Cover

Über dieses Buch:

Bei Eis und Schnee werden auf Schloss Herrmannsthal in der Nähe von Hamburg die Leichen zweier junger Frauen entdeckt. Jeremias Voss, der bekannte Hamburger Privatermittler, ist von Anfang an vor Ort. Wer sind die beiden Opfer? Woher kamen sie? Und wer hat sie auf dem Gewissen? Als Jeremias Voss die adeligen Schlossbesitzer genauer unter die Lupe nimmt, stößt er auf eine Familie am Rande des finanziellen Ruins, marode Verhältnisse und menschliche Abgründe. Und auf einmal gerät er selbst ins Fadenkreuz des Mörders …

Über den Autor:

Ole Hansen, geboren in Wedel, ist das Pseudonym des Autors Dr. Dr. Herbert W. Rhein. Er trat nach einer Ausbildung zum Feinmechaniker in die Bundeswehr ein. Dort diente er 30 Jahre als Luftwaffenoffizier und arbeitete unter anderem als Lehrer und Vertreter des Verteidigungsministers in den USA. Neben seiner Tätigkeit als Soldat studierte er Chinesisch, Arabisch und das Schreiben. Nachdem er aus dem aktiven Dienst als Oberstleutnant ausschied, widmete er sich ganz seiner Tätigkeit als Autor. Dabei faszinierte ihn vor allem die Forensik – ein Themengebiet, in dem er durch intensive Studien zum ausgewiesenen Experten wurde.

Heute wohnt der Autor in Oldenburg an der Ostsee.

Eine Übersicht über weitere Romane des Autors bei dotbooks finden Sie am Ende dieses eBooks.

Der Autor im Internet: www.herbert-rhein-bestseller.de

***

Originalausgabe Januar 2018

Copyright © der Originalausgabe 2018 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Redaktion: Ralf Reiter

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/Andreas Kreutzer

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (aks)

ISBN 978-3-96148-211-5

***

Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: info@dotbooks.de. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

***

Sind Sie auf der Suche nach attraktiven Preisschnäppchen, spannenden Neuerscheinungen und Gewinnspielen, bei denen Sie sich auf kostenlose eBooks freuen können? Dann melden Sie sich jetzt für unseren Newsletter an: www.dotbooks.de/newsletter.html (Versand zweimal im Monat – unkomplizierte Kündigung-per-Klick jederzeit möglich.)

***

Wenn Ihnen dieser Roman gefallen hat, empfehlen wir Ihnen gerne weitere Bücher aus unserem Programm. Schicken Sie einfach eine eMail mit dem Stichwort »Jeremias Voss und die Leichen im Eiskeller« an: lesetipp@dotbooks.de (Wir nutzen Ihre an uns übermittelten Daten nur, um Ihre Anfrage beantworten zu können – danach werden sie ohne Auswertung, Weitergabe an Dritte oder zeitliche Verzögerung gelöscht.)

***

Besuchen Sie uns im Internet:

www.dotbooks.de

www.facebook.com/dotbooks

blog.dotbooks.de/

Ole Hansen

Jeremias Voss und die Leichen im Eiskeller

Der neunte Fall

dotbooks.

Kapitel 1

»Scheiße!« Jeremias Voss fluchte wie ein Hafenarbeiter.

Es war zwei Tage nach Weihnachten, und es herrschte minus fünf Grad. Der scharfe Ostwind ließ die gefühlte Temperatur um weitere zehn Grad sinken. Über Nacht hatte es geschneit, die Landschaft war mit einer Schneedecke überzogen, und es war unmöglich zu erkennen, wohin man trat. Und genau das war Voss zum Verhängnis geworden. Beim Überspringen eines Grabens war er auf einer vereisten Fläche ausgerutscht und im Wasser gelandet. Zum Glück hatte er seinen Körper so in der Gewalt, dass er aufrecht stehen blieb und nicht komplett in der eiskalten Moorbrühe lag. Das Wasser ging ihm bis zum Schritt, Nässe und Kälte drangen sofort durch die Hose und von oben in die Stiefel. Voss watete zum anderen Ufer. Es waren nur drei Schritte, doch als er sich an der Grabenböschung hochziehen wollte, rutschte er immer wieder ab. Er hatte kein Gefühl mehr in den Füßen.

»Fang bloß nicht an zu lachen!«, rief er Nero in einem Anflug von Galgenhumor zu. »Hilf mir lieber.«

Nero, sein bulliger Hund, hatte den Graben in einem eleganten Sprung genommen und stand nun an der Böschung und verfolgte die vergeblichen Bemühungen seines Herrn.

Es war, als hätte er die Worte verstanden, denn er tastete sich so weit vor, wie der rutschige Boden es zuließ.

Voss zwang sich zur Ruhe. Panik brachte in solchen Momenten nichts, sie behinderte nur das logische Denken. Schnell wurde ihm bewusst, dass er ohne Hilfe nicht aus dem Graben mit den fast senkrechten Wänden herauskommen würde. Natürlich hätte er versuchen können, die Böschung mit den Händen abzuschrägen, doch der Boden war hart gefroren, und ob ihm die eisige Kälte Zeit dazu lassen würde, war fraglich. Er zog seine Winterjacke aus und warf sie Nero zu. »Zieh!«, befahl er.

Nero schien ihn verstanden zu haben, denn er packte mit seinem mächtigen Maul einen Ärmel der Jacke und legte sofort los. Voss klammerte sich mit beiden Händen an den anderen Ärmel.

Eine Minute später lag er auf der Uferböschung. Ihn aus dem Entwässerungsgraben zu ziehen, war für Nero mit seinen 55 Kilo Muskeln und Knochen keine Herausforderung gewesen.

Voss stand mühsam auf und hielt sich an Neros Rücken fest, um nicht hinzufallen. Dann zog er die vor Schmutz starrende Winterjacke wieder an. Sie war zwar durchnässt, bot aber Schutz gegen den kalten Ostwind. Jetzt war es vordringlich, Blut in die erstarrten Füße zu pumpen und den Kreislauf in Gang zu bringen. Obwohl es ihm schwerfiel, versuchte er zu laufen. Die ersten Schritte waren nur ein Torkeln, doch bald gelang es ihm, richtig auszuschreiten. Eine halbe Stunde später hatte er das Schloss, in dem er untergebracht war, erreicht.

Ich werde nie begreifen, dass es Menschen gibt, die das ganze Jahr darauf warten, bei diesem Mistwetter auf die Jagd zu gehen, fluchte er innerlich. Und das, obwohl er selbst einen Jagdschein besaß.

Im Keller des Schlosses zog er die nasse Kleidung aus und warf sie auf einen Haufen. Zum Glück reichte das Flanellhemd bis auf die Oberschenkel.

Um sein Pech komplett zu machen, traf er auf der Treppe zum ersten Stock die Dame des Hauses.

»Mein Gott, Herr Voss, was haben Sie denn gemacht?«, fragte sie, anstatt sich dezent abzuwenden und so zu tun, als würde sie ihn nicht sehen.

Voss ließ sich die Peinlichkeit seines Aufzugs nicht anmerken. Mit todernster Miene antwortete er: »Ich wollte zum Abendessen ein paar Aale beisteuern. Bei der Suche nach ihnen bin ich leider etwas nass geworden.«

Sophie Gräfin von Haltern sah ihn verständnislos an. »Aber, Herr Voss, die gibt es doch jetzt nicht.« Sie schüttelte ungläubig den Kopf.

»Das wissen die Aale, aber ich nicht, gnädige Frau. Ich bin nur ein ahnungsloser Stadtmensch.«

Die Miene der Gräfin verzog sich zu einem ärgerlichen Ausdruck. »Ich glaube, Herr Voss, Sie erlauben sich einen Scherz mit mir.«

Voss tat betroffen und antwortete mit Unschuldsmiene: »Das würde ich mir nie erlauben, Gräfin.«

Die Gräfin wusste nicht, ob er das ernst meinte oder sich nur wieder über sie lustig machte, etwas, was sie absolut nicht leiden konnte, wie Voss inzwischen bemerkt hatte.

»Sie sollten sich schnellstens etwas überziehen, sonst erkälten Sie sich. Außerdem könnte eines der Hausmädchen Sie in diesem Aufzug sehen.«

»Gräfin, genau das war meine Absicht, bevor wir uns so nett unterhalten haben. Wenn Sie mich bitte entschuldigen würden.«

Voss wartete die Antwort nicht ab, sondern drehte sich um und stieg die Treppe zur ersten Etage hoch, gefolgt von seinem treuen Gefährten.

Er konnte die arrogante, mit Standesdünkeln behaftete Schlossherrin nur schwer ertragen. Mit ihren beiden Brüdern erging es ihm nicht anders. Er wäre nie Gast auf Schloss Herrmannsthal gewesen, hätte ihn nicht ein ehemaliger Klient gebeten, eine Freundin, die das Anwesen kaufen wollte, zu begleiten. Er sollte sich von den Menschen, die hier lebten und arbeiteten, ein Bild machen. Natürlich sollte er sich auch die Liegenschaften ansehen. Das Argument, er sei für diese Aufgabe ungeeignet, da er kaum eine Kuh von einem Pferd unterscheiden und schon gar nicht die Bausubstanz eines Gebäudes bewerten könne, ließ der Klient nicht gelten. Voss hatte für ihn einen ungewöhnlichen, komplizierten Auftrag ausgeführt, und deshalb traute der Kunde ihm wohl jede Aufgabe zu. Das Ergebnis war, dass er nun mit nur einem feuchten Hemd bekleidet einen fast 50 Meter langen, ungeheizten Gang entlang gehen musste, da sein Zimmer das letzte auf dieser Etage war. Dass er hier, am Horizont des Geschehens, untergebracht war, hatte er Nero zu verdanken.

Der Auslöser der ganzen Misere war Marianne Brandenburg.

Sie war eine Unternehmerin, die sich in den Kopf gesetzt hatte, ein Schloss zu kaufen, das sie zu einem Zentrum der Schmuckindustrie ausbauen wollte. Sie war es, die der Privatdetektiv begleiten und beraten sollte. Dass eine Frau seine Klientin sein würde, hatte er erst festgestellt, als er sich mit ihr an der Einfahrt zu Schloss Herrmannsthal traf. Bis zu dem Augenblick, als sie aus dem Auto stieg, war er der Überzeugung gewesen, mit einem Martin Brandenburg zusammenzuarbeiten. Da er bis kurz vor Weihnachten einen Fall im Ausland bearbeitet hatte, waren alle Vereinbarungen von Vera, seiner Assistentin, getroffen worden. Irgendwie musste dabei untergegangen sein, dass der Ehemann verstorben und seine Witwe die Klientin war. Vera hatte ihm auch nicht mitgeteilt, dass Marianne Brandenburg eine leidenschaftliche Jägerin war, die zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen wollte. Zum einen wollte sie das Schloss besichtigen und zum anderen an einer Treibjagd teilnehmen, um hochrangige Persönlichkeiten aus Politik und Wirtschaft zu treffen. Die Treibjagd auf dem Schloss war ein großes Ereignis. Sie fand jedes Jahr zwischen Weihnachten und Neujahr statt. Eingeladen war alles, was Rang und Namen hatte.

Voss hielt es zwar für eine hirnrissige Idee, sich eine Immobilie im tiefsten Winter anzusehen, aber das war nicht seine Entscheidung.

Da die Fahrt aufs Land ging, hatte er Nero mitgenommen, in der Hoffnung, der Hund könnte sich hier austoben.

Die Begrüßung an der Einfahrt zum Schloss war herzlich gewesen, wenn auch ein wenig steif.

Am Schloss angekommen, parkten sie die Autos neben der Freitreppe, die sie, gefolgt von Nero, hochstiegen. Oben wurde Frau Brandenburg von Gräfin von Haltern herzlich begrüßt. Ihn beachtete sie zunächst nicht. Erst als die Besucherin ausreichend hofiert worden war, hieß die Schlossherrin auch ihn kurz willkommen. Amüsiert beantwortete Voss ihre Begrüßung mit einem übertrieben formvollendeten Handkuss. Die Gräfin nahm ihn mit einem verkniffenen Lächeln zur Kenntnis. Sie schien zu spüren, dass Voss’ Verhalten kein Ausdruck von Respekt war, ganz im Gegenteil. Vielleicht hatte sie auch gegoogelt und herausgefunden, dass er ein Detektiv aus Hamburg war. Sicher konnte sie sich nicht erklären, was er auf dem Schloss vorhatte, und behandelte ihn deshalb argwöhnisch. Wie dem auch sei, ihre arrogante Art missfiel ihm. Als sie ihn entrüstet darauf hinwies, dass der Hund nicht ins Schloss gehöre, war dies eine Kriegserklärung.

»Für Ihren Hund finden Sie bei den Wirtschaftsgebäuden ein Lager. Dort sind auch die Hunde der Jagdgäste untergebracht. Um zu dem Stall zu gelangen, folgen Sie der Ausschilderung. Dort wird ein Landarbeiter Ihnen einen Platz für Ihren Hund zuweisen.«

Voss konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen, als er daran dachte, wie Nero, der es gewohnt war, in seinem Bett zu schlafen, die neue Schlafstelle wohl auffassen würde.

»Verehrte Gräfin von Haltern, ich bitte Sie, von Ihrer berechtigten Anweisung eine Ausnahme zu machen, es sei denn, Sie erwarten von mir, dass ich ebenfalls im Stroh schlafe. Nero ist es nämlich nicht gewöhnt, von mir getrennt zu sein. Sollten Sie auf Ihrer Anweisung bestehen, dann wird Nero einen derartigen Rabatz veranstalten, dass keiner Ihrer Gäste in der Nacht Ruhe findet. Er hat nämlich die löbliche Angewohnheit, alles, was ihn von seinem Herrn trennt, aus dem Weg zu räumen. Selbst Ihr stabiles Eingangsportal dürfte seinen Bemühungen nur die halbe Nacht standhalten.«

»Ich glaube, Gräfin, Sie sollten der Bitte nachgeben und eine Ausnahme machen, denn ich liebe meine Nachtruhe«, unterstützte Frau Brandenburg ihn.

Um die mögliche Käuferin nicht zu verärgern, gab die Schlossherrin zähneknirschend nach. Das Feindbild war damit auf beiden Seiten festgelegt. Der Unterschied zwischen den Kontrahenten war, dass Voss das Geplänkel amüsierte, während die Gräfin sich offenkundig ärgerte.

Sie rächte sich damit, dass sie ihn ans äußerste Ende des Schlosses verbannte.

»Das Zimmer liegt für Sie besonders günstig, da die Feuertreppe dort vorbei geht und Sie, ohne die anderen Gäste mit Ihrem Hund zu verschrecken, von draußen zu Ihrem Zimmer gelangen können«, sagte sie mit einem unterschwelligen Triumph in der Stimme. »Leider müssen Sie dafür einen etwas längeren Weg zu den Gesellschaftsräumen in Kauf nehmen.«

»Wunderbar, Gräfin, das ist für mich optimal«, antwortete Voss gespielt freudig. »Und der weite Weg macht mir nichts aus. Im Gegenteil, ich habe in der letzten Zeit mein Lauftraining vernachlässigt, sodass mir der Gang gerade recht kommt. Außerdem ist er so hundekalt, dass er mich zum Rennen anspornen wird.«

»Dann ist ja alles zu Ihrer Zufriedenheit gelöst«, antwortete die Gräfin pikiert, drehte sich um und schritt in würdevoller Haltung mit Marianne Brandenburg davon.

Voss und Nero waren inzwischen in ihrem Zimmer angelangt. Wärme vom Kachelofen umfing sie. Eines der im Schloss angestellten Mädchen hatte ihn angeheizt.

Voss zog sich das feuchte Hemd vom Leib und wusch sich mit kaltem Wasser aus einer Kanne. Fließend kaltes und warmes Wasser gab es nicht. Um in diesen Genuss zu kommen, hätte er den halben Flur zurückgehen müssen. Nach dem Säubern schrubbte er sich mit seiner Haarbürste ab, um die Durchblutung zu fördern. Anschließend schlüpfte er ins Bett und deckte sich mit einem Federbett zu. Er kam sich vor wie auf einer Zeitreise ins 19. Jahrhundert.

Nero hatte nur darauf gewartet, dass er sich hinlegte. Der Hund sprang aufs Bett und nahm seinen Lieblingsplatz am Fußende ein. Sein gleichmäßiges Schnarchen ließ auch Voss eindösen.

Er wachte auf, als Nero ihn mit der Schnauze anstieß. Da er das so lange tun würde, bis er wach war, half auch ein Umdrehen oder die Decke über den Kopf ziehen nicht. Also ergab er sich seinem Schicksal, stieß die Bettdecke zur Seite und stand auf. Ein Check seines Körpers sagte ihm, dass er das Bad im Eiswasser heil überstanden hatte, was sicherlich auf seine gute körperliche Verfassung zurückzuführen war.

Nero war inzwischen zu seinem Fressnapf gegangen und sah erst den Napf und dann Voss vorwurfsvoll an.

»Hast ja recht, mein Alter.« Voss sah auf die Uhr. Es war bereits nach zwei Uhr nachmittags. »Höchste Zeit, dass du etwas zu fressen bekommst.«

Er holte den Eimer mit dem Futter vom Kleiderschrank und füllte ihm die Mittagsportion in eine Schüssel. Nero stürzte sich sofort darauf.

Er selbst zog sich an und machte sich auf den Weg in die Küche. Da sie im Souterrain lag, benutzte er die Feuerleiter. Am Fuße der Leiter gab es eine Tür, die nicht verschlossen war. Er betrat einen ähnlich langen Gang wie auf seiner Etage, nur dass es hier stockdunkel war. In weiser Voraussicht hatte er eine Taschenlampe eingesteckt. Der Gang war kalt, und an den Wänden zeigten sich nasse Stellen. Nach vielleicht 40 Metern kam er in einen Bereich, der durch lose von der Decke hängende Glühbirnen beleuchtet wurde. Er folgte seinem Geruchssinn und befand sich wenig später in der Küche. Sie war riesig. Er konnte sich vorstellen, dass hier einmal viele Bedienstete gearbeitet hatten. In der Mitte des Raumes stand ein Holztisch, an dem auf jeder Seite zehn Personen Platz fanden. Was ihn am meisten verblüffte, war, dass hier offenbar noch auf einem Kohleherd gekocht wurde. Die Zeit schien hier unten stehen geblieben zu sein. Es hätte ihn nicht gewundert, wenn die beiden Frauen, die mit der Vorbereitung des Abendessens beschäftigt waren, weiße Häubchen getragen hätten.

Die ältere der beiden Frauen sah ihn fragend an. Ihr Blick verriet, dass sich kaum jemals ein Gast in ihr Reich verirrte.

»Guten Tag, die Damen, ich bin Jeremias Voss, ein Gast des Hauses. Mir ist ein Missgeschick passiert. Ich bin in einen Bach gefallen und habe meine nassen Sachen vorne im Keller ausgezogen und liegenlassen. Wäre es vielleicht möglich, die Sachen zu holen, sie zu waschen und sie zu mir aufs Zimmer zu bringen?«

Während er sprach, zog er 30 Euro aus der Tasche und legte sie auf den Tisch. »Für die Mühen, die ich Ihnen mache.«

Die ältere Frau – Voss nahm an, dass es die Köchin war – nahm den 20-Euro-Schein und schob den Zehner dem Mädchen zu.

»Da kümmern wir uns drum, Herr Voss. Merle wird die Sachen gleich holen.«

»Ja, Oma Bertha«, sagte die junge Frau.

Voss bedankte sich. »Ich hätte noch eine Bitte. Durch mein kühles Bad bin ich um das Mittagsmahl gebracht worden. Hätten Sie vielleicht eine Scheibe Brot für mich?«

Seine absichtlich bescheiden gehaltene Bitte wurde mit einer üppigen Wurst- und Schinkenplatte belohnt. Es zeigte sich, dass sein höfliches und großzügiges Verhalten dem Personal gegenüber immer Früchte trug. Er tat das nicht aus Berechnung, sondern es war ein Charaktermerkmal.

Bestens versorgt und mit einem Schinkenknochen als Gruß an Nero in der Hand verließ er Oma Berthas Küche und ging auf dem Weg, den er gekommen war, zum Zimmer zurück. Den Schinkenknochen drapierte er auf der Feuerleiter eine Etage höher. Bevor Nero ihn bekam, wollte er mit ihm erst einen Spaziergang über das Anwesen machen.

Voss zog eine dicke Daunenjacke an, band sich einen Schal um und setzte eine Fleecemütze auf. Nero legte er ein Halsband um und nahm ihn an die kurze Leine. Die Feuertreppe war nicht nur steil, sondern durch den gefrorenen Schnee der Vortage auch glatt.

Er ließ Nero den Vortritt und hielt ihn so fest, dass, wenn er auf den Stufen ausrutschten würde, er nicht abstürzen konnte. Das war auch gut so, denn genau das wäre fast passiert. Zum Glück wohnte er im Hochparterre, sodass sie nur wenige Stufen hinuntersteigen mussten.

Als sie am Boden angekommen waren, befreite er Nero von der Leine und ließ ihm freien Lauf. Da er aufs Wort gehorchte und sich nie weit von seinem Herrn entfernte, bestand für andere keine Gefahr. Außerdem lief er ohne Befehl nie zu anderen Menschen, und auch seine Artgenossen ließ er links liegen.

Voss schlenderte durch den nördlichen Teil des Schlossparks. Er folgte einer Schotterstraße zu den Wirtschaftsgebäuden, die abseits lagen. Eine hohe, dreireihige Hecke aus Rhododendron schirmte sie ab.

Er nahm sich nicht die Zeit, die Gebäude näher zu untersuchen, das wollte er an einem anderen Tag tun. Aber auch so sah er, dass sie einen maroden Eindruck machten. Die Wellblechdächer waren zum Teil durchgerostet, und das Mauerwerk machte einen kläglichen Eindruck. Einzelne Mauersteine waren aus der Wand gebrochen, und niemand hatte es für nötig erachtet, sie wegzuräumen. Überall, wo er hinsah, war der Mörtel aus den Fugen gewaschen. Nirgends war zu erkennen, dass sich jemand die Mühe gemacht hätte, die Wände neu zu verfugen. Es war traurig zu sehen, wie sechs große Wirtschaftsgebäude verfielen. Statt sich um die Liegenschaft zu kümmern, steckte die gräfliche Familie das Geld offenbar lieber in aufwendige gesellschaftliche Veranstaltungen. Wenn er an das hochnäsige Verhalten der Gräfin dachte, musste er feststellen, dass zumindest sie noch nicht im 21. Jahrhundert angekommen war.

Südlich des Wirtschaftsbereichs lag ein verwilderter Gemüsegarten. Daneben befand sich ein Gewächshaus. Die Scheiben waren schmutzig und teilweise eingeschlagen. Ein Stück entfernt erhob sich ein mit Bäumen bewachsener Hügel.

Im ersten Moment dachte Voss an ein steinzeitliches Hünengrab, doch er verwarf diesen Gedanken wieder. Hätte es sich um ein solches gehandelt, wäre es längst ausgegraben worden und nicht mit Buchen und Eichen bewachsen. Dem Durchmesser der Stämme nach schätzte er sie auf gut 100 Jahre. Neugierig, wie er war, kletterte er auf den Hügel, was sich auf den vereisten Hängen als schwierig erwies.

Nero hatte diese Probleme nicht, denn er war längst oben, als sein Herr erst ein Drittel des Hügels erklommen hatte. Er sah noch, wie der Hund mit der Schnauze am Boden witternd hin und her lief, dann war er plötzlich verschwunden. Dafür hörte er ein schmerzhaftes Jaulen. Voss kraxelte so schnell er konnte den Hügel hoch. Er sah nichts, hörte aber ein Schnauben und wütendes Knurren. Es klang dumpf, als käme es aus einer Höhle. Er ging dem Geräusch nach, aber unvermittelt trat er zurück. Es hätte nicht viel gefehlt, und ihm wäre an diesem Tag zum zweiten Mal ein Malheur passiert. Hinter den zwei Büschen, durch die er sich gerade gezwängt hatte, öffnete sich der Boden. Einen Schritt weiter, und er wäre in das Loch gestürzt. Vorsichtig beugte er sich über den Rand. Viel sehen konnte er bei der beginnenden Abenddämmerung nicht, dafür hörte er Nero knurren und scharren. Voss zog die Taschenlampe aus der Jackentasche und leuchtete in die Tiefe. Er sah einen runden Brunnenschacht von vielleicht zwei Metern Durchmesser. Am Boden scharrte Nero Äste zur Seite. Voss leuchtete die Wände ab und entdeckte auf der gegenüberliegenden Seite in die Wand eingelassene Steigeisen. Er ging in einem weiten Bogen hinüber und räumte vorsichtig die morsche Abdeckung, durch die Nero in den Brunnen gestürzt war, zur Seite. Dann stieg er die stark verrosteten Steigeisen hinunter. Sorgen, dass sich giftige Gase im Brunnen befanden, brauchte er nicht zu haben, denn sonst wäre Nero ihnen längst zum Opfer gefallen.

Der Boden bestand aus halb verfaulten Ästen und vermodertem Laub. Im Licht der Taschenlampe sah er, dass Nero Bauschutt an die Oberfläche befördert hatte. In dem Geruch nach Fäulnis glaubte Voss auch einen Hauch von Verwesung zu riechen. Wahrscheinlich war es das, was Nero zu seinem hektischen Scharren trieb. Während der Hund buddelte und knurrte, überlegte Voss, wie er die 55 Kilo nach oben befördern konnte. Ohne Hilfsmittel war es unmöglich. Feuerwehr, war sein nächster Gedanke. Er stieg wieder nach oben, zog sein Handy aus der Tasche und rief 112 an. Eine weibliche Stimme nahm den Anruf entgegen. Er schilderte ihr die Lage, und die Frau versprach, einen Einsatzwagen zum Schloss zu senden. Er solle vor Ort auf die Männer warten. Um Nero nicht allein zu lassen, stieg er wieder in die Tiefe. Hier hatte sich die Lage verändert. Nero lag auf dem aufgewühlten Haufen und kaute auf etwas herum. Voss hielt den Strahl der Taschenlampe auf ihn gerichtet und befahl: »Aus! Gib!« Nero öffnete das gewaltige Maul und legte den Gegenstand vor Voss auf den Boden. Als der ihn erkannte, musste er sich abwenden und mehrmals tief durchatmen, um einen Brechreiz zu unterdrücken. Dann drehte er sich wieder um, nahm den Schal ab, hob das Objekt mit spitzen Fingern auf, wickelte es in den Schal und stieg nach oben. Hier zog er erneut sein Smartphone aus der Tasche und wählte diesmal die 110.

Kapitel 2

Voss legte Neros Fund in eine Baumgabel, damit ihn nicht ein streunender Hund verschleppte. Die Befürchtung war nicht abwegig, denn er hörte aus Richtung der Wirtschaftsgebäude Hundegebell. Offensichtlich war die Jagd für heute zu Ende. Er wollte gerade den Hügel hinuntergehen, um die Feuerwehr zu empfangen, als diese bereits auf den Hügel zufuhr. Er winkte, und der Beifahrer hob die Hand zum Zeichen, dass er ihn gesehen hatte.

Die beiden Feuerwehrleute holten ein Geschirr aus dem Einsatzwagen und kletterten den ziemlich steilen Hang zu Voss empor. Er erklärte ihnen, was er gefunden hatte und dass sie Nero noch nicht aus seiner misslichen Lage befreien konnten, da die Polizei zuerst den Schacht untersuchen müsste. Die Männer nickten verständnisvoll. Einer von ihnen ging an den Rand des Schachts, sah hinunter und strahlte mit einem starken Handscheinwerfer in die Tiefe.

»Da hat Ihr Hund Glück gehabt, dass ihm nichts passiert ist. Durch den Modder da unten ist er weich gefallen. Ist auch nur fünf Meter tief. Normalerweise gehen diese Eiskeller bis auf zehn Meter runter«, sagte er.

»Eiskeller?«, fragte Voss verständnislos.

»Ja, kennen Sie so etwas nicht?«

»Nie davon gehört.«

»Fast jedes Herrenhaus in dieser Gegend hat so einen. Darin wurden die Eisbarren gelagert, die man im Winter aus dem Eis der Seen herausschnitt. In solchen Eiskellern hielten sich die Blöcke bis in den Herbst hinein. Und hier, wo die Bäume zusätzlichen Schatten boten, sicherlich bis zur neuen Eisernte.«

»Wieder etwas dazugelernt«, sagte Voss. »Danke.«

Sie mussten nicht lange auf die Polizei warten. Schon von Weitem hörten sie das Martinshorn, und wenig später sahen sie auch Blaulicht durch die Bäume blinken.

Ein Streifenwagen hielt neben dem Feuerwehrauto. Ein Polizist und eine Polizistin stiegen aus und kamen den Abhang mehr rutschend als gehend hoch.

»Jeremias Voss?«, fragte der Polizist, ein Oberwachtmeister, wie an seinen Schulterstücken zu erkennen war.

»Ja.«

»Sie haben die Polizei alarmiert und angegeben, Sie hätten einen Teil einer Leiche gefunden. Stimmt das?«

»Richtig. Genauer gesagt, hat mein Hund es ausgegraben. Er ist durch die Abdeckung gebrochen und in diesen Schacht gestürzt.«

Voss ging zu der Astgabel, in der er den Fund deponiert hatte, und gab ihn dem Polizisten.

»Ich habe ihn eingewickelt.«

Der Polizist schlug vorsichtig den Schal auseinander. Die junge Polizistin schaute ihm neugierig über die Schulter. Plötzlich drehte sie sich um, stürmte ein paar Schritte zur Seite und erbrach sich. Auch der Oberwachtmeister atmete tief durch, als er die Überreste einer menschlichen Hand sah. Halb verwestes Fleisch und Hautfetzen hingen, soweit sie nicht von Nero abgenagt waren, an den Knochen. Der Mittelfinger fehlte ganz und vom kleinen Finger das obere Glied.

Der Polizist schlug den Schal wieder über das Fundstück.

»Das ist Sache der Kriminalpolizei«, sagte er. Er wandte sich an seine junge Kollegin. »Bist du wieder fit?« Die Beamtin nickte. »Dann geh zum Streifenwagen, fordere die Mordkommission und die Spusi an und bring das Absperrband mit.«

Die Polizistin hob die rechte Hand zum Zeichen, dass sie ihn verstanden hatte.

»Sie muss ich bitten, den Hügel zu verlassen. Er ist jetzt ein Fundort«, forderte der Beamte Voss und die Feuerwehrleute auf.

»Wie heißt es so schön? Nicht ohne meinen Hund. Wir sollten ihn schnellstens heraufholen, denn wie ich ihn kenne, ist er gerade dabei, die Leiche in Einzelteile zu zerlegen.«

»Schiet«, fluchte der Beamte. Und an die Feuerwehrmänner gerichtet: »Holen Sie ihn raus.«

Der Jüngere ergriff das Rettungsgeschirr und wollte in den Schacht steigen. Voss hielt ihn zurück.

»Besser, ich steige hinab. Nero könnte ungemütlich werden, wenn ihn ein Fremder von seinem Futternapf verdrängen will. Er ist ein Kraftprotz, der leicht Ihren Arm durchbeißen kann.«

Der Feuerwehrmann trat sofort von dem Eiskeller zurück und reichte Voss das Rettungsgeschirr.

»Kennen Sie sich damit aus, oder soll ich Ihnen die Funktion erklären?«

»Nicht nötig, ich kenne es.«

Voss legte das Geschirr über die Schulter und stieg hinunter. Der Feuerwehrmann leuchtete in den Schacht. Es war, wie Voss befürchtet hatte. Nero hatte einen Teil der Leiche an einem blauen Kleid unter den vermoderten Zweigen hervorgezerrt und war dabei, sie mit seinen Reißzähnen zu entkleiden.

»Aus!«, befahl Voss.

Nero gehorchte sofort, sah ihn dabei aber mit einer Miene an, als müsste er auf eine große Leckerei verzichten.

»Du brauchst nicht traurig zu sein«, beruhigte Voss ihn. »Ich habe zu Hause ein besonderes Leckerli für dich.«

Er tätschelte liebevoll den mächtigen Kopf und legte ihm dann das Rettungsgeschirr um.

»Seil«, rief er nach oben.

»Obacht, Seil kommt!«

Voss fing es geschickt auf und befestigte es mit dem Karabinerhaken am Geschirr.

»Fertig!«, rief er und beobachtete, wie Nero langsam nach oben entschwand. Als er ihn nicht mehr sehen konnte, stieg er selbst nach oben. Hier berichtete er dem Oberwachtmeister, was Nero unten getrieben hatte. Dann zeigte er ihm seinen Ausweis und übergab seine Geschäftskarte.

»Ich wohne im Schloss. Ich denke, die Kripo wird mich als Zeugen vernehmen wollen. Sie kann mich jederzeit dort erreichen.«

»In Ordnung«, erwiderte der Beamte.

Voss klopfte Nero auf die Schulter. »Für heute haben wir genug erlebt.«

Auf dem Rückweg zum Schloss kam ihnen die Gräfin entgegen, gar nicht hochherrschaftlich, sondern auf einem Fahrrad, das auf der glatten Straße gefährlich schlingerte. Als sie Voss erkannte, zog sie abrupt die Felgenbremsen an. Voss sprintete los. Er konnte sich denken, was gleich passieren würde, und er hatte recht. Das Hinterrad brach aus, das Vorderrad schlug um, und die Gräfin lag auf der Straße. Sie versuchte sich aufzurappeln, doch das Rad lag auf ihr.

»Liegen bleiben«, rief Voss, der sah, dass sich ein Zipfel der Winterjacke in den Speichen zu verheddern drohte. Erstaunlicherweise tat sie, was er sagte. Voss erlöste sie von dem Fahrrad und half ihr auf.

»Haben Sie sich verletzt?«

»Ich glaube nicht. War wohl dumm von mir, so scharf zu bremsen.«

»Stimmt. Bei der Glätte hätten Sie sowieso nicht mit dem Rad fahren sollen.«

»Sehr charmant sind Sie nicht.«

»Meine Mutter hat mir beigebracht, einer Dame nie zu widersprechen. Zeigen Sie mir bitte die Hand, mit der Sie sich abgestützt haben. Ihre Landung sah gar nicht gut aus.«

Die Gräfin reichte Voss ihre Rechte. Voss nahm sie in seine Hände und drückte sie leicht. Sofort schrie die Gräfin auf.

»Sie sollten zum Arzt gehen. Die Hand muss geröntgt werden. Vielleicht ist sie nur verstaucht. Sie könnte auch angebrochen sein. Richtig gebrochen glaube ich nicht.« Voss betrachtete sie genauer. »Geben Sie mir mal Ihr Halstuch.«

Ohne lange zu fackeln, wickelte er es ihr vom Hals, ging damit zum Straßenrand und füllte Schnee hinein. Er faltete es zusammen und ging zur Gräfin zurück.

»Geben Sie mir noch mal die Hand.«

Sie reichte sie ihm wortlos, sah ihn aber fragend an.

Voss wickelte das Tuch vorsichtig um das Handgelenk, damit es vom Schnee gekühlt wurde.

»Und jetzt, Gräfin, gehen wir zum Schloss zurück, und Sie lassen sich zum Arzt fahren.«

»Das geht auf keinen Fall. Ich muss mich heute Abend um die Jagdgesellschaft kümmern.«

»Das können Sie auch, wenn Sie vom Arzt zurück sind, oder wollen Sie heute Nacht vor Schmerzen nicht schlafen können und morgen ein angeschwollenes Handgelenk haben, das dicker ist als Ihr Oberarm?«

»Ich habe auch kein Auto hier und niemanden, der mich fahren könnte. Alle Wagen und das gesamte Personal sind noch im Einsatz.«

»Das dachte ich mir, deshalb fahre ich Sie. Und sagen Sie nicht, Sie hätten Angst, bei diesem Wetter mit mir zu fahren. Sie kennen doch die norddeutsche Weisheit: Wat mut, dat mut.«

Inzwischen waren sie beim Schloss angekommen. Vor dem Portal hatten sich einige Jäger versammelt, angelockt durch das Martinshorn.

Voss bat die Gräfin, am Fuß der Feuertreppe zu warten, da er Nero nach oben bringen wollte. Diesmal gab sie keine Widerworte. Sie schien froh zu sein, nicht mit den Gästen sprechen zu müssen.

Voss lehnte das Fahrrad an die Wand, brachte Nero ins Zimmer, holte den Schinkenknochen von der Feuertreppe und verließ einen selig kauenden Hund. Wieder unten, geleitete er die Gräfin zu seinem SUV. Als sie losfuhren, sah er auf die Uhr am Armaturenbrett. Es war 18 Uhr 32.

»Ich glaube, es hat wenig Sinn, Ihren Hausarzt aufzusuchen. Bevor wir da sind, ist die Praxis geschlossen. Außerdem dürfte er kein Röntgengerät haben. Ich werde Sie besser ins nächste Krankenhaus bringen. Sie müssen mir nur sagen, wie ich fahren muss.«

»Das werden wir nicht«, sagte die Gräfin resolut.

»Was ist denn nun schon wieder?« Voss benutzte bewusst einen burschikosen Ton, um sie davon abzuhalten, wieder in ihre hochherrschaftliche Rolle zu verfallen.

»Ich kann Ihnen die Fahrt in die Kreisstadt nicht zumuten.«

»Unsinn! Ich dachte, dieses Thema hätten wir bereits hinter uns. Also, wie muss ich fahren?«

»Sind Sie immer so direkt?«

»Nur wenn mein Gesprächspartner sich störrisch verhält.« Diesmal entschärfte sein Tonfall die Worte.

Statt einer bissigen Antwort erklärte sie ihm den Weg.

Im Krankenhaus mussten sie zweieinhalb Stunden in der Notaufnahme warten, bevor die Gräfin zur Behandlung aufgerufen wurde.

»Halten Sie die Ohren steif«, rief Voss ihr zu und lächelte sie an. Sie nickte und lächelte zurück. Ihr Gesicht bekam dadurch ein ganz anderes Aussehen. Ohne die verkniffenen Lippen und die stechend blickenden Augen wirkten ihre Gesichtszüge schön. Von Arroganz war keine Spur mehr zu entdecken.

Voss musste eine Dreiviertelstunde warten, bevor sie wieder aus dem Behandlungsraum kam. Ihr Handgelenk war bandagiert und auf eine Schiene gebettet. Um ihren Hals war ein Dreieckstuch gebunden, in dem der rechte Arm ruhte. Voss musterte sie. Ihre Augen wirkten müde. Er ging sofort auf sie zu, nahm sie am Arm und führte sie zu seinem Auto.

Es hatte wieder angefangen zu schneien, und es blies ein frischer Wind aus Ost. Er war froh, dass er einen Four-Wheel-Drive hatte. Damit sollte er durch alle Schneewehen kommen, sofern sie nicht zu hoch waren. Hier im Norden war nicht der Schneefall das Problem, sondern der Wind, der ihn in kürzester Zeit an wenig geschützten Stellen auftürmen konnte. Schon bei einer Höhe von 50 Zentimetern würde ein normaler PKW stecken bleiben.

Sobald Voss die Kreisstadt verlassen hatte und die Straßenlaternen die Fahrbahn nicht mehr ausleuchteten, nahm er den Fuß vom Gaspedal und fuhr mit nur wenig mehr als Schrittgeschwindigkeit die Landstraße entlang. Vom Asphalt war nichts zu sehen, nur die Chausseebäume wiesen ihm den Weg. Der Schneefall wurde heftiger, der Wind jagte ihn waagerecht über das Land. Voss konnte buchstäblich sehen, wie er sich dort, wo der Acker etwas höher als die Straße lag, anhäufte. Noch zog der SUV von vier Rädern angetrieben durch die Schneewehen. Die Gräfin sah voller Sorge durch die Windschutzscheibe.

»Ich glaube nicht, dass wir es bis zum Schloss schaffen.«

»Ich denke doch. Das gute Stück hat sich bis jetzt durch jede Schneewehe gekämpft, wie Sie ja gemerkt haben.«

»Noch, aber in etwa zwei Kilometern kommt ein Straßenabschnitt, auf dem sich jeden Winter bei Schneefall eine Schneewehe von gut 300 Metern Länge bildet. Bei einem Wetter wie heute Abend kommen selbst unsere schweren Traktoren da nicht mehr durch. Die Straße ist erst wieder passierbar, wenn der Schneepflug sie geräumt hat.«

Voss erkannte die Gefahr. Wenn der SUV mit dem Boden auf dem Schnee aufsaß und die Räder die Haftung verloren, dann saßen sie fest.

»Gibt es hier Straßengräben?«

»Ja, nur bei den Einfahrten zu den Feldern nicht.«

»Wie lange hat es gefroren?«

»Ich glaube, es fing zwei Tage vor Weihnachten an. Warum?«

»Ich überlege, wie tief der Boden gefroren sein mag.«

»Was haben Sie vor?« Die Gräfin sah ihn besorgt an.

»Weiß ich noch nicht. Mal sehen.«

Voss nutzte jede Gelegenheit, bei der er die Fahrbahn sehen konnte, um Gas zu geben.

»Seien Sie vorsichtig. Wir sind gleich an dem Abschnitt mit der Schneewehe«, warnte die Gräfin.

Sie hatte es kaum ausgesprochen, als Voss im Scheinwerferlicht die Bescherung sah. Er hielt an, stieg aus und ging in die Schneebarriere hinein. Der Schnee reichte ihm bis zur Mitte der Wade. Als sich die Höhe nach zehn Metern nicht geändert hatte, ging er zurück und stieg wieder ein.

»Ich glaube, wir sollten es versuchen.«

»Meinen Sie das im Ernst? Die Schneehöhe kann sich schon nach wenigen Metern ändern.«

Die Gräfin behielt recht. Nach vielleicht 80 Metern saßen sie fest, die Räder drehten durch. Der SUV schlitterte zur Seite, bis der zusammengedrückte Schnee die Bewegung stoppte.

»Und jetzt?«, fragte die Gräfin. »Ich habe es Ihnen doch gesagt. Die Schneehöhe ist auf dieser Strecke sehr unterschiedlich.«

»Nun werde ich mir unsere Lage zunächst einmal ansehen und erst danach in Panik geraten. Während ich mich draußen umsehe, könnten Sie im Schloss anrufen. Vielleicht kommt jemand von der anderen Seite mit einem Traktor durch.«

»Mache ich, Sie müssten mir nur Ihr Handy geben. Meins liegt zu Hause.«

Voss grinste. »Super. Wie sich die Schicksale doch ähneln. Meins liegt auch im Schloss – auf meinem Zimmer.«

Die Gräfin sah ihn erschrocken an. »Das hat uns gerade noch gefehlt. Und nun – was machen wir jetzt?«

»Sie machen nichts, außer im Auto zu bleiben, und ich lasse mir etwas einfallen.«

Er warf einen Blick auf die Tankanzeige. Sie stand fast auf voll. Ein Glück, dass er auf der Hinfahrt getankt hatte. Somit mussten sie die nächsten Stunden wenigstens nicht frieren. »Ich lasse den Motor laufen, damit die Heizung funktioniert.«

Während er sprach, hatte er bereits die Tür geöffnet. Er stieg aus und schloss sie schnell hinter sich, um jeden Verlust an Wärme zu vermeiden.

Schnee fegte ihm waagerecht ins Gesicht. Er ging zum Kofferraum, stellte sich mit dem Rücken zum Wind und öffnete ihn. Aus der Netztasche an der rechten Seite nahm er ein paar dicke Arbeitshandschuhe und eine Stablampe. Er zog die eiskalten Handschuhe an, dann ließ er sich im Windschatten des Wagens auf die Knie nieder, räumte den Schnee, der den SUV zum Stehen gebracht hatte, zur Seite und leuchtete unter den Wagen. Das Chassis lag auf zusammengepresstem Schnee. Um das Auto wieder flottzukriegen, musste er den Schnee unter dem Fahrzeug so weit wegräumen, dass der Boden freikam. Für solche Notfälle hatte er immer einen Klappspaten im Auto. Er holte ihn aus dem Kofferraum und nahm eine Arbeitsplane mit. Diese breitete er auf dem Boden aus, legte sich darauf und begann den Schnee unter dem Wagen herauszuschaufeln. Eine mühselige Arbeit, die ihn trotz der Bodenkälte zum Schwitzen brachte. Eine halbe Stunde benötigte er, bevor das Chassis wieder frei lag. Als Nächstes kratzte er die Reifen frei. Als er damit fertig war, stieß er mit der Schneide des Spatens ein Loch in die Mitte der Plane und stülpte sie sich über, den Kopf steckte er durch das Loch. Aus dem SUV holte er das Abschleppseil und band es sich um die Hüfte seines Behelfsponchos. Nun war er gegen Schnee und Sturm weitgehend geschützt, was wichtig war, da seine Unterwäsche nass war vom Schweiß. Er ging zur Beifahrerseite und gab der Gräfin ein Zeichen, dass sie die Scheibe herunterdrehen sollte.

»Wie lang, denken Sie, ist die Schneewehe?«

»Keine Ahnung. Hängt jeweils von der Windstärke, der Windrichtung und der Dichte des Schneefalls ab.«

»Ich will hier keinen Unterricht in Meteorologie«, sagte Voss unwillig. »Schätzen Sie. Sie leben hier, nicht ich.«

»400 Meter mindestens.«

»Und wie weit sind wir vom Schloss entfernt?«

»Sechs Kilometer.«

»Was ist auf dem Acker angebaut, oder wurde er nur umgepflügt?« Voss zeigte auf das Feld hinter sich.

»Da wurde Raps ausgesät.«

»Wenigstens etwas Positives. Ich werde jetzt auf dem Acker bis zum Ende der Schneewehe gehen und nachschauen, wie es aussieht. Bin gleich wieder zurück.«

»Warten Sie, ich komme mit.« Die Gräfin zog ihre Winterjacke vom Rücksitz nach vorne, öffnete die Beifahrertür und wollte aussteigen.

»Unsinn!«, rief Voss. »Bleiben Sie im Auto und in der Wärme. Es ist sinnlos, dass wir beide kalte Füße bekommen. Außerdem ist es mit Ihrer angebrochenen Hand viel zu gefährlich hier draußen.«

Die Gräfin kümmerte sich nicht um seine Worte, sondern stieg ganz aus. Sie hielt ihm ihre Winterjacke hin.

»Sie glauben doch nicht, dass ich mir von Ihnen sagen lasse, was ich tun oder lassen soll. Stehen Sie nicht so rum, helfen Sie mir lieber in die Jacke. Sie sehen doch, dass es mit einer Hand schwer geht.«

Voss nahm die Jacke und half ihr hinein. Nachdem er ihren Arm wieder in das Dreieckstuch gelegt hatte, ging er zum SUV und schaltete den Motor aus. Er nahm Neros Leine vom Rücksitz, ging zur Gräfin zurück und band mit der Hundeleine den Arm mit der angebrochenen Hand fest an den Körper.

»Was hat das zu bedeuten?«, fragte sie unwillig.

»Das, verehrte Gräfin, verhindert, dass sich Ihr Arm bewegt, wenn Sie auf dem unebenen Boden ins Rutschen kommen oder hinfallen. Außerdem verhindert die Bandage, dass Sie die verletzte Hand aus Versehen zum Abstützen nehmen. Wenn Sie schon so unvernünftig sind mitzukommen, dann will ich so wenig Last mit Ihnen haben wie möglich. Haben Frau Gräfin sonst noch eine Frage? Ansonsten sollten wir sehen, dass wir loskommen, bevor wir hier einschneien.«

»Sind Sie immer so grob?«

»Nur wenn ich es mit uneinsichtigen Frauen zu tun habe.«

»Ich glaube, Sie vergessen, wer ich bin.«

»Wie sollte ich? Sie sind ein weibliches Wesen, das wider besseres Wissen seinen Kopf durchsetzen will. Und jetzt genug geschwatzt. Wir haben Wichtigeres zu tun, als uns zu streiten. Schließlich will ich hier nicht erfrieren.«

Voss ging zum Graben und stelle sich breitbeinig hin. So konnte er der Gräfin am besten darüberhelfen. Auf der anderen Seite griff er nach ihrem unverletzten Arm und führte sie über den gefrorenen Boden. Sie ließ es willig geschehen.

Zu Voss’ Freude war der Boden steinhart gefroren. Auch wenn er fest aufstampfte, gab er nicht nach.

Sie marschierten nicht bis zum Ende der Schneewehe. Er sah sich gründlich nach allen Seiten um und entschied dann, wie er vorgehen wollte. Er führte die Gräfin zurück, half ihr erneut über den Graben, wobei sie gestürzt wäre, wenn er sie nicht fest an sich gezogen hätte.

Beim SUV bat er sie mit einem gewinnenden Lächeln, im Auto Platz zu nehmen. Er selbst ging auf die Fahrerseite und startete den Motor. Es würde nur wenige Minuten dauern, bis die Heizung das Innere erwärmte. Dann streifte er sich den Poncho vom Leib und begann, ihn mit Schnee zu beladen. Den beladenen Poncho zog er zum Graben und kippte den Schnee hinein, um ihn anschließend festzutrampeln. 20 solcher Fuhren benötigte er, bevor er mit seinem Werk zufrieden war. Als Letztes breitete er den Poncho über dem festgestampften Schnee aus.

Am ganzen Körper schwitzend und trotzdem frierend, stieg er ins Auto und hielt seine klammen Finger vor die Heizungsdüsen, um die Blutzirkulation wieder in Gang zu bringen. Es schmerzte, als das Blut in die Finger schoss. Er verzog keine Miene, um vor der Gräfin keine Schwäche zu zeigen.

»Schnallen Sie sich fest an, und halten Sie sich mit der gesunden Hand am Handgriff seitlich über Ihnen fest. Gleich kann es ungemütlich werden. Falls Sie ein passendes Gebet kennen, wäre es gut, wenn Sie es sprechen würden. Wir können jede Hilfe gebrauchen.«