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Nr. 2961

 

Der Kepler-Komplex

 

Fluchtpunkt Neo-Ganymed – Reginald Bull gegen den Techno-Mahdi

 

Leo Lukas

 

 

 

Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt

 

Cover

Vorspann

Die Hauptpersonen des Romans

Prolog: Ein nicht ideal verlaufendes Rendezvous

1. Gold- und Silberregen

2. Krankhafte Veränderungen

Zwischenspiel

3. Bedient euch!

Zwischenspiel

4. Der Anflug

5. Das Gipfeltreffen

Zwischenspiel

6. Bostich vor den Toren Terras

7. Frisbees unter Feuern

Zwischenspiel

8. Verheißungen

9. Endspiel (mit Damenopfer)

Epilog (I): Der Ausblick

Epilog (II): Die Ankunft

Leserkontaktseite

Glossar

Clubnachrichten

Impressum

PERRY RHODAN – die Serie

 

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Gut dreitausend Jahre in der Zukunft: Perry Rhodan hat nach wie vor die Vision, die Milchstraße in eine Sterneninsel ohne Kriege zu verwandeln. Der Mann von der Erde, der einst die Menschen zu den Sternen führte, möchte endlich Frieden in der Galaxis haben.

Unterschwellig herrschen zwar Konflikte zwischen den großen Sternenreichen, aber man arbeitet zusammen. Das gilt nicht nur für die von Menschen bewohnten Planeten und Monde. Tausende von Welten haben sich zur Liga Freier Galaktiker zusammengeschlossen, Besucher aus anderen Galaxien suchen Kontakt zu den Menschen und ihren Verbündeten.

Derzeit machen vor allem die Thoogondu aus der Galaxis Sevcooris von sich reden, die vor Jahrzehntausenden ein Sternenreich in der Milchstraße hatten. Dazu gesellen sich die Gemeni, die angeblich den Frieden im Auftrag einer Superintelligenz namens GESHOD wahren wollen.

Ohne Vorwarnung erobern die fürchterlich aussehenden Xumushan das Sonnensystem und besetzen die Erde – diese Invasion ist allerdings eine reine Erfindung, eine Täuschung der Menschen und ihrer Rechnersysteme. Wer steckt dahinter?

Reginald Bull, Perry Rhodans Gefährte seit der Mondlandung, steht im Zentrum der Ereignisse. Der sogenannte Techno-Mahdi scheint die Erde ins Chaos stürzen zu wollen. Nachdem Bull dies erkannt hat, ist sein Ziel DER KEPLER-KOMPLEX ...

Die Hauptpersonen des Romans

 

 

Reginald Bull – Der Zellaktivatorträger will dem Techno-Mahdi das Handwerk legen.

Colin Heyday – Der Herr der Simulationen genießt seine Macht.

Toio Zindher-Bull – Die Vitaltelepathin weicht ihrem Mann nicht von der Seite.

Icho Tolot – Der Haluter begegnet anderen seiner Art.

Adam von Aures – Der Adaurest verwirrt nicht zum ersten Mal Freund und Feind.

»Weder hohe Ämter noch Macht, einzig die Szepter der Wissenschaft überdauern.«

(Wahlspruch des Astronomen Tycho Brahe, eingemeißelt über dem Eingang zum Observatorium von Stjerneborg, 1584 Alter Zeitrechnung)

 

 

Prolog

Ein nicht ideal verlaufendes Rendezvous

 

Auf den ersten Blick gefällt mir die Kandidatin ganz gut.

Sie ist ein bisschen pummelig gebaut, hat aber ein wirklich sehr hübsches, ebenmäßiges Gesicht – eine Kombination, die man nicht selten bei vollschlanken terranischen Frauen antrifft. Stilsicher–dezente Schminke und ebensolche Kleidung; wenige, umso effektvoller platzierte, weder zu billige noch zu teure Schmuckstücke: insgesamt eine gepflegte Erscheinung.

Ich setze mich ihr gegenüber und stelle mich vor.

Sie nennt ebenfalls ihren Namen; überflüssigerweise, denn er steht auf der Bewerbungsliste, gleich neben der zugeordneten Nummer. »Unter uns«, sagt sie, »ich mache so etwas zum ersten Mal.«

»Ich doch auch.«

»Ach ja?« Das Zucken um die Mundwinkel verrät ihre Nervosität, aber auch einen Sinn für Humor und Lebensfreude. »Die Initiative ging aber von dir persönlich aus, oder?«

»Wie kommst du darauf, dass dem nicht so sein könnte?«

»Freundinnen haben mich gewarnt. Manche Datingplattformen generieren von selbst Anfragen nach persönlicher Zusammenkunft. Um den Umsatz zu erhöhen und die Statistik zu schönen. Du weißt schon, ›Jede Zehntelsekunde verlieren wir eine Kundin ...‹«

Ich lache laut auf, bevor sie den fast schon sprichwörtlichen, seit einer halben Ewigkeit gebräuchlichen Slogan zu Ende zitieren kann.

Sie stimmt in mein Gelächter ein. Dabei bilden sich auf den geröteten Wangen durchaus attraktive Grübchen.

»Nein, kein Grund zur Sorge!«, sage ich, nachdem wir wieder bei Atem sind. »Alles seriös. Ich habe tatsächlich selbst das reiche Angebot durchstöbert und dich ausgewählt. Unter anderen«, gestehe ich ein, damit sie sich nicht allzu sehr geschmeichelt fühlt.

»Das ist üblich. – Du bist auf der Suche nach einer Lebensabschnittspartnerin?«

Eine redundante Frage, die der Kandidatin sofort Minuspunkte einträgt; nicht viele, da entschuldbar angesichts der für uns beide ungewohnten Situation. »Sonst hätte ich wohl kaum dieses Treffen veranstaltet.«

»Ja klar. Bitte verzeih, falls ich mich danebenbenehmen sollte. Aber wie gesagt ...« Sie greift sich an die Frisur, deren scharfer Schnitt durch eingestreute, winzige Leuchtelemente weiter aufgewertet wird. »Tja. Wer fängt an? Magst du mir mehr über dich erzählen?«

Ich mag.

 

*

 

Im sechzehnten Jahrhundert Neuer Galaktischer Zeitrechnung fällt es leicht, erotische Kontakte zu knüpfen.

Die Positroniken der Sozialnetzwerke verfeinern und perfektionieren unaufhörlich ihre – ohnehin bereits immens hochgezüchteten – Filterprogramme. Alles wird eingerechnet und mathematisch extrapoliert: musikalische, literarische, sonstige Vorlieben. Präferierte politische Positionen. Geteilte Holos von knuddeligen Haustieren und vor allem: Kochrezepte. Allein daraus lässt sich immens viel über die psychosomatische Verfasstheit der postenden Person ablesen.

Bist du allerdings gewillt, eine über eine Nacht oder zwei, drei Nächte hinausreichende, tiefere Beziehung einzugehen, sieht die Sache anders aus. Zwar ist die Auswahl allein im Solsystem, und erst recht innerhalb der Liga Freier Galaktiker, unüberschaubar groß. Aber wenn ihr mich fragt, führt trotzdem, nach noch so gründlichem, virtuellem Abtasten, nichts an einer Konfrontation Auge in Auge vorbei.

Schließlich will jeder sich kundig machen, wie die positronisch empfohlene Person zum Beispiel riecht. Oder sich anfühlt, falls es dazu kommt.

Für beide Sinneseindrücke gibt es längst pseudosensuelle, niederschwellig paramentale Simulationen, basierend auf den arkonidischen Messinghauben oder harmloseren Nebenprodukten der SEMT-Forschung. »Simultane Emotio- und Mnemo-Transmission« kommt dabei freilich nur in sehr abgespeckter Version zur Anwendung. So oder so ist das nicht dasselbe wie ein persönlicher Kontakt im echten Leben.

Wer sollte besser wissen als ich, wovon ich rede? Daher nehme ich die Aufforderung an und gebe über mich preis, was mir vertretbar erscheint.

 

*

 

Ich bin als letztes von sieben Kindern geboren worden.

Meine Familie stand immerfort unter Stress. Nicht aus existenziellen Sorgen – trotz all der offenbar unaufhaltsam wiederkehrenden Bedrohungen durch äußere Feinde blieben die Grundbedürfnisse der Terraner gesichert. Meistens.

Die Jahre meines Heranwachsens wurden dennoch von ruhelosem Umherziehen geprägt. Mein Vater war Berufssoldat, allerdings hatte er es nicht geschafft, eine feste Anstellung in der Liga-Flotte zu ergattern, sondern verdingte sich mal hier, mal dort bei privaten Sicherheitsdiensten.

Ich hatte damals nicht viel Einblick in seine häufig wechselnden Tätigkeiten. Das meiste hielt man, so gut es ging, von uns Kindern fern. Selbst ich als Jüngster bekam aber mit, dass manche Auftraggeber nicht unbedingt zu den am besten beleumundeten zählten.

Meine Mutter nahm diverse Gelegenheitsjobs an, meist in der Gastronomie. Außerdem erstellte sie Horoskope.

Ja, auch in unserer aufgeklärten Gesellschaft gibt es Anhänger der Astrologie, die ein großer Denker vor mehr als drei Jahrtausenden als »närrische Tochter der Astronomie« bezeichnet hat – obwohl sie ihn zeitlebens gut ernährte.

Der Vater Söldner, die Mutter Wahrsagerin: Man kann sich vorstellen, dass ich in den Schulen, die ich stets nur für einige Wochen oder höchstens Monate besuchte, nicht den leichtesten Stand hatte.

Hinzu kamen Charakterzüge, die ich schon sehr früh ausbildete: fanatischer Wahrheitsdrang, die unstillbare Lust am Hinterfragen jeglicher Dogmen, verbunden mit der Weigerung, logische oder faktische Fehler anderer stillschweigend zu akzeptieren ...

... kurz: Ich war bereits in jungen Jahren ein notorischer Besserwisser. Was meine Popularität bei Lehrern wie Klassenkameraden keineswegs erhöhte.

Ungefähr mit Einsetzen der Pubertät trat endlich eine gewisse Regelmäßigkeit in mein Leben, da ich die Freuden des Fernstudiums für mich entdeckte. Die räumliche Trennung von den Mentoren, unter denen auch etliche künstliche Intelligenzen waren, vereinfachte erheblich den gegenseitigen Umgang.

Tests ergaben, dass ich über einen überdurchschnittlich hohen Intelligenzquotienten und eine ebensolche mathematische Begabung verfügte. Soziale Intelligenz hingegen war keine meiner Stärken. Ich tendierte eher zum, volkstümlich gesagt, Eigenbrötler.

Auftrieb verschaffte mir, als ich durch meine Beschäftigung mit Wissenschaftsgeschichte lernte, dass es vor mir anderen, überragenden Geistesgrößen verblüffend ähnlich ergangen war.

 

*

 

»Eine ganze Reihe von Parallelen tat sich auf«, beende ich meine knapp gehaltenen Ausführungen, »die mich bis heute faszinieren. – Aber nun zu dir! Was hältst du von meiner Vorgeschichte?«

Die pummelige Kandidatin Numero sieben rutscht unruhig auf dem Stuhl hin und her. »Äh ...« Wieder nestelt sie an den Haaren. »Ehrlich gesagt, ich weiß nicht recht.«

»Was?«

»Wie?«

»Was weißt du nicht? Wissen verlangt ein Objekt.« Soeben hat sie sich weitere Minuspunkte für Begriffsstutzigkeit eingeheimst.

Leider. Ihre weiblichen Rundungen finde ich nämlich sehr apart.

»Ich weiß nicht recht, was ich mit dir anfangen soll«, sie lehnt sich zurück und verschränkt die Arme vor den Brüsten, als wollte sie diese verstecken, übrigens ein zum Scheitern verurteiltes Bemühen, »Schau, wie du ja selber gesagt hast, bist du ziemlich selbstbezogen. Das zeigt sich unter anderem daran, dass du dich bis jetzt nicht nach meinem Hintergrund erkundigt hast.«

»Steht das denn nicht alles hier drin?«

Mit der flachen Hand klopfe ich auf den Stapel fein säuberlich geordneter Ausdrucke der Informationen, die von der Partnerbörse bereitgestellt worden sind. »Du stammst aus einer gutbürgerlichen Familie, bist zwanzig Jahre jünger als ich und ausgebildete Modedesignerin und Tanzpädagogin. Ergo würden unsere potenziellen Sprösslinge stets adrett gekleidet sein und sich gelenkig bewegen könn...«

»Halt, stopp, aus!« Sie steht so ruckartig auf, dass der Stuhl krachend umfällt. »Oh, pardon. – Nicht böse sein, aber aus uns zweien wird nichts.«

»Die Datingplattform hat eine theoretische Übereinstimmung von fast achtzig Prozent ausgewiesen.«

»Und wenn schon. Die Praxis sieht anders aus. Mir ist selten ein dermaßen eitler, auf sich selbst fixierter Fatzke untergekommen wie du!«

»Entnehme ich diesem Insult, dass dein Entschluss, den Antrag abzulehnen, falls ein solcher erfolgen würde, unverrückbar feststeht?«

»Worauf du Gift nehmen kannst.«

»Schade.« Mit einer minimalen Bewegung des Zeigefingers streiche ich Nummer sieben von der nur für mich sichtbaren, holografischen Liste. Dabei hätte ich ihr, gerade wegen des temperamentvollen Aufbrausens, so viele Pluspunkte vergeben, dass die früheren Mankos ausgeglichen worden wären.

Sie wendet sich kopfschüttelnd zur Türe, dreht dann noch einmal um. »Ein Letztes. Du hast elf Kandidatinnen zu diesem Termin bestellt, nicht wahr?«

»Das ist richtig. Keine mehr, keine weniger.«

»Mir wurde mitgeteilt, dass du auf dieser Zahl bestanden hast. Warum? Ich meine, warum gerade elf?«

»Warum?« Welch blöde Frage! Hatte sie das denn nicht in meinen Angaben gelesen, zumindest zwischen den Zeilen?

»Weil Johannes Kepler, als er 44 und somit so alt war wie ich jetzt, das exakt ebenso gemacht hat.«

1.

Gold- und Silberregen

4. April 1552 NGZ

 

Der Earl Grey hatte keine halbe Minute gezogen, als ein Signalgong ertönte. »Transmitterverbindung wurde soeben etabliert«, meldete ZEUS, die Hochleistungspositronik des Kastells.

»Ich komme.« Homer G. Adams winkte einem Miniservoroboter und übergab ihm die Teekanne. »In hundertfünfzig Sekunden das Sieb entfernen!«

Der Servo piepste bestätigend. Wehmütig schnupperte Homer an dem sich allmählich ausbreitenden Bergamottearoma. Dann hastete er zu dem wenige Meter entfernten Transmitterraum.

Kaum war er dort angelangt, flammte es neongrün im grob eiförmigen Gitter des Empfangskäfigs auf. Links und rechts davon waren je zwei Kampfroboter vom Typ TARA-V-UH postiert. Homer glaubte nicht, dass er deren Schutz benötigen würde. Aber Sicherheit ging vor.

Im Transmitterkäfig materialisierte eine Gestalt. Weiblich, mit kupferfarbener Haut und ebensolchen Augen, die sich sofort hektisch umschauten. Das lange, kastanienrote Haar war zu einer kompliziert verschlungenen Form aufgetürmt, aus der sich einzelne, widerspenstige Strähnen gelöst hatten.

Die Frau benötigte keine Sekunde, um sich zu orientieren. Mit einem mächtigen Satz sprang sie aus dem Käfig, auf Homer zu, landete und positionierte sich in einer Weise, die auf eine fundierte, in Fleisch und Blut übergegangene Nahkampfausbildung hindeutete.

Sie sah Homer an, so intensiv, als wollte sie ihn mit ihrem Blick röntgen. Gleich darauf entspannte sie sich und sagte mit leicht rauchiger Stimme: »Hallo.«

Homer Gershwin Adams kam nicht dazu, die Begrüßung mit mehr als einem Nicken zu erwidern, weil im gleichen Moment eine weitere Person aus dem Transmitterfeld kam.

Nein, zwei: Der untersetzte Mann mit dem breiten, sommersprossigen Gesicht, den beiden Narben und den bürstenkurz gestutzten, rostroten Haaren hielt ein etwa sieben- bis achtjähriges Kind in den Armen, eng an die Brust gepresst.

»Willkommen, Bully«, sagte Homer. »Und die junge Dame ist deine Tochter Shinae, nehme ich an?«

»Alles sauber«, warf Toio Zindher ein, die Tefroderin und Shinaes Mutter. »Homer ist echt.« Als Vitaltelepathin hatte sie die Aura seines Zellaktivators identifiziert.

»Sind wir in Sicherheit, Papa?«, fragte das Mädchen. Reginald Bull setzte es, nachdem sie den Käfig verlassen hatten, sanft am Boden ab.

Shinae wirkte dürr, fast unterernährt oder elfenhaft fragil. Ihre Haut war hell, mit einer ins Rotbraune changierenden Grundfarbe. Im runden Gesicht saßen unter strahlend blauen Augen eine keck aufstrebende Stupsnase und ein Mund, der zum Schmollen geboren zu sein schien.

»Ja«, antworteten Bull und Zindher simultan.

»Ich würde sogar so weit gehen zu behaupten«, fügte Homer hinzu, »dass ihr euch am momentan sichersten Ort des ganzen Solsystems befindet.« Er reichte Bull die Hand. »Schön, euch wohlauf zu sehen.«

Zum dritten Mal spuckte der Transmitter eine zeitverlustfrei über die Distanz von rund achthundert Millionen Kilometern versetzte Person aus. Diese drohte beinahe die Käfiggitter zu sprengen.

Es handelte sich um einen dreieinhalb Meter hohen, extrem kräftig gebauten, vierarmigen, auf zwei säulenartig-stämmigen Beinen ruhenden Koloss mit einer Schulterbreite von gut zweieinhalb Metern. Den halbkugelförmigen schwarzhäutigen Schädel dominierten ein furchterregend gefletschter Mund mit zwei Reihen Kegelzähnen und drei glühende, je zwanzig Zentimeter durchmessende Augen auf doppelt so lang ausgefahrenen Stielen.

»Sei gegrüßt, Tolotos«, sagte Homer G. Adams.

»Ich grüße dich ebenfalls, Adamsos«, erwiderte der Haluter mit verhaltener Stimme, deren tiefbassiges Grollen dennoch den ganzen Raum in Vibration versetzte.

Das monströse Erscheinungsbild des Haluters täuschte: Icho Tolot war nicht nur wehrhaft, sondernd auch hochintelligent und zählte zu den ältesten und treuesten Freunden der Menschheit. Wie Homer und Bully trug er einen Zellaktivatorchip, der ihm biologische Unsterblichkeit verlieh.

»Herzlich willkommen im Kastell von Neo-Ganymed!«, wiederholte Homer. »Ich hatte gehofft, euch noch in meinem Anwesen auf Terra zu treffen, aber alles ging dann schneller als gedacht. Der Angriff des Techno-Mahdi erfolgte früher als befürchtet.«

»Macht nichts. Dank deiner Vorkehrungen sind wir rechtzeitig entkommen«, sagte Reginald Bull. »Von deinem Haus ist jedoch leider nicht mehr viel übrig.«

»Nichts, das sich nicht ersetzen und wieder aufbauen ließe. – Bitte, folgt mir!«

 

*

 

Der kleine, bucklige, altertümlich gekleidete Mann ging voran.

Obwohl sein Kopf mit den schütteren, hellen Haaren zu groß und schwer für den verkrümmten Körper wirkte, strahlte Homer G. Adams gelassene Souveränität aus. Shinae mochte ihn.

Sie spürte, dass zwischen ihm, Icho Tolot und ihrem Vater Reg eine tiefe Verbindung bestand, die weit über gegenseitige Hochachtung hinausging. Die drei hatten schon unvorstellbar viel gemeinsam erlebt, durchgestanden und gemeistert. Und doch – oder gerade deshalb? – behandelten sie einander nicht kumpelhaft, sondern mit respektvoller Distanz.

Da Shinae das Gefühl hatte, dass ihre Mutter sich ein wenig ausgeschlossen fühlte, ließ sie sich von Toio an der Hand nehmen. Sie durchquerten einen schmucklosen Korridor und betraten einen Raum, dessen Einrichtung genauso gut in das hübsche englische, mittlerweile zerstörte Landhaus auf Terra gepasst hätte.

»Der Tee wäre fertig«, sagte Homer G. Adams. »Ich kann euch aber alternativ Beau-Porter-Bier anbieten, oder Altreier-Kaffee aus Lupinensamen und Gerste. Selbstverständlich habe ich auch an diesem Ort Vorräte angelegt. – Mag die junge Dame vielleicht eine süße Apfel-Thymian-Limonade?«

»Wie süß?«, fragte Shinae. »Zu viel Zucker ist nicht gut für die Zähne.«

Der alte Mann mit der merkwürdigen Schleife um den Hals linste über das ebenso seltsame Brillengestell und lachte. »So süß oder sauer, wie du willst.«

»Eher sauer, bitte.«

Auch die Erwachsenen wählten Getränke, die wenig später von Servorobotern gebracht wurden, zusammen mit zwei ovalen Silberplatten voller Imbisshäppchen.

Shinae kostete ihre Limo. »Perfekt!«

»Wenigstens etwas ... Wohl bekomm's!« Adams richtete sich auf, wobei er eine flache Hand aufs untere Ende seines krummen Rückens legte, und sagte zu Toio: »Du wurdest verletzt?«

Shinaes Mama tippte mit einem Finger leicht auf das Verbandpflaster an ihrer Schläfe. »Nichts Bleibendes, zum Glück. Eine Weile war ich desorientiert und beunruhigt, da ich plötzlich meine Psi-Gabe nicht mehr nutzen konnte, wohl aufgrund einer Gehirnerschütterung. Aber inzwischen bin ich so gut wie wiederhergestellt. Alles funktioniert wie üblich, danke der Nachfrage.«

»Gut zu hören.«

Danach berichteten die drei Erwachsenen einander von ihren jüngsten Erlebnissen. Shinae verlor bald das Interesse daran.

Sie wusste ja bereits, dass Adams ihnen eine Roboterfrau geschickt und in seinem Anwesen vorsorglich einen Datenkristall versteckt hatte. Dieser hatte ihnen den Weg zum Raumjachthafen auf der Insel St. Agnes, zum Fluchtschiff und letztlich per Transmitter an diesen Ort gewiesen.

»Apropos«, befragte sie stattdessen, ganz leise flüsternd, ihren Identor: »Wo genau sind wir eigentlich?«

Toris Gedankenstimme antwortete ihr. Was sich anhörte wie ein lebendiges, denkendes, fühlendes Wesen, war im Ruhezustand optisch nicht mehr als ein schattenhaft-leichtes, seidiges Tuch. Das Besondere daran: Tori stammte aus der Stadt Allerorten und war Shinae als mitwachsendes Kleidungsstück übereignet worden – aber die wahre Natur und Herkunft des Identors kannten weder Shinae noch ihre Eltern: »Auf einem Mond des Planeten Jupiter. Exakter ausgedrückt, innerhalb dessen erstaunlich weit fortgeschrittener Rekonstruktion.«

 

*

 

Neo-Ganymed, lernte Shinae von Tori, dessen Tonfall in ihrem Innenohr wie der einer etwas älteren Freundin klang, umkreiste den Gasriesenplaneten auf derselben Bahn wie der ursprüngliche Himmelskörper, der im Jahr 1461 NGZ vernichtet worden war. Bald darauf hatte man begonnen, ihn künstlich zu rekonstruieren.

Ein kühnes, enorm aufwendiges Projekt! Mit einem Durchmesser von 5262 Kilometern war Ganymed der größte Mond des Sonnensystems gewesen, der einzige Trabant mit einem ausgeprägten Magnetfeld. Gerade noch rechtzeitig vor der Zerstörung durch einen SHIVA-Torpedo hatte die Millionenstadt Galileo City aus der Mondkruste gelöst und in Sicherheit gebracht werden können.

Sie schwebte derzeit, mitsamt ihren Trabantenstädten Vincenzio, Livia und Celeste, die alle nach Kindern Galileo Galileis benannt waren, etwa 200 Kilometer über der Oberfläche des wachsenden Himmelskörpers. Der Mond war mittlerweile nahezu vollständig rekonstruiert. Trotzdem wurde immer noch Baumaterial aus dem Asteroidengürtel und der Oortschen Wolke angeliefert.

Vor allem lenkte man nun unermüdlich Eismeteoriten nach Neo-Ganymed, um den Wasserhaushalt auf den Stand des Originals zu bringen. Diesem permanenten »Bombardement« hätte Galileo City im Wege gestanden, daher war es zeitweilig angehoben worden.

Shinaes Identor hatte offenbar Kontakt mit dem hiesigen, positronischen Netzwerk aufgenommen. Eines der Holofenster zeigte eine Außenaufnahme des Meteoritenregens, der auf den Kunstmond niederging wie unterschiedlich große Tropfen aus silbrigem und goldenem Licht. Das Schauspiel gefiel Shinae sehr.

»Wir befinden uns etwa zwanzig Kilometer unterhalb der Fassung, in die sich Galileo City nach Abschluss der Bauarbeiten senken soll«, sagte Homer G. Adams freundlich zu Shinae. Er hatte mitbekommen, dass sie sich nach ihrem Aufenthaltsort erkundigt hatte.