Loy, Rosetta Via Flaminia 21

PIPER

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Übersetzt aus dem Italienischen von Maja Pflug

 

Der Verlag und die Übersetzerin bedanken sich bei der Autorin für die Zusammenarbeit bei der deutschen Übersetzung

 

Neuauflage einer früheren Ausgabe

ISBN 978-3-492-97985-6

© Piper Verlag GmbH, München 2017

© Giulio Einaudi editore s.p.a., Torino 1997

Die italienische Originalausgabe erschien unter dem Titel »La parola ebreo«, Giulio Einaudi editore s.p.a., Torino

© der deutschsprachigen Ausgabe Piper Verlag GmbH, München 1998

Covergestaltung: zero-media.net, München

Covermotiv: FinePic®, München

Datenkonvertierung: abavo GmbH, Buchloe

 

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Wenn ich in der Zeit zurückgehe und daran denke, wann das Wort »Jude« in meinem Leben aufgetaucht ist, sehe ich mich auf einem blauen Stühlchen im Kinderzimmer sitzen. Einem Zimmer mit Pfirsichblütentapete, die an mehreren Stellen bekritzelt ist; es ist später Frühling, und das hohe Fenster, das auf den steinernen Balkon hinausgeht, steht weit offen. Ich kann in die Wohnung auf der anderen Straßenseite hineinsehen, wo sich die Vorhänge vor den geöffneten Scheiben im Luftzug bewegen. Drüben findet ein Fest statt, man sieht Leute hin und her gehen. Vor kurzem ist dort ein Kind auf die Welt gekommen, das Fest gilt ihm. »Eine Taufe?« frage ich. »Nein«, sagt die Frau, die neben mir sitzt, auch sie auf einem Stühlchen, in dem ihr Körper eingezwängt ist wie ein Ball. »Nein«, wiederholt sie, »bestimmt nicht.« Es ist Annemarie, mein deutsches Kinderfräulein. »Die sind Juden«, fügt sie hinzu und deutet mit dem Kinn zum Fenster. »Sie taufen die Kinder nicht, sie beschneiden sie.« »Beschneiden« hat sie mit einer Grimasse des Ekels gesagt. Das Wort ist mir unverständlich, aber es enthält jenes »Schneiden«, das ich gut kenne. »Was?« frage ich ungläubig. »Sie schneiden ihnen ein Stückchen Fleisch weg«, antwortet sie kurz angebunden. »Mit der Schere …?« flüstere ich. Ich sehe Blut, ein Meer von Blut, das das Steckkissen durchtränkt. Die Erklärung ist vage, aber schrecklich, Annemarie spielt auf irgend etwas am Körper an, was ich nicht verstehe, während sie mit strenger Miene durch die Scheiben blickt. »Vielleicht mit der Schere, ja, das weiß ich nicht …«, sagt sie auf deutsch. Drüben an den Fenstern sehe ich Mädchen mit Schleifen im Haar vorbeigehen, ähnlich wie meine, Damen mit Perlen um den Hals in enganliegenden weichen Jerseykleidern, wie auch Mama sie trägt. »Sind Juden«, wiederholt Annemarie; und der Blick ihrer schönen himmelblauen Augen ruht streng auf einem Dienstmädchen, das ein Tablett herumreicht. Vielleicht liegt zwischen den Teetassen versteckt das Stückchen Fleisch, das sie dem Neugeborenen abgeschnitten haben. Ein Fingerchen, ein Fetzen Haut.

 

Auch Signora Della Seta ist Jüdin. Sie wohnt neben uns, eine alte Frau, so jedenfalls kommt es mir vor. Wenn ich krank bin, besucht sie mich, ich habe Fieber, und mein Körper verschwindet in dem großen Ehebett im Schlafzimmer von Mama. Signora Della Seta hat ihre grauen Haare in einem Netz zusammengefaßt. Sie bringt mir ein Geschenk mit. Ein mit blauem Atlas ausgeschlagenes Körbchen, in dem zwei am Futter angenähte Gummibänder ein Zelluloidpüppchen halten; an einem weiteren Gummiband ist ein winziges Fläschchen mit roter Spitze befestigt. Ich finde das Geschenk wunderschön: ein Höschen und ein Strickjäckchen sind auch noch dabei. Ich vergöttere Signora Della Seta, auch wenn sie Jüdin ist.

Ein Stockwerk über uns wohnen die Levis. Sie machen mehr Lärm, oft hört man jemanden Klavier spielen, und die Mutter hat dunkle, sehr glänzende Augen. Sie sind nicht so freundlich wie Signora Della Seta, und wir begegnen uns nur im Treppenhaus oder im Aufzug. Sie bringen mir keine Geschenke. Die sind auch Juden, sagt Annemarie. Manchmal klingelt Giorgio Levi bei uns an der Tür und holt meinen Bruder zum Fußballspielen im Park der Villa Borghese ab. Giorgio ist ein Jahr älter, hoch aufgeschossen, mit dunklen, lockigen Haaren und dem fröhlichen Blick dessen, der es kaum erwarten kann, die Treppe hinunterzustürzen und sich den Spielgefährten anzuschließen. Nach der Rückkehr beklagt sich mein Bruder, während er sich im Bidet die Füße wäscht, daß Giorgio überheblich ist und ihn mit dem Ellbogen in die Seite stößt, wenn er ihm nicht schnell genug den Ball zuspielt. Im Kindergarten zeigt uns Mater Gregoria die farbigen Illustrationen in der Bibel. Sie hat runde, rote Backen, ist klein, sitzt wie wir auf einem Stühlchen und trägt ein langes Kleid aus weißer Wolle, dessen Falten sich auf dem Boden ausbreiten. Auf der Brust hat sie ein gesticktes rotes durchbohrtes Herz, das an die Leiden Christi erinnern soll. Auf der Abbildung, die sie mit ihren rundlichen Händen vor unseren Augen kreisen läßt, hebt Abraham das Schwert, um Isaak zu töten. Isaak ist Abrahams Sohn; aber zum Glück kommt der Engel und hält Abraham auf. Abraham und Isaak sind Juden. Auch die sieben Makkabäerbrüder sind Juden, sie sterben in den Flammen, um Gott nicht zu verleugnen. Gott war damals herzlos, doch dann ist zum Glück Christus auf die Erde gekommen, der gütig und wunderschön ist. Lange braune Haare hat er und blaue Augen. Jeden Morgen, wenn ich im Kindergarten ankomme, ist er da und erwartet mich, und seine rosige Gipshand zeigt auf das offene Herz in der Brust, von dem einige Blutstropfen herunterrinnen. Das Herz ist der Ort der Liebe: Christus liebt uns. Wir sind Christen, ich bin in der Peterskirche getauft worden, und meine Patin ist Signora Basile. Sie ist alt wie Signora Della Seta, aber viel dünner. Mit ihrem langen Hals und dem kleinen Kopf ähnelt sie einem Vogel Strauß. Als sie einmal zu Besuch kam, hat mein Bruder die Wohnzimmertür geöffnet und gesagt: »Signora Basile hat einen Schnurrbart.« Dann ist er weggelaufen. Es stimmt, die langen, grauen, ein wenig stacheligen Härchen auf ihrer Oberlippe kratzen mich jedesmal an der Wange, wenn sie sich herunterbeugt, um mich zu küssen. Sie hat sehr sanfte runde Augen und ist auch an jenem Nachmittag nicht wütend geworden, als mein Bruder sie aus Angeberei beleidigt hat. Zur Taufe hat sie mir ein Goldkettchen mit einem Medaillon mit der Madonna von Pompeji geschenkt, an dem ich lutsche, wenn ich im Dunkeln im Bett liege. Zu Weihnachten organisiert Signora Basile jedes Jahr eine Wohltätigkeitslotterie für die Armen der Pfarrei. Pilatus war Römer, und die Pharisäer und die Schriftgelehrten waren Juden. Auch Herodes war Jude und auch Kaiphas. Auch Barrabas. Alle außer den Zenturionen waren Juden.

 

Wenn ich nicht in den Kindergarten gehe, bringt mich Annemarie nach Valle Giulia auf einen abgelegenen Platz neben der Galerie für Moderne Kunst. Ich bin immer dick eingemummt mit Schal und wollener Baskenmütze, denn ich bin nicht so robust wie meine Schwester Teresa. In den Anlagen von Valle Giulia ist fast niemand, aber ich darf sowieso nicht mit anderen Kindern spielen, sonst könnte ich deren Krankheiten aufschnappen. Nicht weit von den Bänken hockt manchmal noch ein anderes kleines Mädchen, wie ich zur Einsamkeit verurteilt, und stochert mit einem bunten Schäufelchen im Kies. Ich sehe ihr weißes Höschen, ein Petit-bateau-Höschen, genau so eins, wie Annemarie es mir jeden Morgen anzieht. Ich kauere mich auch auf den Boden und betrachte sie. Sie ist blond, und die Haare ringeln sich um ihr Gesicht mit der sehr hellen Haut. Ich möchte gern ihr Schäufelchen haben. Am Hals trägt sie einen goldenen Stern. Annemarie ruft mich, sie unterhält sich mit der Gouvernante des kleinen Mädchens: Die Kleine ist sehr reich, heißt es. Vielleicht kann ich mit ihr spielen. Ich schaue ihr weiter zu, wie sie Kies aufhäuft; der baumelnde, im Sonnenlicht aufblitzende Stern fasziniert mich. Ich frage, ob ich ihn berühren darf. »Nein«, antwortet sie, »darfst du nicht.« Sie will nicht, daß ich ihr zu nahe komme. Auf dem Heimweg rede ich mit Annemarie über den Stern. »Das ist ein Davidsstern«, sagt sie. Mater Gregoria hat uns ein Bild von David gezeigt, wie er einen Stein auf Goliath schleudert. Das kleine Mädchen, erklärt Annemarie, trägt statt des Medaillons mit der Madonna oder dem Jesuskind einen sechszackigen Stern um den Hals. Sie hat es zwar nicht gesagt, aber ich habe verstanden, ich weiß nicht warum, daß die Kleine Jüdin ist. Sofort denke ich an die Schere und das Blut. »Haben sie sie auch geschnitten?« frage ich. »Was redest du da? Was sollen sie schneiden?« Annemarie hat deutsch gesprochen. Ich muß auch deutsch sprechen, sonst antwortet sie mir nicht mehr. Der Stern erscheint mir jetzt sehr geheimnisvoll. Ich beneide das kleine Mädchen, das ihn statt meines langweiligen Medaillons trägt.

Das bin ich im Winter 1936. In einem meiner Bücher, das von den Abenteuern eines katholischen Jungen erzählt, der von Ungläubigen bedrängt wird, damit er Jesus verleugnet, gibt es besonders böse Freimaurer. Der Junge wird auf ein Schiff gebracht und trifft dort auf einen Juden, der auch sehr böse ist. Alle wollen dem Jungen seinen Glauben nehmen, aber er widersteht und betet zur Madonna. An einer bestimmten Stelle verliert er fast sein Augenlicht. Dieses Buch gefällt mir nicht, es ist dumm und grausam. Mir gefällt das Buch vom Sandmann, der den Kindern Silberstaub auf die Lider streut und sie dann ins Land der Träume bringt. Auch das Buch, in dem man sieht, wie die Befana, die Fee, die den Kindern zu Dreikönig Geschenke bringt, sich nachts im Schnee abmüht und durch die Kamine in die Häuser hinunterrutscht, gefällt mir. Ich habe blindes Vertrauen in die Befana, obwohl es in Rom keinen Schnee gibt und wir auch keinen Kamin besitzen.

 

Doch bevor ich wieder zu dem kleinen Mädchen auf dem blauen Stühlchen zurückkehre, das aufmerksam aus dem Fenster sieht, möchte ich einen Augenblick innehalten und noch einmal an dem Punkt beginnen, als die Kleine im IX. Jahr der Faschistischen Ära, in der Via Flaminia 21, im – wegen der weinfarbenen Tapete – sogenannten »roten« Zimmer auf die Welt kam. Einige Tage später, während der Fahrt fallen ein paar Regentropfen auf die Windschutzscheibe des Autos, wird sie zur Taufe in die Peterskirche gebracht. Das vierjährige Brüderchen und die beiden kleinen Schwestern (die Jüngste ist kaum fünfzehn Monate alt) begleiten sie in der Obhut von Ammen und Gouvernanten, und über dem Taufbecken erhält sie, zusammen mit den anderen Namen, auch den Namen Pia zu Ehren des Papstes, unter dem sie geboren ist: Pius XI.

Im November desselben Jahres zwingt ein Rundschreiben des Kultusministeriums die Hochschullehrer zum Treueschwur auf den Faschismus. Von 1200 Dozenten leisten 1188 den Schwur und verpflichten sich, nach den Prinzipien der faschistischen Doktrin zu lehren; nur zwölf verzichten auf ihren Lehrstuhl.

Aus dem Jahr 1931 stammt auch der neue Roman eines geschätzten und berühmten Schriftstellers, Giovanni Papini, eines florentinischen Literaten von großem Talent und ausgeprägten intellektuellen Fähigkeiten, der in den ersten Jahren des Jahrhunderts als »Häretiker« galt. Aber 1921, nachdem er sich öffentlich zum Katholizismus bekannt hatte, schrieb er Storia di Cristo, eine Romanbiographie, die die Legende vom Ewigen Juden wieder aufnimmt, um darin »eine Wahrheit, die fürchterlicher ist als die historische«, aufzuzeigen. Die Unsterblichkeit von Buttadeo, dazu verdammt, endlos zu wandern, ist in der Tat für Papini das Schicksal der Juden, die in alle Ewigkeit vom Blut Christi befleckt sind: mit der Diaspora bestraft, von den anderen Menschen isoliert, bestehen die Nachkommen derer, die den Sohn Gottes töteten, noch immer hartnäckig darauf, sich nicht zu bekehren. Papini erzählt auch, wie diese endlos Umherirrenden dann »ein neues Vaterland im Gold gefunden« hätten, während andere, die aus den »slawischen Ghettos« kommen, »schmutzig und schmierig«, noch heute »die lebendige Gestalt des echten Buttadeo« verkörperten. Von diesem Thesenroman, der bei seinem Erscheinen viele Polemiken auslöste, wurden aber in einem Jahr 70000 Exemplare verkauft und er wurde ins Französische, Englische, Deutsche, Polnische, Spanische, Rumänische, Holländische, Finnische usw. übersetzt.

Das neue Buch mit dem Titel Gog, nach dem abgekürzten Namen der Hauptfigur, stellt sich dar als eine Reihe fiktiver Interviews, die ein reicher, exzentrischer amerikanischer Geschäftsmann durchführt, um herauszufinden, »an welchen geheimen Krankheiten die heutige Zivilisation leidet«. Papini läßt seinen Protagonisten Persönlichkeiten wie Gandhi, Freud, Edison, Shaw und noch eine ganze Reihe anderer Großer dieses Jahrhunderts interviewen. So kommt es auch zur Begegnung mit dem Prototypen des Juden, verkörpert durch Benrubi, Gogs Sekretär: »Ein schmächtiger junger Mann mit leicht hängenden Schultern, hohlen Wangen, tiefliegenden Augen, schon leicht ergrauten Haaren, einer Hautfarbe, grünlich wie schlammiger Sumpf … und dem Ausdruck eines Hundes, der fürchtet, geschlagen zu werden, aber doch weiß, daß er gebraucht wird.« Angeregt von den Fragen seines Herrn über den jüdischen Kleinmut, ergeht sich Benrubi in einer weitschweifigen Erklärung über die Gründe: »Da sie kein Eisen verwenden konnten, schützten sich die Juden, so gut es ging, mit Gold … Der Jude, aus Notwehr zum Kapitalisten geworden, fand sich infolge des moralischen und mystischen Verfalls Europas unversehens als einer der Beherrscher der Erde wieder … als Herrscher über Reiche und Arme … Auf welche Weise konnte sich der getretene, angespuckte Jude an seinen Feinden rächen? Indem er die Ideale der Gojim erniedrigte, entwürdigte, entlarvte und zersetzte. Indem er die Werte zerstörte, von denen die Christenheit zu leben behauptet. Und bei genauem Hinsehen hat die jüdische Intelligenz tatsächlich seit einem Jahrhundert nichts anderes getan, als eure teuersten Glaubenssätze zu untergraben und in den Schmutz zu ziehen … Seit die Juden frei schreiben dürfen, drohen alle eure geistigen Gerüste einzustürzen.« Benrubi zählt dann eine Reihe von Personen wie Marx, Heine oder Lombroso auf, Zerstörer der Werte der Christenheit, um zu schließen: »Inmitten verschiedener Völker geboren, mit unterschiedlichen Forschungen befaßt, haben alle [Juden], Deutsche wie Franzosen, Italiener wie Polen, Dichter wie Mathematiker, Anthropologen wie Philosophen einen gemeinsamen Charakter, ein gemeinsames Ziel: die anerkannten Wahrheiten in Zweifel zu ziehen, zu erniedrigen, was hoch ist, zu beschmutzen, was rein zu sein scheint, ins Wanken zu bringen, was festgefügt erscheint, zu steinigen, was geachtet wird.« (Gog wird im April 1943 vom Rundfunk der Vichy-Regierung für eine Propagandasendung ausgewählt; und im selben Jahr verwendet es eine Schule für Offiziersanwärter der faschistischen Republik von Salò als Unterrichtstext in einem Antisemitismus-Kurs.)

 

Doch obwohl Papini in meiner Familie hoch geschätzt wird und Storia di Cristo und Gog im Bücherregal auf dem Flur neben den Napoleon-Biographien und den Romanen von Bourget und Fogazzaro stehen, ist meine Familie nicht faschistisch und auch nicht rassistisch. Einige Bestürzung könnten die Bücher von Ugo Mioni hervorrufen – einem Priester, der als der katholische Salgari bezeichnet wird –, die uns trotz ihrer unzweifelhaft antisemitischen Geisteshaltung vorgelesen werden. Aber die ihm zugestandene Vorliebe hat gewiß religiöse Gründe.

Mein Vater ist bei den Barnabiten in Lodi zur Schule gegangen, ein Internat, in das er mit zehn Jahren eintrat, um es mit achtzehn zu verlassen, abgesehen von den drei Wochen Ferien pro Jahr, die er in der Familie verbrachte. Wenn er von jener Zeit erzählt, sind wir jedesmal entsetzt und auf unbestimmte Weise verängstigt. Durch seine Worte werden die Kinder wieder lebendig, sitzen in einer Reihe auf den Betten im Schlafsaal und warten auf den Schuldiener, der ihnen die hohen schwarzen Stiefelchen ausziehen muß. Rasch geht er vorbei und zieht so kräftig, daß die Buben auf den Boden rutschen, und jedesmal scheint es, als würden mit den Stiefelchen auch die Füße weggerissen. Das Waschwasser im Krug ist morgens von einer hauchdünnen Eisschicht bedeckt. Fangenspielen ist den Schülern nur unter der Bedingung erlaubt, daß sie sich nicht anfassen, das darf nie geschehen, sie dürfen sich nur mit einem Seil berühren, das die Größeren in den Brunnen im Hof legen, bis es gefriert und hart wie ein Stock wird, mit dem sie dann heftig auf die Kleineren einschlagen. Quälend ist das Warten auf den Besuch der Mutter, die einmal im Monat kommt. An nebligen Morgen machten ihn Kälte und Dunkelheit manchmal so schwermütig, daß er sich krank meldete und lieber den ganzen Tag ohne Essen allein in einem Bett im Krankenzimmer verbrachte.

Doch nach kurzer Zeit hatte sich der respektlose, liederliche kleine Junge, der die Schule schwänzte, um im Po zum Baden zu gehen, in einen Musterschüler verwandelt, der am Ende der Gymnasialzeit eine »ehrenvolle Erwähnung« bekam, eine Auszeichnung, die es mit sich brachte, daß sein Ölbild in die Internatsgalerie aufgenommen wurde. Danach hatte er in Turin das Polytechnikum besucht und seine Leidenschaft für das Studium und die Politik entdeckt. Fast unmittelbar war er dem Partito Popolare, der Volkspartei, beigetreten, und zusammen mit seinem Freund Fioravanti wurde er zum begeisterten Anhänger von Don Sturzo, dem Gründer der Partei. Im Krieg 1915–18 war er gegen eine italienische Intervention in Österreich und wurde zu seinem Glück wegen einer schwachen Brust zurückgestellt. Gegen den Faschismus war er vom ersten Augenblick an allergisch. Er hatte sich bereits als Ingenieur mit dem Bau von Häusern, Brücken und Straßen einen Namen gemacht, und in seinem Optimismus glaubte er an ein Strohfeuer. Noch nach der Ermordung Matteottis durch die Faschisten hoffte er auf einen raschen Niedergang Mussolinis. Statt dessen geschah genau das Gegenteil. Daraufhin ließ mein Vater, um in seinem Büro die Geschwätzigkeit der begeisterten Anhänger des neuen Regimes einzudämmen, im Vorzimmer ein Schild anbringen mit der Aufschrift »In diesem Büro wird nicht über Politik gesprochen«. Er heiratete spät: Mama ist dreizehn Jahre jünger als er.

In der Folge mußte er, wenn er weiterarbeiten wollte, wie die große Mehrheit der Italiener in die Nationale Faschistische Partei eintreten und das Abzeichen am Revers seines Jacketts tragen. Aber er besitzt keinerlei faschistische Uniform; bei den seltenen Gelegenheiten, zu denen er das schwarze Hemd anziehen muß (ein Richtfest, der Besuch irgendwelcher Autoritäten bei einer gerade fertiggestellten Straße oder Brücke), beobachteten wir Kinder voll Vergnügen seine spöttische Mimik vor dem Spiegel. Sein großer Freund aus den Zeiten des Partito Popolare ist weiterhin der Ingenieur Fioravanti, der es vorgezogen hat, im Ausland zu arbeiten, anstatt Mitglied irgendeiner Partei zu werden.

Eine von Mamas besten Freundinnen hat einen Juden geheiratet, Baron Castelnuovo; und Signora Della Seta sitzt oft bei uns im Wohnzimmer zum Tee im gleichen Sessel, in dem auch Signora Basile Platz nimmt. Mama geht gern in Geschäfte, die jüdische Namen wie Coen oder Piperno haben. Mit am liebsten kauft sie bei Schostal. Und unser Kinderarzt ist Professor Luzzatti, der Arzt des Königshauses. Lauter Volljuden, wie Hitler sagen würde.

 

Das erste tragische Ereignis für die italienischen Juden war in der Tat die Machtergreifung Hitlers 1933. Etwas ganz Neues hat sich in der Vorstellung der vierundvierzig Millionen Einwohner der Halbinsel einen Weg gebahnt. Der Schlagstock und das Rizinusöl des Faschismus wurden allmählich überlagert von der Todes- und Opferchoreographie des Hakenkreuzes, während sich zum Antisemitismus religiösen Ursprungs (der mit hoher Wahrscheinlichkeit im Lauf der Zeit schwächer geworden wäre) der Haß und Fanatismus einer neuheidnischen Mystik gesellten. Der Erlaß gegen die Juden vom 29. März 1933, weniger als zwei Monate nach Hitlers Ernennung zum Reichskanzler, teilte die deutschen Bürger in Arier und Nichtarier (ein jüdischer Großvater genügte, um Nichtarier zu sein). Und während die Restriktionen in den ersten Verordnungen noch unterschiedslos Mischlinge und Volljuden betreffen, wird den Volljuden sehr bald eine Behandlung vorbehalten, die sie aus dem gesellschaftlichen Leben ausschließt – und zuletzt aus dem Leben selbst. Schon Ende 1933 sind sie Gegenstand der »Säuberungen«, mit denen das Land »judenrein« gemacht werden soll. Erst später, mit dem Krieg, wird sich diese Behandlung auch auf die anderen ausdehnen.

 

Aus dem Jahr 1933 stammt auch das Konkordat zwischen der Kirche und dem Dritten Reich, befürwortet und unterzeichnet vom Staatssekretär Kardinal Eugenio Pacelli.

Auf der Sitzung des Reichskabinetts am 14. Juli, wie man dem Sitzungsprotokoll entnehmen kann (C.I., Doc. 362) gibt der soeben gewählte Reichskanzler Hitler, der einen Staat regiert, in dem etwa dreißig Millionen Katholiken leben, seiner Erleichterung Ausdruck: »Dieses Reichskonkordat, dessen Inhalt mich überhaupt nicht interessiert, schafft uns eine Vertrauenssphäre, die bei unserem kompromißlosen Kampf gegen das Internationale Judentum sehr nützlich ist …«

Die deutschen Bischöfe haben die Nachricht günstig aufgenommen, denn sie schützt sie vor möglichen nationalsozialistischen Repressalien und erlaubt es ihnen, nun offen mit dem neuen Mann des neuen Deutschlands zu sympathisieren. Die einzige Ausnahme bildet der Bischof von München, Faulhaber, der nicht zögert, von der Kanzel der Kirche, in der er viele Jahre später beigesetzt wurde, gegen die Schikanen zu wettern, denen die Juden ausgesetzt sind. Doch seine Adventspredigten über »Judentum, Christentum und Germanentum« finden keinerlei Echo, auch wenn sie von einer so großen Menge von Gläubigen verfolgt werden, daß Lautsprecher aufgestellt werden müssen, damit sie noch in zwei weiteren Kirchen zu hören sind. Seine Anklage bleibt isoliert, und die deutsche katholische Kirchenhierarchie sieht keinen Anlaß, Stellung zu nehmen. (In Italien werden Faulhabers Predigten 1934 vom katholischen Verlag Morcelliana in Brescia in der Übersetzung von Giuseppe Ricciotti veröffentlicht. Don Ricciotti wird auch das warnende Vorwort verfassen.)

In Frankreich herrscht auf seiten der Katholiken größere Aufmerksamkeit. Das belegen die Schriften und Reden von Jacques Maritain und Oscar de Ferency, die Erklärungen des Oratorianers Marie-André Dieux, der im April 1933 auf einer Solidaritätskundgebung für die deutschen Juden das Bedürfnis verspürt zu erklären, daß eine »Wiedergutmachung … der Ungerechtigkeiten, die in der Vergangenheit von Menschen meines eigenen Glaubens begangen wurden«[1], notwendig sei. Doch darf man sich keine zu großen Illusionen machen. Auch in Frankreich handelt es sich letztlich um vereinzelte Initiativen. Die Mehrheit des Klerus und der Gläubigen vernimmt kaum einen schwachen Klang davon.

 

Doch kehren wir zu dem kleinen Mädchen zurück, das neben Annemarie im Zimmer mit der Pfirsichblütentapete sitzt. Annemarie malt für sie in ein Album die Bilder aus dem Struwwelpeter ab. Sie kann gut zeichnen, und der Bleistift skizziert die Umrisse des großen Nikolas, der die Kinder in Tinte taucht, weil sie einen kleinen Schwarzen wegen seiner Hautfarbe gehänselt haben. Von den Haarspitzen bis zur Schuhsohle schwarz kommen die Kinder aus dem riesigen Tintenfaß wieder heraus. Schwarz ist sogar der Kringel, den sie in der Hand halten, während sie fröhlich hinter dem kleinen Schwarzen hergehen, der sich nun nicht mehr von ihnen unterscheidet.

Am Nachmittag, wenn mein Bruder mit den Hausaufgaben fertig ist, marschieren wir in seinem Gefolge um den Teppich im Eingang und singen »Faccetta nera, bella abissina, aspetta e spera che già l’ora si avicina …« – »Schwarzes Gesichtchen, schöne Abessinierin, warte und hoffe, die Stunde ist nah …« Von Kopf zu Kopf wandert der Fes aus violettem Samt, von dem eine zerfledderte Troddel baumelt. Am besten jedoch kann sich unser Gesangsrepertoire im Frühling entfalten. Auf der Autofahrt nach Ostia, wo wir zur Stärkung unserer Bronchien die salzige Meeresluft einatmen sollen, erheben sich unsere Stimmen mit erlesenen patriotischen Hymnen. Während draußen auf der Straße zum Meer die Platanen vorüberziehen und Francesco, der Chauffeur, sorgsam die Trennscheibe schließt, um nicht taub zu werden, gehen wir vom Jubelgesang über die aufgehende Sonne »Sole che sorgi libero e giocondo, sui colli nostri i tuoi cavalli doma …« – »Sonne, die frei und heiter aufgeht, auf unseren Hügeln reitest du deine Pferde zu …« über zu den melancholischen Strophen von »Tu non vedrai nessuna cosa al mondo, maggior di Roma, maggior di Roma …« – »Nichts wirst du von der Welt sehen, Major von Rom …« Ein sehr trauriges Ende, weil alles vermuten läßt, daß der »Major von Rom« (im Rang unserem Duce, dem Reichsmarschall, gewiß unterlegen) sich eines schweren Vergehens schuldig gemacht hat und nun für immer im Kerker hinter Gittern schmachtet, dazu verurteilt, nichts mehr zu sehen. Zum Glück kommt dann immer der Augenblick, in dem wir singen »Roma rivendica l’Impero, e l’ora dell’acquila suonò, squilli di trooomba salutan il vol …« – »Rom rächt das Reich, und die Stunde des Adlers schlägt, Rufe des Horns grüßen den Flug …«, eine Hymne, die mir licht und aufregend erscheint.

Doch von einem Tag zum anderen dürfen wir nicht mehr Faccetta nera singen, der Fes wird konfisziert und unter den Spielsachen in der Truhe im Eingang begraben. Domenico, der Portier, hat Annemarie erklärt, daß das Lied verboten ist, weil es mit seinen einladenden Worten an die »schöne Abessinierin« die Reinheit der arischen Rasse bedroht, der wir angehören. Daher betrachte ich jetzt, wenn ich mit Italia zum Bäcker gehe, um Ölbrötchen zu kaufen, das Negerlein aus bemaltem Eisen, das eine kleine Büchse in den Händen hält, mit einer gewissen Scheu. Wenn ich eine Münze hineinstecke, und es genügen schon zehn Centesimi, nickt das Negerlein mit dem Kopf. »Es dankt dir«, sagt die Kassiererin. Es ist für das »schwarze Gesichtchen«, auch wenn Italia darauf beharrt, daß es sich um das Negerlein der Mission handelt.

Die Mission ist bei uns zu Hause sehr wichtig. Man spricht oft darüber, und manchmal nimmt sie Gestalt an in den Priestern mit langem Bart, die im Wohnzimmer Kaffee trinken. Sie kommen von sehr weit her und bringen Schachteln aus Sandelholz und Kruzifixe mit Perlmuttintarsien, Rosenkränze aus Olivenholz aus Gethsemani zum Geschenk mit oder Tigerfelle mit Krallen an den Pfoten und aufgerissenen Lefzen, die kalten Augen aus Glas. Bevor sie wieder gehen, segnen sie uns Kinder, indem sie uns die Hand auf den Kopf legen; und einmal nach Afrika zurückgekehrt, senden sie uns Photos, auf denen sie weißgekleidet vor ihrer neugebauten Holzkirche zu sehen sind.

 

1937 XI.Mit brennender SorgeDivini Redemptoris