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Marcus Steinweg

Splitter

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»Rücksichtnahme schmerzt mich
mehr als Wahrheit.«
Franz Kafka

INHALT

1. Blick

2. Eis

3. Chaos

4. Stigma

5. Dürrenmatt

6. Form

7. Trotz

8. Notiz zu Hegel

9. Messer

10. Arschloch

11. Schaf

12. Idiotenberuhigung

13. Korrektur

14. Notiz aus New York

15. Müller mit Lacan

16. Wüste

17. Erfolg

18. Bloch

19. Frankenstein

20. Narkotika

21. Politische Kunst

22. Kein Widerspruch

23. Canetti

24. Regression

25. Mögliche Unmöglichkeit

26. Lider

27. Noch einmal für Deleuze

28. Resistenz

29. Vor dem Gesetz

30. Notiz zu Benjamin

31. Grund

32. Schwäche

33. Amor fati

34. Lupenrein

35. Verzicht

36. Kultur

37. Antwort

38. Wertlos?

39. Abgeklärt

40. Atempause

41. Haut

42. Routine

43. Mutter

44. Glück

45. Symbiose

46. Nuanciertes Leben

47. Bitterer Kaffee

48. Zauberei

49. Notiz zu Adorno

50. Glamour

51. Gefällig

52. Trauriges Denken

53. Links

54. Aporetischer Narzissmus

55. Flüstern

56. Kunst

57. Eine mächtige Mythologie

58. Erlösung

59. Klarheit

60. Gegengewalt

61. Sexualität bei Kafka

62. Skalpell

63. Phantasma

64. Unruhepraxis

65. Notiz zu Luhmann

66. Houellebecq

67. Kompossibilität

68. Fundstück

69. Ontologie für Angsthasen

70. Solide

71. Notiz zur Philosophie

72. Unterschied

73. Fressen

74. Wunder

75. Gewissen

76. Sonne

77. Infantilismus

78. Welt

79. Unübersehbar

80. Narzissmus

81. L.W.

82. Tod

83. Analer Geiz

84. Schatten

85. Irritation

86. Notiz zu Barthes

87. Typisch Kafka

88. Spiegel

89. Zoo

90. Sturz

91. Exkreszenz

92. Zumutung

93. Sucht

94. Obskurantismus

95. Feststellung

96. Mondän

97. Müdigkeit

98. Aporie der Resistenz

99. Immanenzterror

100. Pirouette

101. Humor

102. S.W.

103. Abgrund

104. Malevolentis

105. Ohne Wahrheit

106. Kultur

107. Perfektion

108. Selbstkompromittierung

109. Aktuelle Doxa

110. Finesse

111. Derrida

112. Leid

113. Jasagen

114. Ruhestörung

115. Hegel

116. Realitätssampling

117. Begriff

118. Gleis

119. Doppelte Kränkung

120. Glück?

121. Weiterdenken

122. Haus

123. Medaille

124. Brief

125. Aposteriorische Liebe

126. Pech gehabt

127. Riss

128. Exzess

129. Hass

130. Traum

131. Wunden & Narben

132. Falsche Opposition

133. Fragwürdig

134. Skandal

135. Erholung

136. Jenseits

137. Kontingenz

138. Frage

139. Hysterie

140. Gift

141. Liebe

142. Träumen mit Benjamin

143. Meinung

144. Warhol

145. Ausweg

146. Intelligenz

147. Familie

148. Akademismus

149. Unisono

150. Kind-Werden

151. Linke Hand

152. Ereignis

153. Schneewanderung

154. Zeuge

155. Mager

156. Geometrien der Angst

157. Inkonsistenz

158. Verstrickung

159. Wie die Uhren von Dalì

160. Mut

161. Drehbuch

162. Sterbewesen

163. Theater

164. Löcher

165. Kitzel des Denkens

166. Konvention

167. Nicht-Denken

168. Ohrfeige

169. Salamander

170. Bett

171. Wahrheit

172. Bejahung

173. Schlechte Unendlichkeit

174. Kafkas Welt

175. Gefahr

176. Aufhebung

177. »Ich liebe Dich«

178. Linksnietzscheanismus

179. Verzweiflung

180. Blut

181. Einladung

182. Neutrum

183. Kritisch

184. Triftigkeit

185. Ohn/Macht

186. Notiz zu Fanon

187. Unfähig

188. Improvisation

189. Wittgenstein

190. Hermeneutik

191. Aktueller Herrensignifikant

192. Opportunismus

193. Zugrundegehen

194. Inexistenz

195. Kinder & Tiere

196. Dialog

197. Notiz zu Heidegger

198. Heiner Müller

199. Alltagspathologie

200. Nietzsche mit Hegel

201. Vernunftdialektik

202. Schreiben

203. Übertreibung

204. Nichts

205. Hegels Radiergummi

206. Ellipse

207. Wagner ohne Wagner

208. Wasser

209. Interferenz

210. Körpersprache

211. Crazy?

212. Überkomplexität

213. Notiz zu John Heartfield

214. Selbstverständlichkeit

215. Kraft

216. Kommentargesellschaft

217. Sprache der Liebe

218. Dekonstruktion light

219. Kafka an Felice

220. Zwei Modelle

221. Dialektik

222. Beleidigtheit

223. Tränen

224. Archäologie

225. Phrase

226. Nietzsche mal anders

227. Zweifel

228. Selbstentsicherung

229. Vulgarität

230. Melancholie

231. Nähe

232. Kränkung

233. Deklaration

234. Chinesisches Subjekt

235. Innocentia

236. Von Wolken und Brüsten

237. Romantische Tierliebe

238. Schlüssel

239. Schönheitsoperationen

240. Gähnen

241. Unschärferelation

242. Genealogie

243. Brutalität

244. Doppelte Unmöglichkeit

245. Kalligrafie

246. Illusionär?

247. Notiz aus Tel Aviv

248. Imagination

249. Nasser Hund

250. Gesetz

251. Noch einmal zu Wittgenstein

252. Subjekt

253. Linkssein

254. Suspension

255. Creatio ex nihilo

256. Ellipse 2

257. Abweisung

258. Notiz zu Foucault

259. Sex & Liebe

260. Was ist Gegenwart?

261. Kopf

262. Finanzmetaphysik

263. Zauber

264. Tod

265. Schreiben 2

266. Fatum

267. Liebeskultur

268. Noch einmal für Duras

269. Vom Fliegen und Lieben

270. Älterwerden

271. Adorno gegen Lukács

272. Begriffsartistik

273. Kafka mit Müller

274. Blick 2

275. Tür

276. Anthropomorphismus

277. Verletzt

278. Windelweich

279. Leben

280. Notiz zu Stifter

281. Truisms

282. Inkompatibilität

283. Diskretion

284. Schluckauf

285. Allianz

286. Notiz zu Lévinas

287. Traumkredite

288. Spinnt der?

289. Mimikry

290. Notiz zu Artaud

291. Enttäuschung

292. Selbstverrätselung

293. Grenze

294. Autodestruktion

295. Noch einmal zu Adorno

296. Gespenster

297. Infinitesimalkontakt

298. Sinnliches Denken

299. Problem

300. Immanente Transzendenz

301. Canetti mit Wittgenstein

302. Einzige Alternative zu Gott

Anmerkungen

BLICK

Man könnte meinen, der Blick, den Kafka aus dem Fenster hinaus auf die Landschaft wirft, hätte die Leere zum Gegenstand. Das stimmt nicht. Im leeren Blick zeigt sich die Überfülle der eingerichteten Welt. Was sich ihm erschließt, ist nicht der Mangel an Bedeutung, sondern ihr Übermaß. Ihm enthüllt sich die Inkonsistenz der Realität. Das Subjekt grenzt an ihre Heterogenität und Kontingenz. Der Blick ist voller Sinn und Bedeutung. Die Ernüchterung, die er provoziert, liegt darin, auf keinerlei Leere zu stoßen. Sollte sich mit ihm eine Hoffnung verbinden, wäre es die auf Bedeutungslosigkeit.

EIS

Das Subjekt gleitet über der Leere wie auf dünnem Eis.

CHAOS

Seit Dostojewski und Nietzsche – doch genau genommen: immer schon – findet sich das Subjekt in den Windzug des Chaos gestellt. An ihm zerrt die große Leere, die der Tod Gottes hinterlassen hat. Es erkennt sich in allem von ihr bestimmt und durchzogen. Chaos ist nur ein Name für die große Aushöhlung, die dem Subjekt mit der Indifferenz des Weltraums entgegengähnt, um es selbst auszuhöhlen und zu destabilisieren. In seinen Nietzsche-Vorlesungen der 30er Jahre hat Heidegger das χάος und χαίνω als das »Gähnen, Gähnende, Auseinanderklaffende« bestimmt, als fortwährendes »Werden« und »öffnenden Abgrund«, der dem Subjekt sein Subjektsein nimmt, indem er es als Subjektwerden erweist, als ebenso unbeständiges wie unbestimmtes Tier.1 Das Mensch genannte Tier umgibt die gähnende Leere, die der akosmische Kosmos = das Chaos ist. Von außen weht ihn kalte Indifferenz an.2 Also geht es darum, eine Selbstbestimmung des Subjekts zu erlangen, in der es als chaosmotisches Subjekt aufgefasst wird (– eben dies tun Deleuze & Guattari). Erst im Austausch mit dem Chaos, in Kooperation mit ihm, wenn man so sagen kann, konstituiert sich das Subjekt als ein Subjekt ohne Subjektivität. Ohne Subjektivität will heißen: ohne substanziale Sicherung, ohne fixe Natur, ohne Gott. »Die Ordnung Gottes«, schreibt Deleuze in Logique du sens (1969), »umfaßt alle diese Elemente: die Identität Gottes als letztes Fundament, die Identität der Welt als umgebendes Milieu, die Identität der Person als wohlbegründete Instanz, die Identität der Körper als Basis, schließlich die Identität der Sprache als Macht zur Bezeichnung des ganzen Restes. Doch diese Ordnung Gottes hat sich gegen eine andere Ordnung aufgerichtet: eine Ordnung, die in ihr subsistiert und sie aushöhlt.«3 Die in der Ordnung Gottes subsistierende Ordnung ist das Chaos, gegen das sie sich aufrichtet, ohne dass es ihr gelingen könnte, es zum Verschwinden zu bringen. Das Chaos zum Verschwinden zu bringen hieße nichts anderes als das Verschwinden zum Verschwinden zu bringen, das bei Nietzsche und Deleuze auch Werden heißt. Es geht darum, sich mit dem Verschwinden oder Werden zu arrangieren. Alles liegt daran, den Charakter dieses Arrangements = dieser Chaosassimilation zu definieren. Keinesfalls geht es um die Liquidation des Subjekts im Chaos. Man muss begreifen, dass ein vom Chaos unberührtes Subjekt immer nur als Fantasie existiert. Ein solches Subjekt wäre Subjekt einer Reinheit = Unberührtheit, die es gänzlich aus der Welt entfernte. Subjekt als schöne Seele, Subjekt der Unschuld und Weltabgewandtheit. Das Chaossubjekt mag bei Nietzsche und Deleuze hyperboräisches Subjekt der Extreme sein – tropisches und katastrophisches Subjekt –, es ist zugleich Subjekt in seiner vollen Normalität. Das Subjekt grenzt an das Chaos, ist von ihm durchschossen und kontaminiert, ob es ihm gefällt oder nicht. Nie hat es ein Subjekt ohne Chaoskontakt gegeben. Was wir Subjekt nennen oder Cogito oder Selbstbewusstsein, konstituiert sich als schwebende Architektur über dem Abgrund des Werdens, den das griechische Denken – Heidegger denkt an Hesiod – χάος nennt. Denken nach dem Tod Gottes bedeutet, dem menschlichen Subjekt das Chaos zurückzugeben = ihm zu erstatten, was es nie verlor. »Gott kann keine Identität mehr garantieren!« – schreibt Deleuze und sagt damit: Nun muss erneut das Chaos an seine Stelle treten, »die Zerstörung der Welt; die Auflösung der Person; die Aufspaltung der Körper; der Funktionswandel der Sprache, die nur mehr Intensitäten ausdrückt.«4

STIGMA

Schlimmer als der Tod ist der Fall des Lebenden aus dem Leben. Fortan setzt er seine Existenz als lebender Toter fort. Kafka nennt es den »Verlust des Gleichschrittes mit der Welt«. Er bedeutet, dass, wer unter dem Stigma des Verlusts lebt, »die Welt zerschlagen hat und, unfähig sie wieder lebend aufzurichten, durch ihre Trümmer gejagt wird.«5 Hier gibt es kaum Hoffnung. Es sei denn, der Tod wird zum Versprechen, das die Erlösung von einer nicht endenwollenden Agonie in Aussicht stellt.6 Wir müssen uns Gespenster als glücklose Menschen vorstellen. Sie durchstreifen ihr Leben als Gestorbene. Aus dem Leben zu stürzen, ist ein Ereignis, dessen Drastik kaum überschätzt werden kann. Der Verlust des Gleichschrittes mit der Welt ist Verlust des Lebens wie der es beflügelnden Lebendigkeit. Tot ohne tot zu sein, heißt im Horizont faktischer Inexistenz zu persistieren. Überall schreibt Kafka von den Konditionen eines Lebens, das sich fortsetzt, nachdem es sich verloren hat. Kafka ist der Dichter dieser Verlorenheit. Sein Schreiben öffnet das Leben auf seine Wahrheit, die keinerlei positives Jenseits indiziert. Es erzählt die Geschichte des seine Rückseite bewohnenden Lebens. Dabei handelt es sich um ein Leben, das inmitten der Immanenz mit ihr bricht, um sich im Bruch mit ihr den letzten Funken Hoffnung zu nehmen.

DÜRRENMATT

Es sei unmöglich, »daß ein Kunstwerk aus der Wirklichkeit fällt«7, bemerkt Dürrenmatt und hätte hinzufügen können: Entscheidend ist, wie es in sie einfällt!

FORM

»Kunst hat soviel Chance wie die Form, und nicht mehr.«8 – Der Satz aus der Ästhetischen Theorie (1970) provoziert Unverständnis. Man denkt den Primat der Form durch irgendeinen Inhalt (die soziopolitische, außerästhetische Realität) ersetzt zu haben. Wie immer, wenn das Halbdenken über das Denken triumphiert, erschöpft es sich in Substitutionslogik. Man ersetzt den (angeblichen) Primat der Form durch den des Inhalts und merkt nicht, dass man der Komplexität ihrer Interdependenz ausweicht. So fällt man hinter Adorno zurück. Was er zu denken gibt, ist ein Formbegriff, der, ganz von der Gesellschaft durchdrungen, auf Resistenz ihr gegenüber beruht. Der Realität zu resistieren, indem man ihr volles Gewicht auf sich nimmt: Darauf zielt Adornos ästhetische Theorie!

TROTZ

Der Sturz ins Chaos ist reale Möglichkeit. Wittgenstein fürchtet ihn in Gestalt des Wahnsinns. Die Psychose liquidiert das Denken, indem sie seine Realitäten auflöst. Die Erfahrung ihrer ontologischen Inkonsistenz kommt dem Kontakt mit Lacans Realem gleich. Es gibt hier keinerlei Raum für Romantik. Mit diesem Kontakt tritt das Subjekt in ein Außen, von dem es längst heimgesucht ist. Kafka verbindet mit Wittgenstein das Abschreiten der Chaosgrenzen. Alles liegt daran, der Inkonsistenz mit Minimalkonsistenz zu trotzen. Eben dieser Trotz heißt Denken oder Literatur.

NOTIZ ZU HEGEL

Hegel nicht gelesen zu haben, schützt nicht davor, Hegelianer zu sein.

MESSER

Kafkas berühmtester Satz zur Liebe steht im Brief an Milena vom 14. September 1920: »Liebe ist, daß du mir das Messer bist, mit dem ich in mir wühle.«9 Man muss nicht Kafka sein, um zu wissen, dass zu ihr Gewalt gehört. Die Liebe zerreißt das System der Erwartungen, die das romantische Liebesdispositiv darstellt (»Man hat anderes erwartet, und meist mehr als das«10). Sie zerreißt das liebende Subjekt einerseits, die Romantik der Zerrissenheit andererseits. Sie ist Zerreißung des Ideologems der Zerreißung, das den Liebenden als Zerrissenen konzipiert. Die Erfahrung der Liebe ist Erfahrung ihrer Unmöglichkeit. Sie existiert nur kontaminiert von narzisstischen Affekten, die ihr Sehnsuchtsvokabeln schlechter Unendlichkeit diktieren. Die Liebe soll unendlich sein, das heißt sie muss scheitern. Angeblich ist sie nicht von dieser Welt. Kafka wirft einen nüchternen Blick auf die romantische Selbstverklärung. Er erwartet von Milena, mit ihrer Liebeserwartung zu brechen, indem er von ihr verlangt, das Messer zu sein, das ihm dazu dient, sich von seinen Erwartungen zu befreien. Man könnte meinen, das sei pathetisch und übertrieben. Doch Kafka schreibt, dass alles Übertreibung sei, »nur die Sehnsucht ist wahr, die kann man nicht übertreiben.« Folgt also auch er dem Sehnsuchtsdispositiv der Romantik des kalten Herzens? Im Gegenteil. Kafka wendet dieses Dispositiv gegen es selbst, indem er der Sehnsucht eine geradezu materielle, mindestens aber körperliche Realität verleiht. Nichts ist hier übertrieben. Die Sehnsucht der Liebenden ist von großer Nüchternheit und Konsistenz. Sie impliziert Widerstand gegenüber dem Realismus der Enttäuschten wie gegenüber sämtlichen Idealismen der Verklärung. Sie schreibt sich keinem dieser Register ein. Vielmehr ist es diese Resistenz, die ihr einen Unendlichkeitsvektor einträgt. Statt um temporale Extension geht es um punktuelle Intensität. Wenn es so etwas wie Unendlichkeit in der Liebe gibt, dann ist sie von dieser Welt.

ARSCHLOCH

»Je n’ai pas cherché à plaire / Ich habe nicht versucht, zu gefallen«11 – ist das Mindeste, was Guy Debord von sich sagen konnte. Im Spiegel des Spektakels ungünstig zu erscheinen, entspricht der Erwartung des Autors von La société du spectacle (1967). Debord wusste, dass das Spektakel ihn entstellt, indem es von ihm erwartet, er erwarte, in ihm gut auszusehen. Es gehört zur Spektakellogik, unnötige Erwartungen zu wecken. Debord ist zu klug, um diesen Mechanismus nicht zu durchschauen. Hat er eine Lösung? Es gibt keine. Der Spiegel, der noch im aktuellen Kapitalismus als eben dieser selbst persistiert, versucht jedes Subjekt an sein Bild zu ketten, um es in seinen Narzissmus einzuschließen und zu narkotisieren. Das Alkoholikergenie Debord blieb wachsam. Er hatte keine Lust, an einem Anästhetisierungsprogramm teilzunehmen, das den Opportunismus derer nährt, die er »bescheidene Funktionäre« nennt, die »sich immer und überall verpflichtet glaubten, die dürftigsten Imperative der Augenblicksmoden« zu respektieren. Debord wollte lieber ein Arschloch als ein Opportunist sein. Das macht ihn unentbehrlich und aktuell.

SCHAF

Der Tagebucheintrag vom 19. November 1913 bringt es auf den Punkt: »Ich bin wirklich wie ein verlorenes Schaf in der Nacht und im Gebirge oder wie ein Schaf, das diesem Schaf nachläuft.«12 Das dem verlorenen Schaf nachlaufende Schaf ist doppelt verloren. Drückt es nicht Kafkas allgemeine Problematik aus? Das Problem seiner Figuren liegt nicht darin, zur Ungewissheit verurteilt zu sein. Ihnen ist noch die Gewissheit der Ungewissheit genommen. Nicht einmal ihr Scheitern ist gewiss.

IDIOTENBERUHIGUNG

Nichts verunsichert die Idioten mehr als Indifferenz gegenüber Erfolg, während sie ihre Hoffnungen auf Erfolgsversprechen bauen, die, indem sie sich erfüllen, ihre Inkonsistenz demonstrieren. Wer bekommt, worauf er hoffte, erhält nichts. Erfolg ist nichts als Erfolg. Zur Idiotenberuhigung bliebe zu sagen: Das hättet ihr früher wissen können! Das war bekannt!

KORREKTUR

Kunst lässt sich nicht korrigieren.

NOTIZ AUS NEW YORK

JFK Airport. – So sehr Martin Kippenberger gute Gründe hatte, ein Happy End of Franz Kafka’s ›Amerika‹ zu imaginieren, so unerbittlich wird das US-amerikanische Selbstbild von seiner narzisstischen Imago und dem sie dominierenden »Hurra-Optimismus« (so nennt es Adorno) dementiert. Die Alloverpräsenz von Dunkin’ Donuts, Starbucks Coffee und Burger King zwingt noch den leisesten Anspruch auf Singularität ins Kostüm neoliberaler Egalität. Der Individualismus – der als kapitalistische Religion auftritt – ist nur als Uniformismus und Konsensualismus zu haben. Der amerikanische Traum kulminiert im einlösbaren Versprechen egalitären Konsums. Eine Coca-Cola ist eine Coca-Cola, sagt Andy Warhol.13 Für den Präsidenten und Liz Taylor wie für jedermann.

MÜLLER MIT LACAN

Heiner Müller sagt, dass ihn Normalität nicht interessiere, obwohl er ihren Apologeten Enzensberger verstehe. »Mich interessiert sie nicht, weil Theater nicht normal ist, und da mich Theater am meisten interessiert, interessiert mich Normalität nicht. Theater lebt von Extremen, nicht von Normalität.«14 Das ist schlüssig, unterschlägt aber den wesentlichen Punkt. Die Extreme sind das Normale. Normalität ist extrem! Lacan wusste das. Er unterscheidet die Realität (Normalität) vom Realen (Extrem), um sie wechselseitig miteinander zu identifizieren.

WÜSTE

Badiou sagt, dass Nietzsche mit seinem Schreiben in die Wüste des Nihilismus gegangen sei.15 Seine »Heiligkeit« liege darin, sich in die »absolute Einsamkeit«16