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© 2017 Burkhard Neumann

Verlag: tredition GmbH, Hamburg

ISBN
Paperback:978-3-7439-5798-5
Hardcover:978-3-7439-5799-2
e-Book:978-3-7439-5800-5

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

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Burkhard Neumann

Stille Invasionen

Roman

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Fieberhafte Suche

Schwermütige Gedanken

Zwischen Eis und Feuer

Die Camargue und Meer

Versuch einer Zwangsehe

Ein Neuling in der Ostsee

Ursachensuche

Erste Versuche

Fledermausnacht

Sturm

Überraschungen im Institut

Kontaktsuche

Nachbarn

Unerwartete Begegnungen

Blutsauger

Die Schlagzeile

Neue Emigranten

Zeitungsartikel mit Folgen

Eine Invasion hat begonnen

Sechsbeinige Überraschungen

Die Ruhe des Flusses

Verlorene Chance

Geheimhaltung oder Unwissenheit

Das Kleid der Pharaonen

Die Konferenz in Berlin

Wettlauf mit der Zeit

Beunruhigung durch SMS

Auf einen Sprung

Unruhe

Weckruf der Sonne

Ein Treffen in der Dämmerung

Handlungsdruck

Erschütterung im Institut

Übergabe der grauen Pharaonen

Trauer und Trost

Gutes und Schlechtes zum Wochenbeginn

Die Reise der Pharaonen

Russischer Kutter auf Kurs

Der geheimnisvolle Brief

Wieder eine Havarie

Bekannte und unbekannte Anrufer

Übergabe in der Öffentlichkeit

Plan B

Arbeitsurlaub in Freiburg

Bestätigungen und Schlussfolgerungen

Gäste und Dauergäste

Epilog

Prolog

Wandlitz, 9. Juli

Er saß auf der Tür des Kaninchenstalls träge herum. Warum er so dasaß, wusste er nicht. Er dachte sich nichts dabei, sondern saß nur da und schaute nach links und rechts. Um ihn herum standen sechsbeinige Monster und traten auf der Stelle. Sie schienen zu kauen. Ein Klacken, Rascheln und Brummen erfüllte die Luft. Seltsamerweise hatten alle das gleiche Aussehen und sie sahen Furcht erregend aus. Riesige, scharfe, harte Zangen waren ständig in Bewegung. Irgendwie nahm er das alles auf eine ungewohnte Art wahr, sah die Umgebung seltsam aus, wie ein Puzzle aus Mosaiksteinen. Er schielte so an sich herunter. ‚Was war das?‘ Vor Schreck raste sein Herz. Er sah so aus, wie alle anderen auch. Gelbschwarz gestreift. Sechs gelbe, dünne lange Beine. Auf einmal veränderte sich das Bild um ihn herum. Es kamen rotbraune Riesenameisen auf ihn zu. Sie waren gigantisch groß und es waren viele - sehr viele. Er hatte den Eindruck, dass ihr Ansturm sehr koordiniert ablief, als würde ein Kompaniechef Befehle erteilen. Alles war von Unruhe begriffen. War das ein Angriff? Galt der Angriff ihm und den anderen Gestreiften? Plötzlich kniff ihn etwas in seinen Nacken. Er versuchte sich zu wehren, aber er konnte nicht. Im Augenwinkel erkannte er eine Ameise, seltsamerweise hatte sie die Augen seiner Frau. Eigentlich hätte er sich wehren müssen, weglaufen oder, ja er hatte doch auch Flügel. Warum flog er nicht weg? Warum gab ihm niemand den Hinweis, sich zu retten, oder die Königin zu retten? Ach ja, wo war die Königin. Wieder ein schmerzhafter Biss hinter seinem Kopf. Er hätte schreien mögen, doch es kam nur ein vibrierendes Summen heraus. Dann spürte er einen Stoß.

Verwirrt setzte sich der Mann im Bett halb auf. Schaute sich wie in Trance um. Da sah er die Augen der Ameise, nein die Augen seiner Frau, die ihn müde anblickte und sah im Halbdunkel des Morgengrauens ihren Mund, der einen leisen Vorwurf formulierte. „Du schnarchst! Mensch ich kann nicht mehr einschlafen!“

„Tschuldigung", formte mühsam seine trockene Zunge.

Behutsam legte er sich auf die Seite, streichelte seine Frau über die Haare und dachte kurz über seinen Traum nach. Die lebhaften Bilder lösten sich bereits wie Nebelschwaden in der Sonne auf. Es schien ihn doch mehr zu beschäftigen, dass er das Wespennest samt Königin mit einem harten Wasserstrahl zerstört hatte. Dabei wollte er die Tiere nicht töten, sondern nur dazu bewegen, sich einen anderen gemütlichen Nistplatz zu suchen. Und dass er seine Frau in der Ameise erkannt hatte, wäre für den Traumdeuter Siegmund Freud keine Überraschung gewesen. Schließlich führte Ralf Schmidt zwei Ehen. Seine Katrin war zwar die Nummer eins unter den Frauen, doch ihr gegenüber stand das Millionenheer weiblicher Ameisen. Der Entomologe war auch mit seinem Institut verheiratet. Ameisen waren für den promovierten Biologen die eigentlichen Herrscher des Planeten. Doch nun musste er sich von seiner beruflichen Ehe für ein paar Wochen trennen. Seine Ehefrau Katrin und seine beiden Töchter verlangten auch ihr Recht. In ein paar Stunden wollten sie nach Südfrankreich.

Durch das offene Fenster drang der Ruf des Hausrotschwanzes herein. Es war das einzige Geräusch, was die Ruhe des kleinen Ortes nördlich von Berlin durchschnitt. Ralf lauschte seinem Gesang und ging gedanklich noch einmal den Inhalt der gepackten Fahrradtaschen durch. Drei Wochen Frankreich mit den Rädern bedurfte eine planerische Meisterleistung und so manchen Verzicht auf einige Kleidungsstücke oder Luxusartikel. Es war eine schwierige Aufgabe, die optimale Versorgung mit Sachen und Campingausrüstung auf minimalen Platz der Fahrradtaschen zu verteilen. Eine aufkommende innere Unruhe verwehrte ihm den schnellen Weg zurück ins Traumland. Reisefieber. Seine Frau hatte sich dankbar für die Ruhe dem Schlaf ergeben. Ihr Atem war tief und gleichmäßig. Eine unwillkürliche Muskelkontraktion durchzuckte ihren schlanken Körper. Der Vogelgesang des Rotschwanzes und der Amsel entfernten sich langsam, wurde leiser. Bald hörte Ralf sie nicht mehr. Morpheus hatte ihn wieder in sein Reich geholt.

Plötzlich drang ein unangenehmer Piepton an sein Ohr. Ralf zuckte zusammen und streckte seinen Arm instinktiv zu seinem Nachttisch aus. Mühsam blinzelte er zu dem Wecker. Es war halb sieben. ‚Eine unchristliche Zeit für einen ersten Urlaubstag‘, ging ihm durch den Kopf. Mühsam quälte er sich aus dem Bett und schleppte sich unter die Dusche.

Fieberhafte Suche

Berlin, Freitag, 9. Juli

Durch ein lautes Scheppern vor dem Haus wurde der Mann aus seinen Gedanken gerissen. Erschrocken blickte er vom Monitor auf, auf dem das mikroskopische Bild sich teilender Bakterien zu sehen war. Der große, athletisch gebaute Mikrobiologe stand schnell auf und schaute aus dem Fenster. Eine kleine Frau mit gelbblonden, langen, lockigen Haaren hob ihr Fahrrad wieder auf, klappte den Ständer ab und versuchte noch einmal eine Tasche auf dem Gepäckträger zu befestigen. Mathias Hempel sah der Frau mit leeren Augen zu.

„Blöde Tussi“, brabbelte er, verärgert über die plötzliche Störung seiner konzentrierten Arbeit. Mit einem kleinen Schwung rollte er auf seinem Arbeitsstuhl wieder in Richtung Bildschirm. Er widmete sich weiter seiner Beobachtung. Mit einem kurzen Vermerk in seinem schwarzen Laborbuch beendete er diese Tätigkeit. Sein Blick fiel auf die nächste Krankenakte auf seinem Schreibtisch. Routiniert nahm er sie zur Hand und wollte sie gerade durchblättern. Doch nach der ersten Seite wurde er augenblicklich versteinert. Wieder und wieder las Mathias Hempel den Namen. Irina Wandre. Seine Gedanken überstürzten sich. Vor ein paar Tagen war er Zeuge eines Verkehrsunfalls. Er kam gerade vom Training und schlurfte gedankenversunken die Sporttasche über die Schulter zum Parkplatz. Da wurde er durch lautes Klirren aufmerksam auf das Geschehen. Eine Radfahrerin kollidierte mit einem Kleintransporter, als das Auto sie zu knapp überholte. Keine dreißig Meter vor ihm bot sich ein Bild des Schreckens. Die verletzte Frau lag am Boden und schrie vor Schmerzen. Das weiße Fahrrad lag unweit von ihr und erinnerte eher an ein modernes Kunstwerk. Spontan kam Übelkeit in ihm doch. Eine Hitzewelle durchströmte seinen Nacken. ‚Wie damals’, dachte er. Seit seinem Kindheitstrauma bestieg er kein Fahrrad mehr und überholte jedes Fahrrad im gebührenden Abstand. Er war ein extremer Verfechter von Fahrradwegen und Fahrradhelmen, um nie wieder so ein blutüberströmtes Gesicht eines Freundes sehen zu müssen, wie damals, als er zehn war ... Vor über dreißig Jahren klirrten ebenfalls Fahrräder, das Fahrrad seines Schulfreundes und sein eigenes. Doch damals war keine Hilfe in Sicht. Mathias Hempel lag mit gebrochenem Bein im Straßengraben und musste zusehen, wie das Blut aus der Kopfwunde seines Freundes floss. Er kroch zu ihm, schrie vor Schmerzen und um Hilfe, bis er erschöpft neben seinem Freund lag. Mathias rüttelte immer wieder den Arm und die Schulter seines Schulfreundes. Für einen kleinen Moment öffneten sich seine Augen ein wenig. Der Mund blieb verschlossen. Seine Haare waren bereits blutverschmiert. So lag er eine unendliche Zeit, hilflos erlitt er Höllenqualen an seinem Bein und in seinem Herzen. Der Hals tat ihm von ständigen Hilfeschreien weh. Seine Augen konnten keine Träne mehr bilden. Nach einer halben Stunde kam ein Auto. Mathias hörte einen Trabant schon von weitem und setzte sich mit letzter Kraft auf, winkte mit den Armen. Der Autofahrer bremste und sah das von Tränen und Erde verschmierte Gesicht des Kindes. Für Mathias war die Rettung endlich da. Für seinen Freund kam jede Hilfe zu spät. Dieses Bild hatte Mathias Hempel im Kopf, als das Rad und die Radfahrerin auf den Gehweg krachten. Die Erinnerung wühlte ihn auf. Erst nach einem Moment lähmenden Schocks rannte er zur Unfallstelle, warf seine Sporttasche von der Schulter und beugte sich über die gestürzte Frau. Sie lag auf der Seite, wimmerte herzergreifend. Dunkelrotes Blut rann von ihrer Stirn. Der Mann musste allen Mut zusammennehmen, um sich zu überwinden, ihr zu helfen. ‚Verdammt! Erste-Hilfe-Kurs. Was mach ich jetzt? Was mach ich nur?’ Er beugte sich schließlich über sie.

„Hallo, hören Sie mich? Ich heiße Mathias Hempel und werde Ihnen helfen. Wie heißen Sie?“

Im weinerlichen Tonfall kam leise „Irina Wander.“ über ihre Lippen.

‚Gott sei Dank ist sie noch bei Bewusstsein, dann wird sie es schaffen, nicht wie damals.’ schoss es ihm durch den Kopf.

„Mein Kopf, mein Kopf au, meine Schulter tut so weh.“, hauchte die schwarzhaarige Frau schluchzend heraus.

Hempels Augen überflogen den Körper der vor ihm liegenden Frau. Plötzlich trat ein junger Mann in einer blauen Arbeitskombi zu ihnen heran und blicke stumm mit großen Kulleraugen auf die liegende Frau. Er sah blass aus, was durch seine kurzgeschorenen, blonden Haare noch verstärkt wurde. Schuldgefühle legten sich auf seine graublauen Augen wie ein Nebelschleier auf einem klaren See. Er war der Fahrer des Kleintransporters, der die Radfahrerin auf den Bürgersteig geschleudert hatte. Hempel schaute kurz zu ihm hoch, sah den Unfallwagen am Straßenrand stehen und ahnte, wer ihm die Hilfe anbot.

„Haben Sie die Frau abgedrängt?“, kam es wutschnaubend aus ihm heraus. Der junge Mann trat instinktiv einen Schritt zurück und sein Blick war nicht mehr auf das strömende Blut der Kopfwunde, sondern auf den kräftigen Mann gerichtet, der seine Jacke ausgezogen hatte, um sie der Verletzten unter den Kopf zu legen. In Mathias Hempel geriet das Blut in Wallungen und er musste sich arg zusammenreißen, um den jungen Mann nicht anzuspringen.

„Rufen Sie den Notarzt!“, fauchte er den jungen Mann an. Der zog mit zitternden Händen sein Handy aus der Tasche, versuchte die Nummer einzugeben, doch sie fiel ihm in dem Moment nicht ein.

„Wie ist die Nummer?“

„112!“

„Was soll ich sagen?“, fragte der Blondschopf erneut mit zittriger, leiser Stimme. Für diese Frage erhielt er erneut einen wütenden Blick. In Hempel kochte wieder das Blut, als ihm diese Situation von damals durch den Kopf ging. Er nahm sein eigenes Handy. Zügig gab er Ort, Verletzungen und Namen an.

„Mann, wo hast du nur deine Fahrerlaubnis gewonnen. Hol wenigstens deinen Verbandskasten. Oder hast du so etwas nicht in deinem Auto?“

Verachtend unterstrich er seine Aufforderung mit einem deutlichen Fingerzeig auf den Kleintransporter. Der junge Fahrer rannte kurz zu seinem Wagen und stolperte wieder zu Mathias Hempel zurück. Mit zitternder Hand reichte er ihm den Kasten. Inzwischen standen im weiteren Umkreis einige neugierige Männer und Frauen, die sensationslustig mit ihren Handys Fotos schossen und abwarteten, was noch passierte. Er erinnerte sich, dass eine recht kräftig gebaute Frau mit dunklen, schulterlangen Haaren auf ihn zukam mit einem Sanitätskasten in der Hand. Sie hockte sich neben die Verletzte, zog ihre violette Jacke aus und bedeckte damit die vor sich liegende Frau. Mit ruhiger, erstaunlich tiefer Stimme sprach sie auf die Verletzte ein und stellte sich mit einem kurzen Blick auch gleich Mathias Hempel vor. Dann verband sie mit Hempels Hilfe auf professionelle Art die Kopfwunde. Ihre Hände führten schnell automatisierte Bewegungen aus. Es war zu erkennen, dass es nicht der erste Verband für sie war, sondern dass sie darin einige Übung hatte. Die Unterhaltung zu Hempel und zu der Verletzten war sehr sparsam. Ab und zu sagte sie zu dem Mann nur: „Drücken Sie mal hier drauf.", oder „Halten Sie mal fest.“ Für Hempel waren diese klaren Anweisungen mitunter überflüssig, aber er war auch wieder darüber beruhigt, dass die Helferin wusste, was sie tat. Er blickte immer wieder in das Gesicht der verletzten Frau und plötzlich schoss ein Kribbeln durch seinen Körper, was er lange nicht gespürt hatte. Es war ein angenehmes Gefühl, was die bösen Erinnerungen seiner Kindheit verdrängte. Dieses Gefühl wurde aber bald von Angst überschattet. Der Rest der stehen gebliebenen Passanten gaffte nur weiter die hilflose, wimmernde Frau an. Hempel legte tröstend seine rechte Hand auf ihre Schulter. Von Zeit zu Zeit sprach er kurze, aufmunternde Sätze. Immer wieder wechselte ein nervöser Blick zur Armbanduhr und ein ungeduldiger auf die Straße, ob nicht bald das blaue Blinken des Rettungswagens zu sehen sei. Nach einer reichlichen Viertelstunde war er endlich da. Mathias Hempel konnte die Verletzte dem Rettungsdienst übergeben. Er fragte auch gleich nach dem Krankenhaus. Vielleicht könnte er sie ja noch mal besuchen, wenn die Wunden fast verheilt waren. Ein Gefühl der Sehnsucht beschlich ihn, als sich der Rettungswagen entfernte. Er hätte Irina Wander gerne mal bei einem Kaffee kennen gelernt. Eine Hand auf seiner Schulter riss ihn aus seinen Gedanken.

„Danke. Wir haben es, denke ich, gut gemacht. Sie wird wieder auf die Beine kommen.“

Mathias schaute in die warmen Augen der Helferin. Hoffnung war gesät.

Und nun las er ihren Namen auf der Krankenakte und einem verpackten Wundabstrich von einer Klinik. Irina Wander. Diagnose: MRSA. Es war nicht das erste Mal, dass sich Patienten im Krankenhaus multiresistente Bakterien namens Staphylococcus aureus einfingen. Der Mikrobiologe wusste viel über diese kleinen, todbringenden Wesen. Seine letzten beruflichen Jahre widmete er dem schwierigen Kampf gegen diese Brut des Sensenmannes. Der Wissenschaftler Mathias Hempel wollte hierbei neue Wege beschreiten. Bakterien lassen sich nicht völlig ausrotten, erst recht nicht multiresistente. Die waren völlig unempfindlich gegen die Waffen des Menschen- die Gifte, die Bakterien töten. Hempel versuchte ein Antibiotikum zu finden, dass gegen diese Bakterien Wirkung zeigt, aber nicht für den Kampfplatz menschlicher Körper geeignet sein musste. Der Mikrobiologe wollte was Neues. Er wollte nicht nur gelieferte Antibiotika auf Krankheitserreger testen. Die stupide Laborarbeit machte ihn mürbe, drohte ihm, seine Kreativität zu verkümmern. Nach der erfolgreichen Verteidigung seines Konzeptes konnte er Forschungsgelder akquirieren und bekam ein Teil eines Forschungslabors in seinem Institut. Die Forschung hatte dann vor zwei Jahren begonnen. Mit seinem Antibiotikum wollte er Überträger der Bakterien behandeln, um die Mikroben abzutöten, bevor sie an Patienten verbreitet werden. Als Überträger der Bakterien dienten kleine, unscheinbare Ameisen, die Pharaoameisen. Diese Tiere waren schon häufiger im Krankenhaus gesehen worden. Selbst er hatte in der Cafeteria diese Ameisen fast mit einem Löffel Zucker in seinen Kaffee zum Baden geschickt. Da sie keine Fettaugen gebildet hätten, wären sie vielleicht unbemerkt in seinen Rachen verschwunden. Damals wurde seine verrückte Idee geboren. Es gab auch noch keine wissenschaftlichen Untersuchungen dazu, er wusste nur, dass diese Ameisen als Bakterientaxi dienen konnten. Hempel war besessen von diesen Ideen und träumte schon vom Nobelpreis, seinem Lebensziel.

‚MSRA. Irina Wander.‘ In Mathias Hempel dröhnten die Alarmglocken. Eine heiße Welle des Unbehagens eroberte sich seinen Körper vom Nacken aus. Jetzt haben die multiresistenten Bakterien Irina befallen, „seine“ Irina, die er unbedingt bei einem Kaffee näher kennenlernen wollte. Nun schien sich der Traum in Luft aufzulösen. Eine böse Ahnung machte sich in ihm breit, zermürbte ihn. Sein Kugelschreiber schepperte von seinem Arbeitstisch auf den harten Fliesenboden. Er rannte zur Sicherheitsschleuse, präparierte sich und trat zu dem kleinen Terrarium in seinem Labor, riss eine große Lupe von seinem Tisch und betrachtete nun extrem vergrößert den Rand des Terrariums und die nähere Umgebung. Wie Sherlock Holmes ging er auf Spurensuche. Schließlich erhob er sich wieder aus der fast kriechenden Haltung, atmete erleichtert auf. Anders als der Romanheld war er heilfroh, keine Spuren gefunden zu haben. Es waren also keine Ameisen mit den Krankheitserregern aus seinem Forschungslabor ausgebüxt. Zufrieden steckte er die Lupe in die schwarze Ledertasche zurück, legte in der Schleuse den Mundschutz und die Handschuhe sowie den Overall ab. Seine Forschungstiere schienen zumindest nichts mit dem schlechten Zustand von Irina Wander zu tun zu haben. Mathias Hempel mahnte sich zur Konzentration. An für sich war es jetzt für Irina Wanders Leben egal, wie die Bakterien ihren Weg in ihren Körper gefunden hatten. Fakt war, er musste ein Antibiotikum testen, welches diese kleinen Killer in der Frau ausmerzen könnte. Der Mikrobiologe hatte mit seiner Forschungsgruppe zum Glück gerade ein neues Antibiotikum gegen multiresistente Bakterien für den klinischen Einsatz erhalten. Doch war das neue Mittel auch für Irina Wander geeignet? Er musste die Wirksamkeit des neuen Mittels gegen diese Bakterienart testen, auch wenn er das ganze Wochenende durcharbeiten sollte. Ursprünglich wollte er in den nächsten beiden Tagen sein wissenschaftliches Poster für das in einer Woche in München beginnende Kolloquium beenden. Dort plante er, seine ersten Forschungsergebnisse über den Impfstoff für die Pharaoameisen in Krankenhäusern dem Fachpublikum vorzustellen. Das sollte seine zweite Publikation zu diesem Thema sein. Doch die wissenschaftliche Arbeit musste Wichtigerem weichen, und zwar der Rettung der Radfahrerin. Er konnte ihren geschundenen Körper nicht vergessen. Energiegeladen und hoch motiviert stürmte Hempel zur Tür seines Arbeitszimmers. Im Labor nahm er den Abstrich von Irinas Wunde, um die Bakterien auf Nährmedien zu züchten und daran später den Einsatz der Antibiotika zu testen. Er griff zur Klinke. In dem Moment stieß ihm die Tür schon gegen seine Hand. Ein junger Mann aus seiner Arbeitsgruppe stürmte herein.

„Hey, Mathias, ich wollte mich bloß abmelden. Wochenende. Ich hab viel vor. Heute Abend will ich im Studentenklub erfolgreich sein. Dazu bedarf es noch einiger Vorbereitungen. Du verstehst schon, was ich meine. Oder?“

Das breite, vielsagende Grinsen des blonden Schönlings, dessen Haare vom Gel strotzten, stieß bei Hempel auf Unverständnis, das sich beim Blick auf die Uhr in Sekundenschnelle in Empörung umwandelte. Hier geht es um Leben und Tod und der denkt nur an seinen Spaß!

„Wie? Jeremias, es ist gerade einmal Nachmittag um drei. Bis heute Abend hast du dreimal deine Haare gewaschen und wieder gestylt. Glaubst du etwa, wir machen deine Arbeit, während du junge Studentinnen abschleppst? Hör mal zu, wir wurden gerade nach einem neuen Antibiotikum gefragt, um resistenten Bakterien den Garaus zu machen, die einer jungen Frau den Weg ins Jenseits pflastern möchte. Und du kommst mir mit deinem Wunsch, eine junge Studentin abzuschleppen? Das ...“

Hempels Worte wurden zunehmend lauter und aggressiver. Seine Argumentation wurde abrupt unterbrochen. Das Telefon klingelte. Sein Chef wollte Hempel sofort sehen.

„Ausgerechnet jetzt", platzte aus ihm heraus, nachdem er den Hörer aufgelegt hatte. „Leg die Bakterienkultur an, ich muss zum Chef", ordnete er kurz seinen jungen Mitarbeiter an und reichte ihm den Wundabstrich.

Er schob den verdutzten und verärgerten jungen Mann aus seiner Tür in das Labor. Widerwillig und mit wütenden Seitenblicken zu seinem Arbeitsgruppenleiter bereitete Jeremias die Nährböden auf den sterilen Petrischalen vor. Missgelaunt mischte er die Agar-Lösung, erhitzte sie und goss sie in die Schalen. Nicht nur die Nährstofflösung begann zu kochen, sondern auch der junge Mikrobiologe. ‚Wieso kusche ich eigentlich vor diesem blöden Armleuchter? Mein Vater ist schließlich sein Chef. Ich sollte Hempel mal durch ihn ein wenig stressen. Hätte er verdient, dieser Blödmann. Nur weil er kein Glück bei den Frauen hat, will er mir den Abend vermiesen. Das werde ich ihm schon noch heimzahlen.’ In seiner Empörung vergaß der junge Wissenschaftler, die Gasbrenner anzumachen, als er das Nährmedium in die Petrischalen goss. Das Fehlen der heißen Luft ermöglichte Bakterien und Pilzsporen der Luft, sich auf den Nährböden anzusammeln. Es vergingen einige Minuten, bis der Agar-Boden erkaltet war. In der Zeit tanzte der Sohn des Institutsdirektors nach der Musik, die sich aus den Kopfhörern seines MP3-Players in seine Ohren hämmerte. Nachdem der Nährboden erstarrt war, verstrich Jeremias Holzmann auf ihn die Bakterien der Patientin. Im Inkubator, dem Brutschrank fanden alle Bakterien nun ideale Bedingungen vor, um sich zu vermehren.

Der junge Mann ging unter den Klängen der Musik ein wenig in die Knie, streckte sich dann schrittweise rhythmisch und stolzierte mit zuckenden Bewegungen und eine Pirouette drehend dem Ausgang zu. Seine Arbeit wäre gemacht. Heimlich, still und leise verließ er das Institut über einen Seiteneingang. Er wollte um jeden Preis vermeiden, noch einmal seinem Arbeitsgruppenchef zu begegnen. Für ihn war es nun höchste Zeit, sich der Vorbereitung seines Abends der Abende zu widmen.

Eine halbe Stunde später wurde sein Arbeitsplatz von Mathias Hempel aufgesucht. Er suchte vergeblich den jungen Kollegen. Langsam wuchs in ihm ein unangenehm drückendes Gefühl – Wut.

„Hat sich dieser Schönling etwa doch verzogen?“, zischte er zwischen seinen Zähnen.

Er prüfte den Inkubator. Erleichtert stellte er fest, dass die Bakterienzucht angesetzt war.

„Wenigstens hat er das gemacht. Mit seinem Arbeitseifer sollte er sich schleunigst eine andere Arbeitsgruppe suchen. Hab keine Lust mit so einem spätpubertierenden Möchtegern zu arbeiten.“

Keiner reagierte auf sein Gemurmel. Er war allein im Raum.

Sonntag

Von der Ferne schon hörte man das rhythmische ‚Tapp, tapp, tapp‘ menschlicher Füße über den Boden schallen. Mit einem lauten ‚Tuck, tuck‘ flatterte ein wütender Amselmann davon. Leichter Dunst stieg aus dem Gewässer auf und erfüllte die Luft mit einem leichten Duft aus Moder und Hundepisse. Mathias Hempel lief locker seine gewohnte Runde um den Hauch von See, der die kleine grüne Lunge am Rande der Hochhaussiedlung in Berlin-Hohenschönhausen bildete. Es gab in letzter Zeit seltener diese Sonntagmorgenläufe. Aber nun knirschte der Sand unter seinen Füßen. Tapp ... tapp ... tapp. Die Gedanken liefen auf anderen Pfaden. Zunächst zu seinem Haus in der Einsamkeit der Prignitz. Er hatte sich vor einem halben Jahr dort ein Haus gekauft. Für seine Frau, für seine Ehe. Doch auch das Haus konnte die Ehe nicht mehr retten. Mathias Hempel gingen immer wieder Traumfragmente der letzten Nacht durch den Kopf. Da war das Bild seiner Frau, seiner großen Liebe. Doch Vollblutwissenschaftler und viel Zeit für Familie sind in seinen Augen völlig gegensätzliche Dinge. Und dann immer die Streitereien um die alltäglichen Kleinigkeiten, seine permanente Eifersucht, ihr vehementer Kaufrausch. Irgendwie war klar, dass einer gehen würde. Es war nun schon wieder sechs Monate her, seit sie ihn verlassen hatte. Der Januar wurde damals noch kälter und trister. Geschichte. Und nun der Unfall und dann plötzlich Irina Wander. Sie wusste nichts von ihm, aber er dachte oft an sie. Das Gesicht seiner Frau verwandelte sich dann durch kleine Veränderungen in die Frau, die auf sein Antibiotikum wartete. Fühlte er sich deshalb zu ihr so hingezogen? Oder löste das Aussehen dieser Frau in ihm das große Gefühl der Zuneigung oder gar einer Liebe aus? Dieses neue Gefühl verwirrte ihn. Er hatte solche Empfindungen fast vergessen oder verdrängt. Die Ruhe des Morgens und die rhythmische Laufbewegung konnten dahingehend noch keine Klarheit bewirken. Gleichförmig und geräuschvoll strömte in ihn die milde, noch frische Morgenluft hinein. Sie legte auf dem Weg dorthin einen würzigen Duft von frischem Heu und einen Hauch von verbranntem Benzin auf seine Riechschleimhäute. Doch Mathias Hempel nahm es diesmal nicht bewusst wahr. Das aggressive Kläffen eines kleinen, weißen, größenwahnsinnigen Spitzes riss ihn aus seiner Lethargie.

„Blöder Köter!“ presste er zwischen seinen Zähnen hervor.

Böse Blicke einer dicken, älteren Frau trafen ihn. Doch der Läufer konnte von diesen Blicken nicht mehr eingeholt werden. Tapp ... tapp ... tapp ging es weiter. Sein T-Shirt klebte an seinen Rücken. Einige hundert Meter weiter begegneten ihm ein Mann und eine Frau, die mit ihren Hunden einen Spaziergang machten. Ein großer, brauner Boxer stand am Wegesrand und machte sein Geschäft. Für Mathias Hempel war das wieder das Signal, ja auf den Weg zu achten und seinen Weg nach Tretminen abzusuchen. Trotzdem genoss er die relative Ruhe an diesem Morgen. Die meisten Menschen schliefen noch in ihren Wohnungswaben. Amselmännchen flöteten weithin hörbar ihre Melodie und Mauerseglertrupps jagten in hohen Tönen schreiend nach Insekten.

Gut durchgeschwitzt, tief und schnell atmend, aber zufrieden über seinen Lauf betrat der Mittvierziger den Elfgeschosser. Seine Wohnung lag im dritten Stock. Bemüht, einen ruhigen Atemrhythmus zu bekommen, ging Hempel langsam die Treppe hinauf. Auf der Treppe kam ihm eine ältere, kleine Dame mit türkisfarbenem Rock und Jacke entgegen. Sie trug auf ihrem Arm einen kleinen grauen Australian Terrier, dessen sandfarbenes Kopfhaar ein Schleifenband zierte. Türkisfarben natürlich. Als der Hund den nass geschwitzten Mann sah und roch, begann er zu kläffen. Das Frauchen versuchte das Hündchen mit zarter, hoher Stimme zu beruhigen. Hempel hatte nur einen verachtenden Blick für das Tier übrig. Er sah auch die Frau an, begrüßte sie mit einem flüchtigen Kopfnicken. Sie erwiderte den Gruß mit einem entschuldigend lächelnden „Guten Morgen“. Der Mann hatte dieses Mensch-Hund-Pärchen schon manchmal im Treppenflur gesehen, doch er wusste nicht genau, wo es in diesem Haus wohnte. War ihm eigentlich auch egal, da er keine Kontakte zu den Mitbewohnern pflegte. Bei einigen Leuten, die er im Haus traf, war er sich noch nicht einmal im Klaren, ob es überhaupt Mitbewohner waren.

Nach dem Lauf machte sich Hempel schnell noch unter der Dusche frisch und nahm ein kleines Frühstück ein. Marmeladentoast und einen Pott Kaffee. Die Stille wurde von Radiomusik verdrängt. Die auf dem Tisch liegende Fachzeitschrift wurde von ihm durchgeblättert, kleine Artikel mit raschen Augenbewegungen überflogen. Nach dem letzten Schluck Kaffee hielt es ihn nicht mehr in seinen vier Wänden. Was sollte er auch allein an einem Sonntag zu Hause machen? Es gab Wichtigeres zu tun, als einen freien Tag zu genießen. Sein Sonntagvormittag galt schon wieder seiner Arbeit im Institut. Das war sein Leben. Für Hempel gab es nun als Single erst recht keinen Grund, daran etwas zu ändern. Dieses Wochenende war nur von einem Motiv geprägt. Er wollte unbedingt für Irina etwas tun.

Im Institut begegnete Mathias Hempel nur zwei weiteren Wissenschaftlern, die er von weitem in ihre Arbeitsräume verschwinden sah. Ein kurzes Handheben und ein lautes „Hallo“ oder „Morgen“ reichte ihnen als Begrüßung. Keiner war zu kollegialen Gesprächen bereit, die Arbeit musste schnell und rationell durchgeführt werden. Persönliches hatte vor der Tür zu bleiben.

Der Mikrobiologe holte das neu entwickelte Antibiotikum aus dem Kühlschrank, stellte das Fläschchen auf den Arbeitsplatz und ging zum Inkubator, um die Bakterienzuchten zu holen. Voller Hoffnung, dass das Mittel auch bei Irina helfen könnte, öffnete er den kleinen Brutkasten und holte eine verschlossene Petrischale heraus. Eine Tätigkeit, die er schon tausende Male gemacht hat. Auch der bewertende Blick auf die Bakterienrasen gehörte schon zur Routine. Doch dieses Mal glaubte er, seinen Augen nicht zu trauen. Auf dem Agar-Nährboden wucherten gelbe, weiße, graue und schwarze Bakterien- und Pilzrasen.

‚Was war das?’ Hempel hatte eine reine Bakterienkultur erwartet. An dieser Mischkultur konnte er die Wirkung des Antibiotikums nicht testen. Verwirrt überprüfte er noch einmal die Beschriftung auf dem Petrischalendeckel. Er musste sich geirrt haben, war sein Gedanke, seine Hoffnung. Er las sie noch einmal mit einem zweiten Blick. Fassungslos und entmutigt ließ er seine Arme mit der Probe in der Hand hängen. Schlechtwetterwolken bauten sich in seinem Magen auf, wuchsen bedrohlich an und entluden sich in einer lauten Fluch Kaskade. Wäre ein Kollege in der Nähe gewesen, hätte er die volle Wucht seiner Entladung gespürt. So verhallte dieser Wutausbruch zwischen den Wänden des Labors. Nachdem das raus war, zwang er sich zur Ruhe, um seine Gedanken zu sortieren. Er hatte keine Wahl. Es war wertvolle Zeit zur Rettung von Irina verloren gegangen, doch die Hoffnung stirbt zum Schluss.

Zügig lief er zum Telefon und versuchte herauszufinden, in welcher Abteilung Irina Wander lag. Nach einigen Anrufen stürzte er mit einem sterilen Gefäß zu seinem Auto und fuhr in die Klinik. Er hastete die Treppen zur Station hinauf, auf der das Unfallopfer mit der Infektion rang. Schrill ertönte ein disharmonisches Summen, als er auf den Knopf drückte. Ewig lang erschien ihm die Zeit, bis endlich ein Schatten auf dem Milchglas der Stationstür sichtbar wurde. Eine Krankenschwester mit hagerem Gesicht, auf deren schmaler Nase eine schwarz gerahmte Brille saß, füllte den schmalen Türspalt.

„Schön guten Tag, Dr. Hempel mein Name. Habe gerade mit dem Stationsarzt Dr. Bayer telefoniert. Ich muss noch einmal einen Wundabstrich von der Irina Wander besorgen.“

Mathias Hempel holte erst jetzt deutlich hörbar Luft. Die Krankenschwester wirkte von der Informationsflut der Aussage erschlagen, erkannte aber an der schnellen Redeweise des Wissenschaftlers die Dringlichkeit. Allerdings wollte sie keine eigenmächtige Entscheidung treffen.

„Warten Sie bitte hier.“

Die Tür schloss sich wieder. Mathias trat ungeduldig von einem Bein auf das andere. Minuten schlichen dahin. Endlich erschien wieder ein Schatten an der Tür und sie öffnete sich wieder.

„Entschuldigen Sie, aber ich musste mich erst beim Stationsarzt vergewissern. Kommen Sie herein, Herr Dr. Hempel.“

Endlich konnte er auf Station. Er folgte der Frau, die in ihrem weißen Kittel steril zu sein schien. Doch vor dem Krankenzimmer war Stopp für ihn. Enttäuscht blieb er zurück. Allerdings war ihm auch klar, dass er nicht zur Patientin durfte. Er war schließlich auf einer Isolierstation und MRSA-Keime waren keine harmlosen Schnupfenauslöser.

„Warten Sie hier.“

Die Krankenschwester nahm das Glasgefäß von Hempel ab und ging in die Schleuse. Dort zog sie sich einen Quarantäneanzug und Handschuhe an, band sich einen Mundschutz um und ging zur Patientin. Mathias schaute von außen durch ein Sichtglas zu. Er fühlte einen Kloß im Hals, als er das blasse, fiebernasse Gesicht von Irina Wander sah. Sie reagierte nur mit einem müden Augenaufschlag auf die Anwesenheit von der Schwester. Die Krankenschwester erneuerte den Verband und nahm einen Wundabstrich für den Mikrobiologen. Nach einigen Minuten ging die Tür wieder auf und die Krankenschwester kam mit dem Wundabstrich in der Hand heraus. Hempel streckte fordernd die Hand danach aus. Nun hatte er sie also, könnte seine Arbeit fortführen, doch seine Beine gehorchten eher seinem Herzen.

„Wie geht es ihr?“

Mathias Hempel sah der Frau in Weiß besorgt in die Augen. Sie kniff ihre Lippen zusammen und blickte kurz durch das Sichtfenster zur Patientin.

„Ihr Zustand verschlechtert sich zunehmend. Das Schlimme ist, wir können nichts tun, außer hoffen. Hoffen, dass Sie bald ein brauchbares Antibiotikum liefern.“

Mathias Hempel nickte. Er hatte verstanden, verstaute das Glasgefäß in seinem schwarzen Aktenkoffer, der mit Schaumgummi ausgekleidet war, warf einen letzten Blick auf Irina Wander und ging schnell zu seinem schwarzen BMW.

Im Institut angekommen, kochte er umgehend ein Nährmedium und füllte es in die sterilen Petrischalen. Links und rechts von seinen Händen rauschten die blauen Flammen der Bunsenbrenner und heizten den Mikrobiologen tüchtig ein. Diese Hitze war er gewohnt, denn diese Brenner sorgten für sterile Nährmedien und so für zuverlässige Ergebnisse. Ihm sollte das nicht passieren wie dem Sohn vom Chef. Nicht noch einmal zwei Tage versäumen, das könnte der Tod von Irina sein. Nachdem die Nährmedien abgekühlt waren, tupfte Hempel eine sterile Impf-Öse vom Wundabstrich auf den Nährboden. Anschließend verschloss er die Petrischalen und klebte sie mit Klebeband zu. Hempel arbeitete sehr gewissenhaft. Er durfte die Probe nicht verunreinigen. Im Inkubator brauchten sie nun noch mal zwei Tage. Eine schrecklich lange Zeit. Die Natur der Bakterien gab ihm nun eine Zwangspause. Erleichtert über das Geschaffene setzte sich der Wissenschaftler hin, versuchte sich zu entspannen und den Ablauf des restlichen Tages zu planen. Ihm fiel das Symposium ein. Er musste seinem Poster noch den letzten Schliff geben, um seine Daten gut in München zu präsentieren. Bis Mittwoch hatte er nur noch Zeit, sich auf das Symposium vorzubereiten. Doch auf dem Heimweg ging ihm das blasse, feuchte Gesicht der fiebernden Irina Wander nicht mehr aus dem Kopf.

Dienstag

Es war so weit, endlich. Dr. Mathias Hempel konnte das neue Antibiotikum an den resistenten Bakterien testen, durch die Irina Wander sich im Krankenhaus mit großer Geschwindigkeit unentwegt den alles beendenden Abgrund näherte. Das wollte der Wissenschaftler um jeden Preis verhindern. Der Sensenmann sollte leer ausgehen. In einem Tagtraum lächelte Irina ihn mit leuchtenden Augen an, ihren Lebensretter. Er hatte sie zwar noch nie lächeln sehen, doch er konnte sich im Moment nichts Schöneres vorstellen. Bei diesem Gedanken klopfte sein Herz so laut, dass er dachte, alle könnten das hören. Eigentlich kannte er die Frau gar nicht und doch kribbelte es in ihm. Dieses Gefühl hatte er schon fast vergessen. Zwei Tage sind nun schon vergangen, seit er die Bakterienkultur auf dem Medium angesetzt hatte. Erwartungsvoll holte er die Petrischalen aus dem Brutschrank. Er fand saubere Kulturen vor. Erleichtert über diese erste Hürde, nahm Hempel eine Petrischale in die eine Hand und eine Petrischale von dem Ansatz seines jungen Kollegen Jeremias Holzmann und ging damit zu dem Sohn seines Institutsleiters. Am Montag hatte er zu ihm kein Wort darüber verloren. Er war stinkig auf den Holzmann Junior, doch auch zu sehr mit der Vorbereitung seiner Münchenreise beschäftigt, um mit ihm aneinanderzugeraten. Doch nun konnte Mathias sich nicht mehr zurückhalten.

„Jeremias, hier ist dein Kulturansatz vom Freitag und hier ist meiner, den ich am Sonntag frisch angesetzt habe. Kannst du mir vielleicht sagen, warum sich in deiner Kultur ein ganzes Ökosystem wohl fühlt?“

Seine Stimme wurde zunehmend lauter und aggressiver. Mathias Hempel hielt dem jungen Wissenschaftler mit der gestylten Frisur die beiden Petrischalen vor die Nase und starrte ihn an. Seine Blicke bohrten sich durch die blauen Augen seines Gegenübers. Der hielt diesem Röntgenblick nicht lange stand, schaute aus dem Fenster, zuckte mit den Schultern. Er lief rot an und stammelte:

„Willst du etwa damit sagen, dass ich nicht ordentlich gearbeitet habe? Vielleicht haben die im Krankenhaus keinen sauberen Wundabstrich gemacht.“ Der junge Holzmann schaute ihn mit leicht verkniffenen Augen an. „Ich war es nicht! Oder kannst du deine haltlose Beschuldigung irgendwie beweisen!“ kam vorwurfsvoll und selbstherrlich von dem jungen Mann.

Mathias Hempel konnte seine Vermutung nicht beweisen. Er pumpte nach Luft, zwang sich zur Ruhe. Gefühlsmäßig war er sich sicher, dass der Blondschopf unsauber gearbeitet hatte. Aber er wusste auch, dass er einen Fehler im Krankenhaus nicht hundertprozentig ausschließen konnte. Trotzdem brodelte es in ihm. Er mochte das selbstverliebte und großkotzige Auftreten des jungen Mikrobiologen nicht. In seinen Augen war Holzmann Junior kein Vollblutwissenschaftler, sondern ein Lebemann. Sympathie hegte er für ihn also nicht, doch er konnte sich ihn nicht aussuchen. Sein Chef hat ihn in seine Arbeitsgruppe gesteckt, weil Mathias Hempel zielstrebig und daher erfolgreich war.

„Ich erwarte, dass jeder in meiner Arbeitsgruppe gewissenhaft arbeitet. Und ich hoffe, dass diese zwei verloren gegangenen Tage kein Menschenleben kosten.“

Mit zusammengekniffenen Augen wandte sich Hempel von seinem jungen Kollegen ab, ging zurück ins Labor und impfte die Bakterienkultur mit dem neu entwickelten Antibiotikum. Luftdicht verschlossen konnten sich die Kulturen im Brutschrank entwickeln. Der für das menschliche Auge kaum sichtbare Kampf des Antibiotikums mit den Bakterien brauchte Zeit. Hatte Irina Wander diese Zeit? Die Hoffnung stirbt zum Schluss, sagte er sich wieder.

Mittwoch

Mathias Hempel kam gegen neun Uhr ins Institut. Der Kofferraum seines Autos war vollgestopft mit seinen Sachen und dem Poster für das Symposium. Die Nacht war kurz und hatte dunkle Augenringe auf seinem Gesicht hinterlassen. Nach dem Mittagessen wollte er gleich losfahren, bis München runter. Wenn er an die Baustellen und Staus dachte, mochte er am liebsten gar nicht losfahren. Aber er drückte in seinem BMW gern auf die Tube und so hoffte er, die etwa sechshundert Kilometer in den berechneten sechs Stunden absolvieren zu können. Eine entspannte Fahrt mit dem Zug konnte er sich diesmal nicht leisten. Seine Abfahrtszeit war nicht genau planbar.

Ungeduldig stürzte Mathias in das Labor. Er bemerkte nicht, dass Kaffeeduft den üblichen Laborgeruch überdeckte. Für die beiden Mitarbeiter, die ihm entgegen kamen, hatte er nur einen flüchtigen Gruß übrig. In Gedanken war er bei seiner angesetzten Kultur. Er hoffte auf eine positive Wirkung des Antibiotikums. Im Labor brannte Licht. Jeremias Holzmann und eine junge Laborantin zuckten zusammen, als Hempel hereinstürzte. Etwas verstört machte die Laborantin Melinda zwei Knöpfe ihrer Bluse zu. Ihre Gesichtshaut wurde rotfleckig. Unsicher versuchte sie sich, dem Blick ihres Arbeitsgruppenleiters zu entziehen. Doch Mathias Hempel blickte seine beiden Mitarbeiter strafend an.

„Anstatt euch im Labor zu befummeln, solltet ihr lieber Materialvorräte überprüfen. Mir schien es vor drei Tagen so, dass unser Nährboden zur Neige gehen würde.“

Mathias Hempel fiel in dem Moment nichts Besseres ein. Doch sein Groll gegen Holzmann Junior flammte bei deren Anblick wieder auf. Die jungen Leute verkrümelten sich schnell.

Noch voller Zorn riss er den Brutschrank auf. Doch seine Stimmung bekam plötzlich Aufwind, nachdem er die präparierten Bakterienkulturen begutachtete. Sie waren kaum noch zu erkennen. Das neue Antibiotikum schien also das Todeselixier der resistenten Bakterienart zu sein, er hatte also das Richtige ausgewählt. Triumphierend riss er seinen Arm hoch. Dieses freudige Ergebnis musste er gleich dem Stationsarzt Dr. Bayer mitteilen. Für Irina Wander gab es also Hoffnung. Seine Finger tippten schnell eine E-Mail in den Computer. Ordnungsgemäß protokollierte er das Versuchsergebnis und schrieb für seinen Chef und für das Krankenhaus einen kurzen Bericht. Er liebte es, wenn er endlich auch mal über Erfolge, und nicht nur über negative Ergebnisse berichten konnte. Mit diesem ging er zu seinem Institutsleiter Professor Holzmann. Mathias Hempel strahlte über das ganze Gesicht, als er die Flure durchschritt. So hatten ihn seine Kollegen nur selten gesehen. Für gewöhnlich kannten sie ihn nur grimmig, unsentimental und unkommunikativ. Der Mikrobiologe nahm in großen Sprüngen die Treppe zum Zimmer des Institutsdirektors. Selbst sein Anklopfen klang überschwänglich. Ohne eine Antwort abzuwarten, öffnete er die Tür. Der kahle Kopf von Professor Holzmann schob sich hinter dem Monitor hervor. Seine grüngrauen Augen starten zur Tür. Sie wurden etwas durch die starken Brillengläser vergrößert, was seinem glatt rasierten, blassen Gesicht einen seltsamen Ausdruck gab. Die Blässe seiner Haut wurde durch seinen dunklen Anzug verstärkt. Für gewöhnlich hatte er meistens einen weißen Kittel an, wie alle seine Mitarbeiter, doch an diesem Tag war auch er schon für das Symposium in München vorbereitet. Ihn trieb es jedoch nicht zur Eile. Sein Flug war erst am frühen Abend gebucht.

„Herr Professor, hier ist mein Bericht über das Einsatzspektrum des neuen Antibiotikums. Auch die neue Variante des MRSA – Bakteriums können wir in diese Liste einfügen. Ich konnte in den letzten Tagen einen Test an einem Wundabstrich einer Patientin positiv beenden. Die Patientin könnten wir damit retten. Wir haben also beim Wettlauf mit den kleinen Biestern wieder etwas aufgeholt. Unsere Kollegen aus Braunschweig haben gute Arbeit geleistet.“

Selbst bei der Audienz beim Chef konnte der sonst so beherrschte Mathias Hempel die Freude über das Ergebnis nicht verstecken. Erwartungsvoll schaute er dem Institutsleiter in die vergrößerten Augen. Doch weder in seinem Gesicht noch in den grüngrauen Augen konnte er eine Regung feststellen. Nach einem Moment öffneten sich seine dünnen, blassen Lippen. Eine leise, für einen Mann recht hohe Stimme klang emotionslos zu Hempel herüber.

„Schön, mein lieber Herr Dr. Hempel. Das freut mich. Veranlassen Sie also den Einsatz in der Klinik. Was mich nicht freut, dass Sie meinen Sohn gestern beschuldigt haben, unsauber gearbeitet zu haben. Er ist noch ein junger Wissenschaftler, aber ein zuverlässiger. Trauen Sie ihm etwas zu. Er braucht Verantwortung. Sie sind einer meiner besten Mitarbeiter. Geben Sie ihm Herausforderungen, an denen er wachsen kann.“

Die überschwängliche Stimmung von Mathias Hempel schlug sofort um. In ihm begann die Wut zu kochen. Sein Magen schien sich zu verknoten. Er ballte seine Hände. War es nun dieses Familiengeklüngel oder die Blindheit eines Vaters gegenüber den Fähigkeiten und des Charakters seines Sohnes. Hempel versuchte sich zu beruhigen, erwiderte aber zu der Aussage von Holzmann nichts.

„Wir sehen uns dann morgen früh zur Symposiumseröffnung in München", schwang das zarte Stimmchen von Holzmann herüber, bevor der kahle Kopf wieder hinter dem Monitor verschwand.

Mathias Hempel stand da, wie bestellt und nicht abgeholt. Er drehte sich um, ging hinaus und verwendete für das Türschließen mehr Energie als gewöhnlich. Zwar hatte er die Zimmertür nicht geworfen, doch die Lautstärke sprach für seinen Unmut. Er stürmte in sein Labor, baute sich vor dem grinsenden Jeremias Holzmann auf, so dass diesem sein Grinsen erstarrte.

„Dein Vater meint, du brauchst mehr Verantwortung. Dann wird das kleine Söhnchen jetzt mal die verantwortungsvolle Aufgabe übernehmen, sofort das Antibiotikum zur Klinik zu bringen und bei Dr. Bayer abzuliefern. Und vergiss den Laborbericht nicht.“

Hempel hätte das am liebsten selbst getan, doch er hatte jetzt keine Zeit mehr, die weite Fahrt nach München musste starten. Er holte sich nur noch in der Cafeteria einen schnellen Imbiss und brauste mit seinem BMW davon. Jeremias Holzmann stand verdattert mit dem Antibiotikum und dem Laborbericht da. Er legte beides auf den Labortisch und schlich zu der jungen Laborantin herüber, die gerade am Mikroskop ein Bakterienpräparat fotografierte. Der junge Mann fasste ihr genussvoll an den Hintern.

„Hempel ist weg. Wolltest du nicht auch gerade eine Mittagspause machen?“

Melinda sah dem Charmeur in die Augen und lächelte.

„Du kannst mich ja bei der wichtigen Mission der Antibiotikaübergabe begleiten. Vielleicht finden wir unterwegs ein nettes Lokal.", säuselte der junge Mann ihr ins Ohr.

Melinda lächelte verliebt und nickte. Sie zogen sich ihre Kittel aus und gingen zu dem roten Sportwagen des Blondschopfs. Jeremias stieg lässig in sein Auto, dass er von seinem Vater zum bestandenen Studium geschenkt bekommen hatte. Melinda strahlte, denn sie hatte schon länger davon geträumt, mit Jeremias in diesem Auto irgendwo hinzufahren. Auch wenn es diesmal nur zur Klinik gehen sollte. Als der junge Mann eingestiegen war, startete er seinen Wagen und rollte vom Institutsparkplatz. Jeremias Holzmann verspürte eher den Drang, mit der blonden Melinda mal richtig schnell davon zu düsen. Da das nicht in der Stadt zu machen war, fuhr er zur nächsten Autobahnauffahrt und startete durch. Der eigentliche Auftrag wurde in eine Warteschleife des Gehirns gedrängt.

Nach einer Spritztour von einer Stunde steuerte er ein Nobel-Restaurant an. Jeremias nahm nicht die erstbeste kleine Imbissgaststätte, nein, er wollte die junge Frau stilvoll beeindrucken. Nach einem Aperitif wurde eine gefüllte Wachtel serviert. Beim ausgiebigen Speisen berührten sich unter dem Tisch intensiv ihre Beine, streichelten einander und heizten sich gegenseitig an. Eine weitere Stunde später stand der rote Sportwagen auf einem abgelegenen Waldweg in der Schorfheide. Die Rückenlehnen waren heruntergeklappt, so dass Melinda und Jeremias ihrer sexuellen Lust voll nachkommen konnten. Nach einiger Zeit fiel Melinda die Mission wieder ein.

„Du, Jere, sollten wir nicht das Antibiotikum in die Klinik bringen?“

Jeremias schlug sich mit der flachen, rechten Hand auf seine Stirn. Das hatte er wirklich vergessen. Er sah auf die Uhr. Es war bereits nach 17 Uhr. Dann fiel sein Blick auf den nackten Busen von Melinda, glitt daraufhin hinunter zu ihrem Becken. Seine Hand folgte sanft seinen Blicken.

„Ach, ich denke, das kommt morgen früh auch noch zu Recht.“

Nach dieser Antwort war für ihn das Thema beendet und er küsste die junge Frau vom großen Zeh bis zu ihrem Mund alle paar Zentimeter und streichelte intensiv ihren dahin schmelzenden Körper.

Sonntag

Mathias Hempel näherte sich gegen Abend wieder Berlin. Er hatte fast den Berliner Ring erreicht, da füllte sich die Autobahn mit jeder Sekunde stärker. Das Tempo der dreispurigen Autokolonnen reduzierte sich zunehmend. Die Berliner Wochenendausflügler kehrten zurück in ihr Nest. 60, 40, 20 Kilometer pro Stunde. Dann Stillstand.

„Verfluchte Scheiße!“, brüllte Mathias Hempel und schlug mit der Faust auf das Lenkrad. Auf einen Stau und auf Verzögerungen seiner Heimfahrt hatte er überhaupt keine Lust. Nachdem er sich mit diesem emotionalen Ausbruch kurz Luft gemacht hatte, lehnte er sich erschöpft an seine Rückenlehne. Aus dem Radio ertönte gerade ein alter Titel von Grönemeyer. „Oh, ich drehe schon seit Stunden, hier so meine Runden ...“

„Der Musikredakteur hatte ja mal wieder `nen richtigen Riecher.“