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Rainer Werning

Helga Picht

Brennpunkt
Nordkorea

Wie gefährlich ist die Region?

Berichte, Daten und Fakten

edition berolina

Das vorliegende Buch wurde in Zusammenarbeit mit dem Korea Verband e. V. herausgegeben:

www.koreaverband.de

Rainer Werning, Jahrgang 1949, Dr. rer. pol., studierte an der Universität Osnabrück, University of Hull, Sophia University (Tokyo), der University of the Philippines sowie der Columbia-University in the City of New York Sozial- und Politikwissenschaften sowie Literatur und Philosophie. Er verbrachte viele Jahre in Asien, u. a. in Nord- und Südkorea. Werning begründete 1986 das Korea Forum und war von 2003 bis 2007 Vorstandsvorsitzender des Korea Verband e. V. Seit mehr als zwei Jahrzehnten ist er als Dozent an der Akademie für Internationale Zusammenarbeit (AIZ) tätig. Er ist Verfasser zahlreicher Publikationen. Zuletzt erschien von ihm der gemeinsam mit Song Du-yul verfasste Band: Korea. Von der Kolonie zum geteilten Land (Promedia Verlag, 2012).

Helga Picht, Jahrgang 1934, Prof. Dr., studierte Sinologie, Japanologie und Koreanistik in Berlin und Pjöngjang. Sie war von 1968 bis 1970 als Wissenschafts- und Kulturattaché an der Botschaft der DDR in Pjöngjang tätig und viele Jahre aufgrund ihrer exzellenten Sprachkenntnisse als Dolmetscherin für hochrangige DDR-Delegationen. Von 1980 bis 1992 leitete sie das Institut für Koreanistik an der Humboldt-Universität zu Berlin. Sie war die erste Lehrstuhlinhaberin für Koreanistik in Deutschland und die einflussreichste Koreanistin der DDR. Von 1990 bis 2000 war Picht stellvertretende Vorsitzende der International Society for Korean Studies mit Sitz in Osaka. Sie veröffentlichte zahlreiche Beiträge zur Sprache, Kultur, Geschichte und Gegenwart Koreas.

eISBN 978-3-95841-555-3

1. Auflage

© 2018 by BEBUG mbH / edition berolina, Berlin

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Kriegsherd oder Fake News – was wissen wir über Korea?

»Raketentest in Nordkorea. Kim schoss fast ein Passagierflugzeug ab«, titelte die Bild am 3. August 2017. Weiter hieß es, dass der Verrückte aus Pjöngjang mit seinen Atomraketen nun jeden Punkt der Welt treffen könne. Mit seinen Raketentests halte der Diktator Kim Jong-un die Welt in Atem.

Diese ungeheuerlichen Provokationen verlangen natürlich sofort eine angemessene Reaktion der »freien Welt« beziehungsweise dessen oberster Instanz, der USA. Also wurden Flugzeugträger und US-Bomber in Marsch gesetzt. Das deutsche Leitbildverbreitungsor­gan Bild am 30. Juli 2017 unter dem Titel »US-Bomber fliegen über Korea«: »›Nordkorea bleibt die größte Bedrohung für die regionale Stabilität‹, sagte General Terrence J. O’Shaughnessy, der den Einsatz leitete.«

Dann der vorläufige Höhepunkt am 19. September 2017: US-Präsident Donald Trump spricht vor der UNO und Bild berichtet unter der Überschrift »Knallhart-Rede gegen Kim vor der UNO. Trump droht mit Zerstörung Nordkoreas«: »Schon nach wenigen einleitenden Worten wandte er sich mit einer Knallhart-Drohung an das Regime in Nordkorea. Das Land ›lässt die eigene Bevölkerung verhungern‹ und ›bedroht die Welt mit Atomwaffen‹. Trump stellte klar: ›Wir wollen keinen Krieg, aber wenn wir unser Land verteidigen müssen, dann werden wir es tun.‹ Trumps Ansage: ›Dann haben wir keine andere Wahl als die totale Zerstörung Nordkoreas.‹« Und es passiert etwas, was US-Präsidenten bei Reden vor der UNO seit dreißig Jahren nicht mehr passiert ist – es gibt Applaus.

Ja, ist denn die Welt völlig aus den Fugen geraten? Bedroht wirklich ein völlig außer Kontrolle geratener Diktator die Welt mit Atomraketen, und darf man vor der UNO die völlige Vernichtung eines souveränen Staates ankündigen und dafür Beifall bekommen? Wie groß ist die Bedrohung wirklich? Wer bedroht hier wen und war­um? Und befähigen uns die Meldungen der meinungsbildenden Medien heute tatsächlich dazu, uns eine eigene Meinung zu bilden? (Immerhin ein Slogan des bereits oben erwähnten Leitbildverbreitungsorgans: »Bild Dir Deine Meinung!«)

Was tun »wir« (also die westliche Wertegemeinschaft, was immer das auch sein mag) gegen die Bedrohungen unterschiedlichster Art, die uns seit 2001 medial in immer düsteren Farben geschildert werden? Üblicherweise ziehen die USA – mal mit mehr, mal mit weniger Verbündeten im Schlepptau, mal mit, mal ohne UN- oder NATO-Mandat – mit Feuer und Schwert gegen diese Bedrohungen zu Felde. Immer im Namen der gequälten, unterdrückten und ihrer Freiheitsrechte beraubten Menschen der jeweiligen Region. Begonnen wird meist mit dem Verhängen von Sanktionen. Diese Schraube wird dann immer stärker angezogen, und dabei werden Verbündete eingesammelt. Und wenn man der Meinung ist, der jeweilige »Schurkenstaat« ist nun geschwächt genug, dann kommt das Militär zum Einsatz. Irgendwie erinnert das fatal an die mittelalterliche Belagerungstechnik, mit der feindliche Bastionen wochen- und monatelang von allem Lebensnotwendigem abgeschnitten worden sind, bis sie sturmreif waren. Aber die Leidtragenden waren nicht die Herrscher, deren Vorräte meist reichten, sondern die armen Leute und Verteidiger der Burgen.

Sanktionen kennen wir ja aus dem Kalten Krieg. Wenn man Länder vom notwendigen Austausch ausschließt, bremst man zwangsläufig ihre Entwicklung, denn kaum ein Land ist in der Lage, sich autonom mit allem zu versorgen (verstärkt wird das Ganze oft von Herrschern, die diese Abschottung auch von innen vornehmen). Aber ein Land von wichtigen Ressourcen abzuschneiden, dann seine Rückständigkeit in der Entwicklung zu beklagen, sich zu wundern, dass die betroffene Bevölkerung die Sanktionierer nicht liebt, und sie dann anschließend, im militärischen Versuch, ihr die »Freiheit« wiederzugeben, noch um ein paar Tausende zu dezimieren – das hat in den letzten dreißig Jahren nie zu wirklich positiven Ergebnissen bei den betroffenen Menschen geführt, sondern eher Elend und Not verstärkt und seltsame Gebilde hervorgebracht, die heute als Terrororganisationen gefürchtet werden, wie Al Qaida oder IS.

Sollen diese Eskalationsstufen zur Verteidigung der »freien Welt« nun auch auf Nordkorea Anwendung finden? Und wie werden sich Nord-, aber auch Südkorea dazu verhalten? Warum sind die Südkoreaner bisher so gelassen? Müssen wir unsere, die westliche, Sicht der Heilsbringerei nicht auf den Prüfstand stellen, und wissen wir eigentlich genug, um tatsächlich profund beurteilen zu können, ob das, was da geschieht, auch in unserem Interesse erfolgt?

Auf all diese Fragen versuchen die Herausgeber und Autoren dieses Buches, die Koreanistik-Professorin Helga Picht sowie der Asienexperte und Politikwissenschaftler Dr. Rainer Werning, Antworten zu geben. Unterstützung erhalten sie dabei von weiteren Autoren, unter anderem von dem Philosophen und linken Publizisten Dr. Arnold Schölzel. Nicht alle Beiträge sind brandneu – das eine oder andere ist schon im Internet veröffentlicht oder anderswo zu finden. Zusammen ergibt dieses Mosaik jedoch ein vielfältiges, spannendes und umfassendes Bild zur Lage um die Koreanische Halbinsel. Denn: Nur wer die ganze Geschichte um diesen Konflikt kennt, wer um die vielen Facetten der Verflechtung internationaler Interessen weiß und darüber hinaus die Spezifik Koreas in Betracht zieht, kann sich eine Meinung bilden. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen eine aufschlussreiche Lektüre!

Uli Jeschke

edition berolina

Rainer Werning und Helga Picht

Einleitendes

Vermissen Sie den Kalten Krieg, vermintes Gelände, gar undurchdringliche Stacheldrahtverhaue? Oder sperriges Mauerwerk, das Besuchern nach über einem Vierteljahrhundert seit dem Fall der Berliner Mauer noch Schauder erbitterter West-Ost-Blockkonfrontation über den Rücken jagt?

Dann reisen Sie nach Korea – vorzugsweise an den 38. Breitengrad. Dieser teilt die Halbinsel unschön in zwei Hälften, diesseits eine kapitalistische, jenseits eine sich sozialistisch verstehende, beide in solidem Zustand. Es ist dies das weltweit höchstmilitarisierte Terrain, das in circa vier Kilometern Breite und 240 Kilometern Länge den Norden, die Demokratische Volksrepublik Korea, und Süden des Landes, die Republik Korea, seit den Staatsgründungen beider Länder vor genau siebzig Jahren voneinander abschottet. Es war und ist dies nach dem ersten »heißen« Konflikt im Kalten Krieg, dem Koreakrieg (1950–1953), auch und gerade ein Hort aufgeheizter gegenseitiger Anfeindungen und ein Nährboden für immer wieder aufflackernde Konflikte mit internatio­nalem Zündstoff. Bis heute. Einer der Gründe für diese prekäre Sicherheitslage auf der Halbinsel sowie in der Region Nordostasien ist die Tatsache, dass seit Ende dieses Krieges lediglich ein Waffenstillstandsabkommen existiert, das noch immer nicht in einen dauerhaft gültigen Friedensvertrag überführt werden konnte.

Südkorea wurde bereits 1996 nach Japan als zweites asiatisches Land in den erlauchten Club der in Paris ansässigen Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) aufgenommen. Seine Metropole Seoul präsentiert sich mit ihren glitzernden Glas- und Betonfassaden als kosmopolitischer Outpost von Globalisierung. In scharfem Kontrast zu der nördlichen, mit Monumentalbauten gesäumten Hauptstadt Pjöngjang, wo noch einiges an die Hochphase der Großen Proletarischen Kulturrevolution in der Volksrepu­blik China Ende der 1960er Jahre erinnert – inklusive häufiger Massenauftritte und mit Marschmusik untermalter Arbeitseinsätze von Soldaten und Zivilisten. Für westliche Besucher haftet den Alltagsrealitäten dort Museales an, wobei die zahlreichen Museen in Nordkoreas Metropole »aufgeräumte« Realitäten spiegeln. Eine Irritation, die dazu beiträgt, dass das Land aus westlicher Perspektive bleibt, was es seit seiner Gründung am 9. September 1948 war: bestenfalls eine Terra incognita, meist jedoch ein »Archipel Gulag im Fernen Osten«.

»Anschuldigungen gegen und Vorurteile über Nordkorea sind uns sattsam bekannt«, sagte einst Südkoreas bedeutendster zeitgenössischer Schriftsteller, Hwang Sok-yong, im Gespräch mit dem Autor dieser Zeilen. Und er fuhr fort: »Das erinnert an herumtollende Kinder, die auf Spielplätzen gern vor aufgestellten großen Spiegeln posieren und Mätzchen machen. Wenn sie dann in die Spiegel schauen, stellen sie verdutzt fest, dass ihre Körper mal aufgebläht und riesig sind oder sie auf einmal wie Winzlinge, Zwerge erscheinen. Über Nordkorea zirkulieren Verzerrungen, ja, Zerrbilder der gröbsten Art. Offenbar ist da auch eine Abwehrhaltung im Spiel. Denn das Land fühlt sich permanent bedroht, und sein Bild im Ausland, selbst in Kinofilmen, ist in den schwärzesten Farben gemalt. Allen anderen Ländern wird zugestanden, zumindest zwei Gesichter zu haben.«

Hwang, von dem auch Romane und Erzählungen in deutscher Übersetzung vorliegen, befasst sich in seinem Werk mit der Kolonialgeschichte, Teilung, Entfremdung und mit dem Krieg in seinem Land, dessen Herrscher ihn wegen »unerlaubten« Aufenthalts in Nordkorea zeitweilig hinter Gitter gesperrt hatten. »Wir Koreaner hatten das Pech«, so des Autors Resümee ob all dieser Erfahrungen, »zu lange auf rauchenden Kanonenrohren unseren Reis kochen zu müssen.«

Den ersten großen Roman über den Koreakrieg veröffentlichte Südkoreas bedeutendste Schriftstellerin Pak Kyongni (1926–2008) im Jahr 1964. Darin umging sie eine direkte Schuldzuweisung, beschrieb jedoch die Leiden der Bevölkerung mit dem beeindruckenden Bild, wie eine junge Witwe »unter von oben als riesige Pferdehufe drohenden Bombenflugzeugen« in einer weiten Ebene mit ihren zwei kleinen Kindern zu entkommen versucht. Später verdichtete Pak diese Szene in ihren Gesprächen und Memoiren (1993) und schlussfolgerte: »Zweifellos ist Krieg das größte Verbrechen, das die Menschheit als Ganzes gegen sich selbst begeht.«

Bei zahlreichen Besuchen und Gesprächen zwischen 1955 und 2009 in Nord- wie Südkorea konnte die Autorin dieser Zeilen immer wieder feststellen, dass die einfachen Menschen Paks Grundüberzeugung vollauf teilen, daraus ihre Sehnsucht nach friedlicher Wiedervereinigung ableiten und jedwede Einmischung ausländischer Mächte ablehnen. In diesem Sinne bleibt zu hoffen, dass der im Vorfeld der Olympischen Winterspiele 2018 im südkoreanischen Pyeongchang wiederbelebte innerkoreanische Dialog nördlich wie südlich des 38. Breitengrads Früchte trägt.

Übrigens entsandte Nordkoreas Machthaber seine Schwester Kim Yo-jong mit einer Regierungsdelegation im Februar 2018 zur Eröffnung der Olympischen Winterspiele nach Südkorea, um mit der Regierung in Seoul erneut Direktgespräche zu führen und Präsident Moon Jae-in nach den Spielen in die Demokratische Volksrepublik Korea einzuladen. Eine solche Offerte hat es seit dem Koreakrieg nicht gegeben, was unter anderem IOC-Chef Thomas Bach sowie chinesische und russische Offizielle als äußerst ermutigend werteten. Nur der ebenfalls zur Eröffnung der Winterspiele in Pyeongchang angereiste US-Vizepräsident Mike Pence und Japans Ministerpräsident Shinzō Abe waren »not amused«.