Aus dem Amerikanischen von Alexander Rösch

Impressum

Die amerikanische Originalausgabe The Survivor

erschien 2015 im Verlag Emily Bestler/Atria Books, Simon & Schuster.

Copyright © 2015 by Cloak & Dagger Press, Inc.

Copyright © dieser Ausgabe 2018 by Festa Verlag, Leipzig

Veröffentlicht mit Erlaubnis von Emily Bestler/Atria Books,

ein Unternehmen von Simon & Schuster, Inc., New York.

Titelbild: Dean Samed

Alle Rechte vorbehalten

eISBN 978-3-86552-587-1

www.Festa-Verlag.de

www.Festa-Action.de

Für Vince Flynn

Einen Mann, der so viele Leben beeinflusst hat.

PROLOG

Istanbul, Türkei

Scott Coleman wandte sich vom Farbmonitor ab und musterte seine Umgebung. Der Kastenwagen wirkte für amerikanische Verhältnisse fast wie ein Spielzeug und bot auf der Ladefläche kaum genug Platz für ihn und sein ganzes Equipment. Ähnlich beengt ging es vorn zu, wo Joe Maslick seinen 100-Kilo-Körper hinter das Steuer zwängen musste. Regentropfen sammelten sich an der Windschutzscheibe und ließen den Blick auf alte Reihenhaussiedlungen und eine Straße verschwimmen, die so schmal war, dass man mit zwei Rädern auf dem Gehweg fahren musste.

Nach tagelangen Erkundungstouren durch eine Stadt, in der hohe Fahrkunst damit gleichgesetzt wurde, weniger als drei Menschen pro Woche zu rammen, hatten sie die Aussichtslosigkeit erkannt, eine Zielperson, die zu Fuß unterwegs war, auf diese Weise im Auge zu behalten. Seitdem hangelten sie sich bei ihren Stellplätzen von Parkverbot zu Parkverbot, um die Signalstärke ihrer Überwachungskamera zu optimieren. Keine leichte Aufgabe in einer fast vollständig aus Beton und Stein erbauten Metropole.

»Wie läuft’s bei dir, Joe?«

»Toll.«

Eine glatte Lüge. Aber eine zu erwartende.

In Wahrheit war der frühere Delta-Soldat kürzlich bei einem Hinterhalt in Kabul angeschossen worden, der eine verflucht große Zahl afghanischer Polizisten in den Tod riss, Mitch Rapp deutlich zu nah an eine von ihm selbst verursachte Explosion heranbrachte und ihn zu einer unangenehmen Allianz mit Louis Gould zwang – dem Auftragsmörder, der Rapps Familie auf dem Gewissen hatte.

Maslick hätte zu Hause seine Schulter auskurieren können, bestand jedoch darauf, für diese Operation eingeteilt zu werden. Ihn mitzunehmen war eine knifflige Entscheidung gewesen. Die Ärzte befürchteten einen bleibenden Nervenschaden, aber manchmal war es das Beste, so schnell wie möglich wieder aufs Pferd zu steigen, bevor man anfing, an sich selbst zu zweifeln.

»Schön zu hören, dass du dich so prächtig amüsierst. Im Moment ist die Übertragung halbwegs stabil. Er bewegt sich auf der weitgehend unverbauten Straße in nördlicher Richtung. Eine Weile können wir die Position sicher beibehalten, aber rechne damit, dass sich das jederzeit ändern kann.«

»Gut.«

Maslicks einsilbige Antworten hatten nichts mit den vermutlich beträchtlichen Schmerzen im Arm zu tun. Er verzichtete grundsätzlich auf längere Wortmeldungen, es sei denn, er hielt sie für unbedingt nötig.

Coleman richtete seine Aufmerksamkeit zurück auf den Bildschirm, der an der Seitenwand des Vans befestigt war. Das Video ruckelte wild hin und her, da die Tasche mit der Kamera am Handgelenk ihrer Besitzerin baumelte. Blauer Himmel. Eine streunende Katze, die sich auf einem Müllcontainer sonnte. Dicke Knöchel in erstaunlich zartem Schuhwerk.

Beine und Hush-Puppies-Sandalen gehörten zu Bebe Kincaid – eine füllige grauhaarige Frau und die mit Abstand merkwürdigste Angestellte ihrer Firma, SEAL Demolition and Salvage Corporation. Sie hatte den Großteil ihres Berufslebens als Observationsspezialistin beim FBI verbracht, was sie vor allem zwei angeborenen Talenten verdankte. Zum einen ihrer formlosen, unauffälligen äußeren Erscheinung und dem leicht gebeugten, schlurfenden Gang, der sie in einer Menschenmenge ähnlich unauffällig wie einen Feuerhydranten machte. Zum anderen – ungleich wichtiger – ihrem fotografischen Gedächtnis.

Ein inflationär benutztes Etikett, das man sämtlichen Leuten verpasste, die sich Sachen halbwegs gut merken konnten, aber in Bebes Fall traf es eindeutig zu. Ihr tadelloses Erinnerungsvermögen hatte ihr letztlich auch eine vorzeitige Pensionierung durch die FBI-Psychologen eingebracht. Je älter sie wurde, desto schwerer fiel es ihr nämlich, zwischen Beobachtungen zu unterscheiden, die vom Vortag stammten oder schon Jahre, oft sogar Jahrzehnte zurücklagen. In ihrem Geist blieb alles gleichermaßen lebendig. Das Bureau mochte zwar keine Verwendung mehr für sie haben, aber Mitch Rapp griff prompt zum Hörer und bot ihr einen Job an, noch bevor sie ihren Schreibtisch im J. Edgar Hoover Building geräumt hatte.

Coleman musste zugeben, dass es ihn ein wenig irritierte, als plötzlich eine Frau, die ihn an seine eigene Mutter erinnerte, vor der unauffälligen Tür zu ihrem Büro stand und sich bei ihm nicht nur für den Job, sondern auch für die großzügigen Sozialleistungen bedankte. Wie üblich hatte Rapp mit seinem Urteil richtiggelegen. Bebe war es wert, dass man ihr durchaus beachtliches Gewicht in Gold aufwog.

Coleman schielte auf einen zweiten Monitor, der eine Satellitenaufnahme von Istanbul zeigte. Ein blauer Punkt markierte Bebes aktuelle Position, schwenkte abrupt nach links und setzte sich ein paar Stufen zur Uferpromenade hinab in Bewegung. »Okay, Joe. Sie läuft jetzt Richtung Osten. Wir verlieren sie möglicherweise. Können wir näher ran?«

»Für eine alte Lady kommt sie ganz schön rum.« In Maslicks gereizter Erwiderung, weil er sich erneut in den unberechenbaren Stadtverkehr stürzen musste, schwang aufrichtiger Respekt mit.

Coleman lächelte, während sich der Wagen vom Bordstein entfernte. Seine Leute waren allesamt frühere Einsatzkräfte der Special Forces, überwiegend SEALs, Deltas und Aufklärer von den Marines. Mit der richtigen Begleitmannschaft konnte Bebe sie dennoch alle mächtig alt aussehen lassen.

Er stemmte den Fuß gegen das mit modernster Technik vollgestopfte Rack, um zu verhindern, dass es umkippte, während sich der Van über die regennasse Fahrbahn eine Anhöhe hinaufkämpfte. Auf dem Hauptmonitor erfasste Bebes Kamera kurz den Mann, den sie verfolgten. Eine eher unauffällige Erscheinung. 1,72 Meter groß, leicht asiatisch angehauchte Gesichtszüge und ein Anzug von der Stange, der durchnässt am Körper klebte. In Wahrheit handelte es sich bei Vasily Zhutov jedoch um den ranghöchsten Maulwurf, den sie beim russischen Auslandsgeheimdienst eingeschleust hatten. Er trug den Codenamen Sitting Bull und zählte zu den geheimsten, zudem erst nach hartnäckigen Bemühungen verpflichteten Agenten der Agency. Das Problem bestand darin, dass niemand genau wusste, ob seine Identität nicht längst aufgeflogen war. Schlimmer noch, ob neben ihm noch viele andere aufgeflogen waren. Die Tarnung von so gut wie jedem in den letzten 25 Jahren angeworbenen CIA-Kontakt stand auf dem Spiel. Zur Einschätzung der Lage hatte man Teams wie das von Coleman in alle Teile der Welt entsandt, allerdings deutlich zu weit verstreut, um ein verlässliches Gesamtbild zu liefern.

Die Schuld an der Misere trug ein einziger Mann: der kürzlich verstorbene Joseph ›Rick‹ Rickman. Er hatte die letzten acht Jahre in der CIA-Vertretung in Jalalabad zugebracht und dort quasi im Alleingang die geheimdienstlichen Aktivitäten während des Afghanistankriegs koordiniert. Angeblich hatte er einen IQ von über 200 gehabt. Colemans bisherige Begegnungen mit dem Mann schienen diese Einstufung zu bestätigen.

Fast eine Milliarde Dollar war mit den Jahren durch Rickmans Hände gewandert, um Waffenkäufe zu finanzieren, örtliche Politiker zu bestechen und weiß der Himmel was noch alles. Rick hatte Beziehungen zu so ziemlich jeder einflussreichen Person im Land gepflegt und über ein erstaunliches Talent verfügt, die komplexen Wechselwirkungen zu durchschauen, die in der Region für Konflikte sorgten. Stellte man ihm eine Frage zu den ökonomischen Auswirkungen des Heroinhandels auf die lokalen Aufstände, dozierte er aus dem Stegreif wie ein Harvard-Professor. Genauso kannte er sich beispielsweise auch mit Familienstreitigkeiten in entlegenen Bergdörfern aus, von denen kaum jemand je gehört hatte. Die einzige Person bei der CIA, die auch nur ansatzweise durchschaute, was im Kopf dieses Mannes vorging, war Irene Kennedy. Allerdings kämpfte sie mit entschieden zu vielen Baustellen gleichzeitig, um sich ernsthaft damit zu befassen.

Dummerweise war das komplexe Gebilde, das Rickman errichtet hatte, im vergangenen Monat mit lautem Getöse zusammengestürzt, als er völlig den Verstand verlor. Ob es an den Belastungen des Jobs, familiären Problemen oder dem undurchsichtigen Chaos und den hoffnungslosen Zuständen in Afghanistan lag, wusste niemand. Dafür wussten sie, dass Rickman ein Komplott mit Akhtar Durrani, dem Leiter des externen Flügels beim pakistanischen Geheimdienst ISI, geschmiedet hatte, um die CIA und jahrelange Kollegen und Kampfgenossen zu verraten.

Rickman hatte seine Leibwächter getötet und die eigene Entführung vorgetäuscht. Dabei ging er so weit, ein abstoßendes Video drehen zu lassen, in dem er angeblich von zwei Männern gefoltert wurde, die sich als muslimische Extremisten ausgaben. Genauso gut hätte man eine Bombe mitten in der amerikanischen Geheimdienst-Szene hochgehen lassen können. Aufgrund seines außergewöhnlichen Intellekts und der jahrzehntelangen Beteiligung an CIA-Operationen konnte niemand genau vorhersagen, was er alles wusste und welche Informationen er gegenüber dem Feind preisgab, wenn jemand mit glühenden Schürhaken an ihm herumstocherte. Absolute Panik brach aus, zahllose Undercover-Agenten forderten ihre Exfiltration oder ersuchten in US-Botschaften um Asyl. Insgesamt wurde eine Menge ungewollte Aufmerksamkeit auf das amerikanische Spionagenetzwerk gelenkt.

Im Rahmen der angeblichen Folter hatte Rickman eine ganze Reihe von Namen ausgeplaudert, von denen einer in Langley besondere Nervosität auslöste: Sitting Bull. Russland gehörte eigentlich nicht zu Ricks Territorium. Wieso wusste er über die Identität eines Mannes Bescheid, der zu den am besten gehüteten Geheimnissen der CIA gehörte? Hatte er bewusst eine falsche Spur gelegt? Den Codenamen nur erwähnt, weil er ihn irgendwo mal aufgeschnappt und in den unerschöpflichen Speichern seines Gehirns abgelegt hatte? Oder verfügte er tatsächlich über Wissen, um den Russen zu kompromittieren?

Zhutov bog nach links in eine schmale Gasse ab. Bebe ließ sich zurückfallen. Generell drängten sich in den Straßen von Istanbul um diese Zeit am Nachmittag unzählige Menschen, jedoch nicht in diesem Viertel, das überwiegend aus unbewohnten Abbruchhäusern bestand. Den verwackelten Kamerabildern nach zu urteilen war hier kaum jemand unterwegs.

»Joe«, sagte Coleman. »Hast du die Karte im Blick? Er läuft weiter nach Norden. Können wir ihn einholen?«

»Möglich. Gibt ’ne Menge Verkehr«, murmelte Maslick und wich auf den Bürgersteig aus, um sich an einem Lieferwagen vorbeizuquetschen.

»Bebe, wir sind gleich bei euch.« Coleman sprach in ein Mikrofon, das an den Hemdkragen geclippt war. »Nimm lieber die nächste Gasse. Die führt auf denselben Platz.«

»Roger.«

Die Bezahlung stimmte, doch Coleman stellte sich trotzdem die Frage, wie lange er sich noch mit einer Bespitzelung abgeben wollte, die ihm zunehmend wie Zeitverschwendung vorkam. Rickman und Durrani waren inzwischen tot und die Geschichte damit eigentlich zu Ende. Andererseits durfte man Rickmans Fähigkeit nicht unterschätzen, der Gegenseite gefühlt stets 15 Schritte voraus zu sein. Bei der Agency war man davon überzeugt, dass er weitaus mehr vertrauliche Informationen ausgeplaudert hatte als die auf dem im Internet verbreiteten Foltervideo. Kennedy ging sogar noch einen Schritt weiter und unterstellte, dass Rick eine Möglichkeit gefunden hatte, seine Fehde gegen die Agency noch aus dem Grab weiterzuführen. Coleman kam das extrem paranoid vor, aber was wusste er als einfacher Soldat schon? Die strategischen Planungen überließ er Kennedy und Rapp. Das beherrschten die beiden deutlich besser.

»Scott«, drang Bebes Stimme aus dem Lautsprecher. »Siehst du das?«

Das unruhige Bild, an das Coleman inzwischen gewöhnt war, stabilisierte sich, als sie die Kamera aus der Handtasche zog und auf einen Mann in Lederjacke und Jeans richtete. Er zündete gerade eine Zigarette an und unterschied sich kaum von Millionen anderen Türken seines Alters, die in Istanbul lebten.

»Ich hab ihn schon mal gesehen«, meinte Bebe. »Vor zwei Tagen. In der Nähe der Straßenbahnhaltestelle an der Einkaufsmeile. Er kam aus einem Laden und folgte unserer Zielperson sechseinhalb Blocks weit, bevor er abbrach.«

Coleman fluchte leise und beobachtete, wie der Mann lässig in die Gasse abbog, in der Zhutov eben verschwunden war. Normalerweise hakte er in solchen Fällen nach, ob es sich nicht um eine simple Verwechslung handeln konnte, aber in ihrem Fall verzichtete er darauf. Soweit er wusste, hatte sie sich bei der Zuordnung eines Gesichts noch nie geirrt.

»Was meinst du, Bebe? Ob es Zufall ist?«

»Solche Zufälle gibt’s nicht.«

»Okay. Lauf weiter zur nächsten Abbiegung und behalt im Auge, ob der Kerl von jemandem abgelöst wird, der dir ebenfalls bekannt vorkommt.«

»Mach ich.«

Coleman griff zum Satellitentelefon. Er hatte kein gutes Gefühl bei der Sache und ging davon aus, dass Rapp diese Neuigkeiten ganz und gar nicht schmeckten.

1

›Die Farm‹

In der Nähe von Harpers Ferry

West Virginia, USA

Allmählich fühlte sich Kennedy in dem sicheren Unterschlupf wie in einem Gefängnis. Sie hatte zu viele Nachbesprechungen mitgemacht, um eine genaue Zahl nennen zu können, aber in Anbetracht ihrer mehr als 30-jährigen Laufbahn bei der CIA bewegte sie sich definitiv im dreistelligen Bereich. Der penetrante Zigarettenqualm, zu viel Kaffee, zu wenig Schlaf und zu wenig Gelegenheit, sich körperlich in Schuss zu halten, ergaben eine für ihren Geschmack allzu vertraute Kombination. Wenn es nach ihr ging, wollte sie hier weg. Sie musste sogar, denn als CIA-Direktorin durfte sie nicht einfach eine Woche am Stück verschwinden.

Die meisten Arbeitstage in Langley verbrachte sie hinter der schalldichten Tür ihres Büros im sechsten Stock, um die sogenannte ›Rickman-Affäre‹ aufzubereiten. Auf den Fluren wurde viel getuschelt. In Anbetracht des angerichteten Schadens kein Wunder, wobei in diesem Fall niemand wusste, wie groß er tatsächlich ausfiel.

Kennedy machte Rapp keine Vorwürfe, ihren Black-Ops-Verantwortlichen im Nahen Osten getötet zu haben. Ihn heil aus Pakistan herauszubekommen erwies sich trotzdem als problematisch, vor allem nach dem Tod von Lieutenant General Durrani, diesem heuchlerischen Bastard. Wäre Rickman am Leben geblieben, hätte der Mann mit seinem verdrehten Intellekt vermutlich so viele Fehlinformationen gesät und Personen gegeneinander ausgespielt, dass die CIA sich am Ende selbst zerfleischt hätte. Nein, dass Rickman unter der Erde lag, war für alle Beteiligten das Beste. Hurley brachte es in seiner ganz eigenen Art auf den Punkt: »Tote können wenigstens nicht lügen.«

Allerdings spuckten sie auch keine verwertbaren Informationen mehr aus, wie Kennedy während der Tage, die sie hinter der verschlossenen Bürotür verbrachte, schmerzlich feststellte. Rapp hatte immerhin einen Laptop und einige Festplatten aus General Durranis Haus mitgebracht. Daten von Rickman. Ihre besten Leute beschäftigten sich aktuell mit der Entschlüsselung der Dateien, um zu eruieren, welche Kontaktleute, Agenten und Einsatzkräfte aufgeflogen waren. Eine der Operationen bereitete ihr in Anbetracht der sensiblen Umstände besonderes Kopfzerbrechen. Es gab bereits erste Anzeichen, dass die Situation entgleiste – im konkreten Fall eine besonders zutreffende Metapher.

»Was machen wir mit ihm?«

Kennedy schlug die rote Akte auf dem Küchentisch zu, setzte die braune Brille ab und rieb sich die müden Augen.

Mike Nash stellte ihr eine neue Tasse Tee hin und setzte sich.

»Danke.« Nach kurzer Pause antwortete sie: »Keine Ahnung, was wir mit ihm machen sollen. Bisher habe ich die Entscheidung den beiden überlassen.«

Nash spähte durch die gläserne Schiebetür, wo sich die Nacht über Mitch Rapp und Stan Hurley senkte. Kennedy hatte die beiden gezwungen, zum Rauchen nach draußen zu gehen. Nash ging davon aus, dass sie sich außerdem einen Bourbon genehmigten. »Ich sprach nicht von Gould«, sagte er. »Ich meine, es interessiert mich schon, was mit ihm als Nächstes passiert, aber im Moment sorge ich mich eher um Mitch.«

Kennedy war es langsam leid. Sie hatte mit Thomas Lewis, dem CIA-Psychologen, über die wachsenden Spannungen zwischen Nash und Rapp gesprochen. Grundsätzlich vertraten sie zu dem Thema die gleiche Meinung. Rapp war einige Jahre älter als Nash und hatte es durch einige raffinierte Manöver hinbekommen, Nashs Karriere als Geheimagent zu beenden. Das Wie und Warum warf Fragen auf, aber letztlich verfolgte er beste Absichten. Sein Kollege hatte eine Frau und vier Kinder. Rapp wollte nicht, dass er die Familie für eine gefährliche Arbeit opferte, die genauso gut jemand anders übernehmen konnte. Nash fühlte sich im Gegenzug von Rapp verraten. Darunter litt vor allem ihr Vertrauensverhältnis. Rapp ließ den Freund, der inzwischen den Großteil seiner Zeit in Langley und auf dem Capitol Hill verbrachte, zunehmend über missionskritische Details im Dunkeln.

»Ich weiß, dass du dir Sorgen machst«, meinte Kennedy, »aber es hat keinen Sinn, ihn kontrollieren zu wollen. Glaub mir, ich hab’s 20 Jahre lang versucht. Das höchste der Gefühle ist, ihm einen groben Schubser in die gewünschte Richtung zu verpassen.«

Nash verzog das Gesicht. »Er endet noch wie Stan. Als verbitterter einsamer Wolf, den der Lungenkrebs dahinrafft. Sieh ihn dir doch an … selbst jetzt kann er’s nicht lassen, sich eine anzustecken.«

»Verurteil ihn nicht, Mike. Er hat eine Menge mitgemacht. Wie er von der Bühne abtritt, ist allein seine Entscheidung.«

»Aber bei Mitch ist die Sache glasklar. Der steuert auf ein ähnliches Schicksal zu.«

Kennedy dachte eine Weile über die Bemerkung nach und nippte an ihrem Tee. »Wir sind nicht alle dafür geschaffen, in einem Haus mit Garten zu wohnen und nach acht Stunden Arbeit den Hammer fallen zu lassen. Das passt nicht zu ihm.«

»Nein, aber jedes Mal, wenn er da rausgeht, riskiert er sein Leben.«

»So dachte ich früher auch.« Ein Lächeln trat auf Kennedys Lippen. »Inzwischen bin ich zu einem anderen Schluss gekommen.«

»Zu welchem?«

»Er ist ein typischer Survivor. Ein Überlebenskünstler.«

2

Über Istanbul, Türkei

Die Gulfstream G550 der CIA setzte im Schrägflug zu einer Wende an. Mitch Rapp spähte aus dem Fenster. Der Bosporus breitete sich direkt unter ihnen aus, durchzogen von Kielspuren der Schiffe und einer Brücke, die Asien mit Europa verband. Der Anblick der dicht an dicht gedrängten Gebäude, der vom Verkehr verstopften Straßen und der antiken Moscheen, die eine von Menschen mit bösen Absichten unterwanderte Religion repräsentierten, wirkte vertraut auf ihn.

Nebelschwaden eskortierten den Privatjet und verschleierten die Sichtlinie. Er lehnte sich auf dem Sitz zurück, schloss die Augen und ließ in Gedanken seinen ersten Aufenthalt in dieser Region Revue passieren, dachte an seinen ersten Abschuss vor so vielen Jahren zurück.

Der Name des Mannes war Hamdi Sharif gewesen. Auf den ersten Blick ein erfolgreicher und anerkannter Immobilienmakler und Investor. In Wirklichkeit benutzte er sein umfassendes Portfolio jedoch, um Hunderte Millionen Dollar zu waschen, die er mit Waffendeals abstaubte. Bei der Wahl seiner Kunden ging er nicht wählerisch vor, solange sie den geforderten Preis zahlten. Merkwürdigerweise waren Rapp die Details seiner Ermordung deutlich lebhafter in Erinnerung geblieben als alle nachfolgenden. Er wusste noch genau, wie es in dem winzigen Apartment roch, das die CIA durch ein Geflecht von Tarnfirmen für ihn angemietet hatte. Und er erinnerte sich genau an die Beretta 92F, zu jener Zeit seine bevorzugte Waffe, die sich härter und kälter in der Hand anfühlte als während des Trainings.

Als er die Details der Operation noch einmal in Gedanken durchging, schlich sich ein fast unmerkliches, peinlich berührtes Lächeln auf sein Gesicht. Er hatte die ursprüngliche Planung von Stan Hurley komplett über den Haufen geschmissen, teilweise aus jugendlicher Arroganz, teilweise um seinem Ausbilder den Mittelfinger zu zeigen. Die Verfolgung der Zielperson in einen Park, den er nur oberflächlich kannte, kam ihm rückblickend hoffnungslos dilettantisch vor. Die Verschwendung von mehreren Patronen, obwohl ein gezielter einzelner Schuss gereicht hätte, rieb Hurley ihm noch heute unter die Nase, wenn er mal wieder zu viel getrunken hatte. Leider völlig zu Recht.

Im zarten Alter von 24 war Rapp einer der am besten ausgebildeten und talentiertesten Killer auf diesem Planeten gewesen. Zwei Jahrzehnte später wurde ihm bewusst, wie blauäugig und leichtfertig er damals mit seinem Talent umgegangen war. Kein Wunder, dass ihm der alte Stinkstiefel hinterher die Leviten las.

Für gewöhnlich konnte Rapp in Flugzeugen hervorragend schlafen. Er zog zwar das Dröhnen der Triebwerke einer C-130 vor, aber was der Gulfstream an weißem Rauschen fehlte, machte sie durch ihre bequemen Ledersitze wett. Auf diesem Flug hatte er jedoch seit dem Start in den USA kein Auge zugemacht. Zu viel ging ihm gerade durch den Kopf.

Vor allem beschäftigte ihn Stan Hurley – ein Mann, den er anfangs verachtet hatte und der nichts unversucht ließ, um den jüngsten Rekruten des Orion-Teams im Anschluss an den Sharif-Job still und leise aus dem Verkehr zu ziehen. Rapp hatte nie gezielt nachgefragt, ging aber davon aus, dass Hurley und Kennedy zu diesem Thema harte Auseinandersetzungen geführt hatten. Der alte Knacker, der sich brüllend beschwerte, dass es Rapp an Disziplin mangelte, während Kennedy gelassen das enorme Potenzial ihres Schützlings hervorhob. Was wohl passiert wäre, falls sie diesen konkreten Disput verloren hätte? Wer wäre am Ende als Sieger vom Platz gegangen? Er oder Hurley?

Eine Frage, auf die es keine Antwort gab. Sein alter Freund hatte nicht mehr lange zu leben. Rapp konnte den Tod auf eine Meile Entfernung riechen – und Hurley stank regelrecht danach. Wie früher oder später jeder. Eines Tages auch er selbst.

Rapp schlug die Augen auf, verzichtete jedoch auf einen weiteren Blick durchs Kabinenfenster. Über Hurleys Krebserkrankung zu grübeln hielt er für pure Zeitverschwendung. Er konnte ohnehin keinen Einfluss darauf nehmen und hatte genug andere Feuer zu löschen.

Scott Colemans Bericht vor zwei Stunden deutete darauf hin, dass die Russen ihre Beschattung von Sitting Bull verstärkten. Was Probleme anging, stellte das lediglich die Spitze des Eisbergs dar. Ihn beschäftigte vielmehr das Warum der überraschend intensivierten Beschattung. Die simple Erwähnung des Codenamens in Rickmans Foltervideo bot keine hinreichende Erklärung. Russlands Inlandgeheimdienst, der FSB, verfügte nicht über genügend Informationen, um daraus eine Verbindung zu Vasily Zhutov abzuleiten. Er konnte es sich nur so erklären, dass Rickman vor Rapps Kopfschuss noch mehr geheimes Wissen ausgeplaudert hatte. Wie viel mehr?

Das Surren, mit dem das Fahrwerk zur Landung ausgefahren wurde, erfüllte die Kabine. Rapp verdrängte Tausende potenzieller Gefahrenszenarien und konzentrierte sich auf das akute Problem. Der FSB musste Zhutov anfangs eher auf gut Glück observiert haben. Die Aktivitäten, die Colemans Team beobachtet hatte, deuteten allerdings darauf hin, dass die Russen auf seine Auslieferung hinarbeiteten.

Die Frage lautete, was sich dagegen unternehmen ließ. Zhutov besaß kein weitreichendes Wissen über die internen Strukturen der CIA. Nachdem seine Tarnung offenbar aufgeflogen war, hielten es die Schreibtischtäter in Langley vermutlich für ratsam, seelenruhig abzuwarten, bis der FSB ihn schnappte. Nur ein weiteres Opfer im Tauziehen, das sie sich seit fast einem Dreivierteljahrhundert mit den Russen lieferten.

Rapp hielt das – ebenso wie bis zu einem gewissen Grad auch Kennedy – für ein inakzeptables Opfer. Sitting Bull hatte sich wiederholt Gefahren ausgesetzt, um die CIA bei der Eindämmung der unvorhersehbaren und oft selbstzerstörerischen Kurzschlussreaktionen der Russen zu unterstützen. Rapp hatte schon mit zahllosen Maulwürfen zusammengearbeitet. Meistens Verräter, die ihre Heimat für Geld, Sex oder Rache verrieten. Nützlich, aber in der Regel nicht vertrauenswürdig, sondern eher bemitleidenswert.

Zhutov war anders. Ein Patriot, der sein Land liebte und fest an dessen Potenzial glaubte, positiven Einfluss in der Welt auszuüben. Von Anfang an stellte er klar, dass er weder militärische Geheimnisse preisgeben würde noch eine Bezahlung für seine Dienste anzunehmen gedachte. Rapp bewunderte diese Einstellung und dachte nicht daran, einen so wertvollen Verbündeten einfach im Stich zu lassen.

Wie viele Sitting Bulls mochte es noch da draußen geben? Alle Kontaktleute, deren Namen Rickman in seinem inszenierten Folterclip genannt hatte, waren inzwischen in Sicherheit, wenn man es euphemistisch so nennen wollte – entweder verschwunden, tot, in einer US-Botschaft kaserniert oder von einem Team wie Colemans überwacht. Doch was hatte Rick noch gewusst? Wen hatte er noch verraten, bevor Rapp ihn erschoss?

Als sie auf der einzigen Landebahn des privaten Flugfelds aufsetzten, begann es zu regnen. Rapp holte den Seesack aus dem Gepäckfach und lief zum vorderen Ausstieg, während die Maschine langsam ausrollte und neben einem überfüllten Parkplatz zum Stehen kam. Die Tür zum Cockpit blieb geschlossen, wie es ihm am liebsten war. Er fuhr die Passagierbrücke selbst nach unten und stieg aus.

Ein kurzer Check der Umgebung ergab keine Anzeichen von Bewegung. Die parkenden Autos schienen alle leer zu sein und wie versprochen nahm ihn kein Mitarbeiter in Empfang. Er richtete den Kragen der Lederjacke auf, um das Gesicht vor neugierigen Blicken aus dem Tower zu verbergen, aber auch vor seinen eigenen Piloten.

Der betagte Ford stand genau da, wo Coleman es angekündigt hatte, ganz in der Ecke am östlichen Rand der Stellflächen. Rapp schmiss den Seesack auf die Rückbank und glitt hinter das Lenkrad. Die Schlüssel steckten und ein abgegriffener Reisepass, der ihn als Mitch Kruse identifizierte, steckte samt den notwendigen Einreisestempeln im Handschuhfach.

Er ließ den Motor an und lenkte den Wagen auf die Straße, hielt sich strikt ans Tempolimit und wählte eine Nummer auf dem Handy. Schon beim ersten Klingeln wurde abgenommen.

»Alles in Ordnung mit dem Auto?«, fragte Scott Coleman.

»Klar. Wie sieht’s aus? Hat die Konkurrenz schon ein Angebot abgegeben?« Die Verbindung war verschlüsselt, aber keiner von ihnen traute der Technologie. In Anbetracht der Besessenheit der NSA, jegliche Kommunikation weltweit abzufangen, hielten sie es für das Beste, bei dem Gespräch seinen Deckmantel als Handelsvertreter zu benutzen.

»Vor einer Stunde hätte ich mir noch keine Sorgen gemacht, jetzt scheint allerdings Bewegung in die Verhandlungen zu kommen. Ich bin froh, dass du da bist, um sie erfolgreich zum Abschluss zu bringen.«

Relativ bald hatte Rapp die 24 Kilometer bis zum Stadtzentrum zurückgelegt. Coleman hatte ihm die Koordinaten aufs Mobiltelefon geschickt. Die Stimme des Navigationssystems lotste ihn. Der Knopf im Ohr verschwand nahezu unsichtbar hinter dem dicht gewachsenen Haar. Einen Parkplatz zu finden entpuppte sich in Istanbul als echte Herausforderung. Am Ende fand er eine passende Lücke hinter einem nicht mehr genutzten Baugerüst und stieg aus in den kalten Nieselregen.

Fußgänger drängten sich auf dem Gehweg, doch niemand schenkte ihm einen näheren Blick. Er steckte sich eine Zigarette an und lief in eine Seitenstraße. Mit Lederjacke und dunklen Jeans hatte er sich der herrschenden Mode in Istanbul perfekt angepasst. In Verbindung mit den schwarzen Haaren und der dunklen Haut wirkte er wie ein Einheimischer, der so schnell wie möglich ins Trockene kommen wollte.

Die Wolken standen zu dicht am Himmel, um die Position der Sonne erkennen zu lassen. Rapp ging davon aus, dass sie vor etwa fünf Minuten hinter dem Horizont versunken war. Bei den Fahrzeugen flackerten die Scheinwerfer auf, wurden reflektiert vom nassen Straßenbelag und veranlassten ihn, die Schritte zu beschleunigen. Jetzt war der ideale Zeitpunkt gekommen – die kurze Phase der Desorientierung, in der sich der primitive Teil des menschlichen Gehirns auf den Wechsel vom Tag zur Nacht einstellte.

Ihm begegneten zunehmend weniger Passanten. Er näherte sich einem Viertel, in dem mittlerweile geschlossene Läden überwiegend Elektronik und Baumaterial anboten. Sitting Bull hatte das Rickman-Video garantiert gesehen, kannte aber seinen eigenen Codenamen nicht und rechnete deshalb wohl kaum damit, dass ihm die unter Folter getätigten Aussagen eines CIA-Mitarbeiters in Jalalabad gefährlich werden konnten. Entsprechend sorglos bewegte er sich durch diesen relativ ruhigen Teil von Istanbul, um von der Arbeit nach Hause zu gehen. Sharif war ähnlich unbefangen jeden Morgen zur selben Zeit mit seinem Hund in einem Park spazieren gegangen. Es war ihm nicht gut bekommen.

Die künstliche Stimme im Ohr versorgte ihn kontinuierlich mit Richtungsanweisungen. Nach weiteren drei Minuten erspähte Rapp den verschwommenen, aber unverwechselbaren Umriss von Joe Maslick hinter dem Steuer eines weißen Kastenwagens.

Rapp bremste seine Schritte und rief Coleman an. Dabei schaute er sich um, als hätte er sich verlaufen.

»Bist du schon vor Ort?«, fragte Coleman anstelle einer Begrüßung. »Die abschließenden Verhandlungen beginnen jeden Moment.«

»In etwa einer halben Minute bin ich da.«

»Komm am besten durch den Hintereingang rein.«

Rapp trennte die Verbindung und lief zum Heck des Vans. Er zog die Tür auf und glitt hinein. Maslick würdigte ihn keines Blickes, sondern konzentrierte sich weiter auf die Beobachtung der Straße durch die verregnete Frontscheibe. Coleman zog einen der Ohrstöpsel heraus und zeigte auf das zittrige Bild auf einem der Monitore.

»Bebe ist noch an Zhutov dran. Nach allem, was wir in den letzten paar Tagen mitbekommen haben, läuft er zwei Kreuzungen weiter und biegt dann schräg auf einen kleinen Platz ab. An dessen nördlichem Ende parkt ein Laster, in dem vorn zwei Männer sitzen. Ob auf der Ladefläche noch weitere lauern, wissen wir nicht. Der Lkw steht seit einer halben Stunde da, was dem typischen Spielraum auf Zhutovs Heimweg entspricht. Je nachdem, ob er noch irgendwo einen Kaffee trinkt. Glücklicherweise hat er das heute getan.«

Rapp nickte. »Schalt mich zu Bebe in die Leitung.«

Coleman legte einen Schalter an der Konsole um und hielt ihm das Mikrofon hin, das er sich an den Kragen geklemmt hatte. Das stark verschlüsselte Funksignal verfügte über keine sonderlich große Reichweite, weshalb er im Gegensatz zum Telefon kein Risiko darin sah, Klartext zu reden.

»Bebe. Lass dich zurückfallen, bevor er den Platz erreicht. Ich will dich nicht in der Nähe haben, falls es ernst wird.«

»Ist gut, Mitch.« Trotz des Rauschens war die Erleichterung in ihrer Stimme offensichtlich. »Ich behalte die Zielperson so lange wie möglich im Auge und geb Bescheid, wenn sich was tut.«

Rapp reichte das Mikro an Coleman zurück und ließ sich auf den Beifahrersitz plumpsen. »Also dann, Joe. Fahren wir.«

3

Islamabad, Pakistan

Dr. Irene Kennedy scrollte auf dem Tablet im Schoß durch eine E-Mail und überflog den aktuellen Lagebericht aus Istanbul. Ob Sitting Bull lebte oder tot war, noch vor Kurzem eine der Hauptprioritäten der CIA, verlor zunehmend an Bedeutung. Mit seiner Beschattung von russischer Seite bestätigte sich ihr Worst-Case-Szenario. So funktionierte die Welt inzwischen. Wann immer etwas schiefgehen konnte, ging es auch schief. In der Regel mit katastrophalen Folgen.

Sie fuhr das Tablet herunter und legte es auf den Sitz neben sich, musterte ihr undeutliches Spiegelbild in der kugelsicheren, stark getönten Trennscheibe der Limousine, die sie vom Fahrer abschirmte. Die sonnigen Straßen Islamabads verblassten zu einem trüben Schleier. Zwei Wagen fuhren im Konvoi voraus, nicht weniger als drei folgten, allesamt gefüllt mit schwer bewaffneten und hervorragend ausgebildeten Männern. Vor ihrer Ankunft hatte man diesen Abschnitt der Straße räumen lassen. Ein Kampfhubschrauber, ein Bell AH-1 Cobra, flog dicht genug über sie hinweg, um mit den dröhnenden Rotoren das Fahrzeug in Schwingungen zu versetzen.

Pakistan war 1947 als islamische, parlamentarische Republik aus der Abspaltung von Indien hervorgegangen und seitdem zum Land mit der sechstgrößten Bevölkerung weltweit gewachsen. Mehr als 180 Millionen Menschen lebten hier. Während Indien jedoch an der Modernisierung und Demokratisierung arbeitete, hatte sich der Nachbar in seiner kurzen Geschichte überwiegend mit diktatorischen Regimes und religiösen Extremisten herumgeschlagen.

Inzwischen stand der Staat an der Schwelle zum Scheitern. Einflussreiche fundamentalistische Strömungen unterwanderten die Regierung, zahllose Terrororganisationen breiteten sich ungehemmt aus und der Norden galt als so gut wie verloren. Da die Wirtschaft in Scherben lag, stießen Gewaltbereitschaft und Paranoia gegenüber dem erfolgreicheren Indien auf fruchtbaren Boden. Eigentlich konnte man den Pakistani keinen Vorwurf daraus machen, dass sie sich an die hohlen Versprechungen von Menschenfängern für eine bessere Zukunft klammerten.

Bedauerlicherweise profitierten gerade Armee und Geheimdienst von dieser Entwicklung. Beide hatten so stark an Einfluss gewonnen, dass es der Regierung – und auch den Vereinigten Staaten – kaum noch gelang, sie unter Kontrolle zu behalten. Das Chaos in Pakistan wurde zum Pulverfass, von dem Kennedy nicht glaubte, dass sich die Explosion noch verhindern ließ.

Normalerweise hätte sie unter solchen Umständen in Washington Sofortmaßnahmen eingefordert. Aus zahlreichen Gründen erwies sich das im Fall Pakistans jedoch als unmöglich. Amerikanische Truppen und Wehrmaterial durch das Gebiet zu transportieren, war für den Krieg gegen den Terror von entscheidender Bedeutung. Hinzu kam, dass die pakistanische Regierung im Besitz von mehr als 100 nuklearen Sprengköpfen war.

Letztlich handelte es sich um ein Musterbeispiel für die ungewollten Folgen amerikanischer Außenpolitik. Die Vereinigten Staaten hatten dem Land Milliarden von Dollar zur Verfügung gestellt, um die Sowjets während der Invasion in Afghanistan zu bekämpfen, vor lauter Fixierung auf ihre antikommunistischen Bestrebungen jedoch nicht mitbekommen, dass ein Großteil der Gelder für das pakistanische ABC-Waffen-Programm abgezweigt wurde.

Diese selbstzerstörerischen Tendenzen setzten sich bis heute fort. Amerika pumpte weiterhin zehnstellige Beträge in ein Land, das als Brutzelle der Taliban galt und das Treiben der Terroristen stillschweigend billigte. Ein Land, das nukleare Technologien an Libyen, den Iran und Nordkorea verschachert hatte. Ein Land, das Osama bin Laden Unterschlupf gewährt hatte und inzwischen einigen der gefährlichsten Terroristen der Welt als Operationsbasis diente.

Die schlichte Wahrheit lautete, dass die zunehmend zerrütteten politischen Kräfte in Washington nicht länger daran interessiert waren, unbequeme Entscheidungen zu treffen, um den Kampf gegen den Terror zu gewinnen. Pakistan konnte sich darauf verlassen, dass weiterhin fleißig US-Dollars flossen, lediglich an die Auflage geknüpft, das nukleare Arsenal unter Verschluss zu halten. Im Senat und Repräsentantenhaus wurden die Zahlungen blind durchgewinkt. Die meisten Politiker wollten den Deckel einfach nur lange genug auf dem Topf halten, um die nächste Wahl unbeschadet zu überstehen.

Aber genügte das? Die Gefahr, die das pakistanische Atomprogramm darstellte, bedrängte sie mittlerweile aus mehreren Richtungen: ein Unfall, den Indien fälschlich als Angriff interpretierte, ein Sprengkopf, der einer der zahlreichen Terrororganisationen in die Hände fiel, oder ein Staatsstreich, der einer fundamentalistisch geprägten Nachfolgeregierung den Zugriff auf den kompletten Waffenbestand eröffnete.

Im Zentrum des Ganzen stand die Organisation, die sich hinter dem nichtssagenden Tor verschanzte, dem ihre Wagenkolonne gerade entgegenrollte. Pakistans Inter-Services Intelligence, kurz: ISI.

Ihr Chauffeur behielt den Fuß auf dem Gas, während sie an einer Gruppe von Männern mit Wachhunden und Rollwagen mit Spiegeln vorbeifuhren, die für die Suche nach versteckten Sprengkörpern unter der Karosserie eingesetzt wurden. Statt sich über die Ankunft beunruhigt zu zeigen, zogen sie sich zurück und salutierten Kennedy im Vorbeifahren. Vermutlich sollte damit demonstriert werden, dass man einer Amerikanerin in ihrer Position nicht die üblichen Sicherheitsmaßnahmen zumutete. In Wahrheit steckte etwas anderes dahinter: Zwang man die Kolonne zum Anhalten, musste man damit rechnen, dass sie einem Raketenbeschuss zum Opfer fiel.

Sobald sie sich innerhalb des ummauerten Geländes aufhielten, ließ Kennedy das Seitenfenster herunter und betrachtete die sorgfältig getrimmten Rasenflächen, die Springbrunnen und gepflegten Lehmziegelbauten. Sie fand, dass der Komplex eher an den Campus einer Universität erinnerte als an das Hauptquartier eines der gefährlichsten und verschwiegensten Geheimdienste weltweit. Gut möglich, dass einer ihrer Nachfolger hier eines Tages junge Leute mit Rucksäcken voller Lehrbücher antraf. Sie hoffte darauf, wusste aber, dass eine solche Idylle auf absehbare Zeit Wunschdenken blieb.

Die führenden Fahrzeuge des Konvois scherten zur Seite aus. Die Limousine bremste vor einem großen modernen Gebäude, vor dessen Eingang ein einzelner Mann wartete. Er kam zu ihrer Tür geeilt und schenkte ihr beim Aussteigen ein respektvolles Nicken.

»Dr. Kennedy, herzlich willkommen. Ich bin General Tajs Assistent, Kabir Gadai.« Sie schüttelte die angebotene Hand. Der verbindliche Druck wirkte ähnlich antrainiert wie sein unterkühltes Lächeln. Laut seiner CIA-Akte war Gadai ein extrem gebildeter, moderater Muslim, kürzlich erst 34 geworden. Am College hatte er im Cricket-Team geglänzt, nach dem Abschluss fünf Jahre beim Militär verbracht, zwei davon bei einer Spezialeinheit. Das Sahnehäubchen bildeten eine bildhübsche Ehefrau und Kinder, die als Musterschüler galten. Ein Streber durch und durch.

Abgesehen von seinem durchtrainierten Körper sah man Gadai den militärischen Hintergrund nicht an. Sein Anzug wirkte wie ein maßgeschneidertes Modell von Brooks Brothers, die stylishe Frisur wuchs seitlich bis über die Ohren und er verzichtete darauf, sein attraktives Gesicht wie so viele Armee-Kollegen durch einen Schnurrbart zu verunstalten.

»Bitte folgen Sie mir.« Er führte sie in eine riesige kreisförmige Lobby, in der ein einziger Sicherheitsbeamter Dienst tat und sie kaum eines Blickes würdigte. Gadais Stimme hinterließ ein leises Echo, während er über die Architektur des Gebäudes und die Gründungsgeschichte des ISI in den 40er-Jahren referierte und den Anteil der Organisation am fortwährenden Erfolg Pakistans hervorhob, wie er es optimistisch zusammenfasste.

Natürlich bemühte er sich, keine kontroversen Punkte in seine kleine Geschichtsstunde einfließen zu lassen. Es ging lediglich darum, den Gast bei Laune zu halten, während sich der Aufzug in die oberen Etagen in Bewegung setzte. Er erwähnte die massive Expansion seiner Organisation mit keiner Silbe, finanziert mit Dollars, die eigentlich in den Widerstand der Mudschaheddin gegen die Sowjets hätten fließen sollen. Ebenso verschwieg er den S-Wing, einen losen Zusammenschluss überwiegend im Ruhestand befindlicher ISI-Agenten, denen man nachsagte, mit Terroristen gemeinsame Sache zu machen. Und vor allem ließ er den Umstand unerwähnt, dass der ISI mittlerweile solche Dimensionen erreicht hatte, dass ein früherer pakistanischer Präsident die Organisation mal als ›Staat im Staat‹ bezeichnet hatte.

Die Türen des Aufzugs glitten zur Seite und Gadai führte sie durch einen gut ausgestatteten Trakt, den man für ihre Ankunft offenbar leer geräumt hatte. Ahmed Tajs Suite befand sich am hinteren Ende. Gadai betrat mit ihr das Vorzimmer.

»Es war mir ein Vergnügen, Sie kennenzulernen«, sagte er, bevor er ihr die Tür zum Büro des ISI-Direktors aufhielt. »Ich hoffe, wir sehen uns bald wieder.«

Kennedy lächelte höflich und ging in Tajs Büro. Der Leiter des Geheimdienstes stand sofort vom Schreibtisch auf und kam mit ausgestreckter Hand auf sie zu.

»Wie immer freut es mich sehr, Sie zu sehen, Irene. Ich danke Ihnen, dass Sie die lange Reise auf sich genommen haben. Ich hoffe, sie war nicht zu ermüdend.«

»Es ist ganz schön, mal was anderes als das eigene Büro zu sehen, Ahmed. Ich bin sicher, Sie können das nachvollziehen.«

»Allerdings«, meinte er mitfühlend und zeigte zu einer Gruppe von Couchgarnituren vor einem von insgesamt drei Kaminen. Das Büro war opulent eingerichtet und stand in völligem Widerspruch zur modernen Architektur des Komplexes. Mindestens viermal so groß wie ihr eigenes, waren die Wände mit einer massiven Holztäfelung versehen. In den zahlreichen Bücherregalen fanden sich eine Menge Fotos und andere Erinnerungsstücke, dafür erstaunlich wenig Literatur.

»Tee?«

»Gern. Vielen Dank.«

Kennedy betrachtete Taj, während er ihr einschenkte. Der Mann bildete einen deutlichen Kontrast zur großspurigen Umgebung, von der sie wusste, dass sie auf das Konto seines Vorgängers ging. Auf Druck des Präsidenten hatte das Parlament den neuen Leiter des ISI nicht auf Basis seiner Radikalität oder strategischen Raffinesse bestimmt, sondern bewusst einen ausgesprochen durchschnittlichen Kandidaten auf den Chefsessel befördert.

Taj besaß vor allem ein Talent dafür, militärische Ausrüstung und Personal möglichst effizient zu transportieren und einzusetzen. Außerdem verstand er sich auf das Pampern der Egos und Interessen seiner Vorgesetzten, was ihm den Rang eines Generals der Air Force beschert hatte. Selbst im Vergleich zu seinem jüngeren Assistenten kam Taj nicht besonders gut weg. Sein Anzug wirkte eher billig, er maß gerade mal 1,65 und sein Bäuchlein schien bei jeder neuerlichen Begegnung ein bisschen gewachsen zu sein. Er war nie besonders athletisch gewesen und hatte eher durchschnittliche Zeugnisse nach Hause gebracht. Im Gegensatz zu Gadai, der ihr durchgehend in die Augen gesehen und deutlich und selbstbewusst gesprochen hatte, neigte sein Vorgesetzter dazu, die Worte zu verschlucken und verlegen zu Boden zu starren.

Zunächst hatte sie Tajs Ernennung überrascht. Sie hielt es für eine stillschweigende Bitte um Entschuldigung an Amerika wegen der unrühmlichen Rolle, die Pakistan in der Affäre um die Festnahme Osama bin Ladens einnahm. Doch schnell stellte sie fest, dass der neue Geheimdienstchef exakt die Qualitäten besaß, die ihn für einen Staatspräsidenten unentbehrlich machten. Er ließ sich leicht kontrollieren.

Ob das positiv war oder nicht, ließ sich, wie bei fast allem, was Pakistan betraf, nicht so leicht beantworten. Im ISI gab es mehrere konkurrierende Fraktionen. Es passierte durchaus, dass eine Abteilung gerade einen Terroristen jagte, während die andere ihm Geldscheine in den Hintern stopfte. Diese inneren Zwiste schwächten die Organisation. Auf den ersten Blick mochte das für die Regierung von Vorteil sein, doch letztlich drohte Pakistan genau wegen solcher Entwicklungen in einem gefährlichen Chaos zu versinken.

Mitch Rapp hatte die ISI-Situation auf die simple Frage reduziert, ob man das organisierte oder das unorganisierte Verbrechen vorzog. O-Ton: »Bekommst du’s lieber mit den Jungs von der Mafia zu tun, Irene, oder mit einem Haufen Messer schwingender Junkies?«

»Ich bin froh, dass Sie gekommen sind«, wiederholte Taj, nachdem er ihr eingeschenkt und sich auf dem Sofa gegenüber niedergelassen hatte. »Ich halte ein persönliches Treffen für das Beste, um diese unerfreuliche Angelegenheit abzuschließen.«

»Das sehe ich genauso.«

Sie griff zur Tasse, nippte demonstrativ und machte keinen Hehl daraus, dass sie erst mal ihm das Reden überlassen wollte.

»Bei unserem letzten Treffen haben Sie einige Anschuldigungen vorgebracht.«

»›Anschuldigungen‹ ist übertrieben, Ahmed. Eher Bedenken.«

Seine glanzlosen Augen senkten sich auf den Couchtisch. »Gut, nennen wir es Bedenken. Leider muss ich Ihnen mitteilen, dass sie überwiegend berechtigt waren.«

»Tatsächlich?« Sie zeigte ihm ihr bestes Pokerface.

»Ja. Man hat mich ermächtigt, alle Informationen an Sie weiterzugeben, die uns zu Ihrem Agenten Joseph Rickman vorliegen.«

Sie reagierte nicht, bis sich die Stille so lange hinzog, dass er sich gezwungen fühlte, etwas zu sagen.

»Er ist am Ende des Videos, das im Internet kursierte, nicht gestorben.«

Sie mimte die Überraschte, obwohl sie längst wusste, dass Rickman wie so viele andere vor ihm auf andere Weise gestorben war: durch Mitch Rapp. »Wie bitte? Ich verstehe nicht …«

»In Wahrheit wurde er nach Pakistan gebracht, genauer gesagt in Akhtar Durranis privates Anwesen.«

»Des Leiters Ihres externen ISI-Flügels? Aus welchem Grund?«

»Die Aufnahmen von seinem angeblichen Tod waren eine Finte, damit sowohl Sie als auch ich die weitere Suche nach ihm einstellen. Er wurde in General Durranis Haus so lange festgehalten, bis dieser alles aus Rickman herausgelockt hatte, was er über die CIA-Operationen vor Ort wusste.«

»Und Sie wollen mir jetzt erzählen, dass Sie davon keine Kenntnis hatten?« Kennedy ließ einen Anflug von Skepsis in ihrer Stimme Einzug halten.