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Marcus Steinweg

Inkonsistenzen

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»Le plus beau serait de penser dans
une forme qu’on aurait inventée.«

Paul Valéry

INHALT

1. Akrobatik

2. Spiel

3. Arché

4. Selbstüberschreitung

5. Sexualität

6. Samurai

7. Gewalt

8. Realität

9. Tiger

10. Abstand

11. Bühne

12. Vektor

13. Integrität

14. Hegel

15. Philosophie

16. Gegenwartskunst

17. Sensibilität

18. Kraft

19. Riss in der Immanenz

20. Hand

21. Welt

22. Selbstobjektivierung

23. Drift

24. Duras

25. Exzess

26. Element

27. Schwebende Architektur

28. Irren mit Foucault

29. Toxische Begriffe

30. Verrückt?

31. Sprung

32. Kritisch?

33. Derrida mit Debord

34. Dummheit

35. Selbstimplikation

36. Brüchigkeit

37. Papagei

38. Konsistenzphantasma

39. Subjekt

40. Körperintelligenz

41. Für statt Gegen

42. Blick

43. Liebe

44. Extrem

45. Inkommensurabilität

46. Behauptung

47. Harmlosigkeit

48. Tatsachentextur

49. Kultur

50. Katze

51. Schönheit

52. Klischee

53. Finanzromantik

54. Traum

55. Blick aus dem Weltraum

56. Evidenz

57. Taumel

58. Bedeutung

59. Wahrheit

60. Virginitätsphantasma

61. Bruch

62. Kontingenz

63. Tatsachenesoterik

64. Anfang

65. Politik

66. Sex

67. Exil

68. Hiatus

69. Ansichtssache?

70. Sub-Objekt

71. Pfeil

72. Kunstwerk

73. Reise

74. Suspension

75. Dekonzentration

76. Badiou mit Derrida

77. Entsubjektivierung

78. Entscheidung

79. Eros

80. Hurra-Negativismus

81. Transgression

82. Antigone

83. Evidenzverdunkelung

84. Selbstmord

85. Infinitesimal

86. Ontologische Armut

87. Gleichheit

88. Sonne

89. Spalt

90. Definition

91. Es gibt kein rechtes Denken

92. Celan

93. Außen

94. Konsens

95. Hyperbolismus

96. Wirklichkeit

97. Diaphora

98. Aktives Nicht-Denken

99. Blindheit

100. Warum?

101. Moral

102. Ethik

103. Vanitas

104. Definition der Kunst

105. Naives Denken?

106. Sex mit Hegel

107. Freiraum

108. Spinoza

109. Gespenst

110. Schreiben

111. Sanft

112. Panther

113. Hintergrund

114. Vernunft

115. Nihilismus

116. Emotion

117. Kritisch

118. Selbstverlust

119. Hegel mit Kierkegaard

120. Klebstoff

121. Creatio ex nihilo

122. Natürlich?

123. Konsistenz

124. Ideologie

125. Immanenzidioten

126. Lust

127. Zeitgenossenschaft

128. Boden

129. Nichts

130. Definition der Kunst

131. Abstraktion

132. Heterologie

133. Gadamer und Derrida mit Hegel

134. Weiterdenken

135. Wüste

136. Nichtstun

Anmerkungen

AKROBATIK

Es gibt eine Akrobatik des Denkens, die Sprünge und Salti einschließt. Man könnte meinen, mit ihr verlasse das Subjekt den Boden der Reflexion. Doch impliziert nicht gerade dieser Begriff eine Biegung, die die Vernunft hinter sich zurückreißt, sodass sie zu zerreißen droht? Reflexion hat nichts mit sicherer Schrittfolge auf stabilem Grund zu tun. Reflexion heißt, auf Bedingungen rekurrieren, die die Garantielosigkeit des Denkens garantieren. Das ist die einzige Garantie, die dem Subjekt bleibt: Dass es an einen Abgrund grenzt, den es nicht überbrücken kann. Und dennoch ist es eine Art von Brücke. Aber eine Brücke, die ins Unbestimmte reicht.

SPIEL

Wenn zutrifft, was Georges Bataille behauptet, dass für Nietzsche »das Leben im Wesentlichen ein Spiel« ist, um welche Art von Spiel handelt es sich dann? Bataille hat Recht, es mit dem Krieg zu konnotieren, solange der Krieg selbst ein Spiel ist oder eine »Übung«, bevor er »brutale, gewalttätige Politik« wird.1 Deleuze würde sagen, dass Nietzsche eine Kriegsmaschine besteigt, deren Aktivität die etablierten Werte und Gewissheiten kollabieren lässt, um das Subjekt in einen Konflikt mit seiner Zeit treten zu lassen. Kriegerisch ist das Subjekt qua Subjekt, da es einen Widerstand gegen die Appelle und Diktate des Zeitgeists aufbaut, um sich einer kontingenten Zukunft anzuvertrauen. Öffnung auf Kontingenz kann nur spielerisch geschehen, denn sie ist Öffnung auf ein Weltspiel, das letzter Determination entbehrt. Über Heraklit, Nietzsche, Heidegger, Eugen Fink, Kostas Axelos bis hin zu Deleuze hat sich die Kategorie des Weltspiels zu einem Modell entwickelt, das den Kosmos als ein Spiel begreift, dessen Regeln inkonsistent sind. Denken heißt spielen, weil es kein Denken gibt, das auf seinen Grund denken kann.2 Die Abgründigkeit des Denkens perforiert das Subjekt, indem es ihm irreduzible Kontingenz einträgt. Es setzt es auf die Spur eines Zufalls, dem es mit provisorischen Konsistenzen zu antworten versucht. Jede dieser Konsistenzen verdankt sich der Auseinandersetzung mit ontologisch-mathematischen Inkonsistenzen, die, wie Heller-Roazen schreibt, die Pythagoreer als Unentscheidbarkeiten (arrhetoi), Irrationalitäten (alogoi) oder Inkommensurabilitäten (asummetroi) definieren.3 Angesichts seiner Abgründigkeit wird der Logos spielerisch. Man könnte sagen, dass er sich vom Mythos emanzipiert, indem er dessen luditive Anteile in sich integriert. Die Logifizierung des Mythos kann nicht logifiziert werden. Sie verdankt sich einem Spiel, gegen das es sich zugleich stellt. Nietzsche ist nur ein Beispiel dieses Konflikts. Er steht am Anfang des unmöglichen Endes der Logos-Metaphysik. Sein Unternehmen besteht darin, der Metaphysik ihre Inkonsistenz vorzuführen, indem er mit ihr zu spielen beginnt. Er hat, sagt Bataille, »vielleicht nicht vollständig auf die Philosophie verzichtet, aber er hat mit Sicherheit der Möglichkeit, ein Philosoph zu werden, die Hingabe an eine Schreibweise vorgezogen, die ihm ständig erlaubte, mit dem, was er schrieb, zu spielen.«4 Doch handelt es sich um ein Spiel, das vom Spieler äußerste Konzentration verlangt: »Das Spiel des Denkens verlangt eine solche Kraft, eine solche Strenge, dass neben dieser die Kraft und die Strenge, die die Konstruktion verlangt, den Eindruck einer Erschlaffung vermitteln. Der freischwebende Akrobat ist strengeren Regeln unterworfen als der fest auf dem Boden stehende Maurer. Der Maurer produziert, aber nur bis zum Grenzwert des Unmöglichen: der Akrobat lässt sofort los, was er ergriffen hat.«5 Nietzsches Spiel mit dem Logos, der Metaphysik und ihrer Begriffskultur reflektiert das Spiel einer Welt ohne finale Bedeutung: »Er protestiert dagegen, dass man den Dingen und der Welt einen Zweck zuweist. Für ihn hat die Welt keinen Zweck, und was bleibt uns da anderes übrig als über das, was ist, zu lachen.«6 Angesichts eines Weltspiels zu lachen, das dem Subjekt den Boden entzieht, um es über dem Abgrund ontologischer Inkonsistenz schweben zu lassen, bedeutet ein Spiel zu spielen, dessen Sinn suspendiert bleibt: »Ein Mensch, der spielt, findet im Spiel immer auch die Kraft, das zu überwinden, was das Spiel an Schrecken mit sich bringt.«7 Das also ist es, was Nietzsche Leben nennt: Das aktive Mitspielen an einem Spiel, dessen Sinn sich als Unmöglichkeit von Sinn erweist.

ARCHÉ

Indem er das altgriechische Wort αρχή mit den Wörtern Ursprung und Befehl übersetzt, behauptet Giorgio Agamben, dass es »für den Befehl – d. h. den logos ex nihilo – keine αρχή gibt, weil der Befehl selbst αρχή ist – oder weil er zumindest an der Stelle des Ursprungs ist.«8 Agamben nähert sich hier der ontologischen Axiomatik zweier Philosophen, deren Denken in der Zurückweisung eines positiv gegebenen Ursprungs (αρχή) kulminiert: Wittgenstein und Derrida. In seinen Aufzeichnungen Über Gewissheit konstatiert Wittgenstein: »Es ist so schwer, den Anfang zu finden. Oder besser: Es ist schwer, am Anfang anzufangen. Und nicht zu versuchen, weiter zurückzugehen.«9 Was Wittgenstein Anfang nennt, ist der Logos (die Rede oder der Sinn), der an die Stelle des Ursprungs rückt. Mit dem Anfang anzufangen, heißt nicht, auf einen absoluten Ursprung zurückzugehen. Das Spätdenken Wittgensteins kreist um den absenten Ursprung – die abwesende αρχή –, an dessen Stelle eine Art Behauptung tritt, die die Logosarchitektur ist, das also, was Wittgenstein ein Sprachspiel oder eine Lebensform nennt.10 Es handelt sich auch hier um eine über den Ungrund ontologischer Inkonsistenz gespannte Konstruktion. Sie generiert das Konsistenzmilieu, das wir Wirklichkeit nennen. Das aber heißt: Wirklichkeit ist ein abgründiger Grund, eine selbst nicht gegründete Entität. Der Grund selbst – die Logosebene, das Ordnungs- und Bezugssystem, das wir Realität nennen – bleibt unbegründet. Der »Ursprung« ist ohne Ursprung. Deshalb hat Derrida von einer »Ursprungsprothese« (prothèse d’origine) gesprochen und von dem, »was man auf jeden Fall glauben muss, ob es nun glaubhaft ist oder nicht.«11 Er nähert sich hier dem Motto des späten Wittgenstein: »Was ich weiß, das glaube ich.«12 Ein weiterer Satz Wittgensteins lautet: »Die Schwierigkeit ist, die Grundlosigkeit unseres Glaubens einzusehen.«13 Lässt sich sagen, dass Wittgensteins, Derridas und Agambens Denken durch eine Strukturhomologie verbunden sind, in der der Ursprung, die αρχή, als nicht logifizierbares Element des Denkens erscheint?

Das aber hieße, dass zum Denken eine gewisse Schwebe und Leichtigkeit gehören. Sie indizierten einen präzise taumelnden Logos. Wäre das der Logos der Kunst wie der Philosophie?

SELBSTÜBERSCHREITUNG

Zur Philosophie gehört die Öffnung auf die Dimension des Außen, die Lacan als das Reale bezeichnet. Man kann auch – mit Nietzsche und Deleuze & Guattari – vom Chaos sprechen. Jedenfalls handelt es sich um die Erfahrung eines nicht zu verinnerlichenden Widerstands, der das Denken an seine Grenzen führt.14 Die Erfahrung der Grenze impliziert das Wagnis der Selbstüberschreitung des denkenden Subjekts. Wenn es ein Subjekt gibt, dann handelt es sich um ein Subjekt originärer Selbsttranszendenz, das sich von Kräften affiziert weiß, die seine Wissensbestände durchqueren und kodifizieren. Das Subjekt identifiziert sich im Akt des Denkens als Subjekt des Außen im Sinne des doppelten Genitivs, der es sich souverän dem Außen zukehren lässt, indem er es als vom Außen kontaminiert markiert. Das Außen kann der Name des Inkommensurablen sein, der ontologischen Inkonsistenz seiner Welt, der Kontingenz und Indifferenz des Realen, das jede Sinnbehauptung unterminiert. Vielleicht ließe sich von einer Philosophie der Blindheit sprechen. Blindheit und Einsicht (Blindness and Insight) – um einen Buchtitel von Paul de Man zu zitieren – kooperieren in der Dynamik jedes Denkens, das sich weigert, sich den etablierten Dispositiven zu beugen, indem es über das Bekannte und Anerkannte hinausgeht, um die Erfahrung der Brüchigkeit seiner Realitäten zu dokumentieren.

SEXUALITÄT

Eine lange Geschichte – man kann sie die des Essentialismus nennen – will, dass das Mensch genannte Subjekt sich seiner Natur entsprechend verhalte. Werde, der du bist, sagt Nietzsche, bevor Foucault vom Anderswerden oder ein Anderer werden spricht! Das ist die Forderung des Humanismus: Der Mensch soll menschlich sein. Ist er es nicht, fällt er aus seinem Begriff. Doch weiß jedes Kind, dass Unmenschlichkeit zu menschlichem Verhalten und damit zu seiner (faktisch inexistenten) »Natur« (natura = essentia) gehört.15 Die Berufung auf die Natur ist das ideologische Stereotyp par excellence. Es gibt keinen Faschismus, der kein Naturalismus wäre (so wie es keinen Rassismus gibt, der nicht sexistisch ist!). Vielleicht ist die menschliche Sexualität von der animalischen durch ihren Anti-Essentialismus unterschieden. Bestimmte Weisen, »sich in den sexuellen Beziehungen außerhalb der Natur zu bewegen«16, könnten Indizien eines nicht-humanistischen Humanismus sein. Im Sex überschreitet das Subjekt seine natürliche Disposition. Es erfindet Varianten der Nutzlosigkeit. Zweifellos sind sie es, die seine faszinierende Widernatürlichkeit konstituieren: Der Gebrauch des Körpers gegen sich selbst, die Erfindung erotischer Praktiken jenseits der Mechanik von Zeugung und Fortpflanzung, die Konstruktion einer metaphysischen Körperlichkeit, die die Fantasie, den Geist und sämtliche Sinne an der Grenze des Sinns (oder des Kantischen Reichs der Zwecke) und sogar der Lust kooperieren lässt. Die Kreativität menschlicher Sexualität überschreitet mühelos die Grenzen ihrer eigenen Ökonomie.17 Sie ist verschwenderisch, kontradiktorisch und kontingent. So bezeugt sie ihren Austritt aus der Logik des Sinns und der Zwecke. Man kann sie spielerisch nennen und streng. Jedenfalls kommt in ihr zum Ausdruck, was kein anderes Tier als der Mensch vermag: Das Genießen seiner selbst und des anderen in der Erfahrung der Sinnlosigkeit und des Selbstverlusts.

SAMURAI

Deleuze sagt über Foucault, dass er »durch seine bloße Existenz die Unverschämtheit der Dummköpfe«18 verhinderte. Beide verbindet der Glaube an die Kraft der Intelligenz. Faschismus, Rassismus, Sexismus und Unterdrückung im Allgemeinen sind Produkte universaler Dummheit. Man wird sie nicht auf der Meinungsebene schlagen. Auf dem Plateau der Meinungen setzt sich Ideologie ins Unendliche fort, weil hier alles Denken, insofern es die Unterbrechung der Doxa fordert, ausgeschlossen bleibt. Man müsste zu zeigen versuchen, dass Faschismus, Rassismus und Sexismus das Resultat aktiven Nicht-Denkens sind – und nicht Ausdruck persönlicher oder kollektiver Ansichten. Es sind Denkfehler von Leuten, die nicht denken, während sie ihr Nicht-Denken in den Dienst einer Dummheit stellen, die in der Intelligenz ihren größten Feind erblickt.19 Foucault hat – wie Deleuze, wie Derrida – aus seiner Intelligenz, die sich durch Infragestellung aller Dispositive und Register, Begriffe und Ideologeme etc. auszeichnet, eine tödliche Waffe gemacht. Deshalb hat Paul Veyne in ihm einen Samurai erkannt. Seine Bücher seien nicht geschrieben, »um Leser jedweder Couleur wie um einen warmen Ofen zu scharen. Sie sind nicht kommunikativ und nicht geeignet, die Lebensgeister ihrer Leser zu beflügeln. Sie sind mit dem Schwert geschrieben, mit dem Säbel eines Samurai, eines durch und durch nüchternen und grenzenlos kaltblütigen und reservierten Mannes.«20 Der Strukturalist, der kein Strukturalist sein wollte, als Samurai! Die Intelligenz, die sich der Dummheit widersetzt, muss gegen sich selbst gewendete Intelligenz sein. Unaufhörlich prüft sie ihre Instrumente und Mittel. Sie hört nicht auf, sich selbst zu misstrauen. Statt sich am warmen Ofen niederzulassen, entfernt sie sich von ihm. Das ist der Hyperboreismus des Denkens, von dem Deleuze mit Nietzsche spricht. Er impliziert das kalte Fieber kriegerischer Intelligenz. »Foucault«, sagt Deleuze, »erfüllte die von Nietzsche definierte Funktion der Philosophie: ›der Dummheit Schaden tun‹.«21 An anderer Stelle sagt er von ihm: »Er bebte vor Gewalt […].«22

GEWALT

Die Gewalt der Idealismen liegt in ihrer Bestreitung faktischer Gewalt. Es gibt kein Jenseits der Gewalt – dies zu leugnen, könnte eine Definition des Idealismus sein. Es gibt – um Derrida zu paraphrasieren – nur Ökonomien der Gewalt. Dekonstruktion ist Freilegung dieser Ökonomien, Insistenz auf einem Moment irreduzibler Gewalt.23 In der Grammatologie heißt die arché-trace auch arché-violence. Das ist die différance als Gewalt der Unterbrechung. Sie markiert die Unmöglichkeit reiner Selbstaffektion oder Selbstpräsenz oder Selbstidentität als Selbstaffektion, Selbstpräsenz und Selbstidentität.24 Eine Art strukturaler Gewalt oder Differenz arbeitet in sämtlichen Selbstsystemen. Sie verhindert ihre narzisstische Schließung, weshalb sie die Merkmale einer Öffnung annimmt, die ins Verschlossene (in Heideggers Entzug/Verbergung oder λήθη) reicht. Gewalt ist Öffnung auf Verschließung. In der Erfahrung der Gewalt rührt das Subjekt an eine fundamentale Aporie. Bevor wir beginnen, Gewalt zu verurteilen, wofür es oft gute Gründe gibt, müssen wir sie strukturontologisch denken, auch dann, wenn wir mit Heidegger und Derrida an die Grenze der Ontologie rühren.25 Diese Grenze wird durch die Unentscheidbarkeit von Präsenz und Absenz bestimmt. Dem Absenzcharakter der Präsenz entspricht der Differenzcharakter der Identität oder der strukturalen Gewalt im Herzen aller Irenismen. Progressiv (oder links im starken Wortsinn) ist eine Theorie erst in der Konfrontation mit der dem Denken und seinen Realitäten immanenten Gewalt, statt in ihrer idealistischen Ausklammerung. Luhmann sagt einmal, dass eine gewisse »moralische Unterkühlung«26 ausreiche, um Habermas zu provozieren. Muss man dies nicht verallgemeinern? Verlangt nicht Ontologie – und ich schließe hier die ontologiekritischen Ontologien Derridas und Adornos ein – immer auch ein Minimum an moralischer Abkühlung, um klarer zu sehen, als der Moralismus es sich erlaubt? Ein wenig thermodynamische Disziplin scheint die Voraussetzung jedes Denkens zu sein, das einen kalten Blick auf die inkonsistenten Realitätsanteile riskiert. Mit der arché-violence hat Derrida gezeigt, dass die die Konfrontation mit Differenz oder Gewalt scheuenden Idealismen die eigentlichen Gewaltquellen darstellen. Konkrete Gewalt zu bekämpfen, verlangt, strukturale Gewalt zu denken.27 Das geht nur, indem man die Position der schönen Seele verlässt.

REALITÄT

Als vielschichtig kodifiziertes Konsistenzmilieu ist Realität überdeterminiert und überkomplex. In der Sphäre dieser Überdeterminierung und Überkomplexität bewegt sich das Subjekt entlang von Strukturen, die sein Denken und Handeln orientieren. Und doch gibt es Momente kritischer Orientierungslosigkeit. Das Subjekt erfährt in ihnen die Inkonsistenz des kontingenten Konsistenzgewebes, das seine Wirklichkeit ist. Es gibt Philosophie nur als Erfahrung der Löchrigkeit des Tatsachensystems. Deshalb kann es für sie keine Allianz mit den Tatsachen geben, was nicht heißt, dass sie ihre Macht bestreitet oder verkennt. Nur erschöpft sich Philosophie nicht in der Demonstration dieser Nichtverkennung, in der analytischen Kraft, die ihr auch angehört. Solange Philosophie nicht ihr Wissen überschreitet, ist sie keine Philosophie.

TIGER

Dass der Mensch »nicht mehr Signifikat des Sinns« (wie es der »Mensch des Humanismus« wäre) ist, »sondern sein Signifikant«28