Gustaf in Weihnachtsstimmung

»Kling, Glöckchen, klingelingeling, kling, Glöckchen, kling«, sang Gustaf, nachdem die Tür hinter dem letzten Kunden zugefallen war. »Lasst mich ein, ihr Katzen, mir frieren schon die Tatzen …«

»Stopp!«, rief Herr König dazwischen. »Hör damit auf! Das ist ja nicht auszuhalten.«

»Aber es ist bald Weihnachten«, entgegnete der Kater. »Da wird ein bisschen Weihnachtsstimmung ja wohl erlaubt sein!«

»Weihnachtsstimmung heißt aber nicht, dass man jedes Mal, wenn die Glocke über der Ladentür bimmelt, ›Kling, Glöckchen‹ singt«, beschwerte sich der Spiegel. »Außerdem macht man das nicht, Weihnachtslieder mit irgendwelchen Quatschtexten zu versehen!«

»Das ist kein Quatschtext!«, maunzte Gustaf. »Wir Katzen singen das immer so. Da kannst du gerne Mirelle oder jede andere Katze fragen. Soll ich dir die restlichen Strophen auch noch vorsingen?«

»Bitte nicht«, stöhnte der Spiegel, und ich konnte mir das Grinsen nicht verkneifen. Es war immer ziemlich witzig, wenn die beiden sich stritten. Für mich war es das Normalste auf der Welt, dass ich Gustaf, den schwarz-grau getigerten Kater, und Herrn König, den alten Spiegel mit dem dicken Goldrahmen, verstehen konnte. Auch wenn Katzen und Spiegel natürlich normalerweise nicht sprechen können. Aber die beiden lebten in Frau Eules zauberhaftem Wunschbuchladen und da war einfach alles ein bisschen anders. Es lag nämlich Magie in der Luft.

»Möchtest du vielleicht einen Tee?«, fragte Frau Eule mit säuselnder Stimme. »Und dazu ein leckeres Schokotörtchen?«

Ich hatte mich mit meinem Buch in einen Sitzsack gekuschelt und wollte eigentlich lesen, doch das konnte auch noch einen Moment warten.

In der Vorweihnachtszeit war es im Wunschbuchladen noch gemütlicher als sonst. Vor ein paar Tagen hatte Frau Eule überall kleine Lichterketten angebracht, die den Laden in ein warmes Licht tauchten. Gustaf und ich hatten währenddessen Bücher mit grünen Umschlägen aus den Regalen gezogen und diese so gestapelt, dass sie wie ein Weihnachtsbaum aussahen. Außerdem gab es einen selbst gemachten Adventskalender für die Kunden, der im Schaufenster hing.

Ich stand auf und ging zum Verkaufstresen, auf den Frau Eule zwei Tassen Tee und einen Teller mit Schokotörtchen gestellt hatte. Die holte sie jeden Morgen aus dem benachbarten Schokohimmel. »Die musst du unbedingt kosten«, sagte Frau Eule. »Frau Ting hat ein neues Rezept ausprobiert. Mit weihnachtlichen Gewürzen. Ein Gedicht!«

»Ein Gedicht?«, rief Gustaf und sprang ebenfalls auf den Verkaufstresen. »Sehr gerne! Ein Kätzchen lief durch den Winterwald, doch schnell wurden ihm die Pfötchen kalt …«

Gustaf liebte es zu reimen und dachte sich zu allen möglichen Gelegenheiten neue Gedichte aus.

»Neeeeein!«, jaulte Herr König, der nicht sonderlich viel davon hielt. »Kann bitte irgendjemand dieses Katzentier zum Schweigen bringen?«

Frau Eule klatschte in die Hände. »Hört auf zu streiten«, sagte sie. »Heute ist kein Tag für schlechte Laune. In der Vorweihnachtszeit sollte es sowieso keinen einzigen Tag mit schlechter Laune geben.«

»Wie wäre es, wenn du Mirelle ein Gedicht schreibst?«, schlug ich vor und schnappte mir ein Schokotörtchen. »Ein Weihnachtsgedicht. Ich bin mir sicher, sie würde sich wahnsinnig darüber freuen!«

Gustaf stupste mit seiner weichen Nase gegen meine Hand, was ein bisschen wie ein Küsschen war. »Danke, Clara«, sagte er. »Das ist eine hervorragende Idee.«

Mirelle war Gustafs große Liebe. Leider lebte sie in Frankreich, weil sie dem französischem Buchhändler Monsieur Hibou gehörte. Dieser hatte vor einiger Zeit die Vertretung im Wunschbuchladen übernommen, als Frau Eule verreist war. Am Anfang hatten sich die beiden Katzen nicht leiden können, doch dann hatten sie sich Schwanz über Kopf ineinander verliebt. Gustaf sprang auf seinen Sessel, neben dem ein Foto von Mirelle hing. Das sah er jetzt mit sehnsuchtsvollem Blick an. »Meine Schöne!«, raunte er. »Du wirst das romantischste, herzerwärmendste, gefühlvollste Weihnachtsgedicht aller Zeiten von mir bekommen.«

Während der Kater über sein Gedicht nachdachte, biss ich in das Schokotörtchen und musste feststellen, dass es wirklich himmlisch schmeckte.

»Der nächste Kunde darf übrigens das Adventskalendersäckchen öffnen«, vermeldete Herr König.

»Ach, wenigstens einer, der hier aufpasst«, flötete Frau Eule. »Ich komme mit dem Zählen einfach nicht hinterher.«

In der Kinderbuchecke rumste es plötzlich, und ich lief schnell dorthin, um zu sehen, was passiert war. Als ich vor dem Regal mit Mal- und Rätselbüchern stand, konnte ich mir das Lachen nicht verkneifen. Offenbar hatten sich drei Übungsblöcke zum Thema »Zahlen« und »Zählen lernen« selbst aus dem Regal geschoben, um Frau Eule etwas auf die Sprünge zu helfen. »Hier bieten sich drei an, die Ihnen Nachhilfe geben wollen!«, rief ich Frau Eule zu, die nur kichernd abwinkte. Ich hob die Bücher auf, tätschelte sie noch einmal und stellte sie wieder an ihren Platz. Das Eigenleben der Bücher war nur einer der Gründe, warum ich so gerne im zauberhaften Wunschbuchladen war. Ein anderer meldete sich gerade zu Wort.

»Ich prophezeie, dass der nächste Kunde männlich sein wird«, verkündete Herr König, der sich offenbar mal wieder im Hellsehen übte. »Es ist jemand, der sich sehr auf Weihnachten freut.«

»Na dann freut er sich bestimmt auch über das Adventskalendersäckchen«, meinte Frau Eule und ließ ein paar künstliche Schneeflocken als Deko auf ihren Tresen rieseln. Für den Adventskalender hatte sie eine tolle Idee gehabt. Am ersten Dezember durfte der erste Kunde in das Säckchen schauen, am zweiten der zweite, am dritten der dritte und immer so weiter. Demzufolge war heute der achtzehnte Kunde an der Reihe. Kurz dachte ich darüber nach, ob ich einfach etwas kaufen sollte und somit die Achtzehnte wäre, doch da bimmelte schon das Glöckchen über der Ladentür.

»Kling, Glöckchen, klingelingeling«, sang Gustaf wieder, und Herr König stöhnte.

Ich freute mich allerdings, als ich sah, wer den Laden betrat: Es war Daniel, der Papa meiner besten Freundin Lene.

»Herzlich willkommen in unserem schönen Wunschbuchladen«, rief Frau Eule und deutete auf das Schaufenster. »Sie haben Glück!«

Daniel lachte. »Ja, da haben Sie recht. Es ist wirklich immer ein großes Glück, im Wunschbuchladen zu sein.«

»Diese Art von Glück meine ich ausnahmsweise nicht«, antwortete Frau Eule mit einem Lächeln. »Sie bekommen unsere kleine Adventskalender-Überraschung. Weil heute der 18. Dezember ist und Sie der achtzehnte Kunde sind.«

»Oh, das ist aber schön«, sagte Daniel. Dann wandte er sich an mich. »Magst du mir vielleicht helfen, Clara?«

Ich nickte und nahm den roten Stoffbeutel mit der 18 von der Leine, die Frau Eule gespannt hatte. Daniel öffnete ihn und zog einen kleinen Bilderrahmen heraus. Er war dunkelblau und mit glitzernden Sternen besetzt, in einer Ecke war sogar eine kleine Sternschnuppe.

»Ist der schön!«, entfuhr es mir.

Daniel lachte. »Möchtest du ihn haben?«

Ich schüttelte schnell den Kopf. »Quatsch! Aber Lene würde sich bestimmt riesig darüber freuen.«

»Da hast du recht«, sagte er und fischte noch eine kleine Schokopraline aus dem Säckchen. »Wegen Lene bin ich auch hier. Ich würde ihr gerne ein Buch schenken, damit sie abends etwas zu lesen hat, wenn sie bei mir ist.«

Lene war zwar meine beste Freundin, aber seit ihre Eltern sich getrennt hatten, lebte sie mit ihrer Mama weit weg in einer anderen Stadt. Doch in ein paar Tagen würde ich sie endlich, endlich wiedersehen, denn sie besuchte über Weihnachten ihren Papa und blieb ganze fünf Tage hier.

»Ich freue mich schon so auf Lene!«, sagte ich zu Daniel, der sich gerade die Praline auf der Zunge zergehen ließ.

»Und ich mich erst«, entgegnete er mit vollem Mund. »Endlich kann ich sie wieder richtig in den Arm nehmen.«

»Ach, wenn ich meine Mirelle auch nur wieder in meine Pfoten schließen könnte!«, rief Gustaf sehnsuchtsvoll, doch das hörten nur Frau Eule und ich. Niemand sonst konnte den Kater oder den Spiegel verstehen, auch Daniel nicht oder Lene, oder mein Freund Leo, mit dem ich viel Zeit hier verbrachte.

Ohne auf Gustaf einzugehen, tänzelte Frau Eule in die Kinderbuchabteilung. »Ich habe gerade ein paar wunderbare Neuerscheinungen bekommen.« Zielsicher steuerte sie auf eines der Regale zu und griff ein Buch heraus. »Und das hier ist für Lene.«

Sie sagte es so, als wäre dieses Buch für Lene bestimmt und als gäbe es daran auch nichts zu rütteln. Daniel nahm das Buch und betrachtete das Cover. Es war mit unzähligen funkelnden Sternen besetzt, die mich sofort in ihren Bann zogen. Plötzlich löste sich eines der Sternchen vom Buch und schwebte genau vor mein Gesicht, wo es eine Weile verharrte, als wolle es mir zeigen, wie schön es war. Dann flog es sternschnuppengleich in einem Bogen zu Boden.

»Ich hoffe, du hast dir etwas gewünscht, Clara«, sagte Frau Eule lächelnd. »Dieses Buch ist nämlich etwas ganz Besonderes. Es handelt von einem Mädchen und seinen allergrößten Herzenswünschen. Und wie du gerade gesehen hast, kann das Buch selbst auch Wünsche erfüllen.«

Das war ja unglaublich! Leider war das mit der Buch-Sternschnuppe so schnell gegangen, dass ich mir nichts gewünscht hatte, aber vielleicht zeigte sich ja später ein weiteres Sternchen.

Frau Eule griff erneut in das Regal und zog das gleiche Buch noch einmal hervor. »Selbstverständlich ist dieses Buch nicht nur für Lene, sondern auch für dich.«

Manchmal war mir Frau Eules Gespür fast schon ein bisschen unheimlich. Natürlich hatte ich mich beim Anblick des wunderschönen Covers sofort in dieses Buch verliebt. »Danke!«, sagte ich und nahm es entgegen.

»Ich kenne doch meine zwei Lieblingsmädchen«, sagte Frau Eule mit einem Augenzwinkern. »Ihr könnt jederzeit zum Lesen herkommen.« Sie deutete mit dem Kopf auf die Strickleiter, über die man nach oben auf eine gemütliche Fläche klettern konnte.

»Das machen wir bestimmt«, antwortete ich und spürte ein aufgeregtes Kribbeln.

»Vielen Dank für Ihren Tipp«, sagte Daniel nun. »Und das Buch passt hervorragend zu dem kleinen Bilderrahmen aus dem Adventskalender! Ich bin mir sicher, Lene wird sich riesig freuen.«

Er nahm mir das Buch aus der Hand und ging damit zur Kasse. Ehe ich etwas sagen konnte, hatte er nicht nur Lenes, sondern auch mein Exemplar bezahlt. »Betrachte es einfach als vorgezogenes Weihnachtsgeschenk«, sagte er grinsend und gab mir das Buch zurück.

»Darf ich die Bücher einpacken?«, fragte Gustaf, der offenbar gerade eine kreative Pause einlegte. »In schönes Geschenkpapier? Bitte, bitte, bitte!«

»Das ist lieb von dir«, sagte ich. »Aber nein danke!«

Daniel sah mich fragend an. »Du möchtest das Buch gar nicht haben?«

»Doch, warum?«, antwortete ich verwirrt.

»Na, weil du gerade Nein danke gesagt hast.«

»Ach so, ich meinte nicht dich damit«, erklärte ich.

»Wen dann?« Daniel schien nachzudenken. Er sah mich an. Dann sah er Gustaf an. »Hast du gerade mit dem Kater geredet?«

Ich nickte verlegen.

»Was hat er denn gesagt?«, wollte Daniel wissen.

»Er hat gefragt, ob er die Bücher als Geschenk einpacken soll.«

Daniel lachte laut auf. »Wirklich? Lene hat mir ja schon häufiger erzählt, dass der Kater sprechen kann, aber es bleibt mir trotzdem unbegreiflich.« Er legte das Buch auf Gustafs Sessel.

»Bitte schön! Ich würde mich freuen, wenn du das für Lene einpacken könntest.«

»Habt ihr gehört?«, rief Gustaf begeistert. »Ich darf es einpacken! Frau Eule, ich brauche Papier. Leg es am besten hier auf den Boden, damit es nicht zerknickt!«

Jetzt war ich gespannt. Ich hatte inzwischen einiges im Wunschbuchladen erlebt, aber dass Gustaf Geschenke einpacken konnte, war mir neu.

Frau Eule lachte und erklärte dann: »In der Weihnachtszeit ist immer viel zu tun. Da habe ich es Gustaf beigebracht. Normalerweise erledigt er das hinten im Büro, wo ihn niemand sieht.« Sie schnitt ein Stück Papier ab – natürlich war es passenderweise mit Sternen bedruckt – und breitete es auf dem Boden aus. Während Daniel das Buch darauflegte, sprang Gustaf vom Sessel. Dann nahm er eine Seite des Geschenkpapiers ins Maul, legte sie über das Buch und stellte sich mit den Hinterbeinen darauf. Mit den Vorderpfoten griff er nach der anderen Seite des Papiers und zog sie Richtung Hinterbeine. Frau Eule riss ihm einen Streifen Klebefilm ab, den er zielsicher mit dem Maul platzierte. »Das war der schwierigste Teil«, erklärte er und begann, die Seiten umzuschlagen.

»Noch schwieriger war es aber, als du immer selbst versucht hast, den Klebefilm abzurollen«, sagte Frau Eule lachend. »Ich weiß nicht, wie oft ich dich aus Klebebandgehedder befreien musste.«

Daniel war so fasziniert, dass er den Blick gar nicht mehr abwenden konnte. »Unglaublich«, murmelte er. »Wirklich unglaublich.«

Nachdem Gustaf fertig war, schob er Daniel das Geschenk vor die Füße. »Bitte schön«, sagte er.

Daniel hob das Buch auf und betrachtete es von allen Seiten. »Perfekt«, sagte er schließlich und beugte sich zu Gustaf runter. »Danke! Wenn ich mal wieder etwas einzupacken habe, weiß ich jetzt ja, wohin ich gehe.«

Er steckte das Buch und den kleinen Bilderrahmen in seine Tasche und wandte sich zum Gehen. »Hast du Lust, Lene vom Bahnhof abzuholen, wenn sie ankommt?«, fragte er mich. »Das hat sie sich nämlich gewünscht. Und mir hat sie dafür eine schöne Abfuhr erteilt.« Er grinste. »Dich sehe ich doch genug, wenn ich da bin, hat sie gesagt.«

Als Antwort wäre ich ihm am liebsten um den Hals gefallen. »Jaaaa«, erwiderte ich. »Natürlich hole ich sie ab. Und wo sie recht hat, hat sie recht.«

»Na dann!«, sagte Daniel mit einem Augenzwinkern in meine Richtung. Er öffnete die Tür und hob die Tüte hoch. »Vielen Dank noch mal.«

»Gern geschehen«, antworteten Gustaf und Frau Eule gleichzeitig.

Nachdem Daniel verschwunden war, ließ ich mich wieder in den Sitzsack plumpsen, in dem ich vorhin gesessen hatte. »Wie feiern Sie eigentlich Weihnachten?«, fragte ich Frau Eule, die gerade eine goldene Schleife um ein Buch wickelte. Doch das Buch schien sich zu wehren, es ließ seine Seiten flattern und schob sich von links nach rechts und wieder zurück.

»Ich weiß«, sagte Frau Eule. »Das kitzelt! Aber wer schön sein will, muss leiden. Du wirst sehen, dass es sich lohnt, denn eine goldene Schleife zieht die Blicke aller Kunden auf sich.«

Die Buchhändlerin schien so vertieft in ihr Gespräch mit dem Buch, dass sie meine Frage gar nicht gehört hatte, also versuchte ich es noch einmal. »Fahren Sie über Weihnachten weg?«

Frau Eule stellte das Buch auf den Verkaufstresen, wo es sich stolz rekelte. Zumindest wirkte es so. Manchmal war ich mir nicht sicher, ob ich mir Sachen einfach nur einbildete.

»Ich feiere selbstverständlich hier im Wunschbuchladen«, verkündete Frau Eule.

»Ganz allein?«, fragte ich, und mein Herz sank. Ich fand die Vorstellung irgendwie traurig. Weihnachten war doch das Fest der Liebe und des Zusammenseins, man futterte gemeinsam leckere Sachen, beschenkte sich gegenseitig und war fröhlich. Zumindest war das in unserer Familie immer so.

Wunschbuchladen