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Volker Demuth

Der nächste Mensch

Fröhliche Wissenschaft 119

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Inhalt

Träume: Vom letzten Menschen zum nächsten Menschen

Der Topos der Menschenverbesserung

Posthumanismus und das transhumanistische Projekt

Bioperfektion, Umgebungsintelligenz und postökologisches Denken

Biokapitalismus und Bioutopie

Anmerkungen

Mit den industriellen Revolutionen begannen wir in einer Epoche zu leben, für die jeder einzelne Mensch Knochenarbeit in zuvor unvorstellbarem Ausmaß war. Nie hatten sich ganze Gesellschaften einer derartigen Selbstprüfung unterworfen, was den Stoff angeht, aus dem ihre Mitglieder gemacht sind. Nimmt man die Form der modernen industriellen Kriege hinzu, kann man sagen, die anthropozentrische Materialprüfung sei zu einem Synonym für Geschichte überhaupt geworden. Ihre leitende Frage war: Was kann der Mensch aushalten? Inzwischen hat sich die epochale Fragestellung jedoch geändert. Heute lautet sie: Zu was kann der Mensch umgeformt werden? Das Zeitalter, in dem diese Frage bestimmend wird, ist das des nächsten Menschen.

Träume: Vom letzten Menschen zum nächsten Menschen

Auch Träume treten in Konkurrenz. Das ist insbesondere dann der Fall, wenn es sich um Träume handelt, die danach streben, die Schwelle des Reichs der Fantasie zu übertreten, und die sich anschicken, wahr zu werden. Dass jedem Traum der Kern eines Wunsches innewohnt, glaubte Sigmund Freud der menschlichen Psyche attestieren zu können. Wunsch und Traum schienen sich im Unbewussten die Bälle zuzuspielen. Sicher ist, keine andere Epoche hat traumhafte Wünsche in vergleichbarer Weise zum Antrieb ihres Handelns gemacht wie die Moderne. Einige davon sind in Erfüllung gegangen. Hier soll der Blick nun auf noch unerfüllte Träume gerichtet werden, auf die Träume einer nahen Zukunft. Das hier Beschriebene ist eine geschichtliche Möglichkeit, die zur Wahrscheinlichkeit tendiert und die Wirklichkeit werden kann.

Wunsch und Traum teilen die ontologische Eigenschaft, etwas Unwirkliches zu ihrem Inhalt zu haben. Beide verhalten sich zur Realität in der Figur der Lücke und der Differenz. Merkwürdigerweise hat moderne Gesellschaften nichts so sehr beschäftigt und in Atem gehalten wie dasjenige, das nicht ist, das aber wirklich sein soll. Dieses Irreale – soll es nicht dem Schicksal anheimfallen, pure Illusion zu bleiben – muss allerdings einen Impuls freisetzen, der sich auf die Zukunft richtet. Einen Anstoß, der seine Fruchtbarkeit auf prägnanten Handlungsfeldern zeigen kann. Moderne hieß stets: Wo unter den herrschenden Verhältnissen vieles zu wünschen blieb, musste man der Zukunft eine umso größere Bürde auferlegen. Sie abzutragen, bestimmte das Maß des Fortschritts.

Der politische und gesellschaftliche Fortschrittstraum der Moderne wurde von der Französischen Revolution formuliert und in Szene gesetzt. Kein Jahrhundert später bewertete Friedrich Nietzsche das Resultat. Mit knappen Strichen zeichnete er das Porträt eines Zeitalters, das vorgibt, die bürgerlich-emanzipierten Träume wahr gemacht zu haben. Es ist das Bild vom letzten Menschen. Und es führt uns vor Augen, wie bequem und wohlig sich die Menschen in der modernen Vernunft-, Tugend- und Wertewelt eingerichtet haben. Man achtet auf Gesundheit und Fitness, auf sozialverträgliches Benehmen, durchschnittliche Emotionen und dosierte Lustzufuhr. Man schafft eine umfassende Wohlfühlwelt, ein möglichst schmerzfreies Leben und schließlich ein palliativmedizinisch gecoachtes Sterben. Kurz: man schätzt ganz ungemein ein »erbärmliches Behagen«1. »›Wir haben das Glück erfunden‹ – sagen die letzten Menschen und blinzeln.«2 Und wo augenzwinkerndes Befriedigtsein sie umfängt, wird die Ironie zum Idiom ihrer Zeit. Was will man mehr?

Letzter Mensch ist nicht, wer die ethnischen, religiösen oder politischen Kämpfe der Vergangenheit weiterführt. Der letzte Mensch ist vielmehr der Antiheld, ein Mittelmäßiger in einer Gesellschaft der Mitte, eingerichtet in einem gut ausgestatteten sozialen Frieden, der sich ähnlich anfühlt wie die gepolsterte Wohnlandschaft im Eigenheim. Er ist umgeben von kultureller und medialer Betriebsamkeit, die, zwischen Unterhaltung und Skandalisierung, zwischen Zerstreuung und Erregung, sämtliche psychopolitischen Energien bindet wie ein chemischer Stoff. Der letzte Mensch lässt es sich gefallen, dass sein Leben so aussieht, als fände es in der besten aller möglichen Welten statt. Illusionen und Simulationen tun ihm gut. Sie sind an die Stelle der Träume getreten.

Doch Nietzsches letztem Menschen fehlt etwas Entscheidendes. Seine epochale Erscheinung ist theoretisch unterbelichtet und bereits auf der damaligen Bühne der Moderne unzulänglich ausgeleuchtet. Denn Nietzsche zeichnet – und das ist ziemlich erstaunlich in einer grundstürzenden Epoche des rabiaten Fabrik-industrialismus, international konkurrierender Ökonomien und eines brutalisierten Kolonialismus – ein seltsam verschlepptes Biedermeierbild, dem schon zu seiner Zeit nicht zu trauen war. Dessen Konturen werden jedoch schärfer, lässt man jenes grelle Licht des Kapitalismus auf den letzten Menschen fallen, in dem er erst sein wahres kulturelles Naturell entfaltet.

Heute sehen wir ihn in etwa so: Er hat jedes Geschlecht und gehört jenem Teil der Welt an, von dem ein anziehendes Leuchten des Vermögens und der Üppigkeit ausgeht. Er hält sich bevorzugt an Orten auf, wo das Vibrieren einer Erregung zu spüren ist, die etwas mit Geld zu tun hat. Er versieht sich mit Dingen, die man sich leisten können muss, weil sie für ihn der Widerschein einer Leistung sind, die er sich in irgendeiner Weise zurechnen darf. Er verdient sie und das mit ihnen verbundene Leben, weil er entsprechend verdient. Er kann sich damit sehen lassen, aber es ist mehr als eine Ausstattung, mehr als eine stilistische Note. Es ist eine Art Ausweis, den er herzeigt, um den Nachweis anzutreten, wer er ist, wohin er gehört und wohin nicht. Was er sich anschafft, ordnet ihn zu. Mit dem, was er kaufen und tun kann, trifft er eine Unterscheidung. Und er entwickelt seine Unterscheidungen so weit, dass sie den Charakter einer Form gewinnen, die man für Identität halten kann. Seine im Marktgeschehen erworbene Festigkeit, die einzige, der er vertraut und die er respektiert, erlaubt es ihm, auch dorthin zu gehen, wo man scheinbar anderen Regeln folgt. Er wird sich viel abverlangen, kann Unglaubliches aus sich herausholen, weil er weiß, auf jede Verausgabung, auf jede Leere in ihm wartet irgendwo ein Meer der Fülle. Gleichwohl bemisst sich seine Souveränität nicht zuletzt an dem spannungsreichen Vergnügen, das Unmaß des Vielen, das ihm möglich ist, in Stilen der Reduktion aufzuheben. Es ist ein unverzichtbares Wohlgefühl für ihn, den Schimmer über sich gleiten zu lassen, der sich in der Sekunde des Bezahlens über seinem Körper ausbreitet. Tatsächlich findet er jenes frühe, kindliche Empfinden darin wieder, etwas gewonnen zu haben und sich dabei von irgendetwas ausgezeichnet zu wähnen, das man nicht kannte: das Glück. Das hebt ihn für einen Sekundenbruchteil aus sich heraus. Er hat den Punkt, den er anstrebt, jedoch erst erreicht, wenn für ihn das Kostspielige wirklich etwas Spielerisches wird. Das ist nicht dasselbe, wie wenn der Preis keine Rolle spielt, im Gegenteil. Der Preis ist entscheidend und er wird es auch dann bleiben, wenn er darüber hinwegzusehen fähig ist. Es ist ein Teil dessen, dass er sich ermächtigt fühlt, gleichgültig sein zu können, ohne sich irgendwie zu distanzieren. Und es bedeutet: Kontrolle über die Abstände auszuüben, durch die sein Leben seine Gestalt erhält. Wenn er spürt, alles kann ihm zum Erlebnis werden, zu einer Spielart des Ästhetischen, weiß er, dass er erreicht hat, wohin ihn jene Erregung, die noch immer etwas mit Geld zu tun hat, von Anfang an zog. Er vibriert selbst, durchdrungen von einer Energie, die ihm kein Ende ankündigt. Am wenigsten dort, wo er sich in Abschnitte der Zeit einkauft, die ihn zur Ruhe kommen lassen und ihm für Augenblicke Vergessen schenken.

Wer vor dem Hintergrund der Gegenwart die Merkmale des letzten Menschen zu protokollieren versucht, muss wissen, dass sie überzeichnet oder verzerrt geraten. Denn jedes Porträt, das man von ihm entwirft, besteht unweigerlich aus einer Ansammlung von Vorurteilen. Der letzte Mensch, heißt das, ist ein Ressentiment. Er war es schon bei Nietzsche. Doch nimmt ihm das keineswegs jenes analytische Potenzial, das uns helfen kann, die eigentümliche Problematik unserer Zeit besser zu verstehen.

Dem zugrunde liegt zunächst die Beobachtung, dass die Wirtschaft die stärkste Kraft und damit den geschichtlichen Handlungsschwerpunkt heutiger Gesellschaften ausmacht. Ökonomisch im neuzeitlichen Sinn werden die allgemeinen Verhältnisse dann, wenn der Egoismus individueller Zwecke und Vorlieben durch Mechanismen der Marktkoordination eine Kollaboration höherer Ordnung einrichtet. Das ist der Sinn von Bernard de Mandevilles Bienenfabel. In ihr lässt sich die Zauberformel der kapitalistischen Moderne finden: Ausgehend von Negativität, von der Nichtwirklichkeit individueller Wunschträume (private vices), entsteht durch einen komplexen Marktmechanismus Positivität (public benefits), die Wirklichkeit von Wohlstand.

Diese Grundüberzeugung der Marktwirtschaft setzt allerdings eine andere zwingend voraus: Die Träume und Bedürfnisse sind unendlich, die Bedarfssättigung kann also nie an ein Ende kommen. Dieses anthropologische Postulat, von dem sich die Nationalökonomie von Anfang an geleitet weiß, macht das eigentliche Merkmal modernen Glücks aus. Über die Glückseligkeit (felicity) im modernen Sinn schreibt Thomas Hobbes: »Glückseligkeit bedeutet den ununterbrochenen Fortschritt des Begehrens, von einer Sache zur nächsten.«3 Pascals die Neuzeit prägender continuel progrès erfährt hier seine frühe wunschökonomische Formulierung. Sie wird zur Basis des Konsumkapitalismus.

Nichts kann im ökonomischen Zeitalter folglich weniger gewollt sein als Zufriedenheit. Stets muss dem Erfüllbaren ein eklatantes Übermaß an Unerfüllbarem gegenüberstehen, und was bereits in Erfüllung ging, wird weit überwogen von dem noch Unerfüllten. Jene konstitutive Erfahrung des gelebten Defizits nicht in Frustration und Aggression umschlagen zu lassen, sondern sie als Motivation und Anstrengung zu installieren, ist eine der größten und bleibenden Herausforderungen, mit denen es der Kapitalismus zu tun hat.

Es hat also etwas Heuchlerisches, der Unersättlichkeit und ungezügelten Gier im Kapitalismus einen Vorwurf zu machen. Weit entfernt davon, als unmoralisch gebrandmarkt zu werden, sind Verhaltensweisen systemischer Zügellosigkeit für das allgemeine Wohl geradezu unerlässlich. Aus dem abendländisch-christlichen Lasterkatalog befreit, wird die grenzenlose Wunscherfüllung zur sozialen Norm. Nicht, dass die Menschen plötzlich verlernt hätten, zufrieden und in ihrem Verlangen maßvoll zu sein. Nur ist es ihnen, gemäß der Prozesslogik ökonomischer Modernisierung, nicht gestattet – und zwar aus einsichtigen, guten Gründen. Diese objektivieren sich in Konsumstilen und schlagen sich in möglichst opulenten Erlebniswelten und Lebensstandards nieder. Die auch nach einem Jahrhundert der Konsumrevolution global stetig weiterwachsende Zahl der Konsumenten ergibt sich heute aus dem alten Massenkonsum und einem neuen Singularitätenkonsum.4 Keine Frage, seit jeher gab es Zeiten und Orte von unermesslichem Luxus. Was sie von unserer überflusstrunkenen Epoche jedoch grundlegend unterscheidet, ist der totalitäre Zug, individuelle Wünsche und Verlangen zu einem Systemfaktor zu machen, der alles befällt, was in dieser Welt noch irgendwie konsumierbar ist.

Diese kapitalistische Entwicklung, in der sich der letzte Mensch bewegt, führt in der Vielzahl von Individualismen oder Egoismen zu dem von William James so benannten »pluralistischen Universum«. Der Raum der Möglichkeiten kultiviert letztendlich ein Ungenügen im doppelten Wortsinn – denn so ungenügsam man sich auch zu verhalten versucht, nie kann man all den Möglichkeiten genügen. Die anwachsenden Optionen und womöglichen Chancen erfüllen darin die Bedeutung von Freiheit. Umgekehrt beschwört man mit der Forderung nach Freiheit den positiven Charakter der Ökonomie des Wünschens, die durch eine nie stillstehende Erzeugung vermarktungsfähiger Differenzen befeuert wird. Das führt zu jener extremen sozialen Anspannung, wie wir sie heute erleben und die Walter Benjamin als ein Merkmal kultischer Praxis gedeutet hat – daher seine Einschätzung, wir hätten »im Kapitalismus eine Religion zu erblicken«5.

Eine Zivilreligion, versteht sich. Nämlich leidenschaftliches, sinnbezogenes Tun ohne Dogma und Theologie, das der Ordnung einer definierten und endlosen Wiederholung folgt. Zwar gibt es eine Art kapitalistischer Heilsökonomie, doch sie kennt keinen göttlichen Lenker und Weltsinnstifter. An seine Stelle tritt in den neoklassischen Marktmodellen eine immanente funktionale Koordination, die einen bestimmten Input (Nachfrage) in Erzeugung und Bereitstellung umwandelt und dem freien Egoismus (unseren Träumen) zur objektiven Wirklichkeit verhilft. Indem der Konsumkapitalismus aus gesellschaftlichen Individuen vor allem ökonomische Subjekte, also Verdiener, Käufer und Verbraucher macht, verändert er die sozialen Beziehungen bis in ihre feinsten Kapillaren. Ohne Werte zu beachten, die von den Marktmechanismen nicht verarbeitet werden können, vollzieht sich die Transformation im Maßstab einer neuen Gesellschaftsordnung.

Mit dem Medium Geld montiert der Konsumkapitalismus dabei ein höchst flexibles Scharnier – eine Art Kugelgelenk – zwischen Sinn und Sinnlichkeit. Dieses ist ohne weiteres in der Lage, sich auch auf den Konsum von Anti-Konsum, Kult- und Lifestyle-Konsum, ironischen Konsum und andere Metakonsum-formen zu justieren. Das lässt sich bis an den Punkt der Stimulation als Simulation vorantreiben, etwa beim sogenannten guten Konsumieren (Fair Trade, Bio, Caring Capitalism, Slow Food). Die Marktökonomie führt zu einer geschichtlichen Positivität, die durch kollektive Erfüllungsleistungen allmählich Wohlstandsgesellschaften, Überflussräume und hedonistische Praktiken des Hyperkonsums entstehen lässt. Die kulturkritische Denunziation, die das Bild vom letzten Menschen darstellt, berührt dabei das Ende der Geschichte. Mit dem Individuum im Konsumkapitalismus scheint eine abschließende Ausformulierung des Menschen und seiner Träume erreicht.

Diese Grundzüge des Kapitalismus zu vergegenwärtigen scheint nötig, versetzt es uns doch in die Lage, ihre Tragweite für eine Kultur des Individualismus klarer ermessen zu können. Das ist gerade heute umso wichtiger, wo wir Erscheinungsformen eines neuen Negativen beobachten. Es mehren sich in den traditionellen kapitalistischen Gesellschaften die Zeichen dafür, dass das Wachstumspotenzial ausgereizt sein könnte. Obgleich heute beständig mehr Kapital in Bedürfniserzeugung gesteckt wird, lassen sich beim Wachstum allenfalls geringfügige Steigerungsraten erzielen. Zudem zeigt sich in ökonomischen Analysen deutlich, dass sich Erfindungen kaum noch messbar auf Wachstum und Produktivität niederschlagen, selbst wenn es sich um derart erfolgreiche wie die digitalen Medien handelt. Nimmt das Wachstum aber kräftiger zu, zeigt sich sofort ein anderes Problem.

Denn das helle Licht, in dem die kapitalistische Welt bis vor kurzem leuchtete, hat sich durch Umweltzerstörung, unmäßige Ressourcenbewirtschaftung und Artenvernichtung unverkennbar verdunkelt. Und das beruht nicht lediglich auf einem diffusen kulturellen Pessimismus, sondern auf mit hoher Wahrscheinlichkeit vorhersehbaren oder bereits real spürbaren Effekten der modernen Logik: Erschöpfung, Sättigung und Übernutzung. Längst kann niemandem mehr entgehen, dass mit der anhaltenden und noch forcierten Produktion von Wirtschafts- und Konsumwachstum, wie wir es seit zwei Jahrhunderten kennen, die Reproduktion irdischer Ressourcen und damit das Leben selbst auf dem Spiel stehen.

Bertolt Brechts Refrain in der Dreigroschenoper, »Nur wer im Wohlstand lebt, lebt angenehm«, führt heute eine unterschwellige Botschaft der Bedrohung mit sich. Sicher, die Traumbelastung der Zukunft, übersetzt in eine Dynamik gewaltiger Produktivkräfte und globalen Wachstums, kennzeichnet nach wie vor die ökonomische Moderne. Doch das Spiel mit der Irrealität grenzenloser, unstillbarer Begierden treibt eine geschichtliche Irrationalität an. Das erkennen wir inzwischen immer deutlicher. Die Umwelt des Kapitalismus, in der er agiert, ist zwar nur zum Teil die Natur. Aber eben dieser Teil, gleichgültig ob es sich dabei um Rohstoffe, Weideflächen, Regenwälder oder (patentierbare) Gene handelt, ist im Verhältnis zum Humankapital oder zu staatlichen Ordnungsleistungen mittlerweile zum ausschlaggebenden Teil geworden. Die normierte Ausweglosigkeit des Mehr offenbart nach und nach ihre innere Tendenz zur Destruktivität. »Darin liegt das historisch Unerhörte des Kapitalismus, daß Religion nicht mehr Reform des Seins sondern dessen Zertrümmerung ist.«6

Für Walter Benjamin bezogen sich die Kapazitäten der Zerstörung auf die hergebrachten Gesellschaftsformen, ihre Kosmologie, Bindungskultur und Wertestruktur. So bedenkenswert das noch immer ist, für uns rückt heute etwas anderes in den Mittelpunkt. Nicht die Auflösung alter Gesellschaften macht uns Angst, sondern der globale Ökozid. »Die irdische oder planetarische Dimension der ökologischen Krise ist keine Problematik wie alle anderen auch. Sie ist die Frage, die in allen anderen enthalten ist, weil die Erde unsere Mitte und unsere Grundlage ist.«7 Angesichts der planetarischen Überlastung durch Ökonomien des rasenden Verbrauchs entpuppt sich das Geheimnis der Wohlstandszivilisation als teuflische List, zumindest aber als geschichtlicher Irrweg.

Eine »Konsumbürgerlichkeit« als Idealtypus eines Weltbürgertums unter den Vorzeichen der »konsequenten Monetarisierung der menschlichen Beziehungen«8 zu empfehlen, unterschätzt die Potenziale der Unvernunft moderner Ökonomie erheblich. Wie es laut Kurt Gödels Unvollständigkeitssatz kein mathematisches Axiomensystem geben kann, das völlig aus sich selbst bewiesen oder widerlegt werden könnte, so vermag sich auch keine kapitalistische Logik ohne den letztlich nicht zu begründenden Glauben an eine universalisierbare Win-win-Situation zu legitimieren. Wer indessen verliert, zeigt sich mit jeder neuen Datenerhebung deutlicher am Abschmelzen von Gletschern und Polkappen, an der Versauerung, Erwärmung und Mikroplastikverseuchung der Ozeane, an der Zunahme der CO2-Konzentration und anderer Klimagifte in der Erdatmosphäre, am massenhaften Verschwinden von Tierarten (mit den höchsten Aussterberaten seit dem Ende der Kreidezeit vor über 60 Millionen Jahren, dem Ende der Dinosaurier). Wenn das Ökosystem Erde in unserer Zeit Veränderungen unterworfen ist, die von der menschlichen Lebensweise verursacht werden, und wenn diese Veränderungen das geobiologische System insgesamt prägen – das heißt seine atmosphärischen, ozeanischen, geologischen und biologischen Gegebenheiten –, dann legt das in der Tat nahe, die Erdgeschichte in ein neues Zeitalter einzuteilen, wie es unter dem Begriff Anthropozän gegenwärtig geschieht.

Der Schatten des Menschen fällt auf jede Stelle des Erdballs. Dass unsere wachstumsgetriebenen Gesellschaften aber möglicherweise zu den Endverbrauchern der Natur-Erde gehören, ist der Menschheit noch nicht allzu lange bewusst. Wer in dieser geschichtlichen Situation erklären möchte, warum wir weiterhin dem ungehemmten Konsumieren frönen sollen, muss die Frage beantworten können, wie es zu vermeiden wäre, dass ein ökonomischer Imperativ verstärkten Wünschens und Wachstums die globale Zivilisation nicht dazu verurteilt, ihre Lebensbasis auf Dauer zugrunde zu richten. Die bisherigen Vorschläge dazu überzeugen wenig. Falls die hässliche Drohung der Selbstzerstörung nämlich nicht bloß ignoriert wird, sieht man Hoffnung durch Vereinbarungen keimen, die gerade jenen Werten zur Durchsetzung verhelfen sollen, die für die kapitalistische Vernunft keineswegs leitend sind, wie die Schonung von Lebensräumen und kapitalisierbaren Lebensgrundlagen. Andere hängen im Klima eines weiterwirkenden Aufklärungsoptimismus der Auffassung an, die Lösung werde der wirtschaftlichen Systemlogik schon von selbst irgendwie entspringen. Nun, Träume offenbaren sich erst als solche, wenn man daraus erwacht.

Unterdessen erleben wir täglich mit, wie jener Teil der Welt, der den Kapitalismus seit langem ausgeübt und dazu jüngst die Globalisierung erfunden und zur Durchsetzung gebracht hat, deren Früchte genießt und dabei drei- bis viermal so viel an natürlichen Ressourcen verbraucht, als für ein nachhaltiges Leben auf der Erde zur Verfügung stehen. Wen sollte es daher überraschen, wenn die Privilegierten alles daransetzen, einmal errungene Vorteile möglichst lange zu bewahren. Die damit verbundene Hoffnung, die Missverhältnisse könnten auf unabsehbare Zeit bestehen bleiben, muss ihre Zuversicht allerdings weiter auf eine jämmerlich ungleiche Weltgesellschaft setzen.

Gleichzeitig lässt sich beobachten, dass die Momente häufiger werden, in denen die alten ökonomischen Gewissheiten und unsere daran geknüpften Vorstellungen von Freiheit zunehmend fragwürdiger erscheinen. Immer deutlicher nehmen wir wahr, wie die globale Marktwirtschaft in panische Bewegungen – Blasenbildungen, Hochgeschwindigkeitshandel, Niedrig- und Negativzins, extreme Staatsverschuldung, Flutung von Wirtschaftsräumen mit Kapital – verfällt, um sich am Leben zu erhalten. Wenn die Jahre am Anfang des 21. Jahrhunderts uns etwas gezeigt haben, dann, dass die modernen Träume in einem tiefen Dilemma stecken. Und wir besitzen keine Antwort auf die Frage, welche radikalen ökonomischen Maßnahmen getroffen werden müssten, um aus diesem Dilemma herauszukommen, ohne damit unkalkulierbare soziale und politische Folgen überall in der Welt auszulösen.

In diesem Zusammenhang fällt aber noch ein weiterer Aspekt ins Gewicht. Der Glaube nämlich, das Projekt einer globalisierten Moderne könnte identisch mit dem von mehr Gerechtigkeit und allgemeinem Wohlstand sein, schwindet mit jeder Erhebung der realen Wirtschaftsdaten ein Stück mehr. Die ökonomische Konzentration und Marktmacht, wie wir sie in diesem Jahrhundert erleben, ist nahezu beispiellos.9 Die Struktur des globalen Kapitalismus wird in wachsender Ungleichheit, schleichenden Verarmungsprozessen, millionenfacher Prekarisierung, einem verschärften Effizienz- und Lohndruck oder der Gewinnabschöpfung durch eine dünne Schicht von Reichen offenbar. Dabei schicken sich die die Globalisierung tragenden digitalen Technologien an, die Formen der Arbeit in einer weiteren industriellen Revolution fundamental umzuwälzen. Die wissenschaftlich unterstützte Befürchtung der millionenfachen Vernichtung bisheriger Arbeitsplätze steht im Raum. Für bedrohlich wird die Lage aber auch deswegen erachtet, weil die digitalen Ökonomien eine zusätzliche Aufspaltung der Verhältnisse bewirken, in enormen Reichtum einerseits und in einen bescheidenen Wohlstand bzw. regelrechte Armut andererseits. Wenn jedoch wenige so viel wie der Großteil aller Menschen auf der Erde besitzen, und wenn sich die Verteilung des zunehmenden Reichtums dabei stetig ungleicher entwickelt, dann wird das die Legitimation des globalen Kapitalismus in den Augen der meisten nicht stärken. Gleichzeitig scheint die ökologische Falle perfekt konstruiert, weil das Verlassen der Armut die Teilhabe am globalen Konsumkapitalismus per Definition miteinschließt.

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