste den Satz noch einmal lesen. Er stutzte, griff den Brief an beiden Rändern und fuhr in der Lektüre fort.

»Auch ich war gestern im Dom Zeuge, wie Sie in Ihr neues Amt eingeführt wurden. Ein prächtiges Schauspiel.«

Der Bischofssekretär legte den Brief für einen Moment zur Seite und schloss aus dem »Zeuge« auf einen Mann. Er nahm zunächst ein paar Schluck Kaffee, dann nahm er den Faden wieder auf.

»Die Kirche im Bistum Speyer zeigte sich nach außen wieder einmal von ihrer schönsten Seite. Doch täuschen Sie sich nicht!!!«

›Wie?!?‹

»Unter wie vielen Häusern, die eine schöne, ach, so glatte Fassade zeigen, ist das Gebälk längst morsch und stürzt fast zusammen. Der Herr in seiner Güte hat mich erwählt, Ihnen die Augen zu öffnen.

Wieviel Unglaube und Kleinglaube herrscht in meinem Haus, Spruch des Herrn. Doch schon ist die Axt an die Wurzel gelegt. Wer keine Frucht bringt und meine Worte verdreht, den werde ich ins Feuer werfen, Spruch des Herrn. Wie oft habe ich mich jahrzehntelang in Geduld geübt und Geistliche auf Missstände angesprochen.«

›Jahrzehntelang?‹

»Doch auch die größte Geduld hat ihre Grenze.

Wen der Schnitter nicht bereitfindet, den wird er umhauen – nicht aus böser Lust an Vergeltung, sondern um größeren Schaden vom Volke Gottes abzuwenden. Glauben Sie nicht, Herr Bischof, dass es mir Freude bereitet, Sie mit diesen Worten zu begrüßen. Aber die Zeit drängt. Schon sind die Schalen des Zorns bereitet, um über denen ausgegossen zu werden, die es nicht anders gewollt haben. Nur wenige der Priester bewahren noch den ganzen, reinen Glauben unverfälscht. Wenn Sie hinter so manche klerikale Kulisse schauen könnten!«

›Klerikale Kulisse?!‹

»Sie würden sich wundern. Nein: Sie würden vielmehr vor Entsetzen vergehen! Oh, Herr des Himmels, ich preise Dich, dass Du mich Unwürdige erwählt hast. Doch furchtbar ist es für den Frevler an seinem Wort, für seine treulosen Diener am Altar. Furchtbar ist es, in die Hände des lebendigen Gottes zu fallen und in die Hände derer, die er dazu beruft, Vergeltung zu üben. Die Engel des Zornes schlagen, wen, wo und wann sie wollen, doch stets in Gerechtigkeit.«

Kaplan Melzer las den Brief – der auch auf der Innenseite keinen Absender preisgab – noch einmal von vorn. Dann trank er seinen Kaffee zu Ende. Er dachte, zutiefst bestürzt, dass er sich seinen ersten Arbeitstag als Bischofssekretär etwas anders vorgestellt hatte. Als er aus dem Fenster sah, erblickte er den Bischofsfahrer Kurzmann, wie er dem Herrn Bischof beim Aussteigen aus dem Auto half und noch ein paar Worte mit ihm wechselte. Eigentlich eine schöne Arbeit, Bischofsfahrer.

Ein paar Tauben flatterten am Domnapf vorbei, während die Glocken vom Dom her die Mittagszeit ankündigten. Kaplan Melzer erhob sich und sprach, alter Tradition gemäß, das Gebet Der Engel des Herrn. Dann sah er, von niedrigerer Stuhlwarte aus, wieder aus dem Fenster. Der Bischof sprach inzwischen mit Domkapitular Bertram, der unter seinem Arm eine lederne Tasche mit sich führte und auf seinem Weg in Richtung Edith-Stein-Platz dem Bischof über den Weg gelaufen war. Der Bischof klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter und verabschiedete ihn. Zwei Bürger wichen einem etwas ungestüm anfahrenden Auto aus, indem sie sich hinter den Pollern verbargen, die den Domplatz abgrenzen. Der Wagen von Brezel-Berzel brachte eine neue Ladung des Kultgebäcks. Ein emeritierter Domkapitular, bei seiner Nichte untergehakt, stützte sich, unsicher tastend, auf seinen Spazierstock, um sich in Richtung Domgarten voranzukämpfen.

Kaplan Melzer, kurz betroffen über diesen Anblick menschlicher Vergänglichkeit, verankerte seinen Geist wieder in Gedanken an Ewiges, um sich dann erneut und energisch wieder zeitlichen Dingen zuzuwenden. ›Was tun? Mit dem Herrn Bischof erst einmal die ganze Reihe an Schreiben durchgehen oder gleich mit dem Zornschalen-Brief anfangen? Nein, eher nicht. Kommt gerade von Antrittsbesuchen und Dienstfahrten. Dürfte abgespannt sein. Nicht gleich mit der Tür ins Haus fallen.‹

Der Himmel über und hinter dem Dom, in einer langen Wolkenfront ausgebreitet, verdüsterte sich. Erste Regenschauer gingen sacht hernieder. Passanten spannten ihre Regenschirme auf. Zwei Schulkinder marschierten in Richtung Maximilianstraße und ließen einen unorthodox fahrenden Radfahrer vorbei.

Sein Rad war in einer Weise beladen, die den Regeln der Statik wohl nur bedingt entsprach. Der zunächst schwach einsetzende Regen fiel, nunmehr auch hörbar, stärker herab und steigerte sich bis zu heftigem Platzregen. ›Was für eine Gewalt und Macht kam doch in der Natur zum Ausdruck!‹ Doch für weitere, gar halbwegs druck- oder predigtreife Meditationen reichte es nicht. Der Herr Bischof musste sich schon im Eingangsbereich aufhalten. Dies entnahm er den eilfertigen Worten von Schwester Benedicta, die seinen nassen Schirm, eine Leihgabe des Bischofsfahrers, zum Trocknen auf dem Boden ausbreitete.

Mit kraftvollem Schritt näherte sich Bischof Dr. Güterschild seinem in aller Schlichtheit repräsentativ angelegten Arbeits- und Empfangszimmer. Er verhielt den Schritt und schaute doch erst einmal bei Kaplan Melzer, seinem Bischofssekretär, vorbei.

»Hochwürdigster Herr Bischof...«

»Den Hochwürden lassen Sie besser mal in der Schublade, mein lieber Melzer«, bemerkte der Bischof freundlich abwinkend, mit leicht polterndem Lachen. Er schob sich einen Stuhl zurecht und setzte sich, ohne lange zu fackeln.

»Wie war ihr erster Arbeitstag bei mir? Soweit alles klar?«

Der Bischof – von Antrittsbesuchen in und außerhalb Speyers zwar nicht erschöpft, aber doch etwas ermüdet – weilte in vorauseilender Vorstellungskraft bereits beim Mittagessen, gespannt auf die Leistungskraft pfälzischer Kochkultur.

Den Ausführungen seines Sekretärs hörte er nur mit einem Ohr zu, das indes so geschärft war, dass ihm so schnell nichts entging. Schwester Benedicta nutzte die kurze Abwesenheit des Bischofs im Nebenzimmer, um einen Strauß Blumen – kleine Aufmerksamkeit der Blumenhandlung Leitner, seit 1866, wie der Bote geflissentlich bemerkte – in einer Vase aufzustellen. Danach huschte sie hinaus in Richtung Küche, um ihr von gelegentlichen Stoßgebeten getragenes Tagwerk beim Schälen von Spargeln und Kartoffeln fortzusetzen.

»Soweit alles in Ordnung«, begann Kaplan Melzer stockend. Fast so, als habe er ein schlechtes Gewissen und mit einem Zögern in der Stimme, das dem Bischof nicht entging.

»Soweit?«

»Viele Glückwunschschreiben aus der Welt der hohen Politik, von der Bischofskonferenz, vom Winzerverein, von Firmen und Privatleuten sowie eine anonyme Geldspende für Renovabis.«

Sein Gegenüber sah ihm unverwandt und konzentriert ins Gesicht. Das Mittagessen hatte er erst einmal zurückgestellt. Ihm entging nicht, dass Kaplan Melzer ordnungsgemäß, mit priesterlichem Kragen, gekleidet war. Schließlich lief ein Polizist auch nicht in Jeans und Pullover durch die Landschaft, sondern war als solcher jederzeit zu erkennen und ansprechbar.

»Und?«

»Dann wäre da noch…«

»Was wäre da noch?«

»Dann wäre da noch ein etwas… ein sonderbarer, ein höchst merkwürdiger Brief.«

Kaplan Melzer sah etwas ratlos aus. Er warf unwillkürlich einen Blick auf seine Armbanduhr und zog den Blick sofort wieder zurück.

»Wo ist der Brief? Geben Sie ihn mir. Ich will Sie nicht aufhalten. Gehen Sie ruhig, Kaplan Melzer. Wir können später darüber sprechen.«

Sein Sekretär reichte ihm den Brief, erleichtert, dass er erst einmal das Haus verlassen konnte. Bei aller Bereitwilligkeit zum Dienst war Kaplan Melzer, als er im Freien stand, etwas ernüchtert über so manche Niederungen des Sekretärsalltags.

Er ließ seinen Blick über die mächtige Kathedrale gleiten und bewegte sich in Richtung Edith-Stein-Platz. Dort verwickelte ihn der gerade aus dem Dom enteilte Dompfarrer Galanthin in einen interessanten Dialog.

3. Kapitel

Bischof Dr. Güterschild nahm den besagten Brief an sich und begab sich zu seinem Zimmer. Dort legte er einige Gegenstände ab und sank in seinen Sessel. Nach kurzem Schaukeln kam sein schweres Brustkreuz zur Ruhe. Durch das gekippte, breitflächige Fenster hörte er das wohltuend-beruhigende Geräusch heftig niederprasselnden Regens, so wie es viele seiner Vorgänger gehört haben mochten. Alles ging seinen geregelten Gang. Der Bischof besann sich wieder, griff nach dem Brief, der Kaplan Melzer offensichtlich etwas aus der Fassung gebracht hatte. Melzer, so fuhr es dem Bischof unter einem Anflug von Wohlwollen durch den Kopf, verbrauchte sicher viel Energie bei seinen Studien für die Doktorarbeit. Da war es nur natürlich, dass er – nervlich etwas überbeansprucht – einen Brief überinterpretierte. Sicher war es wieder eines jener Schreiben, in dem ein unwirscher Zeitgenosse der Kirche pauschal vorwarf, sie lebe im Mittelalter. Beliebt waren ja auch solche Schreiben, in denen man im Hinblick auf die Not in der Dritten Welt auf die horrenden, unverantwortlich hohen Kosten solcher Feierlichkeiten hinwies. Als würde die Kirche nichts für die sogenannte Dritte Welt tun! Der Bischof beruhigte sich wieder und las den Brief laut vor, so als lausche ein Gegenüber. Er war gerade an die Stelle gekommen: »Wieviel Unglaube und Kleinglaube herrscht in meinem Haus, Spruch des Herrn. Doch schon ist die Axt an die Wurzel gelegt. Wer keine Frucht bringt und meine Worte verdreht, den werde ich ins Feuer werfen, Spruch des Herrn«, als Schwester Benedicta erschrocken aufblickte. Ungewollt war sie, in Nähe der Tür, Ohrenzeugin geworden, hatte sie sich doch nur herangeschlichen, um in Erfahrung zu bringen, welche Gerichte der Herr Bischof besonders mochte. Und nun stand sie hier und biss sich auf die Lippen. ›Wenn sie sich nun räusperte und eintrat, sah es so aus, als habe sie gelauscht. Aber was, um Himmels willen!‹, sagte der Herr Bischof da? Ins  Feuer werfen ? Sie wollte sich gerade wieder diskret zurückziehen, als der Bischof wieder seine klare, voll tönende Stimme vernehmen ließ, die auf musikalische Veranlagung hindeutete.

»Doch furchtbar ist es für den Frevler an seinem Wort, für seine treulosen Diener am Altar. Furchtbar ist es in die Hände des lebendigen Gottes zu fallen und in die Hände derer, die er dazu beruft, Vergeltung zu üben.«

Schwester Benedicta erschrak erneut. ›Wen meinte er hiermit? Er war doch gerade erst neu eingeführt. Vergeltung? Furchtbar? Frevler? Feuer? Treulose Diener? Um Himmels willen!‹ Sie zog sich, so leise, wie sie gekommen war, wieder zurück, verschwand in ihrer Küche und harrte beklommen der Dinge, die da kommen sollten.

»Schwester Benedicta?«

Die Stimme des Bischofs durchdrang den Gang und reichte bis zur Küchenschwester.

»Ich komme.«

›Sollte er sie ertappt haben?‹ Bischof Dr. Güterschild trommelte mit den Fingern auf den Tisch. Er nahm den Brief wieder an sich, legte ihn erneut zur Seite, blickte vor sich hin und dachte nach.

»Ja, bitte?«

»Schwester Benedicta. Wo haben wir eigentlich die Telefonliste?«

»Frau Wegner hat gestern angerufen, die Telefonliste wird überarbeitet, und...«

»Könnten Sie, Schwester – mein Sekretär ist ja schon außer Haus und mir fehlt noch der Überblick – könnten Sie Dr. Weihrauh für mich erreichen?«

»Ich versuche es, Herr Bischof.«

Er sah der dienstbeflissenen Schwester nach und war gerührt über ihren guten Willen. Nur etwas unnötig aufgeregt. Immer die Ruhe bewahren.

Zwei Stunden später schritt Generalvikar Dr. Weihrauh ins Arbeitszimmer des Bischofs. Nach einleitenden Worten nahmen beide Platz, wobei Dr. Weihrauh ein kleines Bild des seligen Paul Josef Nardini auffiel, das in einer Nische des bischöflichen Bücherregals platziert war. Der Bischof bemerkte dies und gedachte im Zeitraffer mit Dr. Weihrauh der Seligsprechung Nardinis – »Ein Großereignis damals, für die Domstadt, für die ganze Diözese und darüber hinaus« – in dieser Diagnose war man sich einig. Dr. Weihrauh wies auf das Geburtshaus Nardinis hin, »unweit, in Germersheim«, versicherte dem Bischof, dass er ihn bei Gelegenheit gerne einmal dorthin begleite, bis der Bischof ein »wir, als alte Römer« einflocht, mit dem er auf die theologischen Studien beider an der Gregoriana anspielte.

»Können Sie eigentlich noch Italienisch?«

Bischof Dr. Güterschild fuhr wieder seine etwas voreilig hingeworfene Zusage durch den Sinn: ›Abbiamo siempre una casa abierta. Notfalls konnte man da auch mal den Weihrauh einspannen.‹

 »Più o meno. Ho dimenticato molto«, versuchte Dr. Weihrauh sich aus der Affäre zu ziehen.

Bischof Dr. Güterschild sah Dr. Weihrauh wohlwollend an. Dieser rückte indessen seine flachglasige Brille zurecht und legte ein feinsinniges Lächeln an den Tag.

»Was halten Sie eigentlich von Romano Guardini?«

Dr. Weihrauh schien von der plötzlich vorgebrachten Frage nach dem Religionsphilosophen keineswegs überrascht. »Nun, hier muss ich vorausschicken, dass ich leider noch nicht dazu gekommen bin, seine gesammelten Werke zu lesen, also kein ausgewiesener Experte bin.«

Dr. Weihrauh ließ eine kleine Pause verstreichen.

»Doch die Werke Guardinis, die ich kenne – und hier denke ich vor allem an sein Buch Der Herr, an seine Ethik, an Der Gegensatz und seine Studien über Dostojewski – sind beeindruckend. Insbesondere auch die klare Sprache, aus der man wohl auf klare Gedanken schließen kann.«

»Und abgesehen von Guardini?«, hakte der Bischof  nach. Ihm war daran gelegen, auf freundschaftlich-unauffällige Art einen kleinen Einblick in die Weihrauh’sche Gedanken- und Geisteswelt zu bekommen, drängte sich ihm doch die Vermutung auf, dass sich hinter diesem schmalen Schädel eine schwer auslotbare geistige Welt verbarg.

Der Bischof erinnerte sich an jenen merkwürdigen Kommentar des Bischöflichen Justiziars, Dr. Graef, den dieser noch vor seiner Einführung als neuer Bischof von sich gegeben hatte, als die Rede auf Weihrauh gekommen war. Beinahe enthusiastisch hatte Dr. Graef beteuert: »Aus Dr. Weihrauh hätte auch ein bedeutender Komponist werden können!«

›Wie kam der bei einem Theologen, bei einem ausgewiesenen Kirchenrechtler mit philosophischem Hang auf Komponist?‹

Dr. Weihrauh vermutete inzwischen, dass die Frage des Bischofs auf seine Vorlieben für bestimmte Denker hinzielte. Der Generalvikar schien in Gedanken sein Bücherregal durchzugehen, über dessen Inhalte sich einige seiner Mitbrüder im priesterlichen Dienst zuweilen in Spekulationen ergingen. Dann heftete er seinen Blick wieder auf den Bischof und bemerkte mit leiser Stimme:

»Ich schätze insbesondere – wobei man bei Ersterem natürlich Abstriche machen muss – Kant, Platon, Thomas von Aquin und Wittgenstein. Bei Thomas«, fügte er hinzu, »allerdings mehr die Methode.«

Wieder umspielte seine Lippen ein angedeutetes Lächeln. Zu weiteren Äußerungen über den großen Aquinaten, den theologisch-philosophischen Giganten des Mittelalters, der die katholische Kirche über viele Jahrhunderte wie kein Zweiter prägte, fühlte Dr. Weihrauh sich momentan nicht veranlasst.

»Bei Kant natürlich Abstriche machen muss...«, wiederholte der Bischof und überflog in Gedanken seine eigenen Kant-Lektüre-Eindrücke und -Kenntnisse.

»Ja, das sehe ich auch so. Wittgenstein?«

Generalvikar Dr. Weihrauh fing den Ball auf, besann sich kurz und sagte: »Bei Wittgenstein imponiert mir am meisten der Satz: Worüber man nicht reden kann, darüber soll man schweigen.« Er fügte nahtlos hinzu: »Zuweilen kann man bei manchen Geistlichen – von anderen Berufsgruppen gar nicht erst zu reden – bei allem Respekt schon den Eindruck gewinnen, dass sie sich der Zeichenhaftigkeit, des reinen Hindeutecharakters der Sprache nur unzureichend oder gar nicht bewusst sind und Worte für die damit gemeinte Wirklichkeit selbst halten.«

»Eine interessante Bemerkung«, entgegnete der Bischof nach einer kurzen Pause, in der er die Bedeutung dieser Aussage zu überdenken schien. ›»Bei Thomas vor allem die Methode?« Und der Inhalt? War ja schließlich nicht einer unter vielen, der heilige Thomas. Und dieser Weihrauh greift sich mal eben seine Methode raus.‹ Eine kurze Schweigezeit trat ein.

Irgendwie konnte er sich Weihrauh auch im Umkreis der römischen Kurie vorstellen. Vielleicht im höheren kirchendiplomatischen Dienst, als polyglotter Sekretär eines Kardinals? Er sah ihn förmlich am Petersplatz an den rauschenden Brunnen vorbeilaufen. »Bei Thomas vor allem die Methode.« Gewiss ein Mann mit Potential für höhere Aufgaben.

»Mein lieber Weihrauh, warum ich Sie hierher bat...«