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Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.
ISBN: 978-3-74092-783-7
»Also, ich will ganz offen sein, Frau Schalk«, erklärte Dr. Gerber, während er sich auf seinem Sessel zurücklehnte. »Meiner Meinung nach leiden Sie an Gebärmutterkrebs.«
Wie betäubt saß Cornelia Schalk vor dem Arzt und starrte ihn fassungslos an.
»Ja, aber… dann muß ich doch sofort in eine Klinik«, brachte sie nach Minuten des Schweigens mühsam hervor.
Dr. Gerber zuckte die Schultern. »Wenn Sie das möchten… aber ich will ehrlich sein, eine Chance auf Heilung dürften Sie nicht haben. Sehen Sie, Frau Schalk, bei den Zwischenblutungen, die Sie haben… ich weiß nicht, ob sich da eine Operation überhaupt lohnt. Und dann hat der Krebs mit Sicherheit schon Metastasen gebildet. Das heißt, daß Sie sich einer Chemotherapie unterziehen müßten. Kennen Sie die Nebenwirkungen?«
Cornelia schluckte schwer. Sie konnte nicht glauben, daß sie todkrank sein sollte. Und die unsensible Art, in der Dr. Gerber ihr das mitteilte…
»Ich stelle Ihnen natürlich eine Überweisung aus, wenn Sie das möchten«, fuhr der Arzt fort und riß Cornelia aus ihren Gedanken. »Aber ich halte nicht sehr viel davon, sich einer Qual auszusetzen, deren Ende man absehen kann. Genießen Sie Ihr verbleibendes Leben lieber noch.«
Mit einer fahrigen Handbewegung strich Cornelia durch ihr langes dunkles Haar, dann griff sie nach ihrer Handtasche und verließ das Sprechzimmer des Arztes. Sie vergaß, sich zu verabschieden. In ihrem Kopf war nur noch gähnende Leere.
Mit schleppenden Schritten ging Cornelia die Straße entlang, und trotz der fast unerträglichen Hitze fröstelte sie.
»Meiner Meinung nach leiden Sie an Gebärmutterkrebs.«
Dr. Gerbers schonungslose Worte verfolgten sie.
Plötzlich begann Cornelia zu schluchzen. Sie war erst siebenundzwanzig! Ihr Leben konnte doch nicht jetzt schon vorbei sein! Unwillkürlich mußte sie an Günter denken, mit dem sie seit vier Jahren glücklich verheiratet war. Und jetzt, nachdem sie hier in München eine größere Wohnung gefunden hatten, wollten sie ein Kind. Das alles sollte nun durch diese grausame Krankheit zerstört sein?
Mit zitternden Fingern steckte Cornelia den Schlüssel ins Haustürschloß und sperrte auf, dann schleppte sie sich mit letzter Kraft ins erste Stockwerk hinauf und ließ sich in dem gemütlich eingerichteten Wohnzimmer auf die Couch fallen.
Die Stille in der Wohnng war bedrückend, und Cornelia sehnte sich danach, mit Günter zu sprechen, doch er hielt sich im Augenblick geschäftlich in Zürich auf, und sie konnte ihn in seinem Hotel frühestens in vier oder fünf Stunden erreichen.
Cornelias Blick wanderte zum Telefon. Sie überlegte, wen sie jetzt anrufen könnte. Zu wem hatte sie genügend Vertrauen, um über das zu sprechen, was Dr. Gerber ihr heute gesagt hatte? Im ersten Augenblick fiel ihr ihre Schwester ein, doch Gisela und sie hatten nie ein besonders inniges Verhältnis zueinander gehabt.
Dann dachte Cornelia an ihre Freundin Renate. Während der Schulzeit hatten sie sich gegenseitig ihre geheimsten Gedanken anvertraut, und auch später waren sie durch eine feste Freundschaft verbunden gewesen. Doch dann hatte Cornelia geheiratet und die Beziehung zu Renate ein wenig vernachlässigt. Und nachdem auch die Freundin den Mann fürs Leben gefunden hatte, war der Kontakt sehr locker geworden.
Cornelia runzelte nachdenklich die Stirn. Renate hatte sie vor einem halben Jahr angerufen, weil sie im Begriff gewesen war umzuziehen. Wie hatte der Ort noch geheißen? Mit einem Satz war Cornelia auf den Beinen und kramte in dem kleinen Telefonkästchen an der Wand. Sie hatte sich Renates Adresse notiert, dessen war sie ganz sicher. Und dann fand sie den Zettel auch schon. Renate Kärtner, Hauptstraße 12 in Steinhausen. Eine Telefonnummer stand nicht dabei, doch die würde sich erfragen lassen.
Cornelia rief die Auskunft an, erfuhr die gewünschte Nummer und wählte diese mit zitternden Fingern. Was würde Renate sagen, wenn sie sich in der Not plötzlich an sie erinnerte?
»Kärtner!« meldete sich eine fröhliche Frauenstimme.
»Renate, ich bin’s«, gab sich Cornelia mit bebender Stimme zu erkennen.
»Conny?« fragte Renate ein wenig überrascht zurück, dann lachte sie auf. »Meine Güte, du hast ja eine Ewigkeit nichts mehr von dir hören lassen! Schön, daß du dich mal meldest. Wie geht’s dir?«
Cornelia schluchzte auf.
»Ich habe Krebs!« stieß sie hervor.
Betroffenes Schweigen am anderen Ende der Leitung.
»Conny… mein Gott, Conny…«, stammelte Renate schließlich.
»Ich muß mit jemandem sprechen«, fuhr Cornelia in nahezu flehendem Ton fort. »Bitte, Renate… darf ich kommen?«
»Natürlich, Conny, jederzeit«, stimmte Renate spontan zu, zögerte einen Moment und stellte die Frage, die sich ihr unwillkürlich aufgedrängt hatte, dann doch: »Ist zwischen Günter und dir alles in Ordnung? Ich meine…« Sie beendete den Satz nicht, doch Cornelia verstand auch so, was sie meinte.
»Günter ist in Zürich… geschäftlich«, erklärte sie. »Er kommt erst am Wochenende zurück.«
»Ach so. Also, Conny, du bist herzlich willkommen, und wenn du möchtest, dann kannst du hier übernachten«, bot Renate an.
Obwohl ihr nicht danach zumute war, mußte Cornelia bei diesen Worten lächeln. Renate war noch immer die Freundin, mit der man durch dick und dünn gehen konnte. Daran hatten nicht einmal die Jahre, in denen sie sich nicht gesehen und kaum miteinander telefoniert hatten, etwas geändert.
»Ich fahre sofort los«, erklärte Cornelia. »Und dein Angebot… ich glaube, ich werde es annehmen.«
»Das ist gut«, meinte Renate. »Ich erwarte dich…« Sie stockte, als ihr etwas einfiel. »Conny, du fährst aber bitte nicht mit dem Auto. In dem Zustand, in dem du vermutlich bist, könntest du einen Unfall bauen.«
Voller Bitterkeit lachte Cornelia auf. »Was würde das schon ausmachen.«
»Bitte, Conny«, entgegnete Renate eindringlich. »Krebs ist eine schlimme Krankheit, aber nicht zwangsläufig ein Todesurteil. Und deshalb möchte ich, daß du mit dem Zug kommst. Es gibt eine verhältnismäßig gute Verbindung von München nach Steinhausen.«
Cornelia seufzte. »Also schön, ich nehme den Zug.«
Renate atmete hörbar auf. »Gut. Ich hole dich vom Bahnhof ab, Conny. Bis gleich.«
»Bis gleich, Renate.« Dann legte Cornelia auf und blieb noch einen Augenblick neben dem Telefon stehen. Hatte sie wirklich das Richtige getan? Das Gespräch mit Renate würde die Krankheit nicht wegzaubern. Andererseits konnte sie mit dieser schrecklichen Gewißheit jetzt nicht allein bleiben. Entschlossen drückte Cornelia auf den Aufnahmeknopf des Anrufbeantworters und hinterließ eine kurze Nachricht für Günter, damit er wußte, wo er sie erreichen konnte. Dann sah sie sich in der hübschen Wohnung um und konnte sich dabei des Gefühls nicht erwehren, daß sie nie wieder hierher zurückkehren würde.
*
Dr. Robert Daniel konnte vor lauter Arbeit kaum noch aus den Augen sehen. Die Hitze, die seit mittlerweile vier Wochen anhielt, bescherte ihm tagtäglich reichen Patientensegen. Vor allem schwangere Frauen hatten unter den Rekordtemperaturen zu leiden, doch auch andere Patientinnen kamen mit Kreislaufbeschwerden in seine Praxis, denn zu dem alten Dr. Gärtner hatte kaum noch jemand das nötige Vertrauen.
Kurz vor Mittag war dann noch eine junge Frau angemeldet, die zum ersten Mal in die Praxis von Dr. Daniel kam. Ein wenig zögernd blieb sie an der Tür stehen, bevor sie nähertrat und die dargebotene Hand des Arztes ergriff. Dr. Daniel spürte ihre Befangenheit und schenkte ihr ein herzliches Lächeln.
»Guten Tag, Frau Kraus«, begrüßte er sie, nachdem er einen kurzen Blick auf die Karteikarte geworfen hatte, die seine Sprechstundenhilfe ihm bereitgelegt hatte. »Bitte, nehmen Sie Platz.«
Michaela Kraus hatte das Gefühl, sich kaum noch auf den Beinen halten zu können, weil ihre Knie so sehr zitterten.
»Nun, Frau Kraus, was führt Sie zu mir?« wollte Dr. Daniel wissen.
Michaela schluckte. »Es ist… ich… ich habe Schmerzen… Unterleibsschmerzen.«
Prüfend sah Dr. Daniel sie an und hatte den Eindruck, als wäre das nur die halbe Wahrheit. Er spürte die Anspannung, unter der die junge Frau litt.
»Seit wann haben Sie diese Schmerzen?« hakte er nach. »Ständig oder nur zu bestimmten Zeiten?«
Michaela wurde sichtlich verlegen. »Ich… äh… eigentlich immer.«
Dr. Daniel glaubte ihr kein Wort.
»Sind es stechende oder ziehende Schmerzen?« erkundigte er sich trotzdem.
Michaela schluckte. »Ich… ich weiß es nicht. Es tut einfach weh.«
»Dann ist es vielleicht am besten, wenn ich mir das Ganze mal ansehe«, schlug Dr. Daniel vor und stand auf. »Gehen wir nach nebenan.«
Ein wenig zögernd folgte Michaela ihm ins Untersuchungszimmer, warf dem gynäkologischen Stuhl einen fast ängstlichen Blick zu und trat auf Dr. Daniels Aufforderung hinter den dezent gemusterten Wandschirm, um sich freizumachen. Es dauerte so lange, daß Dr. Daniel schließlich nähertrat.
»Was ist los, Frau Kraus?« fragte er besorgt. »Fühlen Sie sich nicht wohl?«
Jetzt trat Michaela heraus und sah ihn mit großen Augen an. »Ich habe so schreckliche Angst, Herr Doktor. Wird es… sehr weh tun?«
»Mir scheint, Sie haben ausgesprochen schlechte Erfahrungen gemacht«, vermutete Dr. Daniel.
Errötend blickte Michaela zu Boden, dann schüttelte sie den Kopf. »Ich… ich war noch nie…« Sie beendete den Satz nicht, doch Dr. Daniel wußte auch so, was sie hatte sagen wollen.
Erstaunt zog er die Augenbrauen hoch. »Nehmen Sie die Pille?«
Heftig schüttelte die junge Frau den Kopf. »Nein, natürlich nicht! Das ist doch Sünde!«
Allmählich begann Dr. Daniel zu begreifen. Michaela Kraus schien sehr streng erzogen worden zu sein und war jetzt entsprechend verklemmt. Mit einer väterlichen Geste legte Dr. Daniel einen Arm um Michaelas Schultern und geleitete sie zum Untersuchungsstuhl.
»Ich verspreche Ihnen, daß ich sehr vorsichtig sein werde«, erklärte er in seiner ruhigen Art, dann sah er die junge Frau forschend an. »Haben Sie Vertrauen zu mir?«
Langsam hob Michaela den Blick. Mit seinen fünfzig Jahren hätte Dr. Daniel durchaus ihr Vater sein können, andererseits sah er ausgesprochen gut aus. Die dichten blonden Haare, die ein markantes Gesicht umrahmten, und die strahlend blauen Augen ließen ihn wesentlich jünger wirken, als er war. Trotzdem lag in seinem Gesicht so viel Güte, daß es schwer gewesen wäre, zu ihm kein Vertrauen zu haben.
Michaela lächelte – zum ersten Mal, seit sie die Praxis betreten hatte. »Ja, Herr Doktor, ich vertraue Ihnen.«
Dr. Daniel nickte. »Das ist gut. So, Frau Kraus, und jetzt versuchen Sie, es sich dort oben so bequem wie möglich zu machen. Die Untersuchung wird bestimmt nicht lange dauern, und ich werde Ihnen jeden Handgriff erklären. Haben Sie keine Angst.«
Die Worte und die Ruhe und Bestimmtheit, mit der sie ausgesprochen wurden, gaben Michaela Sicherheit. Trotzdem zuckte sie zusammen, als Dr. Daniel mit seinem fahrbaren Stuhl näherrückte.
»Keine Angst, Frau Kraus«, wiederholte Dr. Daniel. »Ich werde Ihnen nicht weh tun. Versuchen Sie, sich zu entspannen. Ich werde als erstes einen Abstrich nehmen.«
Michaela fühlte, wie der Arzt den Abstrich nahm, und unwillkürlich begannen ihre Beine zu zittern.
»Nicht verkrampfen, Frau Kraus«, bat Dr. Daniel. »Es ist gleich vorbei.« Er stand auf. »Ich muß noch die Gebärmutter und die Eierstöcke abtasten. Letzteres empfinden die meisten Frauen als sehr unangenehm, aber ich werde mich bemühen, vorsichtig zu sein.«
Dr. Daniel hielt sein Versprechen, trotzdem war Michaela heilfroh, als sie sich wieder ankleiden konnte. Währenddessen hatte Dr. Daniel den Abstrich unter dem Mikroskop betrachtet, doch der Befund war eindeutig negativ.
»Aus medizinischer Sicht ist alles in Ordnung«, erklärte Dr. Daniel. »Und ich hatte auch nicht den Eindruck, als hätten Sie während der Untersuchung Schmerzen verspürt.«
Michaela errötete tief. »Es ist… ich…« Und dann schlug sie plötzlich die Hände vors Gesicht und begann haltlos zu schluchzen.
»Ich habe keine Schmerzen«, brachte sie endlich mühsam hervor. »Ich wollte nur mal mit jemandem sprechen, und… und meine Arbeitskollegin sagte, Sie wären so nett…«
Dr. Daniel lächelte. »Das freut mich zu hören.« Dann wurde er wieder ernst. »Worüber möchten Sie denn sprechen, Frau Kraus?«
»Es geht um meinen Mann… nein, das ist falsch… eigentlich geht es um mich«, stammelte Michaela. »Ich… ich weiß nicht, wie ich es sagen soll…«
»Wie lange sind Sie verheiratet?« wollte Dr. Daniel wissen.
»Seit fünf Jahren«, antwortete Michaela. »Und vor zwei Monaten sind wir hierher nach Steinhausen gezogen. Rudi arbeitet seit ein paar Wochen bei der CHEMCO.«
Dr. Daniel zögerte einen Moment, ehe er zu sprechen begann.
»Meine nächste Frage wird Ihnen vielleicht indiskret vorkommen, aber ich stelle sie nicht aus Neugierde, sondern weil ich versuche, Ihnen zu helfen.« Wieder schwieg er kurz. »Ist Ihre Ehe glücklich?«
Michaela nickte ohne zu zögern. »Wir lieben uns, und eigentlich wäre alles in schönster Ordnung, wenn ich nicht so… wie soll ich sagen… gehemmt wäre.«
Dr. Daniel ahnte, in welche Richtung die junge Frau das Gespräch bringen wollte.
»Ich nehme an, es geht um das intime Zusammensein mit Ihrem Mann«, äußerte er seinen Verdacht.
Wieder errötete Michaela, dann nickte sie.
»Ich habe noch nie mit irgend jemandem darüber gesprochen«, erklärte sie und kam Dr. Daniel dabei vor wie ein kleines Mädchen, das etwas angestellt hat und sich nun vor der Strafe fürchtet.
»Wo liegt Ihr Problem, Frau Kraus?« fragte er behutsam. »Haben Sie Schmerzen beim Verkehr, oder können Sie keine Lust empfinden?«
Michaela wußte vor Verlegenheit nicht mehr, wohin sie schauen sollte. Nervös spielte sie mit ihrem Ehering.
Mit einer sanften Geste legte Dr. Daniel eine Hand auf ihren Arm. »Frau Kraus, es sind doch ganz natürliche Dinge, über die wir hier sprechen.«
Heftig schüttelte Michaela den Kopf. »Für mich nicht, Herr Doktor. Ich empfinde ein solches Gespräch als unanständig.« Sie kämpfte mit sich, denn es kostete Mut, die nächsten Worte auszusprechen. »Als Sie vorhin von… Gebärmutter und … Eierstöcken sprachen, wäre ich vor Scham am liebsten im Erdboden versunken. Das sind Worte, die niemand in unserer Familie jemals in den Mund genommen hätte.«
Dr. Daniel fühlte Mitleid mit der jungen Frau.
»Wie wurden Sie aufgeklärt, Frau Kraus?« wollte er wissen. Michaela schluckte. »Überhaupt nicht. Meine Mutter war der Meinung, Aufklärung käme ganz von selbst, wenn man erst verheiratet ist.« Sie senkte den Kopf. »Natürlich habe ich Fragen gestellt, wenn meine Freundinnen über Dinge sprachen, von denen ich keine Ahnung hatte. Dann hat meine Mutter mir aus der Bibel vorgelesen. Die Frau ist dem Manne untertan und solche Dinge.«
Dr. Daniel hatte Mühe, einen Seufzer zu unterdrücken. Wie konnte es immer noch Eltern geben, die ihre Kinder so unwissend ins Leben schickten?
»Ich wünschte, Sie hätten schon früher mit mir sprechen können«, erklärte er aus diesen Gedanken heraus. »Am besten noch vor Ihrer Ehe.« Er zögerte. »Frau Kraus, ich sage es nur ungern, aber… Sie sollten sich in psychiatrische Behandlung begeben.«
Mit weit aufgerissenen Augen starrte Michaela den Arzt vor sich an. »Ich bin doch nicht verrückt!« Heftig schüttelte sie den Kopf. »Nein, Herr Doktor, zu einem Irrenarzt gehe ich nicht!«
»Ein Psychiater ist kein Irrenarzt«, wandte Dr. Daniel ein. »Und mir scheint…«
Wieder schüttelte Michaela den Kopf. »Nein, Herr Doktor, zu einem Psychiater gehe ich nicht. Lieber lebe ich so weiter wie bisher.« Sie schwieg einen Moment, dann sah sie Dr. Daniel mit nahezu flehendem Blick an. »Können Sie mir denn nicht helfen? Zu Ihnen hätte ich Vertrauen.«
Dr. Daniel atmete tief durch, dann nickte er. »Einverstanden, Frau Kraus. Ich bin auf diesem Gebiet zwar kein Fachmann, aber ich werde tun, was in meiner Macht steht, um Ihnen zu helfen.«
In Michaelas Gesicht ging die Sonne auf. »Danke, Herr Doktor.«
*
Rainer Bergmann, der Chef des Chemiewerkes CHEMCO, war nicht sehr überrascht, als die Tür zu seinem Büro aufgerissen wurde und sein Vater wie ein Orkan hereinstürmte.
»Was fällt dir ein, diesen Metzler in mein Werk zu lassen!« fuhr er seinen Sohn an.
Gelassen lehnte sich Rainer zurück. Seit seinem Auszug aus der Bergmann-Villa war es das erste Mal, daß sein Vater wieder mit ihm sprach. Noch immer hatte der alte Martin Bergmann es seinem Sohn und seiner Schwiegertochter nicht verziehen, daß sie »nur« ein Mädchen zustande gebracht hatten, und er hatte die kleine Claudia noch nicht ein einziges Mal angeschaut.
»Wolfgang Metzler ist mein Freund«, entgegnete Rainer jetzt mit unerschütterlicher Ruhe. »Und er arbeitet bei mir, weil es in Steinhausen und Umgebung keinen anderen Arzt gibt, der auch nur einen Fuß in die CHEMCO setzen würde. Die vielen Unfälle, die sich in den letzten Jahren hier ereignet haben, haben sich nämlich herumgesprochen.« Er schwieg kurz. »Außerdem ist Wolfgang ein ausgezeichneter Arzt – der beste, den ich finden konnte.«
Unwillig winkte Martin Bergmann ab. »Das ist mir egal. Dem Kerl wird gekündigt – auf der Stelle.«
Da lächelte Rainer. »Tut mit leid, Vater, aber du hast in diesem Werk nichts mehr zu sagen. Das war meine Bedingung, und du hast sie akzeptiert.« Er legte einen Zettel auf den Tisch. »Hier, das sind deine Worte: ›Nimm die Firma, und mach damit, was du willst.‹ Vor zwei Wochen hast du mir diesen Brief geschrieben – einen Brief, der es nicht wert ist, so bezeichnet zu werden. Er enthält keine Anrede und keine Unterschrift, aber im Grunde habe ich nach allem, was ich in den letzten Wochen mit dir erlebt habe, mit nichts anderem gerechnet. Wer einer jungen Mutter vorschlagen kann, ihr Baby mit einer anderen Mutter zu tauschen, nur damit ein Sohn in den geheiligten Hallen der Bergmann-Villa Einzug halten kann…«
»Halt den Mund!« brauste Martin Bergmann auf. »Ich habe dir schon einmal gesagt: Wer nicht fähig ist, einen Sohn zu zeugen, der muß ihn sich auf andere Weise beschaffen.«
»Ich wollte gar keinen Sohn«, entgegnete Rainer ungerührt. »Claudia ist genau das, was Anke und ich uns gewünscht haben.«
»Dir ist nicht zu helfen«, knurrte Martin Bergmann, drehte sich um und verließ Rainers Büro, wobei er es nicht lassen konnte, die Tür hinter sich zuzuschlagen.
Rainer sah seinem Vater nach, dann seufzte er tief auf. Martin Bergmann würde sich wohl nie mehr ändern. Er schien einen Stein an der Stelle zu haben, wo andere Menschen ihr Herz hatten. Rainer konnte sich nicht erinnern, von seinem Vater auch nur einmal liebevoll in den Arm genommen worden zu sein.
Er seufzte noch einmal, dann wanderte sein Blick zu dem Foto auf seinem Schreibtisch. Es zeigte seine junge Frau Anke und die neugeborene Claudia. Während er Mutter und Kind betrachtete, huschte ein zärtliches Lächeln über sein Gesicht. Lange hatte Rainer jedoch nicht Zeit, sich in den Anblick der geliebten Frau und seiner Erstgeborenen zu vertiefen, denn die Tür zu seinem Büro wurde erneut geöffnet – diesmal allerdings von seiner Sekretärin Gerda Salling.
»Herr Bergmann, entschuldigen Sie die Störung, aber Dr. Metzler möchte Sie sprechen«, erklärte sie.
Rainer stand auf und kam um seinen Schreibtisch herum. »Bringen Sie ihn herein, Frau Salling.«
Das war nicht nötig. Dr. Metzler hatte schon hinter der Sekretärin gestanden und betrat nun Rainers Büro. Sein Gesichtsausdruck zeigte deutlich, daß er nicht zu einer harmlosen Plauderei gekommen war.
»Gibt’s Probleme?« erkundigte sich Rainer dann auch sofort.
Dr. Metzler nickte. »Das kann man wohl sagen. Ich habe dir gestern eine Liste heraufgeschickt, auf der ich Arzneimittel notiert habe, die ich hier dringend brauche. Warum sind die Sachen nicht da?«
Heiße Verlegenheit breitete sich in Rainer aus. Er hatte es gestern so eilig gehabt, zu Anke und Claudia nach Hause zu kommen, daß er Wolfgangs Bestellung total vergessen hatte.
»Ich werde mich sofort darum kümmern«, versprach er.
»Das will ich auch hoffen«, erklärte Dr. Metzler in hartem Ton. »Wenn es heute zu einem Unfall kommt, habe ich das richtige Medikament bestimmt nicht zur Hand. In Wengers Labor wird mit Blausäure gearbeitet. Weißt du, was das bedeutet?«
Rainer errötete erneut. »Ich bin Chemiker, falls dir das entfallen sein sollte. Und ich weiß…«
»Na also«, fiel Dr. Metzler ihm ins Wort. »Dann schau, daß du das bestellte Zeug herbringst. Wenn sich da unten einer mit Blausäure vergiftet, dann habe ich kein Milligramm 4-DMAP zur Hand. Das bedeutet dann den sicheren Tod.«
Rainer schluckte. Natürlich kannte er die fatalen Auswirkungen von Blausäurevergiftungen, aber nie war er auf den Gedanken gekommen, daß so was in seiner Firma geschehen könnte.
Dr. Metzler erkannte, was in seinem Freund vorging, und plötzlich tat es ihm leid, weil er gleich so barsch geworden war.
»Schon gut, Rainer«, meinte er versöhnlich. »Ich weiß ja, daß sich all deine Gedanken um deine kleine Tochter drehen. Das ist verständlich, wenn man erst so kurze Zeit Vater ist, und es muß ja innerhalb der nächsten Stunden nicht gleich zu einem Unfall kommen, aber ich mußte dich auf diese Möglichkeit hinweisen. Und Tatsache ist auch, daß ich die Medikamente schnellstens brauche.«
Rainer nickte. »In spätestens einer Stunde hast du alles, was du brauchst. Und… entschuldige, daß ich es vergessen habe.«
»Ist schon in Ordnung«, entgegnete Dr. Metzler, dann lächelte er. »Und? Wie geht’s deinen beiden Mädchen?«
Rainer schmunzelte. »Ich nehme an, es ist ein Kompliment, wenn du meine Frau als Mädchen bezeichnest.«
»Selbstverständlich!« bekräftigte Dr. Metzler.
»Die Nachuntersuchung bei Dr. Daniel hat nichts Negatives ergeben«, erklärte Rainer. »Anke hat sich von der Schwangerschaft und der Geburt prächtig erholt, und seit wir nicht mehr in der Bergmann-Villa wohnen, verläuft unser Leben noch harmonischer. Nur unsere Claudia beschert uns gelegentlich schlaflose Nächte, aber da geht’s sicher allen Eltern gleich.«
Dr. Metzler nickte. »Ich denke schon. Hauptsache, die Kleine ist gesund.«
»Richtig«, stimmte Rainer zu, dann warf er einen Blick auf die Uhr. »So, ich muß jetzt los, damit du deine Medikamente bekommst. Und ich verspreche dir, daß so etwas nie mehr vorkommt.«
*
Ein wenig verloren stand Cornelia Schalk vor dem Steinhausener Bahnhof und blickte sich suchend um.
»Conny!«
Die Stimme ihrer Freundin ließ sie herumfahren. Einen Augenblick zögerte sie noch, bevor sie mit einem heftigen Aufschluchzen in Renates Armen Trost und Hilfe suchte.
Fürsorglich nahm Renate ihre Freundin in den Arm. »Komm, Conny, fahren wir erst mal zu mir. Und dann erzählst du mir alles, ja?«
Cornelia nickte unter Tränen, während sie sich zu Renates Wagen geleiten ließ. Die Fahrt zu dem schmucken Einfamilienhaus, das Renate und ihr Mann Erich bewohnten, verlief schweigend. Es war ein Schweigen, das die beiden jungen Frauen als bedrückend empfanden, doch keine konnte sich zu einem Wort durchringen. So waren sie froh, als sie das Auto verlassen und die Wohnung betreten konnten.
»Ich mache uns Kaffee«, schlug Renate vor. »Ich glaube, der wird uns jetzt guttun.« Sie sah ihre Freundin an. »Du hast mich ganz schön geschockt, Conny. Und wenn ich dich so anschaue… darf ich ehrlich sein? Ich finde, du siehst aus wie das blühende Leben. Bist du sicher, daß du wirklich so krank bist, wie du gesagt hast?«
Mit einem tiefen Seufzer ließ sich Cornelia auf das Sofa sinken.
»Ich kann es ja selbst nicht glauben«, meinte sie, und dabei klang in ihrer Stimme Verzweiflung mit. »Wenn diese seltsamen Zwischenblutungen nicht gewesen wären, dann wäre ich gar nicht zum Arzt gegangen. Im Grunde fühle ich mich pudelwohl… aber das ist wahrscheinlich gerade das Heimtückische an dieser Krankheit. Man merkt nichts, bis es zu spät ist.«
Renate betrat die angrenzende Küche und setzte Kaffeewasser auf.
»Zu spät«, wiederholte sie und warf dabei einen Blick durch die offenstehende Tür ins Wohnzimmer. »Was macht dich so sicher, daß es zu spät ist? Welche Art von Krebs ist es denn?«
»Gebärmutterkrebs», brachte Cornelia mühsam hervor. »Und mein Arzt hat gesagt, eine Operation würde sich nicht mehr lohnen.«
Renate runzelte die Stirn. Das alles erschien ihr ein wenig seltsam. Wie konnte ein niedergelassener Arzt einfach eine solche Behauptung aufstellen?
»Sag mal, Conny, dieser Arzt… ist der vertrauenswürdig? Ich meine… er hat doch bei weitem nicht so viele Untersuchungsmöglichkeiten wie in einer Klinik.«
Cornelia seufzte wieder. »Vertrauenswürdig? Wenn ich ehrlich bin, Renate… ich weiß es nicht. Ich war heute zum ersten Mal bei ihm. Günter und sich sind ja erst vor knapp zehn Wochen nach München gezogen, und als ich kürzlich diese Zwischenblutungen bekam, habe ich mich einfach bei einem Frauenarzt in der Nähe unserer Wohnung angemeldet.« Sie zuckte die Schultern. »Im Grunde kenne ich Dr. Gerber ja gar nicht.«
Jetzt brachte Renate die Kaffeekanne herein und holte dann das Tablett mit Tassen und Tellern.
»Er hat dich heute also zum ersten Mal gesehen und untersucht«, resümierte sie. »Und dann stellt er gleich eine solche Diagnose?« Sie schüttelte den Kopf. »Also weißt du, Conny, da würde ich schon noch den Rat eines anderen Arztes einholen.«
»Aber… er ist doch Gynäkologe und hat sicher Erfahrung auf diesem Gebiet«, wandte Cornelia ein.
»Möglich«, meinte Renate. »Trotzdem würde ich einem solchen Urteil nicht blind vertrauen.« Sie überlegte kurz. »Welche Untersuchungen hat er denn durchgeführt?«
»Ultraschall und die normale gynäkologische Untersuchung«, antwortete Cornelia, dann schüttelte sie den Kopf. »Ich war ja selber erstaunt, wie er gleich auf eine solche Diagnose kam, andererseits… ich war einfach zu geschockt, um seinen Worten nicht zu glauben. Und wie gesagt – er hat doch sicher Erfahrung. Vielleicht hatte er schon mehr Frauen mit den gleichen Symptomen und weiß, wovon er spricht.«
»Trotzdem solltest du noch zu einem anderen Arzt gehen«, beharrte Renate. »Hör zu, Conny, du bleibst heute nacht hier bei mir, und morgen früh suchst du Dr. Daniel auf. Er ist der hiesige Gynäkologe und hat einen ausgezeichneten Ruf.« Sie lächelte. »Ich bin übrigens auch bei ihm. Ein ausgesprochen netter und rücksichtsvoller Arzt.« Sie dachte kurz nach. »Weißt du was, wir rufen jetzt gleich in der Praxis an, dann kommst du morgen früh wenigstens nicht unangemeldet.«
Sie wartete Cornelias Zustimmung gar nicht erst ab, sondern trat zum Telefon und wählte eine Nummer, die sie offensichtlich auswendig kannte. Es wurde nur ein kurzes Gespräch, dann legte Renate wieder auf und drehte sich zu Cornelia um.
»Alles klar«, meinte sie. »Du kannst morgen früh gleich um neun Uhr zu Dr. Daniel kommen.«
»Und wenn er… dasselbe sagt?« gab Cornelia ihren ärgsten Befürchtungen Ausdruck.
Renate schüttelte den Kopf. »Das wird er nicht, da bin ich ganz sicher. Wenn bei dir wirklich Krebsverdacht besteht, dann wird er dich in eine Klinik überweisen. Aber eine solche Diagnose wie dein Arzt wird Dr. Daniel bestimmt nicht stellen.«
*
Cornelia war entsetztlich nervös, als sie am nächsten Morgen vor der weißen Villa aus Renates Auto stieg. Dr. Robert Daniel, Arzt für Gynäkologie, stand auf einem großen Messingschild, und darunter waren die Sprechzeiten verzeichnet.
Mit zitternden Fingern drückte sie auf den Klingelknopf neben dem Schildchen Praxis, und gleich darauf sprang die schwere Eichentür mit einem dezenten Summen auf. Cornelia und ihre Freundin Renate, die sie herbegleitet hatte, gelangten in ein modern eingerichtetes Vorzimmer. Und hier übernahm Renate gleich die Initiative.
»Guten Tag, Fräulein Meindl«, grüßte sie die junge Empfangsdame. »Ich habe gestern angerufen und für meine Freundin einen Termin vereinbart. Cornelia Schalk.«
Mit einem unverbindlichen Lächeln nahm Gabi Meindl Cornelias Versicherungskarte entgegen, um die Daten im Computer zu speichern.
»Wenn Sie bitte noch einen Augenblick im Wartezimmer Platz nehmen«, bat sie dann. »Frau Kaufmann wird Sie rufen, sobald der Herr Doktor Zeit für Sie hat.«
Zusammen mit Renate betrat Cornelia das fast gemütlich wirkende Wartezimmer, und als sie nebeneinander auf dem stoffbezogenen Sofa saßen, war Cornelia froh, daß sie Renates Begleitung nicht abgelehnt hatt. Auf diese Weise war sie wenigstens nicht ganz allein hier.
Am Abend zuvor hatte Günter noch aus Zürich angerufen, und Cornelia hatte ihm erzählt, was vorgefallen war. Günter war so geschockt gewesen, daß er seine Geschäftsreise am liebsten abgebrochen hätte, doch Cornelia hatte ihn überredet, seine Gespräche zu Ende zu bringen, obwohl sie ihn jetzt liebend gern an ihrer Seite gehabt hätte. Schweren Herzens hatte sich Günter entschlossen, in Zürich zu bleiben, doch er wollte die Verhandlungen vorantreiben, damit er wenigstens bis zum Wochenende zu Hause sein konnte.
»Frau Schalk, bitte.«
Die Stimme der Sprechstundenhilfe riß Cornelia aus ihren Gedanken. Erschrocken sprang sie auf, dann warf sie Renate einen hilfesuchenden Blick zu.
Mit einer zarten Geste legte Renate ihr eine Hand auf den Arm.
»Ich kann nicht mit hineingehen«, erklärte sie leise.
»Aber hab keine Angst, Conny, Dr. Daniel ist ein unheimlich netter Arzt.«
Cornelia nickte zwar, doch der dicke Kloß, der sich in ihrem Hals gebildet hatte, wollte nicht weichen. Dazu war ihre Angst viel zu groß.
»Wartest du hier auf mich?« fragte sie fast schüchtern. Renate nickte. »Natürlich warte ich, Conny.«
Erst jetzt war Cornelia bereit,
der sympathischen, vollschlanken Sprechstundenhilfe zu folgen. Lena Kaufmann hielt ihr die nächste Tür auf der rechten Seite auf. Zögernd trat Cornelia ein und beobachtete den Arzt, der sich in diesem Moment hinter seinem Schreibtisch erhob, mit einem ängstlichen Blick.
»Guten Morgen, Frau Schalk«, begrüßte Dr. Daniel seine Patientin. »Bitte, nehmen Sie Platz.« Er schenkte ihr ein freundliches, fast herzliches Lächeln. »Sie sehen aus, als hätten Sie Angst vor mir.«
Cornelia nickte, dann berichtigte sie sofort: »Eigentlich nicht vor Ihnen, Herr Doktor, sondern vor Ihrer Diagnose.«
»So weit sind wir ja noch nicht«, versuchte Dr. Daniel sie zu beruhigen. »Vielleicht schildern Sie mir jetzt erst mal Ihre Beschwerden.«
»Ich habe Krebs!« stieß Cornelia hervor.
Dr. Daniel war sichtlich geschockt, faßte sich aber gleich wieder.
»Wer hat das festgestellt?« wollte er wissen.
»Dr. Gerber in München«, brachte Cornelia mit bebender Stimme hervor. »Ich war gestern bei ihm, und da hat er gesagt, ich hätte Gebärmutterkrebs, und eine Operation würde sich nicht mehr lohnen.«
Unwillig runzelte Dr. Daniel die Stirn. Der Name des Arztes war ihm durchaus ein Begriff. In Fachkreisen galt Dr. Gerber sozusagen als »schwarzes Schaf«.
»Ich will dem Kollegen Gerber nichts Schlechtes nachsagen«, begann Dr. Daniel vorsichtig. »Aber ich fürchte, mit dieser Diagnose hat er seine Kompetenzen weit überschritten. Welche Untersuchungen hat er bei Ihnen vorgenommen?«
Leise Hoffnung keimte in Cornelia auf. Vielleicht hatte Renate recht, und Dr. Gerber hatte nur vage Vermutungen ausgesprochen?
»Er hat Ultraschallaufnahmen gemacht und mich anschließend gynäkologisch untersucht«, gab sie Auskunft.
Dr. Daniel senkte den Kopf, um nicht zuviel von dem Aufruhr preiszugeben, der in seinem Innern tobte. Wie kam dieser Gerber dazu, nach einer so dürftigen Untersuchung derartige Diagnosen aufzustellen? Dabei nahm sich Dr. Daniel fest vor, diesmal gegen den verantwortungslosen Arzt vorzugehen.
Erst jetzt sah er seine Patientin wieder an.
»Wegen welcher Symptome haben Sie den Kollegen Gerber aufgesucht?« fragte er, und die Bezeichnung »Kollege« kam ihm dabei nur schwer über die Lippen.
»Ich hatte in den vergangenen Wochen Zwischenblutungen«, erklärte Cornelia, »und da habe ich Angst bekommen.«
Dr. Daniel nickte. »Zwischenblutungen sind immer ein Zeichen, daß im Körper etwas nicht in Ordnung ist. Das muß aber nicht zwangsläufig Krebs bedeuten. Auch harmlose Myome können Zwischenblutungen hervorrufen. Und sogar eine beginnende Schwangerschaft kann zu solchen Blutungen führen. Hat Dr. Gerber einen Schwangerschaftstest vorgenommen?«
Cornelia schüttelte den Kopf. »Er hat mich nur untersucht und dann gesagt, ich hätte Krebs.« Sie zögerte. »Allerdings… eine Schwangerschaft kann bei mir nicht vorliegen. Ich hatte erst vor einer Woche wieder meine Tage.«
Dr. Daniel stand auf. »Dann werden wir jetzt ganz systematisch vorgehen, Frau Schalk. Ich werde mir das Ganze erst mal auf Ultraschall ansehen und Sie anschließend gründlich untersuchen.«
Cornelia erhob sich ebenfalls, dann sah sie den Arzt an.
»Wird das ebenso weh tun, wie…« Sie beendete den Satz nicht, doch Dr. Daniel wußte genau, was sie hatte sagen wollen.
»Haben Sie keine Angst, Frau Schalk, ich werde sehr vorsichtig sein«, versprach er.
Dr. Daniel hielt sein Versprechen. Er ging so rücksichtsvoll vor, daß Cornelia die Untersuchung nur halb so unangenehm empfand wie bei Dr. Gerber. Und dann konnte sie es kaum noch abwarten, Dr. Daniels Meinung zu ihrer Krankheit zu hören. In fliegender Hast kleidete sie sich an und trat schließlich hinter dem Wandschirm hervor.
»Und? Ist es… Krebs?« fragte sie atemlos.
»Bitte, Frau Schalk, setzen Sie sich erst mal«, bat Dr. Daniel, dann sah er sie mit ernstem Gesichtsausdruck an. »Es scheint tatsächlich etwas nicht in Ordnung zu sein. Die Untersuchung ergab eindeutig, daß in Ihrer Gebärmutter etwas ist, was nicht hingehört, aber es wäre mehr als vermessen zu behaupten, daß das Krebs sein muß. Ich will ehrlich genug sein, um Ihnen zu sagen, daß es jedoch nicht ausgeschlosen ist. Ebensogut kann es sich allerdings um eine gutartige Wucherung handeln.«
Cornelia sackte auf ihrem Stuhl zusammen.
»Es ist bestimmt Krebs«, brachte sie unter Schluchzen hervor. »Ich werde doch sterben… und dabei habe ich so gehofft…«
»Frau Schalk.« Dr. Daniels Stimme klang sehr sanft. »Bitte, ziehen Sie jetzt keine voreiligen Schlüsse. Ich habe Ihnen gesagt, daß es nicht zwangsläufig Krebs sein muß. Hören Sie zu, Frau Schalk, ich werde Sie in die Klinik von Professor Thiersch überweisen. Haben Sie schon von ihm gehört?«
Cornelia schüttelte den Kopf, während sie versuchte, der herausströmenden Tränen Herr zu werden. Doch ihr Taschentuch wurde feucht, bevor sie einen wirklichen Erfolg erzielte.Unaufdringlich schob Dr. Daniel ihr eine Packung Papiertaschentücher zu.
»Professor Thiersch hat in seiner Klinik weit mehr Möglichkeiten als ich«, führte er nebenbei aus. »Er wird Sie einer ganz gründlichen Untersuchung unterziehen und dann die geeignete Behandlungsmethode ergreifen.« Er schwieg kurz. »Sie können das natürlich ablehnen, aber ich würde Ihnen dringend raten, in die Thiersch-Klinik zu gehen, und ich versichere Ihnen, daß Sie dort in den besten Händen sein werden.«
Cornelia nickte. »Ich habe ja wohl keine andere Wahl.«
Impulsiv griff Dr. Daniel nach ihrer Hand und drückte sie sanft. »Versteifen Sie sich nicht auf den Gedanken, Krebs zu haben. Ihre Beschwerden können ganz harmlose Ursachen zugrunde liegen.«
Cornelias große dunkle Augen blickten ernst und traurig. »Daran glaube ich nicht, Herr Doktor.«
*
Dr. Daniel ließ es sich nicht nehmen, Cornelia Schalk persönlich bei Professor Thiersch anzumelden. Schließlich kannte er den Professor seit vielen Jahren, und so konnte ihn dessen barsche, oftmals sogar unhöflich wirkende Art nicht mehr einschüchtern.
»Daniel, Sie schon wieder?« begrüßte Professor Thiersch ihn wie gewöhnlich unwirsch.
»Sie tun mir unrecht, Herr Professor«, entgegnete Dr. Daniel lächelnd. »In letzter Zeit habe ich Sie überhaupt nicht mehr belästigt.« Dann wurde er ernst. »Es geht um eine Patientin von mir. Sie leidet unter Zwischenblutungen, die ihre Ursache in einer Wucherung innerhalb der Gebärmutter haben dürften. Krebs kann ich nicht ausschließen.«
Einen Augenblick herrschte Schweigen in der Leitung.
»Schicken Sie sie zu mir«, erklärte Professor Thiersch endlich. Dr. Daniel hörte das Rascheln von Papier. Offensichtlich blätterte der Professor in seinem Terminkalender. Am Montag früh.« Dann legte er einfach auf.
Dr. Daniel seufzte. Der gute Professor Thiersch hatte schon so seine Eigenheiten, und wer ihn nicht kannte, war ihm vielleicht sogar böse. Doch Dr. Daniel wußte, wie sehr dem Professor das Schicksal seiner Patienten am Herzen lag – auch wenn er es so gut wie nie zeigte.
*
Trotz der unerträglichen Hitze fanden Karina und Stefan Daniel an diesem Sonntag den Weg nach Steinhausen. Karina hatte einen ganz besonderen Grund, ihren Vater aufzusuchen, und sie wollte ihren älteren Bruder als »seelische Stütze« dabeihaben.
»Wann willst du es ihm denn beibringen?« fragte Stefan, als er seinen betagten Kleinwagen die steile Auffahrt hinauflenkte, die zur Villa von Dr. Daniel führte.
Karina seufzte. »Wenn ich das schon wüßte.« Sie schwieg einen Moment, bevor sie gestand: »Ich habe ein bißchen Angst vor Papas Reaktion.«
Stefan nickte. »Das kann ich mir vorstellen. Und ich bin auch sicher, daß er nicht gerade erfreut sein wird.«
Karina zog eine Grimasse. »Na, du machst mir vielleicht Mut!« Dann atmete sie tief durch. »Aber jetzt gibt es ohnehin kein Zurück mehr.«
Stefan warf seiner Schwester einen kurzen Blick zu. »Also irgendwie bewundere ich dich. Ich hätte es nicht gewagt, nach sechs Semestern mein Studium hinzuschmeißen.«
»Ich schmeiße mein Studium nicht hin, ich sattle nur um«, berichtigte Karina, dann strich sie mit einer anmutigen Handbewegung ihr langes goldblondes Haar zurück. »Und eigentlich sollte sich Papa freuen…«
»Da ist er schon«, unterbrach Stefan seine Schwester, als Dr. Daniel mit langen Schritten auf den Wagen seines Sohnes zukam. »Du kannst ihm die frohe Botschaft also gleich verkünden.«
»Karina! Stefan!« rief Dr. Daniel erfreut. »Mit euch hatte ich dieses Wochenende nicht gerechnet. Ich dachte, ihr würdet euch lieber im Freibad tummeln.«
Karina schlang beide Arme um seinen Nacken und küßte ihn flüchtig auf die Wange.
»Ich hatte Sehnsucht nach dir«, behauptete sie, rückte dann aber doch mit der Wahrheit heraus. »Und ich muß mit dir sprechen.«
Dr. Daniel runzelte die Stirn. »Das klingt ernst.«
»Ist es auch, Papa«, erwiderte Karina, dann löste sie sich von ihrem Vater und trat einen Schritt zurück. »Ich habe mein Studium abgebrochen.«
Völlig fassungslos starrte Dr. Daniel seine Tochter an.
»Du hast… was?« fragte er entsetzt.
Karina atmete tief durch. »Du hast richtig gehört, Papa. Ich habe mein Studium abgebrochen. Seit einer Woche arbeite ich in der Klinik von Onkel Schorsch als Krankenpflegerin. Und ab Herbst werde ich Medizin studieren.«
Dr. Daniel schüttelte den Kopf, als könnte er nicht begreifen, was seine Tochter da gesagt hatte.
»Warum, um Himmels willen…« begann er, doch Stefan unterbrach ihn. »Meine Güte, Papa, mach doch nicht gleich ein solches Drama aus der Sache. Karina wollte seit jeher Medizin studieren und hat es nur nicht getan, weil ich…«
»Ach, so ist das«, fiel Dr. Daniel ihm ins Wort. »Ich bin wieder mal der letzte, der von alldem erfährt.«
»Papa, du tust ja wirklich, als würde die Welt untergehen«, erklärte Karina. »Ich habe mein Studium gewechselt, das ist alles.«
»Das ist auch mehr als genug«, entgegnete Dr. Daniel ernst. »Du hast drei Jahre lang umsonst gearbeitet, ist dir das klar?«
Karina nickte. »Natürlich ist mir das klar, aber vielleicht habe ich diese drei Jahre gebraucht, um zu wissen, was wirklich wichtig für mich ist.«
In diesem Moment fiel bei Dr. Daniel der sprichwörtliche Groschen. »Wolfgang! Gib zu, daß er der Grund für deinen plötzlichen Sinneswandel ist.«
Karina senkte den Kopf. So unrecht hatte ihr Vater mit diesem Vorwurf nicht. Aber noch ehe sie dazu etwas sagen konnte, mischte sich ihr Bruder ein.
»Wolfgang?« fragte er verständnislos. »Von wem sprichst du denn da eigentlich, Papa?«
»Von der großen Liebe deiner Schwester«, antwortete Dr. Daniel in einem für ihn untypischen, sarkastischen Ton.
»Wie bitte?« Stefan schüttelte ungläubig den Kopf, dann sah er Karina an. »Was ist denn mit Markus?«
Das junge Mädchen seufzte tief auf. »Zwischen Markus und mir ist Schluß – schon seit ein paar Wochen.«