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André Link

Blutrot ist die Tudor-Rose

Historischer Roman

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© 2017 André Link

Verlag und Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359

Hamburg

ISBN

Paperback:978-3-7439-4153-3
Hardcover:978-3-7439-4154-0
e-Book:978-3-7439-4155-7

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

André Link

Blutrot ist die

Tudor-Rose

As fortune did advance

To further my desire,

Even so hath fortune’s chance

Thrown all amidst the mire.

Henry Howard, Earl of Surrey

(hingerichtet 1547)

Vorwort von Arbella Stuart (1615)

Ich schreibe dies im Tower von London, wo ich sterben werde. Ich werde gefangen gehalten, weil ich wagte, ohne die Einwilligung unseres erlauchten Herrschers, König James I.., William Seymour, den Enkel von Lord Hertford, zu lieben. Bevor man uns gewaltsam trennte, gab mein Geliebter mir Aufzeichnungen aus seinem Familienbesitz mit. Sie stammen von der Hand seiner Groβmutter Katherine Grey und ihrer Schwestern Jane und Mary, die wie ich die Nähe zum Thron mit Kerkerhaft und einem schmachtvollen Tod bezahlen mussten. Ich habe die losen Blätter abgeschrieben und sie zu einem einheitlichen Ganzen zusammengefügt. Mögen sie der Nachwelt bezeugen, dass königliche Herkunft nicht nur Segen, sondern auch Fluch und Verhängnis sein kann. Die Tudor-Rose ist nicht scharlach- oder purpurfarben, sondern rot wie Blut.

Erstes Buch

Die weiβe Rose

Jane Grey (1537 – 1554)

1

Der Waffenlärm ist verstummt, die Kanonen schweigen. Der einzige Laut kommt von den Dohlen, aber ihr Flug ist träge, ihr Keifen missmutig. Wenn sich eine von ihnen von der Kastanie erhebt, die zwischen White Tower und Wakefield Tower steht, stäubt Schnee zu Boden. Eine weiβe Decke hat sich niedergelegt, mager und zerlöchert, aber ohne Zweifel ein Leichentuch.

Das Gespräch mit Dr. Feckenham hat mir ermüdet. Ich habe ihm klar zu verstehen gegeben, dass, wenn er im Papismus verharrt, er auf dem geraden Weg in die Hölle ist. Eine Weile debattierten der gedrungene, rotwangige kleine Priester und ich über die Gegenwart des Erlösers in Brot und Wein, vor allem jedoch darüber, dass das Heil des Christenmenschen in der Gnade Gottes und nicht in seinen eigenen Werken zu suchen ist. Dann zog sich der arme Wicht zurück, nachdem er mir versichert hatte, er würde die Königin um Gnade ersuchen.

Gnade, was ist das? Hat Mary wirklich geglaubt, dass ich katholisch werde, wenn sie mich am Leben lässt? Sie müsste mich besser kennen. In meinen Kampf für den einzig richtigen Glauben bin ich mit Wahrheit gegürtet, mit Rechtschaffenheit gerüstet. Und als aufrichtige und unerschütterliche Protestantin werde ich - ein Fanal meines Glaubens in den Tod gehen.

Die Schärfe des Beils, es ist nicht das, was ich fürchte. Alle sagen, dass es schnell geht. Schlimm, im Hinblick auf das, was danach kommt, ist auch nicht, dass man seinen hilflosen Körper allen Augen ausliefert und wie ein ausgeblutetes Tier daliegt. Der Leib ist nichts - wichtig ist, dass man würdig und gefasst sein Schicksal auf sich nimmt.

Und das der Welt zu zeigen, dazu ist die Enkelin der französischen Königin und Urenkelin von König Heinrich VII. fest entschlossen.

2

Dass man meine Schwäger nicht mehr auf den Zinnen des Beauchamp Tower sieht, liegt nicht an der kalten Witterung. Frische Luft brauchen sie immer noch, aber jetzt bereiten sie sich auf den schweren Gang ihres Bruders vor – des einzigen von ihnen, den keine Begnadigung vor der Axt bewahrt. Mich hat die beängstigende Unruhe, die sich auf dem Hof bemerkbar macht, ans Fenster gelockt. In Rüstung und Sporen, aber auch in Ketten werden die Rebellen unter den wüsten Beschimpfungen ihrer Wärter zu ihren Zellen gezerrt. Thomas Wyatt, der Anführer des Aufstands, schreitet mit stolz gerecktem Haupt. Als ich aber meinen Vater erkenne, der, ohne die Augen zu heben, sich grau und gebückt in seinen Fesseln voranschleppt, stockt mir der Atem. Ich taumele zurück und flehe Gott an, uns Kraft zu geben.

Mit der Schärfe des Beils bin ich vertraut von Kindesbeinen an. Im Jahr meiner Geburt musste Anne Boleyn, ein paar Jahre später ihre Nachfolgerin Königin Katherine Howard das Blutgerüst besteigen. In wachsendem Argwohn (man könnte es auch Verfolgungswahn nennen) richtete Onkel Henry ein wahres Massaker unter den letzten Nachkommen der Plantagenets (vor allem den Poles und Courtenays) an. Der Henker hatte Überstunden zu machen: Bei der Gräfin von Salesbury, Margaret Pole, musste er drei Mal zuschlagen, bevor es ihm gelang, ihren Kopf vom Rumpf zu trennen, und dabei lag das einzige Vergehen der alten Dame darin, dass sie einen Kardinal zum Sohn hatte.

Noch kurz vor seinem Tod ordnete König Henry die Hinrichtung des Earl of Surrey an, weil der das Wappen seines Ahnherrn Edward des Bekenners in sein Wappen aufgenommen hatte, was anscheinend dem König allein zusteht. Surreys greiser Vater, der Herzog von Norfolk, schmachtete noch bis vor kurzem in den Tiefen des Towers – allerdings habe ich ihn nie zu Gesicht bekommen.

„Madam, Ihr werdet Euch erkälten“, flüstert Elizabeth Tilney, die hinter mir steht. Als ob das jetzt noch Bedeutung hätte. Das Einzige, das mir unangenehm wäre, das wäre es, mit geschwollenen und geröteten Augen vor die Gaffer zu treten.

Unbeirrt bleibe ich am Fenster stehen. Die Glocke hat zehn geschlagen. Wenig später öffnet sich die Pforte des Beauchamp Tower; in Begleitung seines Onkels Sir Anthony Browne, aber ohne Priester tritt Guildford heraus. Ehe er zu dem auf den Tower Hill führenden Tor schreitet, wo der Sheriff auf ihn wartet, blickt er zu meinem Fenster empor. Er ist bleich, sein Gesicht vom Dunkel der letzten Monate gezeichnet, und seine Augen sind von Tränen gerötet.

Einen Moment treffen sich unsere Blicke, doch ohne Regung. Dann geht Guildford weiter. Seine Bitte, von mir Abschied zu nehmen, habe ich ihm abgeschlagen: Es würde die Qual nur unnötig verlängern, und wir werden uns ja in kurzer Zeit in einer besseren Welt wiedersehen.

In dieser besseren Welt, so sagte ich mir, während ich mein

Taschentuch in meinen Händen knetete, wäre ich ihm das,

was ich hienieden nie war: die fügsame und ergebene Gattin.

Die nächste halbe Stunde sollte eine meiner schwersten werden: Meine Damen Tilney, Jacob und Ellyn überboten sich darin, mir Trost zuzusprechen, damit es mir gelänge, meine Fassung zu wahren. Die brach jedoch vollends zusammen, als drauβen das Knirschen von Wagenrädern zu hören war: Auf einem elenden Karren, unter dessen blutgefärbter Plane sich ein menschlicher Körper abzeichnete, wurde Guildford in die Tower-Kapelle gebracht. Ach, die Bitternis des Todes! „Guildford, Guildford!“, stöhnte ich und presste, nicht mehr Herrin meiner Sinne, mein Taschentuch an meine Lippen.

3

Wann habe ich Guildford zum ersten Mal gesehen? Es war wohl, als John Dudley als neu ernannter Lord Admiral seine Söhne an den Hof mitbrachte: Unter ihnen fiel Ambrose durch seinen gelehrten Ernst, Henry durch seine jugendliche Unbefangenheit und Robert durch seine lässige, dunkle Eleganz auf, für die auch Elizabeth nicht unempfänglich war.

Guildford war groβ und schlank, unter hellem Haar, das in eine jungenhaft trotzige Stirn fiel, blitzten graue Augen. Diese Augen hätte man ausdrucksvoll nennen können, wenn aus ihnen nicht ein Hochmut gesprochen hätte, die ihm seine ihn maβlos verwöhnende Mutter eingepflanzt hatte.

Auf jede Frau auβer mir hätte dieser kalte Schönling anziehend gewirkt. Aber ich hatte ja andere Prioritäten.

Die kamen völlig durcheinander, als meine Eltern mich vor einem Jahr zu sich riefen und mir mitteilten, dass ich Guildford Dudley heiraten würde.

Unnütz zu sagen, dass ich aus allen Wolken fiel. Obwohl ich inwendig zitterte, bemühte ich mich, mir meine Erregung nicht anmerken zu lassen. „Ich dachte, ich sei Edward Seymour versprochen“, sagte ich frostig.

„Die Seymours haben ausgedient“, sagte mein Vater, der breitbeinig vor dem Kamin stand. „Guildford ist der Sohn des Lord Protectors und Vorsitzenden des Kronrats.“

„Sein vierter Sohn. Ist das ein ebenbürtiger Gemahl für eine Urenkelin König Henrys VII.?“

„Dudley ist der mächtigste Mann im Staat. Sicher nicht von vornehmster Abstammung, aber ein tüchtiger und ehrenwerter Mann, der sich von der Pike auf hochgearbeitet hat. Keiner von nicht königlichem Geblüt auβer ihm ist bisher zum Herzog erhoben worden.“

„Sein Vater wurde als Hochverräter hingerichtet.“

„Das sind alte Geschichten“, sagte meine Mutter mit dem ungehaltenen Gesichtsausdruck, den ich nur zu gut kannte und der mir eigentlich eine Warnung hätte sein müssen. „Nenn mir bitte eine Adelsfamilie, die kein schwarzes Schaf und keinen zum Tod Verurteilten in ihren Reihen zählt. Zum heutigen Zeitpunkt ist es eine Ehre, wenn der Herzog von Northumberland dir die Hand seines Sohnes anbietet.“

„Aber …“, rang ich nach Ausflüchten, „Ihr wisst doch, gnädige Eltern, dass ich gar nicht heiraten will. Meine Studien …“

„Unsinn, Kind“, fuhr Mutter fort. „An deinen Studien will dich ja niemand hindern. Aber es gibt Wichtigeres. Mit deinen fünfzehn Jahren bist du im heiratsfähigen Alter, und du solltest dich freuen, dass deine Eltern dir die denkbar beste Partie arrangieren.“

Vater fügte hinzu: „Auch der König wünscht die Heirat.“

„Edward wünscht das, was Dudley will.“

„Was für das Urteilsvermögen des Lord Protectors spricht. Ohne Zweifel eine umsichtige Wahl. Im Übrigen haben wir auch deiner Schwester Katherine eine Ehe ausgerichtet. Mit Henry Herbert, dem Sohn des Earl of Pembroke.“

Noch einer von Dudleys ehrgeizbesessener Clique! Ohnmächtig biss ich mir in die Unterlippe, stand ansonsten aber wie ein schmollendes Kind vor meinen Eltern, die mit einer Mischung aus Herausforderung und Herablassung auf mich herunterblickten.

Dann, während Mutter irritiert in den Kamin schaute, räusperte Vater sich und sagte dann barsch: „Deine Eltern haben nur dein Bestes im Sinn. Und als gehorsame Tochter hast du das zu akzeptieren.“

„Und wenn ich mich weigere?“, beharrte ich.

Vater sagte: „Das wirst du uns doch nicht antun?“ Mutter jedoch federte mit einem erbosten Rauschen ihrer Röcke vom Kamin zurück. Zorn flammte in ihren dunklen Tudor-Augen, und ich sah, dass die Reitpeitsche in ihrer rechten Hand zuckte. „Solltest du auf deinem Eigensinn bestehen, gibt es Mittel, dich zur Vernunft zu bringen. Das willst du doch nicht, Jane, oder?“

„Nein!“, schrie ich und sank in einem tiefen Knicks nieder. Ehe Mutter ihre Drohung in die Tat umsetzen konnte, war ich auf die Diele hinausgestürzt. Mary, die in ihrer typischen Art vor der Tür gelauscht hatte, stierte mich aus stumpfsinnigen Augen an. „Aus dem Weg!“, schrie ich, stieβ sie zur Seite und flüchtete an ihr vorbei in mein Zimmer.

4

Wenn ich ehrlich sein will, muss ich zugeben, dass die Strenge meiner Eltern noch nicht einmal auβergewöhnlich war. Andere Kinder unseres Standes fasste man noch härter an. Die beiden kleinen Söhne meines Groβvaters Charles Brandon aus seiner zweiten Ehe mit Katherine Willoughby zum Beispiel mussten, ehe ein bösartiges Fieber sie hinwegraffte, sogar bei Tisch Latein und Griechischen sprechen, bevor sie sich den Tafelfreuden widmen konnten.

Mir kam zugute, dass ich seit meinen frühesten Tagen eine begeisterte Leserin war, und so schlang ich Plato und Herodot, Cicero und Tacitus förmlich in mich hinein. Mit acht begann ich Griechisch, mit zwölf Hebräisch zu studieren, und noch kurz vor meiner unseligen Verehelichung habe ich mich an das Arabische gewagt. Vater, der die Bücher nicht weniger liebte als ich (im Haushalt des unehelichen Sohnes Henrys VIII., des Herzogs von Richmond, wo er aufgewachsen war, hatte die Gelehrsamkeit des Knaben schon sehr früh alle in Erstaunen versetzt), war stolz, dass seine Jane einen Briefwechsel mit dem Schweizer Reformator Heinrich Bullinger unterhielt. Mein Ruf als belesenste Fürstentochter Europas begann über Englands Grenzen hinaus zu strahlen: etwas, das – heute bekenne ich es mit einer gewissen Scham – mir doch groβe Befriedigung verschaffte. Selbst meine umtriebigen Cousins, König Edward und seine Schwester Elizabeth, waren im Spanischen und Italienischen nicht so sattelfest wie ich: Das hat mir jedenfalls Elizabeths Lehrer Roger Ascham versichert.

Natürlich lernten auch Katherine und Mary die alten und neuen Sprachen, aber von ihnen verlangten die Eltern nicht halb so viel wie von mir. Dennoch war auch ihr Tagespensum randvoll gefüllt.

Das ging ohne Pause vom frühen Morgen bis zum späten Abend. Hatten wir nach dem Morgengebet und vor dem Schlafengehen, also zweimal am Tag, den Eltern unsere Aufwartung gemacht und sie hatten mit den üblichen Maulschellen für unsere Verfehlungen – Lobesworte waren seltener – uns segnend entlassen, konnten wir drei aufatmen.

Katherine, die nie richtig erwachsen wurde, kehrte zu ihren Hunden, Affen und Papageien, die in ihrer eigenen Welt lebende Mary zu ihren Puppen und ihren Zeichnungen, die Buchstabenfresserin Jane zu ihren Büchern zurück.

Als Älteste und Ranghöchste hatte in erster Linie ich standesgemäβ aufzutreten, und mir war nicht der geringste Fehltritt, die mindeste Nachlässigkeit erlaubt. Mit vollendeter Würde und unverbrüchlicher Perfektion hatte ich die kostbaren Roben zu tragen, in die man mich zwängte, Stick- und Nähnadel zu führen, Laute und Virginal zu spielen, Pavane und Sarabande zu tanzen. In meinen Adern rollte das Blut Henrys VII., der Englands erster Herrscher aus der Tudor-Dynastie gewesen war, und dessen Tochter Mary, die, bevor sie ihre Jugendliebe Charles Brandon heiraten durfte, die Ehefrau des alternden Franzosenkönigs Louis XII. gewesen war. Dass ich mir dessen in jeder Faser meines Körpers und in jeder Sekunde meines Lebens bewusst sein musste, das hatten mir meine Eltern Henry Grey, Marquis von Dorset, und seine Tudor-Gemahlin Frances Brandon bereits in der Wiege eingebläut.

5

Freilich, unser Leben bestand nicht nur aus dem pausenlosen Eintrichtern von Grammatik- und Anstandsregeln. Wir wuchsen auf Bradgate auf, einem der schönsten Adelssitze Englands. An den Ausläufern des Waldes von Charnwood in Leicestershire gelegen, boten die weitläufigen Parkanlagen den heranwachsenden Grey-Kindern hinreichend Gelegenheit zum Spielen und Herumtollen. Tauchten aus der Umgebung die Dorfbewohner aus und legten uns als Gaben Obst- oder Gebäckkörbe zu Füβen, kamen wir uns wahrhaftig wie Königinnen vor.

Königinnen, das waren wir lediglich durch unsere Blutsverwandtschaft mit Henry VIII.: Erst nach seinen drei Kindern Edward, Mary und Elizabeth (aus den jeweiligen Ehen mit Jane Seymour, Katharina von Spanien und Anne Boleyn) kamen in der Thronfolge die Grey-Schwestern. Ihr Vater war ein bloβer Enkel von Elizabeth Wydville, der Gattin Edwards IV., ihre Mutter aber eine Tochter von Henrys jüngster Schwester Mary. Die ältere Schwester Margaret hatte Henry ausgeschlossen, nachdem er ihren Mann, König James IV. von Schottland, auf dem Schlachtfeld besiegt hatte.

Einen Abglanz des königlichen Prunks mochten wir verspüren (oder uns vormachen), wenn wir in der groβen Halle – Mittelpunkt des Palastes von Bradgate, dessen rosarote Backsteine von dunkelvioletten, diamantförmigen Einlagen glitzerten – unter einem Baldachin zu den Klängen unserer Hauskapelle dinierten.

Erschauern machte uns hingegen das veritable Hofleben, an dem teilzunehmen uns vergönnt war, wenn wir zu Weihnachten nach Windsor, Greenwich oder St. James’s eingeladen waren.

Es ging so hoch her, dass der Herzschlag der kleinen Mädchen, die wir waren, zu jagen begann. Die Tische waren mit Stechpalmen und bestem Sterling-Tafelsilber überladen. Von ihren Estraden aus dröhnten uns die Hofmusikanten „Noël, Noël“ ins Ohr. Es gab farbenfrohe Maskeraden und spielerische Scheinturniere, etwas später auch eine Tierhatz: Der distinguierte Tudor-Hof schüttelte sich vor Lachen, als der Stier die Hundemeute abzuschütteln suchte, die sich an seine Flanken festbiss. Mich stieβ das blutige Schauspiel ab, und ich war froh, als ein Feuerwerk in eisiger Kälte den Abend beschloss.

Zuvor hatten wir dem König der Festtafel, „Sir Loin“, in erster Linie aber König Henry unsere Huldigung dargebracht. Der saβ in seiner ganzen Leibes- und Brokatfülle auf dem Ehrenplatz und lieβ sich, je nach Ehegattin, von Katherine Howard den roten Bart kraulen oder von Katherine Parr Punsch hinter die mächtigen Kinnladen löffeln.

Beiläufig begrüβte der König seine Cousine Frances und winkte, bevor er sie wieder vergaβ, ihren Töchtern mit einem generösen Wink seiner fleischigen Finger zu, an denen Bratenfett und Saphirringe glänzten. Dann wandte er sich dem königlichen Lendenstück zu, von dem der gigantische erste Anschnitt natürlich auf seinem Teller gelandet war.

Prinz Edward, der damals noch seinen rosigen Babyspeck hatte, wirbelte koboldhaft in goldverbrämtem Schneeweiβ oder perlenbesticktem Purpur herum, bemüht, seine Altersgenossen Ambrose und Robert Dudley sowie seinen Spielgefährten und Prügelknaben Barnaby Fitzgerald im Kegelspiel zu schlagen. Gerührt sahen ihm seine Schwestern zu, die aus Wales bzw. Ashridge oder Hatfield angereist waren. Mary verblüffte durch ihren Kleinwuchs - sie schien beinahe so winzig wie die Zwergin Mary Grey zu sein - sowie ihre tiefe männliche Stimme; im Kontrast dazu beeindruckte Elizabeth mit ihrer gertenschlanken Amazonenstatur, die sie unter reformatorischen Kleidern von betonter Schlichtheit herunterzuspielen zu. Beide Schwestern strahlten beste Laune aus, so als mache es ihnen nicht das Geringste aus, dass ihr Vater sie nach der Geburt seines einzigen Sohnes ins Bastardentum zurückgestuft hatte. Im Schach fliegt jeder einmal vom Spielbrett: Wer gerade an der Reihe ist, da entscheidet allein Gott der Herr.

6

Nach dem Ableben seines Vaters im Januar 1547 - der von Gicht und Geschwüren zerfressene, aufgeschwemmte Leib des vierundfünfzigjährigen Herrschers wehrte sich zäh gegen den Tod - war Edward König von England. Er widmete sich diesem Amt mit dem vollen Ernst eines Neunjährigen. Zur Seite stand ihm der Kronrat, mit an der Spitze seinem Onkel Edward Seymour, Herzog von Somerset.

Der Regent, der den Titel eines Lord Protectors annahm, hatte jetzt die Vollmacht, getreu dem „Book of Common Prayer“, dessen treibende Kraft Erzbischof Thomas Cranmer war, die Reformation in vollem Umfang durchzusetzen.

Kerzen, Latein und Heiligenbilder verschwanden aus den Kirchen, die Geistlichen amtierten in asketischem Schwarz, und bei der Wandlung - die Hostie wurde nicht mehr emporgehoben - durfte man keinesfalls niederknien.

In frappierendem Gegensatz zu der neuen evangelischen Gottesfürchtigkeit stand „Somerset House“, die Residenz, die der Lord Protector sich mit dem Prunk eines venezianischen Palazzos an den Ufern der Themse ausbauen lieβ. Für sich selber gab Edward Seymour Unsummen aus, seinen königlichen Neffen hielt er knapp bei Kasse. Da aber selbst Könige, auch wenn sie noch minderjährig sind und keine hohen Ansprüche stellen, ein kleines Taschengeld brauchen, war Edward froh, wenn ihm sein jüngerer Onkel Thomas ab und zu etwas zusteckte.

Thomas Seymour, der den Rang eines Lord High Admiral

innehatte, war ein lustiges Blut und mit seiner schönen,

athletischen Statur und seinem stattlichen roten Vollbart, der ihm über die männlich gewölbte Brust wallte, sehr beliebt bei der Damenwelt. So hatte er das Herz von Katherine Parr gewonnen, noch ehe sie Henrys letzte Gattin wurde. Wenige Monate nach dem Tod des