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Die Autorin

Andrea Komlosy, geboren 1957 in Wien, ist Professorin am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Wien. Sie arbeitet zu Themen der Globalgeschichte und ihrer Verflechtung mit regionalen Beziehungen. Zuletzt ist von ihr bei Promedia erschienen: Arbeit. Eine globalhistorische Perspektive. 13. bis 21. Jahrhundert (4. Auflage 2015).

Einleitung

Seit dem Fall des Eisernen Vorhangs triumphierte über lange Jahre die Ideologie der Grenzenlosigkeit: Die von den staatssozialistischen Regierungen gezogenen Barrieren zum Westen waren endlich weg, innerhalb der EU-Schengen-Staaten folgte die Aufhebung der Binnengrenzen, bald würde es überhaupt keine Grenzen auf der Welt mehr geben.

Seit einigen Jahren kippt die proklamierte Grenzenlosigkeit. Sie hat dem Ruf nach Wiedererrichtung von Grenzen Platz gemacht: gegenüber den in der EU und den USA Zuflucht suchenden MigrantInnen, gegenüber chinesischen Firmenübernahmen, gegenüber einer Islamisierung der europäischen Gesellschaft u. v. a. m.

Diese Tendenzen geben Stimmungen wieder. Mit den real existierenden Grenzen haben sie rein gar nichts zu tun. Denn das Zeitalter der offenen Grenzen beruhte auf einer rigiden Abschottung gegenüber Menschen aus Drittstaaten. Die Grenze war nicht aufgehoben, sondern lediglich an die EU-Außengrenze verlagert und – mit der Verlagerung nach außen – in ihrer Wirkung potenziert worden. Umgekehrt bedeutet das aktuelle Revival der Grenzen keineswegs ein Ende der grenzenlosen westlichen Einmischung in aller Welt. Die westlich dominierten internationalen Finanzorganisationen verordnen Kapitalverkehrsfreiheit, Freihandel und Nichtdiskriminierung. Sie nehmen damit den Regierungen des globalen Südens die Instrumente aus der Hand, ihre Märkte zu schützen und ihren BürgerInnen Arbeit und Einkommen zu verschaffen. Aufkeimende Bemühungen nachholender Entwicklung und überregionaler Integration in Westasien, Afrika oder Lateinamerika wurden und werden politisch delegitimiert oder sogar militärisch destabilisiert. Mannigfaltige Interventionen produzieren immer mehr Opfer; Flüchtlinge suchen ihr Heil im reichen Norden. Dort errichtet man unter dem euphemistischen Titel eines »Migrationsmanagements« Schleusen, wo sich die Zentrumsländer unter denjenigen, die die Grenzen überwunden haben, die Gefügigsten und am besten Ausgebildeten aussuchen können, während die anderen dem illegalen Arbeitsmarkt oder der zwangsweisen Rückführung anheimfallen.

Vor diesem Hintergrund vertieft sich der Riss auch in den Wohlfahrts­gesellschaften des globalen Nordens. Quer durch alle weltanschaulichen Lager bricht ein Konflikt zwischen den zwei Fraktionen auf: »Grenzen zu«, verlangen die einen, »No border«, skandieren die anderen. Die Protagonisten stehen einander unversöhnlich und verständnislos gegenüber. Hinter den unterschiedlichen Ideologien verbergen sich handfeste Interessen: Von Unternehmerseite wird die Deregulierung des Arbeitsmarktes begrüßt; die neue Mittelschicht freut sich über die Multikulturalisierung der Gastronomie und die kostengünstige Verfügbarkeit häuslicher Dienste; die alte Arbeiterklasse, die von der Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt bedroht ist, hofft, dass höhere Grenzzäune die Unerwünschten abhalten. Ob xenophob oder xenophil, die beiden Lager weisen eine Gemeinsamkeit auf: Sie instrumentalisieren die Grenze in Hinblick darauf, wie sie dem Wohlergehen der eigenen Gruppe in der Gesellschaft bzw. der jeweiligen Vision davon nutzt.

Einmal als ein Instrument, das an der Staatsgrenze, der EU-Außengrenze oder ubiquitär überall dort, wo böse Fremde vermutet werden, hochgezogen werden soll, um so soziale Errungenschaften, kulturelle Eigenheiten, die Sicherheit und das vermeintlich friedliche Zusammenleben der Einheimischen zu gewährleisten. Auf der anderen Seite wird die Grenze selbst zum Feindbild stilisiert, die die Freiheit des Austauschs, der Bewegung und des Aufenthalts bedroht, und durch das Wunschbild des freien Pulsierens von Menschen, Waren, Kulturen und Werten ersetzt, das durch Vermischung Bereicherung und Auffrischung bringt.

Es handelt sich beim Wunschbild Grenze und beim Feindbild Grenze um eine Überbewertung dessen, was Zäune, Mauerbau, Passerteilung, Visa, Einwanderungs-, Arbeitsmarkt- oder Asylquoten bzw. ihre Abschaffung bringen können. In die Grenze werden ebenso wie in die Grenzenlosigkeit Hoffnungen projiziert, die diese niemals erfüllen können. Umgekehrt stellen Grenzen tatsächlich Mechanismen bereit, mit denen Staaten und Staatenbünde wirtschaftliche und politische Weichen stellen und Vor- und Nachteile für Bürger und Arbeitskräfte erwirken können.

Wer welche Politik der Grenze als vorteilhaft erachtet, hängt stark von der sozialen Lage und der wirtschaftlichen Tätigkeit ab: Interessenvertretungen von Unternehmern, Lohnabhängigen, aber auch von bestimmten Branchen oder Regionen setzen die Regierungen unter Druck, ihre diesbezüglichen Forderungen umzusetzen. Auch MigrantInnen und Schutzsuchende bedienen sich der Grenze, um Unbill, Not oder Verfolgung durch Ortswechsel zu entgehen. Diese Akteure können die Grenzen durch ihren Gebrauch nur indirekt beeinflussen, insofern sie durch ihre Mobilität Verschärfung oder Liberalisierung hervorrufen, sich ansonsten aber dabei den Grenzregimen anpassen und den für sie günstigsten Weg wählen.

Grenzen sind kein Ausnahmezustand, sondern eine Grundkonstante im Zusammenleben von Menschen und Gemeinwesen. Dabei treten Grenz­ziehungen und Grenzüberschreitungen in mannigfaltigen Erscheinungsformen auf. Es gibt politisch-administrative, militärische, ökonomische, soziale, kulturelle, geschlechtliche und weltanschauliche Grenzen, um nur die wichtigsten zu nennen. Sie alle haben vielerlei Ausprägungen, ob es sich um den Raum der Politik, der Wirtschaft, der Sozialordnung und der Einkommensverteilung, der kulturellen Identität und der Repräsentation handelt. All diese Bereiche verbinden sich unter unterschiedlichen historischen Umständen in ganz spezifischer Weise im Raum, wo sie uns als zusammengesetzte Grenzen gegenübertreten. Nicht immer handelt es sich dabei um geographisch festmachbare, zusammenhängende Räume. Jede physisch-geographische Grenze im Raum ist jedoch Ausdruck und Spiegel politischer Machtverhältnisse, ökonomischer Kräfteverhältnisse, sozialer Ungleichheit und kultureller Differenz.

All diese Grenzen sind Gegenstand von Interessenkonflikten, politischer Gestaltung sowie individueller und kollektiver Praxis – schon im Moment ihrer Entstehung ebenso wie in ihrer Handhabung, etwa bei der Auseinandersetzung um Nutzung und Eigentum, um staatsbürgerliche Rechte, um sozia­len Aufstieg, bei den Bemühungen um nachholende Entwicklung, bei der Verteidigung kultureller Eigenheit oder bei der Akkulturation: Überall geht es um Fragen der Grenzziehung und Grenzüberschreitung. Ohne Grenzen kann nichts bewahrt und nichts überschritten werden.

Die Praxis der Grenze ist viel komplexer, als es die Wunschbilder von »Grenzen zu« und »No border« wahrhaben wollen. Grenze ist ein Instrument in der Ausgestaltung menschlicher Beziehungen und kann somit in jedem Sinne benutzt werden. Es lässt sich ebenso wenig abschaffen wie das Bedürfnis nach räumlicher Bindung und Identifikation – Territorialität –, die im Laufe der Geschichte ebenfalls ganz unterschiedliche Ausprägungen erfuhr.

Der Gebrauch der Grenze schafft Inklusion und Exklusion, er unterliegt Machtverhältnissen, Aushandlungssystemen, gesellschaftlichen Interessen und Entwürfen. Art und Ausformung von Grenzen sind also immer umstritten; ihre Form ebenso wie der Konflikt über ihre Formgebung zeigen regionale Unterschiede und ändern sich im Verlauf der Geschichte. Dabei ziehen sich Grundmuster, die aus globaler Ungleichheit und sozialen Gegensätzen vor Ort entstehen, durch den Diskurs über die Grenze. In diesem Diskurs wird Grenze zu einer zentralen Kategorie der Vorstellungswelt der Zeitgenossen. Grenze existiert nicht nur als Strukturierungselement von Raum und sozialer Ordnung, sondern auch in den Köpfen und Emotionen. Dieser Diskurs reflektiert die Spaltung in die einen, die Grenzen abschaffen und die anderen, die sie hochziehen wollen.

Das vorliegende Buch will ein verwickeltes Phänomen ordnen und durchschaubar machen. Da Grenze für viele Hoffnungen und Ängste herhalten muss, wird sie in verschiedenste Richtungen stilisiert, hochgejubelt, dämonisiert, verschleiert. Es ist geradezu paradox, wie in Zeiten, in denen schwerwiegende Fortifikationen von Grenzen vorgenommen werden – zwischen den Wohngegenden der Reichen und Armen, an Staats-, Block- und Wohlstandsgrenzen – der Mythos der Grenzenlosigkeit die herrschenden und die widerständigen Interessen gleichermaßen im Banne hält.

Die Autorin schreibt gegen die Stilisierung der Grenze zum Wunschbild oder zum Feindbild an. Sie zeigt die Entwicklung von Grenzen und deren wechselhaften Gebrauch im Laufe der Geschichte auf und lotet damit sowohl das Herrschaftspotenzial als auch das Schutz- und Befreiungspotenzial von Grenzen aus.

Last but not least zeigt das Nachdenken über Grenzen, dass Grenze nicht bloß Gegenstand, sondern auch Methode ist: Methode beim Erkennen von Ungleichheit, ihrer Durchsetzung und Verschleierung, und Methode beim Entwickeln und Umsetzen sozialer Gerechtigkeit. In diesem Sinn ist jede Politik eine Politik der Grenze. Eine zentrale Aufgabe besteht darin, Fremdbestimmung durch Grenze durch Selbstbestimmung der Grenze zu ersetzen.

Aufbau

Das Buch beginnt mit einer kurzen begriffsgeschichtlichen Einführung. Es folgen die drei Hauptabschnitte »Chronologie der Territorialität«, »Typologie der Grenzen« und »Grenzregime und Politik der Grenze« sowie ein Ausblick.

Den Ausgangspunkt bildet die Territorialität des Menschen. Die Darstellung greift in die Frühzeit der Menschheitsgeschichte aus und zeigt in einem chronologischen Abriss die Entwicklung räumlicher Ordnung, Zugehörigkeit und Markierung von Patchwork-artigen, überlappenden Personenverbänden bis hin zum linear begrenzten modernen Staatsbürgerstaat. Gleichzeitig wird der Konflikt zwischen überregionalen Netzwerken und flächenhaften Herrschaftsansprüchen behandelt, der auch den aktuellen Auseinandersetzungen um ungehinderten Güter- und Kapitalverkehr auf der einen Seite, und Schutzmaßnahmen im Interesse regionaler Gemeinwesen auf der anderen Seite zugrunde liegt.

In einem nächsten Schritt wird Ordnung in die Vielfalt von Grenzen gebracht. Eine Typologie ordnet Grenzen verschiedenen Typen zu und zeigt diese anhand von Beispielen aus der europäischen Geschichte auf. Elementare Grenzen des Menschseins werden ebenso behandelt wie politische, kulturelle, wirtschaftliche und soziale Grenzen. Dabei stellt sich die Frage, wie verschiedene Formen politischer Grenzziehung mit sozio-ökonomischen und kulturellen Grenzen zusammenspielen, einander gegenseitig bedingen oder mit­einander in Widerspruch geraten.

Das nächste Kapitel ist Grenzregimen und den Auseinandersetzungen um die Ausgestaltung einer Politik der Grenze gewidmet. Ob im Waren- und Personenverkehr, beim sozialen Auf- und Abstieg, bei der kulturellen Abgrenzung oder beim Kulturtransfer: Grenzen dienen der Markierung von Zugehörigkeit und Zusammengehörigkeit, sie werden als Herrschaftsmittel zur Erlangung und Absicherung einer sozial und ökonomisch privilegierten Position einer Gruppe oder eines Gemeinwesens eingesetzt. Ebenso können sie auch als Mittel zur Befreiung aus Abhängigkeit dienen – einerseits, indem sie überschritten werden, andererseits, indem sie der Bevormundung einen Riegel vorschieben und Freiraum für eigenständige Entwicklung eröffnen. Grenzen im Dienst der stärksten ökonomischen Akteure steht eine Politik der Grenze als Instrument der kleinräumigen Selbstbestimmung im Dienste selbstbestimmter regionaler Integration gegenüber.

Das Bedürfnis nach Zugehörigkeit und Zusammengehörigkeit wird in immer wieder neuen Konstellationen von den Herrschenden ausgenutzt, um soziale Ungleichheit innerhalb einer Gesellschaft auszublenden und statt einer Politik des globalen Ausgleichs Fremde oder AusländerInnen als Sündenböcke abzustempeln. Das Bedürfnis nach Solidarität mit Entwurzelten und Zwangsmobilisierten wird in immer neuen Konstellationen von den Herrschenden ausgenutzt, um die Entwurzelung ebensolcher Menschen weiterhin betreiben zu können. Der grenzenlose Zugriff auf die globale Arbeitskraft verbindet sich mit dem grenzenlosen Hilfs­angebot der westlichen Helfer. Eine Lösung der globalen Ungleichheit, die über Grenzen vermittelt wird, kann nur in der Anerkennung des Rechts aller Menschen und Gemeinwesen bestehen, in ihren Grenzen leben und die Politik der Grenze selbst bestimmen zu dürfen.

Das Buch holt – mit Ausnahme einiger Exkurse in die ältere Geschichte menschlicher Gemeinwesen – ins europäische Hochmittelalter aus. Es ist in seinen historischen Rückgriffen jedoch stets an gegenwärtigen Fragestellungen orientiert. Es will keine geschlossene Erzählung liefern, sondern bietet historische Perspektiven auf Grenzen in ihrer Vielfalt und Verbindung. Die Erzählung folgt den Entwicklungen der europäischen Geschichte. Sie kann sich freilich nicht auf diese begrenzen, liegen die historischen Ursprünge von Stadtstaaten und Reichen doch im eurasischen Altertum und die Ursprünge der linearen Abgrenzung nationalstaatlicher Territorien im Konflikt über die Aufteilung der kolonialen Einflusssphären europäischer Großmächte begründet. Seit sich europäische bzw. westliche Prosperität auf weltweite Einflussnahme stützt, haben sich die westlichen Zentren nach außen der globalen Grenzenlosigkeit verschrieben: durch koloniales Ausgreifen, durch Beherrschung von Technologie, Finanzen und Kommunikation, durch Festlegung der Regeln, welche Politik der Grenze zur Anwendung kommen darf. Die westlichen Staaten und Staatenbündnisse selbst wurden und werden dabei allerdings nur soweit für Waren, Kapital und Personen aus dem globalen Süden geöffnet, wie es den eigenen Interessen entsprach.

Die globale Erweiterung europäischer Präsenz und Deutungshoheit führt die LeserInnen immer wieder in andere Weltregionen – nicht zuletzt auch deshalb, weil die Folgen der europäischen Durchdringung, aber auch die antikolonialen und postkolonialen Bemühungen um eigenständige Entwicklung ständig auf Europa bzw. den Westen zurückwirken.

Der Text baut auf zahlreichen wissenschaftlichen Kontroversen, Handbüchern, Internetressourcen und Zeitungsberichten sowie auf Vorarbeiten der Autorin zum Thema Grenzen auf. Im Unterschied zu diesen stehen hier nicht regional und zeitlich begrenzte Fallstudien im Vordergrund, sondern eine breite Auseinandersetzung mit dem Phänomen Grenze. Die Referenzen sind sparsam gehalten und beziehen sich auf Werke, deren Ideen und Resultate direkt in den Text eingeflossen sind. Für Daten und Fakten, die zum Allgemeinwissen zählen und in Lexika und Handbüchern nachgeschlagen werden können, erfolgt kein Quellennachweis. Das Buch zielt in erster Linie auf eine wissenschaftlich fundierte, jedoch allgemein verständliche Verknüpfung verschiedener Themenbereiche, ohne die Grenzen in ihrer Vielfalt und Komplexität nicht zu begreifen sind. Die wesentlichen Inspirationen stammen von Gesprächen und Debatten mit FreundInnen, KollegInnen sowie Studierenden, ohne die ich das Buch nicht schreiben hätte können. Mein ganz besonderer Dank gilt Hans-Heinrich Nolte für seine Hinweise und Kritik. Das Buch versteht sich nicht nur als Hintergrundinformation, sondern auch als eine klare Stellungnahme in der Auseinandersetzung um zukünftige Politiken der Grenze. Dafür liegt die Verantwortung allein bei der Autorin.

Andrea Komlosy
Wien, im Jänner 2018

Begriffe

Diesem Buch liegt ein weiter Grenzbegriff zugrunde. Es wäre also irreführend, die Bedeutung von »Grenze« nur auf ihre räumliche Erscheinungsform zu beschränken. Wir bleiben in unseren Betrachtungen jedoch insofern am Boden, als uns die Wirkungsweise politischer, kultureller, sozialer und wirtschaftlicher Grenzen im Raum interessiert. Darüber hinausgehende abstrakte Vorstellungen von Grenzen sowie metaphorische Verwendungen des Grenzbegriffs bilden keinen Gegenstand der Untersuchung, können auf der Ebene der Begrifflichkeit jedoch nicht ausgeklammert werden.

Der räumliche Niederschlag von Grenzen leitet zu einem anderen zentralen Begriff über, zur Territorialität (vgl. Kapitel 1). Territorialität wird in diesem Buch nicht auf die flächenhafte Staatlichkeit beschränkt, die im Europa der Frühen Neuzeit herausgebildet wurde und durch die koloniale Erweiterung global ausgriff. Territorialität dient vielmehr als Oberbegriff, in dem Menschen im Allgemeinen, vor allem aber soziale Gruppen und politische Gemeinwesen ihre Vorstellungen von Gemeinsamkeit mit einem bestimmten Territorium verbinden. Territorialität kann kleinräumig oder großräumig verstanden werden, sich auf einen Ort, eine Verbindungslinie, ein Netzwerk oder ein flächenhaftes Gemeinwesen beziehen; sie kann räumliche Exklusivität beanspruchen und in Konflikt mit anderen Territorialitätsvorstellungen geraten oder in einander überlagernden Räumen koexistieren. Wir legen den verschiedenen Begriffen für »Grenze« und »Begrenzung« unterschiedliche Territorialitätsmuster zugrunde, die die Menschheitsgeschichte von der Jäger-und-Sammlerinnen-Zeit über antike Imperien, das kaleidoskop-artige Mehr­ebenen­system mittelalterlicher Personenverbandsherrschaft, über moderne Flächenstaaten bis hin zu den globalen Assemblagen von Staat und multinationalen Güterketten der letzten Jahrzehnte prägen. Vor dem Hintergrund dieses Wandels erschließt sich uns die Notwendigkeit, den Sprachgebrauch immer wieder an neue Territorialitätsregime anzupassen. Heimtückischerweise bleiben die bereits existierenden Begriffe meist erhalten, sodass wir zwischen älteren und neueren Wortbedeutungen unterscheiden müssen.

Limes – Grenze – Border – Frontière

Der Begriff »Grenze« (Granitz, Gränitz, Grenitz) kam in der deutschen Sprache zu einem Zeitpunkt auf, als der Deutsche Orden im 13. Jahrhundert den baltischen und slawischen Stämmen in Nordosteuropa militärisch die Stirn bieten und sein Herrschaftsgebiet im Raum fixieren konnte (Nolte 2004:55). In dieser Situation der Konfrontation (von lat. frons »Stirn«) fand das slawische granica Eingang in die deutsche Sprache. Martin Luthers Schriften trugen maßgeblich zur Verbreitung bei. Es dauerte allerdings mehrere Jahrhunderte, bis das Wort »Grenze« seinen zonalen Charakter im Sinn von »Landmark« verlor und die Bedeutung von »Grenzlinie« annahm. Im 18. Jahrhundert wurde »Grenze« zunehmend als Ausdruck verwendet, »der von dem raum jenseits der grenze mehr oder weniger absieht und das wort so den bedeutungen schranke, abschlusz, ziel, ende nähert« (Grimm 1999, Bd. 9, Sp. 134).

Da wir uns nicht auf die lineare Bedeutung von »Grenze« beschränken, wird das Wortfeld in seiner gesamten Bandbreite angesprochen. Bevor »Grenze« seit dem 16. Jahrhundert die älteren Bedeutungen überlagerte und verdrängte, waren andere Begriffe vorherrschend: Saum, Bord, Mark. Sie bezogen sich auf politische Abgrenzungen, die nicht in einer Linie, sondern in einem mehr oder weniger breiten, politisch nicht eindeutig zuordenbaren Grenzgebiet zu Tage traten. Diese Gebiete konnten auch zu befestigten Grenzzonen ausgebaut werden, die auf Herrschaftsexpansion zielten: die Marken. Grenzstreifen zwischen Feldern benachbarter Grundbesitzer bezeichnet man bis heute als »Rain«. Lineare, markierte Grenzen fanden sich im Mittelalter vor allem als Besitzgrenzen. Im politischen Bereich war die wichtigste lineare Grenze die durch Sonderrechte, Mauern und Befestigungen gekennzeichnete Stadtgrenze. Zahlreiche deutschsprachige Bezeichnungen für privatrechtliche sowie politische Grenzziehungen leiten sich von lateinischen Wurzeln ab.

Die lateinische Sprache zeigt ein ausdifferenziertes Begriffsinstrumentarium. Es entwickelte sich, wie Helene Breitenfellner (2016:18–22) herausgearbeitet hat, aus dem römischen Privatrecht: finis und limes bezeichnete die Vereinbarung zweier Besitzer über die Abgrenzung ihrer Besitzungen. Öffentliche Grenzen betrafen vor allem die administrativen Unterteilungen zwischen Provinzen des Reiches, während das Reich in der Republiks- und frühen Kaiserzeit grundsätzlich einen universellen, sprich grenzenlosen (infinitum lat. unendlich) Geltungsanspruch hatte. Die Vorstellung einer territorialen Begrenzung des Imperiums kam erst im 2. Jahrhundert unserer Zeitrechnung mit der Errichtung der Befestigungsanlagen am Limes auf. (Rufin 1993:160). »Limes« bezeichnet seither eine lineare politische Grenze, auch wenn diese im Römischen Reich einen zonalen und mitunter expansiven Charakter hatte. Die Begriffe für verschiedene Arten von Abgrenzungen und Grenzräumen (limen – Grenzwege; limes – Reichsgrenze, finis – Grenze eines Territoriums; fines – von Grenzen eingeschlossene Fläche; terminus – Grenzrain, Trennung von Besitz; termini – Grenze, Mark; confinium – Grenzstreifen; frons – Stirnseite, vordere Schlachtreihe) erfassten auch die Unterteilung der Zeit sowie die Ordnung abstrakter Gedanken und Prozesse. Sie fanden in zahlreiche andere Sprachen Eingang, etwa definieren – Definition, limitieren – Limit, terminisieren – Termin; konfrontieren – Front, Konfrontation u. a. m. im Deutschen.

Jede Sprache deckt die Breite des Wortfeldes auf spezifische Art und Weise ab, für die regionale historische und kulturelle Entwicklungen Ausschlag gebend waren (siehe die lexikalische Entsprechungstabelle von Begriffen in Latein, Deutsch, Englisch und Französisch). Dabei kam es immer wieder zu begrifflichen Übernahmen aus anderen Sprachen, wie etwa das deutsche Lehnwort Grenze aus dem Slawischen (granica) aufzeigt. Das Wortfeld und die Verwendung der einzelnen Begriffe veränderten sich mit der politischen Verfassung der Gemeinwesen und den sich verändernden Vorstellungen von Territorialität. Dabei tauchten neue Begriffe auf, etwa »Grenze«, oder aber ältere Begriffe änderten ihre Bedeutung und verdrängten Bezeichnungen, die nicht mehr zu den jeweils vorherrschenden Vorstellungen einer Grenze passten (Medick 1993:200). Mit der Herausbildung flächenhafter Staatlichkeit in der Frühen Neuzeit löste im Deutschen »Grenze« das ältere »Mark« ab.

Im Französischen löste das ursprünglich stark militärisch konnotierte frontière das ältere limite d’état als Bezeichnung für Staatsgrenze ab, verschmolz seit dem 16. Jahrhundert mit der Vorstellung »natürlicher« Grenzen des Staates und steht seit der Französischen Revolution für die »nationale« Grenze (Fèbvre 1988; Nordman 1986:58). Im Englischen steht seit dem 19. Jahrhundert der frontier-Begriff im Zeichen von Eroberung und Siedlungskolonisation des amerikanischen Westens. Als Bezeichnung für die moderne Staatsgrenze haben sich boundary oder border, das ursprünglich eher eine zonale Bedeutung hatte, etabliert (Anderson 1996:9f; Prescott 1978:31). Frontier wurde in der Folge auf andere Erweiterungs- und Erschließungsvorgänge übertragen, die entweder apologetisch als zivilisatorischer Fortschritt oder kritisch als Kolonisierung, Zurichtung und Aneignung im Dienste von politischer Herrschaft oder ökonomischer Ausbeutung gefasst wurden (Komlosy 2016:37; Moore 2015:51).