RAINER FUHRMANN

 

 

Medusa

 

 

KOSMOLOGIEN – SCIENCE FICTION AUS DER DDR, Band 1

 

 

 

Roman

 

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

Der Autor 

 

MEDUSA 

 

Mai 2095 

 

1. Kapitel 

2. Kapitel 

3. Kapitel 

4. Kapitel 

5. Kapitel 

6. Kapitel 

7. Kapitel 

8. Kapitel 

9. Kapitel 

10. Kapitel 

11. Kapitel 

12. Kapitel 

13. Kapitel 

14. Kapitel 

15. Kapitel 

16. Kapitel 

17. Kapitel 

18. Kapitel 

19. Kapitel 

20. Kapitel 

21. Kapitel 

22. Kapitel 

23. Kapitel 

24. Kapitel 

25. Kapitel 

26. Kapitel 

27. Kapitel 

28. Kapitel 

29. Kapitel 

30. Kapitel 

31. Kapitel 

32. Kapitel 

33. Kapitel 

34. Kapitel 

 

April 2096 

 

 

Das Buch

 

Hundertsechsundzwanzig Jahre alt ist Christian geworden. Nun will er nicht mehr. Was seinem Leben einen Sinn gab, existiert nicht mehr; die Menschen, die er liebte und für die er sorgte, sind inzwischen alle tot. Nur eins lässt ihm noch immer keine Ruhe: Er wurde mit anderen Zeuge einer Katastrophe, die beinahe das Ende der Welt bedeutet hätte. Nun ist er der letzte dieser Zeugen und durch den Tod sämtlicher Mitwisser von seiner Schweigepflicht entbunden. Er glaubt, der Nachwelt schuldig zu sein, ihr zu offenbaren, was damals wirklich geschehen ist:

Sie waren etwas blauäugig an die geheimen gentechnischen Experimente herangegangen, glaubten zuversichtlich, die Evolution beschleunigen und einige Millionen Jahre überspringen zu können. Aber angesichts der grauenvollen Ergebnisse waren ihm bald Zweifel gekommen. Er hatte sich dem Missbrauch entgegengestellt - und sich, getreten und verhöhnt, am Boden wiedergefunden. Aber allen Widerständen zum Trotz hatte er die Kraft aufgebracht, das zu tun, was Menschenliebe ihm zur Pflicht machte...

 

Mit Rainer Fuhrmanns Meisterwerk Medusa startet der Apex-Verlag seine Reihe Kosmologien – Science Fiction aus der DDR.

Medusa, erstmals im Jahre 1985 veröffentlicht, gleicht einem Echo aus einem Paralleluniversum – und ist zugleich hinsichtlich politischer, ethischer und gesellschaftlicher Aspekte/Wirklichkeiten aktueller und zeitloser denn je.

 

 

»MEDUSA ist (...) ein gelungenes Beispiel dafür, daß SF sowohl spannend als auch gut sein kann. Ein DDR-Autor schreibt sich in die Bereiche vor, in denen die Spitzenkönner zu Hause sind (Lem, Strugazki, LeGuin, Bradbury).«

 

- Volksstimme, Magdeburg (Mai 1986)

 

Der Autor

 

Rainer Fuhrmann,  (* 11. September 1940; † 3. November 1990).

Rainer Fuhrmann war ein deutscher Science-Fiction-Schriftsteller.

Fuhrmann erlernte den Beruf des Drehers, arbeitete als Mechaniker, erwarb den Meisterbrief als Mechaniker-Meister, brach ein Studium der Maschinenbautechnologie ab, um mehr Zeit zum Schreiben zu haben, und arbeitete als wissenschaftlich-technischer Mitarbeiter und Konstrukteur, bevor er 1980 freischaffender Schriftsteller wurde. Viele Jahre seines Berufslebens war er in der Orthopädietechnik tätig, und seine dabei gewonnenen Erfahrungen aus dem Gesundheitswesen sind in einigen seiner Werke spürbar.

Rainer Fuhrmann galt als einer der herausragenden Autoren der Science Fiction in der DDR. Er thematisierte 1977 unter anderem Gen-Manipulation am Menschen in dem Roman Homo Sapiens 10-2, in welchem das Experiment eines skrupellosen Wissenschaftlers dazu führt, dass eine Gruppe von Menschen miniaturisiert wird, bis sie an die Grenzen der Physik stoßen.

Zu Fuhrmanns bekanntesten Werken zählen die SF-Romane Homo Sapiens 10-2 (1977), Das Raumschiff aus der Steinzeit (1978), Planet der Sirenen (1981), Medusa (1985) sowie Kairos (1996), der erst nach dem Tod des Autors erschien und welcher gemeinhin als Fuhrmanns Abrechnung mit der DDR gilt.

Darüber hinaus schrieb er – neben zahlreichen Kurzgeschichten und Erzählungen – die utopischen Kriminalromane Per Kippschalter (1981), Herzstillstand (1981),  Zweimal vierundzwanzig Stunden (1982) und Kantharidin (1985), die allesamt in der legendären Reihe Blaulicht erschienen.

 

Der Apex-Verlag widmet Rainer Fuhrmann eine umfangreiche Werkausgabe.

  MEDUSA

 

 

 

 

 

  Mai 2095

 

Der Arzt war jung. Ein schmales Oberlippenbärtchen verlieh dem glatten Gesicht Profil. Seine Augen blickten den grünbewipfelten Abhang hinunter ins Tal, aus dem das leise Rauschen eines Wildbachs tönte.

Der Chefarzt hatte ihn vorbereitet: »Die Symptome sind lehrbuchhaft.« Und dozierend hinzugefügt: »Es ist nicht unsere Aufgabe, ewiges Leben zu schaffen, sondern vorzeitiges Ableben zu verhindern oder es wenigstens zu erleichtern. Bleiben Sie bei ihm, vermitteln Sie ihm das Gefühl Ihrer Nähe, und entwickeln Sie das Gespür, zu bleiben oder zu gehen - bevor er es wünscht.«

Er wandte den Kopf. Im Liegestuhl saß, in eine Wolldecke gehüllt, ein alter Mann mit weißen Haaren und klaren braunen Augen. Das Gesicht zeigte nur wenige Spuren der Verwüstung, die die Zeit hinterlässt und die manche als Charakterkopf bezeichnen. Der hagere Körper bot den Anblick eines rüstigen Achtzigjährigen. Dabei trennten sie auf den Tag hundertundzwei Jahre. Unfassbar!

Der Alte zündete sich eine lange Zigarre an. »Ich habe Sie zu mir gebeten, weil ich Sie um etwas bitten möchte.« Er schenkte sich einen italienischen Weinbrand ein und stellte die Flasche neben den Liegestuhl. Auf den strafenden Blick des jungen Arztes antwortete er mit einem schwachen Lächeln. »Als ich vor dreiundzwanzig Jahren, nach dem Tode meiner Stefanie, mit dem Rauchen und Trinken anfing, sagte ein Kollege von Ihnen, wenn ich dieses Laster beibehielte, würde ich nicht alt werden. Er starb vor fünf Jahren.« Er fing den Blick des jungen Arztes und hielt ihn fest. »Ich lebe immer noch. Aber nicht mehr lange. Und Sie wissen es.«

Der Arzt senkte den Blick.

»Darum meine Bitte«, fuhr der Alte fort. »Ich bin hundertsechsundzwanzig Jahre, gehöre nicht mehr in diese Welt. Habe meinen Platz über Gebühr in Anspruch genommen.« Er übersah die ablehnende Geste. »Vierzig Jahre sind mir geschenkt worden - und ich weiß nicht, ob ich mich darüber freue. Ein Geschenk, das nicht für alle gilt, macht einsam. Meine Kinder habe ich vor mir unter die Erde gebracht, sogar schon einen Enkel - das schlimmste, was einem Vater geschehen kann. Meine Freunde sind gegangen, vor vielen, vielen Jahren. Neue Bindungen gibt es nicht, kann es nicht mehr geben...« Er stäubte die Asche von seiner Zigarre. »Wenn ich Menschen besuchen will, die mir verbunden waren, muss ich auf den Friedhof gehen. Mir ist, als wäre ich ein Denkmal. Schlimmer: ein Fossil, das letzte lebende Exemplar einer erloschenen Gattung.« Er schenkte sich den zweiten Weinbrand ein und betrachtete die Rauchschwaden seiner Zigarre. »Ich habe keine Aufgabe mehr.« Er stockte einen Augenblick. »Haben Sie die Gören gesehen, die sich den halben Vormittag zu Tode langweilen? Pflichtbesuche meiner Urenkel. Menschen, die zwischen sich und mir kaum noch eine verwandtschaftliche Beziehung erkennen, für die es beinahe ungehörig ist, dass ich noch lebe, ein fremder alter Mann aus der Nachbarschaft.«

Der junge Arzt schwieg.

»Keine Frau, keine Freunde«, fuhr der Alte fort, »nicht einmal Gesprächspartner. In diesem Sanatorium leben Achtzig- und Neunzigjährige. Das ist, als hätten Sie sich in einem Kindergarten einquartiert. Ich muss mir ihre naiven Ansichten und ihre wurmstichigen Witze anhören und darf nicht zeigen, wie sehr sie mich langweilen. Vierzig Jahre haben wir mit Medusa gelebt, vierzig Jahre Aufschub bekommen. Stefanie wurde hundert. - Habe ich Ihnen schon erzählt, dass sie mit siebzig unseren letzten Sohn bekam? Damals sah sie kaum älter aus als dreißig... Mein Gott, der Junge ist inzwischen Großvater.«

Er schwieg längere Zeit. Zog sich die Wolldecke bis zum Hals. »Nein, mir ist nicht kalt. Bemühen Sie sich nicht.« Er schenkte sich den dritten Weinbrand ein, schwenkte das Glas und hielt es prüfend unter die Nase.

Der junge Arzt hob abwehrend die Hand, ließ sie jedoch gleich darauf sinken. Wozu der Protest? Er änderte nichts.

»Stefanie, Stefanie«, murmelte der alte Mann, »wenn es wenigstens dich noch gäbe.« Ein wenig lauter: »Es reut mich nicht, aus einer Welt zu gehen, die ich nicht mehr verstehe.« Er betrachtete den Arzt mit einem Gemisch aus Spott und Resignation. »Was sagen Sie?« Und nachsichtig: »Mein lieber junger Freund, ich habe achtzig Jahre im Gesundheitswesen gearbeitet. Glauben Sie ernsthaft, ich wüsste die Symptome nicht zu deuten, hätte sie nicht schon hundertfach bei anderen Patienten gesehen?

Nein, nicht deprimiert, ein wenig bitter bin ich. Spielt es noch eine Rolle?

Ja - bitter. Warum?

Vierzig Jahre - es waren meine besten - verbrachte ich in einem offenen Gefängnis. Sie haben das Haus im Park der Margareten-Klinik gesehen? Sicher, ein schönes Gefängnis - Ihre Ironie ist fehl am Platz. Ein Gefängnis blieb es trotzdem. Kein Schritt ohne Bewachung, kein Einkaufsbummel, ohne dass vorher ganze Straßenzüge abgeriegelt wurden. Ich konnte mich bewegen, wohin ich wollte. Brauchte nur dem Beauftragten meine Route vorzulegen - und alles wurde geregelt. In dichtbevölkerten Städten bummelten wir durch menschenleere Straßen, waren in den Geschäften die einzigen Kunden, sahen neben jedem Verkäufer einen Beamten stehen... Wenn wir in Urlaub fuhren, wurde die gesamte Strecke gesperrt. Vor und hinter unserem Wagen eine Eskorte, die Luft von Hubschraubern überwacht, die Strände an der See geräumt und leer, als wäre meine Frau, die Kinder, Medusa und ich die einzigen Menschen dieser Erde...

Doch, so war es! Ich wurde behandelt wie eine wandelnde Atombombe. Meine Welt war die Klinik. Wenn ich jemanden ansprach, musste dieser gewärtig sein, dass sein Privatleben unter die Lupe genommen wurde, mit peinlicher Sorgfalt. Eine Maßnahme, die mich mit der Zeit isolierte.

Nein, leider nicht unbegründet, es gab mehrmals Versuche... Schließlich besaß ich etwas - man glaubte es zumindest -, was unüberwindliche Macht verlieh. Daher mussten Menschen, die mit uns in Berührung kamen, über jeden Verdacht erhaben sein. Meine Kinder hatten, wenn sie achtzehn wurden, unser Haus zu verlassen... Kein Grund zur Klage, denn sie bekamen Wohnraum, Studienplätze, Aufgaben - aber weit entfernt, so dass sie uns höchstens einmal im Monat besuchen konnten.

Gewiss, ich hätte nicht anders entschieden. Aber Vernunft hat mit Gefühl nichts gemein. Und Sie wundern sich, dass ich verbittert bin! Das ist es ja: Ich sah die Notwendigkeit ein - und litt trotzdem.« Er hob den düsteren Blick. »Nun zu meiner Bitte, Herr Doktor...

Ach, Sie haben noch nicht promoviert? Dann wird es Zeit. Wissen und der Weg dazu sind die einzigen Dinge, die im Leben echte Befriedigung bringen - ausgenommen eine harmonische Ehe. Mein Zimmernachbar, ein junger Mann von vierundachtzig, lernt Spanisch. Dabei beherrscht er bereits vier Sprachen. Bewundere das. Er hat die Aufgabe. Das ist es! Uns Alten wird nur noch Zerstreuung geboten. Alles, was für uns getan wird, ist von Jüngeren für Ältere ausgedacht worden - und bestenfalls dazu gut, die Zeit totzuschlagen. Nichts Sinnvolles. Wer aber kennt unsere Bedürfnisse? Wer, außer uns? Mein lieber junger Freund: Die Menschen auf diesem Planeten leben in vier Dimensionen: Kindheit, Jugend, Reife, Alter. Jede ist von der anderen weiter entfernt als die Sterne, und es gelingt keinem in die Dimension der anderen zu sehen oder sie gar zu verstehen, obwohl wir eine gemeinsame Sprache haben. Wenn Sie das erfassen können, wissen Sie auch, weshalb ich jedes Ihrer Worte belächeln muss.«

Der Alte ließ sich in den Liegestuhl zurücksinken. Er legte den Zigarrenstummel in den Aschenbecher und betrachtete die bunte hölzerne Zigarrenkiste. Eine Sorte, die von der Leitung des Sanatoriums direkt aus Kuba bezogen wurde, um einigen wenigen Bewohnern das gewohnte Laster zu bieten.

Er griff nach dem vierten Weinbrand. »Mir wurden Jahrzehnte geschenkt. Ich sah mit zweiundsiebzig um keinen Tag älter aus als mit zweiunddreißig. Auch an Stefanie gingen diese Jahre spurlos vorüber. Mit siebzig bekam sie unseren letzten Sohn, obwohl sie jeder auf höchstens...

Das habe ich schon einmal erzählt?

Das geht alten Leuten nun einmal so, mein Freund, dass sie immer wieder dasselbe erzählen. Warum auch nicht? Das ist kein Zeichen dafür, dass wir senil werden, sondern dass es für uns nichts Neues gibt. Man schöpft aus dem Vorrat seiner Erinnerungen. Doch auch die finden einmal ein Ende - und man beginnt von vorn, denn nichts ist schlimmer als das Schweigen.

Ich habe daher den Entschluss gefasst, mein Leben - besser: einen Abschnitt meines Lebens - aufzuschreiben, eine Episode, die vor sechsundneunzig Jahren, als Ihre Großeltern noch nicht geboren waren, begann und mit dem Tode Medusas, vor vierundfünfzig Jahren, endete.« Er überlegte. »Nein, ich werde mich auf den Beginn der Geschichte beschränken. Bitte, bringen Sie mir Schreibpapier, einen großen Stapel. Ich muss aufschreiben, was außer mir niemand mehr weiß. Ich bin der letzte Überlebende. Es liegt alles so lange zurück, ich bin nicht mehr zu schweigen verpflichtet. Mir bleibt nicht viel Zeit. Eine letzte Aufgabe.« Er blickte den jungen Arzt bittend an und tastete nach der Weinbrandflasche. »Für wen aufschreiben? Nicht für meine Ururenkel, aber vielleicht für einige Wissenschaftler. Es gibt doch so etwas wie eine Geschichte der Medizin. Möglicherweise hätten die Philosophen dafür Verwendung, wenn sie nach Beispielen suchen, wo Genie in Verbrechen übergeht oder wo Forschungsgeist und Ethik miteinander in Konflikt geraten. Und für mich ist es eine Möglichkeit, die Vergangenheit noch einmal zu erleben.

Ja, an vieles, was vor neunzig Jahren geschah, kann ich mich deutlicher erinnern als an den vergangenen Monat. Das Gedächtnis ist ein sonderbares Ding. Nur eine Frage: Habe ich noch genügend Zeit, bis...

Danke, mein Freund, das wollte ich wissen.«

 

 

 

 

 

  1. Kapitel

 

 

Das Zimmer kannte ich nicht. Wie, zum Teufel, bin ich hierhergekommen?

In meinem Kopf raunte es hohl wie in einer Kirche zur Zeit der Abendandacht. Ich versuchte mich umzudrehen. Es misslang. Ich lag unter einer dünnen Decke. Beide Beine befanden sich im Streckverband. Der linke Arm war in Bandagen gehüllt. Eine Untersuchung mit der freien Hand ergab, dass auch mein Kopf bandagiert war.

Wo befand ich mich?

Auf dem Tischchen neben dem Bett lag ein Taschenrechner. Ich hielt mir das Bedienungsfeld vor Augen. Nein, kein Taschenrechner. Es war viel zu groß. Zahllose Tasten auf der Frontseite: sechs Programme des Fernsehens, Senderwahl des Hörfunks, Schalter für Deckenlicht, Temperaturregler, Leseleuchte, Balkontür, Sonnenschutz, Nackenstütze, Sanitäranlage und Ruf der Krankenschwester... Das war ein Kontakter, wie er zur Ausstattung eines Patientenzimmers gehörte. Krankenhaus?

Leise wurde die Tür geöffnet. Eine junge Krankenschwester trat herein, huschte lautlos auf das Fenster zu, lehnte die Balkontür an, trat an mein Bett und richtete nach einem prüfenden Blick das Kopfkissen.

Ich räusperte mich. Meine Kehle war ausgedörrt. In den Schläfen pochte ein dumpfer Schmerz. Sobald ich die Augen schloss, hatte ich das Gefühl, rückwärts in einen Abgrund zu stürzen.

»Durst«, hauchte ich.

»Möchten Sie Tee oder Fruchtsaft?«

Ich bewegte matt die Hand. »Mir egal. Wo bin ich?«

»In der stationären Abteilung der Chirurgie der Margareten-Klinik. Sie hatten einen Unfall mit dem Motorrad.« Die Schwester klopfte das Kissen, zog die Decke zurecht und zeigte auf die Vase, aus der sich ein Strauß Gartenblumen in saftigen Farben in die Sonne streckte. »Das hat jemand mitgebracht, während Sie schliefen. Eine junge Frau und ein Kollege von Ihnen.«

Regina?

»Sie war ziemlich aufgeregt.« Die Schwester nickte mir aufmunternd zu und verließ das Zimmer.

Ich hob den Kopf und schielte zum Tisch hinüber. Neben der Vase lag ein in Seidenpapier eingewickelter länglicher Gegenstand. Aha, der obligatorische Kasten Konfekt von den Kollegen.

Für kurze Zeit sank ich zurück in einen Dämmerzustand voll farbiger Träume, in denen immer wieder Reginas Gesicht auftauchte.

Wieder öffnete sich die Tür, diesmal nicht lautlos. Ich schreckte auf. Ein hochgewachsener, etwa vierzig Jahre alter Mann trat herein. Sein Haar war dunkel, leicht gewellt, das Gesicht ein wenig hager. Bemerkenswert waren die ungewöhnlichen, leuchtenden Augen des Mannes.

Er trat heran, nahm die Hände aus den Kitteltaschen und warf einen Blick in den Hefter, den er unter dem Arm getragen hatte.

»Die Schwester sagte mir, Sie wären erwacht.« Seine Stimme dröhnte, ein raumfüllender Bass. »Mein Name ist Kadenbach. Ich bin der Chefarzt der Chirurgie. Sie hatten Besuch, wussten Sie das? Egal, kommt wieder, verlassen Sie sich drauf. Frauen kommen immer wieder, solange sie uns noch nicht sicher am Haken wähnen. Erst danach überschütten sie uns mit Vorwürfen. - Na, wie geht es uns?«

»Wie lange muss ich noch hierbleiben?« Ich ärgerte mich über meine kraftlose Stimme.

»Na, hören Sie mal«, erwiderte Kadenbach. »Sie sind doch gerade erst gekommen! Man hat Sie mir gestern in einem äußerst desolaten Zustand in den OP gebracht.« Er musterte mich der Länge nach. «Das war vielleicht eine Arbeit! Puzzlespiel ist kein Ausdruck dafür.«

»Was ist mit - meinem Motorrad?«, fragte ich stockend.

»Stellen Sie es als moderne Skulptur im Garten auf«, schlug Kadenbach vor. »Um Sie zusammenzuflicken, bedurfte es eines talentierten Chirurgen. Für Ihr Motorrad benötigen Sie einen Zauberer.« Er drehte sich herum und betrachtete die Blumen. »Herrlich, wirklich herrlich! Haben Sie die gepflückt, als Sie über den Zaun in die Gärtnerei geflogen sind? - War nur ein Scherz. Na gut, Herr...«, er blickte in den Hefter, »ach was, heißen Sie wirklich Rührtanz?«

Ich ächzte. »So heiße ich. Aber ich möchte versichern, dass mir alle Spielarten meines Namens...«

»Machen Sie sich nichts draus«, sagte Kadenbach und warf einen zweiten Blick in den Hefter. »Mechaniker sind Sie, sogar Meister? Interessant. - Komme morgen wieder. Halten Sie die Ohren steif.« Er lächelte, ging mit elastischem, schnellem Schritt hinaus.

 

 

 

 

 

  2. Kapitel

 

 

Die Besuchszeit näherte sich dem Ende. Regina saß am Fußende meines Bettes. Ihre Haare leuchteten kupferfarben im Licht der Nachmittagssonne. Sie betastete meine Beine und betrachtete mich aus feuchten Augen. Sie sprach kein Wort.

Regina, Regina, ich hätte dir so viel zu sagen! Ich wollte ihre sommersprossige Hand spüren, ihre Gegenwart fühlen und ihre Mädchenstimme hören. Aber dazu kam es nicht, denn mit ihr war mein Kollege Rockelt ins Zimmer getreten, jung, unbekümmert, und schwatzhaft wie ein Wellensittich. Er hatte sich einen Sessel herangezogen und hockte am Kopfende des Bettes. Aus seinem fröhlichen Tonfall schloss ich, dass man ihm eingeschärft hatte: den Kranken aufmöbeln, ablenken, Hoffnung machen, die Verletzungen bagatellisieren: Na, die Schrammen sind in ein paar Wochen zu! - Das war ja alles gut gemeint, aber - hatte der Kerl keine Augen im Kopf? Sah er nicht, was los war?

»Übrigens«, sagte Rockelt und betrachtete die auf dem Couchtisch stehende Blumenvase, »trägst du dich mit der Absicht, dich zu verändern?«

»Kein Gedanke«, erwiderte ich. »Wie kommst du darauf?«

Es sollte mir wohl nicht gelingen, mit Regina ein paar Minuten allein zu sein.

Rockelt blickte mich zweifelnd an. »Es kursieren Gerüchte.«

»Was für Gerüchte?«

»Vorgestern kam Forschungsleiter Braun mit einem hochgewachsenen Kerl an, ging durch die Räume und zeigte ihm deinen Arbeitsplatz. Besonders interessierte sich der Mann für die Dinge, die du konstruiert und gebaut hast. Er wollte sich wohl an Ort und Stelle von deinen Fähigkeiten überzeugen. Weißt du, wer das war?«

»Keine Ahnung.«

Rockelt zog die Brauen hoch. »Wirklich nicht?«

»Ehrenwort«, sagte ich ungehalten. Mein Gott, er war mir ja sympathisch und wir arbeiteten seit einigen Jahren gut zusammen, aber merkte der Kerl immer noch nichts? Mensch, du störst! Was interessiert mich jetzt der Betriebsklatsch, da Regina eine Armlänge von mir mit enttäuschtem Lächeln saß? Rockelt - du Rind! Hast weniger Taktgefühl als ein Treteimer!

»Ich dachte, wegen der Gehaltserhöhung...«

»Unsinn!«, schrie ich. »Ich habe keine Sekunde daran gedacht, mir eine andere Stellung zu suchen. Selbst die versprochene, aber bisher nicht gezahlte Gehaltserhöhung ist für mich kein Grund!«

»Jaja, was Versprechungen angeht, darin ist unsere Bude von keiner anderen zu schlagen. Manchem könnte der Geduldsfaden reißen. Verständlich wäre es, wenn du deinen Hut nimmst.«

»Ich liege hier seit einer Woche«, gab ich grimmig zurück. »Sieh mich an! Was glaubst du, was ich in dieser Stellung für Aktivitäten entwickeln kann?«

Eine Schwester steckte den Kopf durch den Türspalt. »Die Besuchszeit ist zu Ende.«

Da hatten wir den Salat! Nun war alles vorbei.

Doch da geschah ein Wunder. Rockelt verabschiedete sich. Er schien beruhigt, warf einen anerkennenden Blick auf Regina, pfiff anzüglich und verschwand.

Regina rückte zum Kopfende vor. »Oh, Christian«, sagte sie.

»Kommst du wieder?«

Regina nickte. »Du wolltest zu mir, als - es passierte?«

Ich streckte die Hand aus und berührte ihr Gesicht. »Man sollte nicht an rote Haare, Bernsteinaugen und eine duftende Haut denken, wenn man auf einem Motorrad sitzt.«

Regina lächelte. »Dann - bis zum nächsten Mal.« Ihr Gesicht flammte. Ich hielt ihre schmale, hellhäutige, mit Sommersprossen bedeckte Hand und drückte sie sanft.

Regina zog die Bettdecke zurecht, zupfte an ihrem Kleid. Plötzlich beugte sie sich vor, drückte mir einen Kuss auf die Lippen und rannte hinaus.

Ich senkte die Nackenstütze, genoß den lauen Wind, der durch die offene Balkontür wehte, fühlte mich angestrengt und entspannt zugleich. Ich hätte aufspringen und mir die Bandagen vom Körper reißen können.

Schwungvoll wurde die Tür geöffnet.

Der Chefarzt!

Er blickte mir ins Gesicht. »Na, was machen denn unsere Gräten, mein lieber Rührtanz?«

»Danke, ich kann nicht genug klagen.« Ich zerrte an meinem Kopfkissen.

Kadenbach lachte, dass die Tauben vom Balkon hochschreckten. Er zog einen Sessel heran. »Ich wollte mich ein wenig mit Ihnen unterhalten. Habe gerade etwas Zeit. Wie fühlen wir uns? Sind wir gegenwärtig bereits einem Gespräch gewachsen?«

»Glaub schon«, stöhnte ich. »Meine Ohren sind noch intakt.«

Kadenbach lächelte breit. »Die sind auch ziemlich das einzige, was an Ihnen heil geblieben ist. Ein Wunder bei Ihrem Sturz. Steigen Sie lieber von Ihrem Motorrad, und widmen Sie sich einem vierräderigen Untersatz. Eine solide Blechfestung bietet mehr Sicherheit - zumindest für Sie. Überhaupt: Sind Sie nicht ein wenig zu alt für solchen Ofen? Sie sind dreißig, Mann.«

»Man ist so alt...«

»Im Augenblick fühlen Sie sich wie hundert, möchte ich wetten. Na gut. Es freut mich, dass Sie zu einem Gespräch bereit sind. Freilich hätte ich damit noch etwas warten können, denn schließlich sind Sie längere Zeit mein Gast. Doch ich bin ein Freund schneller Entscheidungen. Sie arbeiten in einem dem Städtischen Gesundheitswesen angegliederten Betrieb, im medizinischen und orthopädischen Gerätebau. Sind an der Entwicklung von orthopädischen Hilfsmitteln beteiligt.«

»Nur, soweit es die mechanische Seite betrifft.«

»Wie ich hörte, wird auch ein Teil der Konstruktionen von Ihnen angefertigt?«

»Ja, einschließlich der ersten Versuchsmuster.«

»Sie müssen demnach in der Theorie und in der Praxis gleich stark sein. Man erzählte mir, Sie hätten sogar drei Patente angemeldet. Offenbar sind Sie ein Mann, der gerne tüftelt.« Der letzte Satz war mehr eine Feststellung als eine Frage. Kadenbach wartete darum auch keine Antwort ab. »Ich habe mich von Ihren Fähigkeiten überzeugt. Für einen Laien wie mich verblüffend. War beeindruckt. Sehr gut.«

Mir ging ein Licht auf. Ein Blitzlicht. Darum versuchte mich Rockelt auszuhorchen! »Sie haben meinen Betrieb auf gesucht?«

Kadenbach lächelte verlegen. »Ihr Betrieb ist dem Gesundheitswesen angegliedert. Meine Rücksprache war folglich nichts anderes als der Besuch eines Kollegen von der Dachorganisation. Es war ein Problem für mich, einen Termin bei Ihrem Direktor zu bekommen. Doch es berührte mich beinahe peinlich, dass er sich so schnell überzeugen ließ.«

»Zu überzeugen? Wovon?«

Kadenbach breitete die Arme aus. »Dass Ihren Fähigkeiten ein breiterer Raum zur Entfaltung gebührt. Ihr Wechsel wäre nichts anderes als eine - im weitesten Sinne - Umbesetzung innerhalb des Betriebes.«

Ich war sprachlos. Was für eine Unverschämtheit! Ohne mich um meine Meinung zu fragen, sich über meinen Kopf hinweg mit dem Betriebsdirektor zu arrangieren! Von mir wurde lediglich die Zustimmung verlangt. Nein, meine Herren! Freiwillig hätte ich mich vielleicht zu einem Wechsel entschlossen, aber nicht auf die Tour!

So, der Betriebsdirektor hat sich also mit dem Chefarzt geeinigt! Da seid ihr in den Arm gekniffen, denn euch fehlt das Wichtigste: meine Zusage! Und da könnt ihr strampeln!

»Freilich«, gab Kadenbach zu, »mein Vorgehen ist ein wenig - na, sagen wir - unkonventionell. Doch habe ich gute Gründe. Ich baue ein Forschungslabor auf. Mir schwebt die Einheit zwischen Forschung und Anwendung vor. Hinzu kommt alles, was in der Allgemein-, orthopädischen und - meiner Spezialstrecke -- der re- konstruktiven Hand-Chirurgie anfällt: Herstellung maßgeschneiderter Gelenke, Reparaturen, Hilfsmittel und so weiter. Es fallen viele mechanische Probleme an. Mein Team wäre mit Ihnen komplett, also zwei Mann - meine Wenigkeit nicht gerechnet. Ich bin nicht in der Lage, einen Angehörigen Ihres Berufes fachlich anzuleiten. Folglich brauche ich jemanden, der perfekt ist. Von dem ich es weiß. Sie sind es. Ich informiere mich vorher von den Fähigkeiten eines Mannes, dem ich einen Posten anbiete. Einen ungeeigneten Mitarbeiter wieder loszuwerden ist schließlich nicht ganz einfach. In jedem Betrieb lässt sich selbst für eine Flasche Verwendung finden, und wenn sie Bleche entrostet. Bei mir jedoch steht oder fällt alles mit dem Können dieses Mannes. Nun?«

Ich schwieg. Plumpe Abwerbung, weiter nichts! Ich fühlte mich bedrängt, beinahe genötigt. Bevor ich etwas sagte, was meiner Stimmung entsprach, sagte ich lieber nichts.

Kadenbach wertete das wohl als gutes Zeichen. Er dämpfte seine Stimme. »Pro forma zahlen wir Ihnen im ersten Vierteljahr das gleiche Gehalt. Das Gesundheitswesen ist für Nichtmediziner ein schlechtes Pflaster. Doch lässt sich über Gehaltsprämien, Erschwerniszuschläge und Forschungsprämien reden. Wir stehen erst am Anfang. Räume sind in ausreichender Menge und Größe vorhanden. Sie müssten sich um deren Einrichtung und Ausrüstung kümmern. Darin lasse ich Ihnen freie Hand. Meine Investmittel sind genehmigt und bisher nicht in Anspruch genommen. Ich brauche nur noch jemanden, der das Geld ausgibt.«

Ich grunzte unwillig. »Ich bin mit meiner Arbeit ganz zufrieden.«

Kadenbach machte eine wegwischende Geste. »Was heißt zufrieden? Glücklich müssen Sie sein! Sind Sie das?« Er legte eine wirkungsvolle Pause ein.

Im Zimmer surrte eine Fliege. Ohne den Kopf zu drehen, suchte ich sie mit den Augen.

Kadenbach senkte den Blick. »Es ist nahezu beschämend, wie schnell Ihr Direktor und ich uns einig wurden. Er sagte etwas von geordneten Verhältnissen und dass niemand mehr einen Posten bekleiden dürfe, für den er nicht qualifiziert...«

Ich drehte den Kopf zur Wand. Nein, so war es nicht, so konnte es nicht sein. Das saugte er sich aus den Fingern. Der Direktor würde niemals einen alten Mitarbeiter auf so schäbige Weise abschieben.

In meiner Kehle würgte es. Lüge, alles Lüge!

»Die Zeiten haben sich geändert«, fuhr Kadenbach mit sanfter Stimme fort. »In Ihrem Betrieb sind Sie einer von fünfhundert Mitarbeitern. Man sagt Ihnen, was Sie zu tun und zu lassen haben. Wonach geforscht und was entwickelt wird, bestimmen Gremien, Institutionen und Beiräte. Für Ihre Initiative bleibt kein Raum. Sie gehören mit Ihren Fähigkeiten in ein kleines, unabhängiges Team mit breitgefächertem Aufgabenbereich. Ich erwarte von Ihnen lediglich, dass Sie Ihre Sache gut machen. Wie Sie das anstellen, ist Ihr Problem. Weiterhin lasse ich Ihnen genügend Freiraum, eigene Ideen zu entwickeln und zu verwirklichen, sich wissenschaftliche Kenntnisse zu erwerben. Sie bleiben in jeder Beziehung selbständig.« Er betrachtete mich prüfend. »Ist das ein Angebot?«

Verdammt! Es war genau das, was mich in den ersten Jahren an meinen Betrieb gefesselt hatte: Pioniergeist, selbständige Arbeit. Doch je mehr die Arbeit verplant und organisiert wurde, desto mehr ging der Pioniercharakter verloren. Der Hauch von Abenteuer der Gründerjahre war verweht. Vielleicht war es das, was mich störte. Ich gehörte zu den Menschen der ersten Stunde, zu denen, die an Entbehrungen Gefallen fanden und denen Hindernisse lebensnotwendig waren. Ich fühlte mich zu den Männern gehörig, die die Straße bauten - nicht zu denen, die sie benutzten.

Wieder etwas aufbauen!

Aber konnte ich die vielen Jahre, die ich meinem Betrieb angehörte, den ich mit aus der Taufe gehoben und dessen Profil ich mitgeformt hatte, vom Tisch wischen? Andererseits: Gehörte ich vielleicht schon zu den älteren Mitarbeitern, die sich bedingungslos anpassten und jeden organisatorischen Bocksprung nur mit einem Seufzer registrierten? Der größte Teil der Kollegen war seit Jahren mit dem heillosen Durcheinander unklarer Kompetenzen, dem heftigen Streit sich widersprechender Weisungen der verschiedenen Leitungsebenen unzufrieden. Kein Wunder! Was hielt mich dann? Unzufrieden war ich schon lange. Sei es über den Leitungsstil, der einer Seite erlaubte einzureißen, was die andere aufgebaut hatte, sei es über den grotesk aufgeblähten Verwaltungsapparat. Es gab mehr Fachdirektoren als Mäuse im Keller.

»Na?«, fragte Kadenbach.

Trotzdem, hier an Ort und Stelle wollte ich mich nicht entscheiden. Erst einmal überdenken. Im Versprechen waren sie alle groß, die Herren, ob Direktor, Abteilungsleiter oder Chefarzt. Hinterher konnte sich niemand mehr erinnern.

»Ich will es mir überlegen. Solange ich noch im Krankenhaus liege, kann ich nichts entscheiden.«

»Gut«, sagte Kadenbach, »ich will Sie nicht drängen. Eine Weile halte ich mein Angebot aufrecht.« Sein Lächeln erschien mir ein wenig anders. »Aber überlegen Sie nicht zu lange.«

 

 

 

 

 

  3. Kapitel

 

 

Ich fühlte mich wie ein Mensch, der von einer langen Reise zurückgekehrt war und nun mit wachen Augen durch die Straßen ging, in gespannter Erwartung, was sich alles verändert haben mochte. Außerdem hatte ich es satt, noch länger tatenlos herumzusitzen. Je näher mein erster Arbeitstag rückte, desto unruhiger wurde ich. Endlich wieder etwas in die Hand nehmen, sich wieder mit den Kollegen unterhalten und erfahren, was es Neues im Betrieb gibt. Mein Krankenhausaufenthalt wird ein beträchtliches Loch gerissen haben. Wahrscheinlich werde ich meinen Arbeitsplatz nicht wiedererkennen, soviel musste hinzugekommen sein, nicht gerechnet die Aufgaben, die wegen meines Unfalls liegengeblieben waren. Ob mir Braun die Konstruktion und den Bau des selbstsperrenden Prothesenkniegelenks übertragen hat? Der wird sich freuen, wenn er erfährt, dass ich im Krankenhaus die Lösung gefunden und in einer Faustskizze festgehalten habe.

Mein erster Arbeitstag war ein Montag. In der Morgendämmerung machte ich mich auf den Weg. Ich widerstand der Versuchung, die letzten hundert Meter im Laufschritt zurückzulegen.

Leichte Enttäuschung, als ich das Fabrikgebäude sah. Nichts hatte sich verändert. Auch das Treppenhaus mit seinen knarrenden Stufen und den nackten Wänden aus Klinkersteinen war noch dasselbe. Im ersten Stockwerk fehlten immer noch zwei Scheiben im Fenster. Du lieber Himmel, schalt ich mich, was soll sich in den wenigen Wochen schon verändert haben?

Die erste wirkliche Überraschung erwartete mich in der Werkstatt des Labors: Mein Arbeitsplatz war verstaubt, die danebenstehende Blumenbank - in meine Pflege gegeben - vertrocknet.

Kollege Rockelt, dessen Arbeitsplatz sich neben meinem befand, widmete mir kein Wort. Er übersah meine Hand, musterte mich provozierend von oben bis unten, wandte sich ab und unterhielt sich mit seinem Nebenmann. Aus seinen Gesprächen hörte ich, während er mir verächtliche Blicke zuwarf, verschiedentlich das Wort Verräter heraus.

Forschungsleiter Braun empfing mich mit verkniffenem Mund. »Na, Rührtanz, wann lassen Sie uns sitzen?«

Bevor ich mich von meiner Verblüffung erholen konnte, lief er zur Tür hinaus.

Ich verstand nichts. Was ging hier vor sich?

Mein linker Nachbar blickte mich bewundernd an. Er trat näher, hielt mir eine Zeichnung vor die Nase und murmelte, ohne die Lippen zu bewegen: »Ich gehe auch bald - behalt's für dich.«

Das hatte ich schon oft gehört. Manche sprachen bei jeder Gelegenheit von Kündigung. Vielleicht aus allgemeiner Unzufriedenheit und der Ohnmacht, Veränderungen herbeiführen zu können. Diese Kollegen mochten es ihrer Selbstachtung schuldig sein, wenn sie lauthals davon redeten, den ganzen Quatsch nicht mehr mitzumachen, aber dabei blieb es.

Doch durch diese Bemerkung geriet etwas Licht in die Sache.

Als Forschungsleiter Braun eine Woche danach durchs Labor lief, hielt ich ihn an der Tür fest. »Ich glaube, hier liegt ein Missverständnis vor. Ich habe nicht die Absicht zu gehen.«

Braun lächelte herablassend. »Aber sicher, aber sicher. Niemand glaubt daran.«

»Wenn es sich so verhält, dann möchte ich wissen, was hier los ist!«

»Nichts ist los«, beteuerte Braun. Er blickte an mir vorbei.

»So? Wie erklären Sie es, dass ich nicht mehr zu Fachdiskussionen hinzugezogen werde? Selbst bei den Arbeitsbesprechungen werde ich übergangen und sitze allein im Labor. Ich werde offensichtlich gemieden. Sagen Sie mir, aus welchem Grund? Es reicht mir bald!«

»Es reicht Ihnen?«, fragte Braun schnell. »Kollege Rührtanz, Sie dürfen nicht den Fehler machen, sich für unersetzlich zu halten...«

»Ist mir nicht in den Sinn gekommen.«

»Ihre Position steht - wie Sie vielleicht wissen - eigentlich einem Fachschulkader zu. Nur auf Grund Ihrer Verdienste... Ich meine, Sie sind ersetzbar. Der Trick ist doch bekannt, mit Kündigungsdrohung eine Gehaltserhöhung zu erpressen.« Er lächelte verächtlich. »Den haben Sie nicht erfunden. Aber diesmal funktioniert das nicht. Sie treffen uns nicht. Sie können uns auch nicht erpressen. Es wäre mir sogar angenehm, endlich eine wirklich qualifizierte Kraft... Ich habe jemanden, einen Absolventen, aber sehr fähig, wenn nicht... Verstehen Sie mich: Damit wäre auch die Gehaltsgruppe nach außen gerechtfertigt. Es ist nun mal so, Kollege Rührtanz: Neue Kräfte bringen neue Ideen...«

»Ich habe keine Sekunde daran gedacht, meinen Platz zu räumen, wenn Sie das meinen.«

»Was Sie nicht sagen.« Braun betrachtete die Türklinke. »Nehmen Sie es mir nicht übel, aber bei einem solchen unsicheren Kandidaten wie...«

»Waas?«, brüllte ich. Im Labor schnellten die Köpfe in die Höhe. »Ich habe mich wohl verhört! Ich ein unsicherer Kandidat? Ich? Vor zehn Jahren habe ich hier angefangen, als das Gebäude noch eine halbe Ruine war. Braun, Sie lagen noch als Weißkäse im Schaufenster, da habe ich diese Wände verputzt und diese Fenster eingesetzt! Mit meinen Händen mauerte ich das Büro, in dem Sie jetzt Ihren Bierarsch platzieren! Der Betrieb produziert Dinge, die es ohne mich überhaupt nicht gäbe! Sie haben niemals unter den primitiven Bedingungen gearbeitet, wie sie vor zehn Jahren hier herrschten. Da ist man morgens noch tatendurstig gekommen, hat in die Hände gespuckt und die Probleme bei den Hörnern genommen. Sie, Braun, kamen vor zwei Jahren gemächlich hereinspaziert und setzten sich ins warme Nest, ohne dass Sie für Ihre Bequemlichkeit einen Finger zu rühren brauchten. Und Sie, ausgerechnet Sie, bezeichnen mich als »unsicheren Kandidaten?« Das lasse ich mir von Ihnen nicht sagen, Sie Nasenbohrer!«

»Nicht persönlich werden, sofern Sie nicht auf ein Disziplinarverfahren scharf sind«, erwiderte Braun voller Kälte. »Geh'n Sie zum Betriebsdirektor. Er teilt meine Meinung.«

Mit einem Male wurde mir alles klar: Für die Leute stand es bereits fest, dass ich ging. Sie betrachteten mich nicht mehr als zum Betrieb gehörig. Es war abgemacht. Mein Nachfolger saß bereits in den Startlöchern. Dass ich bisher nicht von Kündigung gesprochen hatte, legten sie als Absicht aus. Sie glaubten, ich würde erst dann damit herausrücken, wenn man mich am nötigsten brauchte.

Wie schlecht man mich kannte! Wie enttäuschend, wie demütigend! Dank hatte ich nicht erwartet - aber auch keinen Undank.

Aber alles verändert sich mit der Zeit. Nun war er groß, der Betrieb, auf die Initiative eines einzelnen nicht mehr angewiesen, und ließ mich in einem Gewimmel von Mitarbeitern gesichtslos untergehen.

Doch warum redete ich vom Betrieb, als wäre er eine lebendige Person? Er bestand aus Menschen, und die bestimmten das Arbeitsklima und den Charakter. Menschen wie Braun, denen der selbstlose Einsatz der langjährigen Mitarbeiter unheimlich oder - da sie nicht verstanden, dass diese sich mit dem Betrieb identifizierten - sogar verdächtig erschien. Dass jemand etwas tat, ohne eine Gegenleistung zu verlangen - das gab es in ihrem Weltbild nicht. Also musste etwas dahinterstecken: eine üble Absicht, vielleicht eine Intrige. Und die aus der Gründerzeit stammenden Privilegien und Gewohnheiten dieser Leute mussten Braun besonders ins Auge stechen. Denen gegenüber konnte er sich nicht als unentbehrlicher Leiter aufspielen, da sie so viele Jahre ohne ihn ausgekommen waren.

Gewiss, Braun war kein schlechter Leiter, und niemand, nicht einmal sein ärgster Feind, hätte behaupten können, dass er mangelndes Fachwissen besaß. Aber er hatte in den zwei Jahren eine Neuverteilung der Rollen und Verantwortlichkeiten im Labor vorgenommen, die als Versuch gewertet wurde, sich unersetzlich zu machen. Ein Mann, der die Arbeitswelt in zwei Kategorien teilte: in Weisungsberechtigte und Weisungsempfänger. Dabei waren die alten Kämpen natürlich im Wege.

Wie würde Braun wohl aussehen, wenn ich ihm meine Faust mit siebzig Kilo Lebendgewicht auf die Nase drückte?

»Was hecken Sie nun wieder aus?«, fragte Braun.

»Aushecken?« Meine Stimme überschlug sich. »Nun reicht's! Jetzt habe ich es satt, tagtäglich Wichtigtuer und Besserwisser wie Sie zu sehen, Typen, die sich mit Verdiensten spreizen, die ihnen nicht gehören! Mir schäumt die Galle, wenn ich sehe, dass Sie mit einem Prothesen-Ellenbogengelenk, das ich vor drei Jahren gebaut habe, auf Kongressen hausieren gehen und darüber kluge Vorträge halten. Satt, satt! Endgültig! Ich kündige! Auf der Stelle!«

Braun lächelte. »Ich habe es gewusst.«

Ich spürte einen bitteren Geschmack im Mund. »Dann wissen Sie sicher auch, dass Sie mich...«

Zehn Jahre.

Egal!

Vorbei!

 

Bis zum Feierabend schien mir die Atmosphäre in der Werkstatt entspannt wie nach einem Gewitter. Meine Kollegen warfen sich Scherzworte zu, und alle Augenblicke klopfte mir jemand mit den Worten Dem hast du aber einen Einlauf verpasst, der lässt sich so bald nicht blicken auf die Schulter.

Doch der Rausch meiner Wut verflog und machte Bedenken Platz. Ungeduldig wartete ich auf den Feierabend und fuhr mit dem Bus nach Neulindenberg zu Regina.

Ich traf sie im Garten an. Sie harkte Laub zusammen.

In der grauen Umgebung und der feuchten Kälte, die die Bäume, das Gras und die Büsche ausstrahlten, fühlte ich mich endgültig ernüchtert.

In der Veranda saßen wir keine zwei Minuten beieinander, als Reginas Mutter mit verdrießlichem Gesicht erschien und gleich einem Schlachtschiff mit vierzig Kanonen uns gegenüber vor Anker ging. Sie stellte ein Körbchen auf die Bank und begann wortlos zu stricken.

»Du hast Probleme, das sehe ich dir an«, sagte Regina.

Meine Kehle war zugeschnürt wie ein Sparstrumpf.

»Ist was vorgefallen?«

»Ich habe gekündigt.«

Die sich emsig bewegenden Stricknadeln der Mutter stockten einen winzigen Moment.

»Aber doch nicht ohne Grund?«

»Selbstverständlich nicht. Ich war wütend, hätte mich mit Gott und der Welt anlegen können, sagte dem Forschungsleiter meine Meinung und knallte die Kündigung auf den Tisch.«

»Das kommt davon, wenn man unbeherrscht ist«, warf die Mutter ein, ohne von ihren flinken Nadeln aufzublicken. »In unserer Familie ist bisher noch jeder seiner Pflicht...«

»Gehen wir spazieren«, schlug ich vor und griff nach meiner Jacke.

Wir gingen über den alten Weg, der am oberen Ende der Siedlung in Richtung der Peck-Berge führte und nach einem Kilometer in den Feldern versickerte. Er war von knorrigen Apfelbäumen gesäumt und von Schlehen- und Sauerkirschgesträuch fast zugewachsen. Zitronengelbes Laub flirrte durch die Luft.

»Ich sitze ziemlich tief in der...«, sagte ich und stemmte fröstelnd die Hände in die Jackentaschen.

»Vielleicht solltest du dich bei Braun entschuldigen. Ich...«

»Um keinen Preis«, unterbrach ich sie. »Ich stehe zu jedem Wort. Ich habe die Wahrheit gesagt, und das vor vielen Zeugen. Braun würde mir niemals verzeihen. Mich unterwerfen? Den Triumph gönne ich ihm ums Verrecken nicht! Das hieße ja, dass er im Recht ist - und ich im Unrecht.«

»Und wenn du die Kündigung zurücknimmst? Gut, du hast Braun kräftig die Meinung gesagt. Rausschmeißen werden sie dich deswegen nicht. Vielleicht bekommst du ein Disziplinarverfahren, 'ne Rüge, nicht mehr.«

»Braun und ich sind nach unserer Auseinandersetzung spornstreichs in die Kaderabteilung gegangen und haben dort alles erledigt. Freitag ist mein letzter Arbeitstag. Die Kündigung zurücknehmen? Mich würden die Hunde auf der Straße anpinkeln, wenn ich das täte. Lieber räume ich Müllkästen nach Flaschen aus.«

»Und sie haben deine Kündigung angenommen?«

»Ohne mit der Wimper zu zucken. Das kränkt mich am meisten. Die zehn Jahre, in denen ich mich mit jeder Faser für den Betrieb eingesetzt habe, sind nichts wert. Alles, was ich tat, ist heute vergessen. Statt dessen gilt das Wort eines Karrieremachers, der nicht mehr geleistet hat, als bereits vorhanden war.«

»Du bist enttäuscht?«, sagte Regina.

»Wundert dich das?«, erwiderte ich lauter als gewollt. »Braun hat ein Papier in der Tasche, das ihn vor jeder Kritik schützt.« Ich trat nach einer im Wege liegenden Wurzel. »Vielleicht ist es auch die Taktik des Betriebsdirektors. Heute gibt es nur noch acht Leute vom alten Stamm. Möglich, dass er die los sein möchte, um die Erinnerung an die Gründerjahre zu löschen. Acht Leute, die ihn noch als kleinen Mann, als ihresgleichen, kennen - das könnte seiner Autorität schaden. - Nein, Mädel, es ist vorbei.«

Wir waren am Ende des Weges angelangt. Vor uns breitete sich ein Acker, über dem ein grüner Hauch von Saat lag. Wir kehrten um.

»Das heißt«, sagte Regina, »du musst dir eine neue Arbeitsstelle suchen.«

»Ich mache mir keine Illusionen. Es wird mir nicht gelingen, noch einmal eine gleichwertige Aufgabe zu finden. Werde mit dreißig noch einmal von unten anfangen müssen...«

Regina blieb stehen, zupfte eine blauschwarz glänzende Schlehe ab und blickte mich an. »Dieser Weißkittel, der dich im Krankenhaus dauernd störte...«

»Der Chefarzt? Was ist mit ihm?«

»Er hatte dir ein Angebot gemacht. Kleines Forschungsteam und so weiter. Wäre das nichts?«

»Der Posten ist bestimmt besetzt.«

»Vielleicht auch nicht. Erkundige dich.«

Ausgerechnet der Chefarzt! Er war schuld, dass ich in der Luft hing. Und jetzt zu ihm gehen und um gutes Wetter betteln! Wenn er bedauernd die Schultern hob, stand ich da wie ein Bittsteller.

»Oder ist er dir unsympathisch?«, forschte Regina.

»Das nicht. Aber er hat mir die Sache eingebrockt. Und nun soll ich vor ihm auf die Knie? Das kann nicht dein Ernst sein!«

Regina schnippte mir die Schlehe ins Gesicht. »Dein Stolz ist ungesund. Du kannst ihn dir nicht leisten. Du bist deinen Job los. Das hat er gewiss nicht beabsichtigt. Sieh dir an, ob er zu seinem Angebot steht.«

»Die Stellung ist gewiss besetzt. Immerhin ist sie attraktiv: Selbständigkeit, Freiheit und... Danach rennt sich jeder meiner Kollegen die Hacken wund. Ich brauche es gar nicht erst zu versuchen.«

»Geh hin. Ist die Stelle besetzt, hast du Pech gehabt, und es ist auch nichts verloren. Irgendwann wirst du schon einen neuen Job finden.«

»Das ist nicht einfach«, wandte ich ein.

»Schließlich ist es egal, auf welche Weise man sein Brot verdient«, fuhr Regina fort. »Sieh mich an: Mein Leben beginnt erst nach Feierabend.«

»Hierin unterscheiden wir uns«, sagte ich. »Ich möchte mich...«

»...engagieren, ich weiß«, fiel mir Regina ins Wort. »Wenn du es wirklich willst, wird dir nichts anderes übrigbleiben, als zu diesem Chefarzt zu gehen. Brauchst ihm ja nicht zu sagen, dass du in deinem alten Betrieb gekündigt hast.«

Es entstand eine Pause.

»Ich kann mir den Laden ja mal ansehen«, erwiderte ich leise. Vielleicht hatte Kadenbach mich überschätzt, als er mir das Angebot machte. Selbst wenn die Stelle noch frei war - würde ich den Anforderungen bei ihm gerecht werden? Nicht kläglich versagen? Und wenn, was dann?

Nun gut, das konnte ich an Ort und Stelle entscheiden. Regina hatte Recht. Ansehen kostete nichts.

 

 

 

 

 

  4. Kapitel

 

 

Am Freitagnachmittag startete meine Abschiedsparty. Nicht von Wehmut überhaucht, wie ich zuerst befürchtete, nein, nach kurzem Geplänkel traten wir rasch in die Phase des scharfen Saufens ein. Forschungsleiter Braun verzieh mir, ich verzieh ihm. Im Zuge dieser Versöhnung fand er es offenbar nicht für schicklich, abzulehnen, wenn ich ihm einschenkte. Und schließlich hatte ich ihn soweit: Er war blau wie eine Bauernpflaume, rülpste, dass die Uhren stehenblieben, und stellte dem verblüfften Betriebsdirektor, dem er auf dem Gang begegnete, die Frage: »Wer von uns beiden steht der Entwicklungsstufe des Affen am nächsten?« In der nach hinten überdehnten Haltung des Betrunkenen, dem man die Sorge ansieht, in den eigenen Urin zu taumeln, beantwortete er die Frage selbst. »Ich«, betonte er, ließ die Augen herausquellen und zog den Direktor am Schlips auf Augenhöhe herunter, »denn du bist ein Affe!«

Worauf der Direktor die innerbetriebliche Hackordnung am Objekt demonstrierte.

Eine kleine Rache, aber sie schmeckte süß.

Montagmorgen.

Der Bus mit Hybridantrieb federte weich über die Unebenheiten der Chaussee hinweg. Zu beiden Seiten dehnten sich graue Felder in die Dämmerung.

Ich hatte nicht gefrühstückt. Mir war schlecht.

War die Entscheidung richtig? War sie falsch? Oder war mir mit meinen dreißig Jahren der Mut zum Risiko abhandengekommen?

Der Bus hielt.

Lange blieb ich an der Haltestelle stehen und blickte in die Kleingartenanlage hinter dem Gehsteig. Schließlich ging ich über den Parkplatz zum Haupteingang der Margareten-Klinik.

Hinter einer hohen Umfassungsmauer erstreckte sich ein Park mit verschlungenen Kieswegen und vor Nässe triefenden, weiß gestrichenen Ruhebänken. Das Hauptgebäude hatte eine riesige Ausdehnung. Zwei Seitenflügel und ein Quergebäude von jeweils hundert Meter Länge. Der dazwischenliegende Hof war von einer runden Rasenfläche ausgefüllt. In der Mitte befand sich ein Springbrunnen.

Das Gebäude wirkte archaisch. Ich fühlte mich an eine mittelalterliche Burg erinnert. Der Eindruck wurde durch die zahllosen Türmchen und Zinnen des Daches noch unterstützt.

Ich blieb stehen. Im Hintergrund des Parks, halb von Kiefern verdeckt, schimmerten die Umrisse eines zweistöckigen Neubaus.

Ich blickte in den Hof des Hauptgebäudes. In regelmäßigen Abständen funkelten schwächliche Lampen über den Seiteneingängen. Vor dem Hauptportal stand ein Rettungswagen mit abgeblendeten Lichtern.

Ich trat ein, hörte Stimmen und das Klappern von Geschirr, ging die Treppe hinauf, vom Klang meiner Schritte merkwürdig berührt, und fühlte mich einsam. Die Gänge lagen leer. Im zweiten Stock, gleich neben dem Treppenaufgang, befand sich das Büro des Chefarztes.

In der Atmosphäre von Desinfektionsmitteln, dem unverkennbaren und unvergleichlichen Dunst einer Klinik, war mein Mut bis zum Nullpunkt gesunken. Wenn sich Doktor Kadenbach nicht mehr an sein Angebot erinnerte oder der Posten bereits besetzt war - was tat ich dann?

Ich klopfte an. Wenn ich keine Antwort erhielte, würde ich gehen.

»Herein, wenn's kein Direktor ist!«, dröhnte es von drinnen.

Ich trat ein und erblickte ein nüchternes Zimmer: ein Schreibtisch, quer zum Fenster. Darauf befanden sich ein Tischcomputer und der rechteckige, in einen schmalen Rahmen aus weißem Plast eingefasste Bildschirm eines Datensichtgerätes. Eine Schrankwand - natürlich ebenfalls von weißer Farbe -, eine Clubecke, neben der Tür ein Kühlschrank. Auch ein Waschbecken mit Spiegel, von weißen Fliesen umrahmt. Der Boden war mit grauem Spannteppich belegt. In den schmalen Fensterhöhlen standen Blumentöpfe.

Doktor Kadenbach sprang von seinem Schreibtisch auf, eilte mir entgegen, zerrte einen Kleiderbügel aus dem Schrankteil der Anbauwand, drückte mich in die Clubecke. »Kaffee?«

»Ja, gern.«

Nach einer Minute stellte er mir die dampfende Tasse vor die Nase und setzte sich in den Sessel gegenüber.