Nachwort

Die deutsche Erstausgabe, die 1993 erschien, endete mit einer »Nachbemerkung des Übersetzers: Dem kundigen Leser werden einige historische Unstimmigkeiten in Berlin, April 1933 nicht entgangen sein. So fand die Berliner Premiere von Arabella erst am 12. Oktober 1933 statt, unter Wilhelm Furtwängler, und der Film Es geschah eines Nachts (It Happened One Night, von Frank Capra) kam 1934 in die Kinos. Die von Jackson erwähnte Verordnung, nach der Juden zweite Vornamen in ihrem Paß führen mußten, wurde erst im August 1938 erlassen. Die Aufzählung ließe sich noch ein wenig verlängern, aber wozu? Es ging Felix Jackson um eine innere, atmosphärische Wahrheit. Darum hat der Übersetzer darauf verzichtet, historisch falsche Details für den deutschen Leser richtigzustellen oder mit Anmerkungen zu versehen.«

Dem ist heute nichts hinzuzufügen. Felix Jacksons Roman wurde 1980 in den USA publiziert, unter dem unpassenden Titel Secrets of the Blood – Jackson wollte das Buch schlicht »Yesterday« nennen – und mit einem schlimm reißerischen Umschlag. Er wandte sich an ein amerikanisches Publikum, das mit den historischen Details der Nazi-Zeit ungefähr so vertraut war wie ein heutiger deutscher Leser; Jackson mußte also die wenigen bekannten Namen benutzen, Richard Strauss und Gerhart Hauptmann, auch wenn sie nicht genau in den historischen Kontext paßten. Die Rückseite des Umschlags füllen Blurbs, also Kurzwürdigungen, bedeutender Zeitgenossen. Garson Kanin schrieb: »Secrets of the Blood ist ergreifend und erschütternd und spannend und bewegend. Kurz: All das, was ernsthafte Literatur ausmacht.« Der Filmregisseur Franklin J. Schaffner: »Ein bemerkenswertes, kraftvolles Stück Literatur – einfach überwältigend. Es verdient eine große Leserschaft.« Und Gore Vidal brachte es auf den Punkt, der auch heute zählt: »Felix Jacksons Geschichte ist nicht nur bildhaft und fesselnd, sondern kommt genau zum richtigen Zeitpunkt, da sich die Menschheitsgeschichte abermals ins Düstere wendet.«

Was Vidal für die USA von 1980 konstatierte, gilt noch mehr für das Europa von 2018. So kann man das Buch in zwei Richtungen lesen: Zurück in die historische Geschichte, die es schildert, oder nach vorn, indem man Warnzeichen heutiger Entwicklungen darin erkennt.

Als wir das Buch zuerst herausbrachten, taten wir das in erster Linie mit dem Blick zurück, wir wollten einen weiteren aus Deutschland vertriebenen Autor zu Wort kommen lassen, an ihn erinnern, sein Werk würdigen. Das Motto: »Wenn wir über gestern reden, sprechen wir von heute und morgen«, erschien uns fast ein wenig pathetisch, und das ausführliche Nachwort von Helmut G. Asper widmete sich hauptsächlich dem Werk Jacksons, verzeichnete seine Dramen und Revuen, seine Filme, seine Arbeit fürs Fernsehen. Was wir schon damals nicht versuchten, war, die Romanfiguren zu entschlüsseln. Denn selbst wenn es sie, wie Jackson schreibt, tatsächlich genau so gegeben hat, ist doch ihre Geschichte weit mehr als ein individuelles Erleben. Nein, dieses Buch will auch politisch gelesen werden, das, was darin geschieht, kann jedem geschehen. Da ist es völlig unwichtig, ob sich hinter Ludwig Butler etwa Ludwig Renn oder Erich Maria Remarque verbirgt, oder wer die Willmanns sind.

Felix Jackson, damals noch Felix Joachimson, konnte Deutschland erst im Oktober 1933 verlassen; wegen einer zu begleichenden Steuerschuld durfte er vorher nicht ausreisen. Um die Schulden zu bezahlen, schrieb er unter dem Namen einer Bekannten, Barbara Bosch, das Stück Ein glückliches Leben, das tatsächlich den gewünschten finanziellen Erfolg hatte.

In den Monaten seit der Machtübergabe an Hitler am 30. Januar 1933 sah Joachimson, was er 1980 in seinem Roman verdichtete. Es ging damals rasend schnell, wie uns von mehreren Emigranten berichtet wurde. Billy Wilder etwa erzählte, daß er, gerade von einem Skiurlaub in der Schweiz nach Berlin zurückgekehrt, an einem Morgen im Februar ’33 im Romanischen Café saß, als er sah, wie auf der anderen Straßenseite SA-Männer einen alten jüdischen Mann zusammenschlugen. Da wußte er, daß er sofort abreisen mußte; er ging nach Paris, wo er wie viele andere Filmemigranten ein Zimmer im Hotel Ansonia nahm. Und als ich Curt Siodmak fragte, wie er auf den Einfall zu seiner berühmten Filmfigur, dem »Wolfman«, gekommen sei, sagte er, es sei die Erfahrung der Tage nach der Machtübernahme Hitlers gewesen, als aus guten Bekannten und Kollegen über Nacht Bestien wurden, die ihm nach dem Leben trachteten.

Das geschilderte Konzentrationslager ist leicht als Oranienburg zu identifizieren, dort gab es auch jene berüchtigten »Stehbunker«. Es wurde im März 1933 installiert, unter vielen anderen wurde in diesem KZ Erich Mühsam ermordet.

 

Felix Joachimson ist im Oktober 1933 nach Wien und Budapest emigriert, wo er weiterhin als Drehbuchautor wirkte. Er arbeitete mit dem Produzenten Joe Pasternak und dem Regisseur Henry Koster zusammen. 1935 oder 1936 kehrte er nochmals für kurze Zeit nach Berlin zurück, um einem Freund, Fritz Goldberg, zu helfen, der in Haft saß. Dabei traf er alte Bekannte aus der Theater- und Filmwelt wieder, die sich inzwischen den neuen Umständen bestens angepaßt hatten. Vieles von dem, was Jackson da erlebte, ist in Berlin, April 1933 eingeflossen. Er ist mit dem Bewußtsein nach Budapest zurückgekehrt, nie wieder in Deutschland leben zu können.

Als Pasternak und Koster nach Hollywood aufbrachen, blieb Joachimson noch in Wien, doch konnte er wegen des wachsenden Antisemitismus auch dort kaum mehr arbeiten. Ende 1936 reiste er dann ebenfalls in die USA und setzte die Zusammen­arbeit mit Pasternak und Koster fort; sie drehten eine ganze Reihe von höchst erfolgreichen Filmen mit Deanna Durbin (die Jackson 1945 heiratete, die Ehe wurde 1949 geschieden).

Unmittelbar nach der Ankunft in den USA anglisierte Felix Joachimson seinen Namen. Und hörte auf, Deutsch zu sprechen. Als Autor mußte er die neue Sprache so schnell wie möglich perfekt beherrschen, und nach allem, was er selbst erlebt hatte und nach Kriegsende aus den Medien erfuhr, wollte er mit Deutschland nichts mehr zu tun haben. Auch unsere spärliche Korrespondenz fand auf englisch statt. Ich hatte ihm geschrieben, daß ich Secrets of the Blood gerne übersetzen und publizieren wollte, was er jedoch zunächst ablehnte – der Roman sollte in Deutschland nicht erscheinen. Es bedurfte einiger Überzeugungsarbeit, bis er schließlich zustimmte. Die Publikation hat er nicht mehr erlebt, er starb im Dezember 1992. Wir haben ihn nie persönlich kennengelernt, doch seine Witwe, Ilka Windisch-Jackson (1925–1998), haben wir mehrfach in Camarillo, Kalifornien, besucht. Sie erzählte uns einiges aus Jacksons Jugend: Er hatte eigentlich Musiker werden wollen, doch zwang ihn die Familie zu einem Jurastudium. Felix’ Vater, Siegfried Joachimson (1870 geboren), ein erfolgreicher Exportkaufmann, hatte sich bereits am 1. August 1914, also am Tag der deutschen Kriegserklärung an Rußland, das Leben genommen; vermutlich hat er sich erschossen wie Hans Bauers Vater und Siegmund Schwartz im Roman. Seine umfangreiche Bibliothek wurde 1915 bei Rudolph Lepke in Berlin versteigert, der Auktionskatalog ist im Internet zu finden. Siegfried Joachimson scheint ein heimlicher Förderer von Frank Wedekind gewesen zu sein, wie Ilka Jackson berichtete; sie schenkte mir eine ganze Reihe von Wedekind-Erstausgaben aus Joachimsons Besitz in aufwendigen Privateinbänden.

Felix Joachimson wurde am 5. Juni 1902 in Hamburg geboren. Nach dem Tod des Vaters wurde seine Mutter psychisch krank, Felix wuchs bei der Großmutter auf und wurde von Vormunden betreut. Das beträchtliche Vermögen des Vaters zerfiel bei Kriegsende. Joachimson studierte zu der Zeit – wie seine Romanfigur Hans Bauer – in Freiburg Jura, mußte das Studium dann aber abbrechen, um Geld zu verdienen. Er wurde Redakteur beim »Berliner Börsen-Courier« und begann für die Bühne zu schreiben. Von den zahlreichen Stücken und Revuen, die er ab 1927 verfaßte, hat nur die Revue Wie werde ich reich und glücklich? so etwas wie ein Nachleben gehabt, nicht zuletzt wegen der Musik von Mischa Spoliansky. Zwei seiner Komödien wurden auch verfilmt, Fünf von der Jazzband und Das häßliche Mädchen: Bei der Premiere im September 1933 kam es zu Ausschreitungen der SA, weil mit Max Hansen und Dolly Haas zwei jüdische Schauspieler die Hauptrollen spielten.

Eine komplette Filmo­grafie findet sich in der International Movie Database (www.imdb.com), dortselbst sind auch seine fünf Ehen mit insgesamt fünf Kindern verzeichnet. In den USA war Jackson zwar sehr erfolgreich, doch hat nur ein Film nach seinem Drehbuch die Zeiten überdauert, Destry Rides Again (Der große Bluff ), eine Westernkomödie von 1939 mit James Stewart und Marlene Dietrich, die Songs für sie schrieb Friedrich Hollaender (»The Boys in the Backroom«, »You’ve Got That Look«), Regie: George Marshall.

Mit dem Aufkommen des Fernsehens wandte Jackson sich diesem Medium zu und wurde Produzent; am Ende seiner Karriere war er als Vizepräsident von NBC für das TV-Programm der gesamten Westküste zuständig. 1965 zog er sich aus dem Berufsleben zurück.

Jackson hat drei Romane veröffentlicht: So Help Me God (1955) über die Kommunistenjagd der McCarthy-Ära, Maestro (1957) über einen Dirigenten, dem wohl Theo Mackeben seine Gestalt lieh, und eben viel später Secrets of the Blood. Er arbeitete an einer Biographie über seinen Freund und ehemaligen Kompositionslehrer Kurt Weill, doch gab er das Projekt auf, weil, so Ilka Jackson, Weill als Person zu uninteressant gewesen sei.

Viel ist also nicht geblieben von diesem langen Künstler­leben, »der Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit« (Alexander Kluge) hat auch hier einen Sieg errungen. Es gab noch eine Hörspielfassung von Berlin, April 1933, die für Deutschland­radio Berlin produziert und 2002 zuerst ausgestrahlt wurde (Wiederholung 2013), dazu ein sehr gutes Rundfunkfeature von Sylvia Rauer über Felix Jackson. Die erste Ausgabe von Berlin, April 1933 hat ein paar gute Besprechungen bekommen und sich leidlich verkauft. Sie ist seit langem vergriffen.

Und jetzt? Fünfundachtzig Jahre sind seit den von Jackson geschilderten Ereignissen vergangen, und das Buch müßte eigentlich als historischer Roman gelesen werden. Darf es aber nicht. Zwar wiederholt sich Geschichte nicht, doch manche ihrer Ungeheuer erheben nach Dezennien erneut das Haupt – zumal wenn die Vernunft schläft. Das geschieht gerade, nicht nur in Deutschland, sondern weltweit. Rechtsradikale sind überall auf dem Vormarsch, in Deutschland haben sie es gar ins Parlament geschafft und treiben dort lautstark ihr hetzerisches Unwesen. Damit haben sie immerhin schon erreicht, daß Deutschland ein »Heimatministerium« bekommt (Carl Adriani wäre ein guter Kandidat für das Amt des Staatssekretärs gewesen). In den USA tobt ein schon beinahe überwunden geglaubter Rassismus, die weiße Plutokratie strebt nach der absoluten Macht. In Syrien findet ein Krieg statt, der Land und Leute vernichtet. Die Grenzen für Flüchtlinge sind inzwischen so dicht wie 1933, als Juden aus Deutschland zu fliehen versuchten. Gefoltert wird in Syrien wie in der Türkei und zahllosen anderen Ländern, durchaus mit Methoden, wie sie in Jacksons Buch beschrieben sind. Die Welt steht auf der Kippe, die Staatsform Demokratie könnte abgelöst werden – abgelöst von etwas, das Felix Jackson erleben mußte und vor dessen Wiedererstarken er warnte. Wir erneuern heute, im Jahr 2018, seine Warnung und hoffen trotz allem, daß Generationen heraufziehen werden, denen es erlaubt sein wird, diesen Roman (und sein Nachwort) aus rein historischem Interesse zu lesen. Wir fanden Jacksons Motto im Jahr 1992, als wir uns das, was gegenwärtig geschieht, nicht vorstellen konnten, ein bißchen pathetisch. Jetzt wiederholen wir es und legen gar noch mehr Pathos hinein:

 

»Wenn wir über gestern reden,

sprechen wir von heute und morgen.«

 

Stefan Weidle, Februar 2018

 

 

Quellen:

Helmut G. Asper: Die unfreiwilligen Verwandlungen des Felix Joachimson. In: Felix Jackson: Berlin, April 1933. Aachen 1993.

Sylvia Rauer: »Das einzig Sichere ist das Wagnis«. Zum Leben des Theaterautors, Filmproduzenten und Romanschriftstellers Felix Jackson/Joachimson. Rundfunkmanuskript. Ursendung 18. April 2003.

cover

 

Impressum

eBook-Ausgabe: © CulturBooks Verlag 2018

Gärtnerstr. 122, 20253 Hamburg

Tel. +4940 31108081, info@culturbooks.de

www.culturbooks.de

Die Originalausgabe Secrets of the Blood erschien 1980

bei Atheneum, New York. Die deutsche Übersetzung

erschien zuerst 1993 bei Alano, Aachen.

Dank an: Helmut G. Asper, Sylvia Rauer,

Maria-Christina Piwowarski

© der Printausgabe: 2018 Weidle Verlag

Beethovenplatz 4, 53115 Bonn

www.weidle-verlag.de

Lektorat: Pociao

Umschlaggestaltung: Magdalena Gadaj

eBook-Herstellung: CulturBooks

Erscheinungsdatum: April 2018

ISBN 978-3-95988-118-0

Über das Buch

Ein Tagebuchroman über den Beginn der NS-Zeit.

 

Berlin, April 1933: Der Rechtsanwalt Dr. Johannes Bauer kehrt von einem viermonatigen Urlaub in der Schweiz nach Berlin zurück. Er muß feststellen, daß sich Deutschland während seiner Abwesenheit stark verändert hat: Der Erlaß neuer Gesetze und Verordnungen sowie die Omnipräsenz der Nationalsozialisten schaffen eine zuvor nicht gekannte Atmosphäre der Gewalt und Bespitzelung. Die radikale Unterscheidung von Ariern und Juden schlägt eine Schneise durch die Bevölkerung. Schockiert ist Bauer, als er bei der Durchsicht seiner Familiendokumente feststellen muß, daß seine Großmutter jüdischer Abstammung war. Nach den Rassengesetzen der Nazis gilt Johannes Bauer damit als Jude und dürfte unter anderem nicht mehr als Anwalt tätig sein. Seine Freundin Karin unterhält gute Kontakte zu Carl Adriani, einem hochrangigen und einflußreichen NS-Funktionär. Adriani könnte Bauer einen »Ariernachweis« verschaffen, doch Johannes Bauer wird schnell klar, daß er für dieses Papier einen hohen – nicht nur finanziellen – Preis zahlen müßte.

Der Autor hat historische Ereignisse zusammengezogen, um seinen Roman zu verdichten. Es ging ihm nicht um historische Genauigkeit, sondern um die Atmosphäre, die er in den ersten Jahren der Nazi-Herrschaft am eigenen Leib erfuhr; er war 1935 noch einmal nach Berlin zurückgekehrt, um einem Freund zu helfen, der im Gefängnis saß.

 

»Wenn ein Buch eine Zeit aufleben lassen kann, so dieses. Hier spricht einer, der nicht vergessen konnte. Einer, der den Anfang des nationalsozialistischen Terrors aus nächster Nähe beobachtete. Ein Realist, der angstvoll sieht, wie rasch Freunde zu Feinden werden können, wie der Opportunismus in wilden Galopp gerät und wie die konzentrierte physische Macht Feigheit und Schwäche auf den Plan ruft. Felix Jacksons Realismus ist bezwingend. Und trägt eine flammend aktuelle Botschaft.« (Will Schaber, Aufbau, 18. Februar 1994)

 

Über den Autor

Felix Jackson (1902 als Felix Joachimson in Hamburg geboren) arbeitete in den 1920er Jahren als Journalist für den Berliner Börsen Courier. Später wurde er ein erfolgreicher Bühnenautor (Fünf von der Jazzband, Wie werde ich reich und glücklich). Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten emigrierte er nach Österreich und Ungarn und verfaßte Filmdrehbücher, hauptsächlich für Hermann Kosterlitz (Henry Koster). 1936 ging er in die USA, setzte seine Tätigkeit als Drehbuchautor fort (Destry Rides Again) und wurde Produzent, zuletzt für das amerikanische Fernsehen. Berlin, April 1933 war sein dritter Roman, er erschien 1980 unter dem Titel Secrets of the Blood in den USA. 1992 starb Jackson in Camarillo, Kalifornien.

Die deutsche Übersetzung erschien zuerst 1993 im Alano-Verlag, Aachen, und wird nun nach 25 Jahren wieder zugänglich gemacht, nicht ganz ohne Gedanken an gegenwärtige beunruhigende Entwicklungen.

 

Felix Jackson

 

Berlin, April 1933

 

Roman

 

Aus dem Englischen und mit einem Nachwort von Stefan Weidle

 

CulturBooks Verlag

www.culturbooks.de

 

Für Ilka, in Dankbarkeit und Liebe

 

Wenn wir über gestern reden,
sprechen wir von heute und morgen.

 

 

 

Vorbemerkung des Autors:
Die Handlung des Romans basiert auf tatsächlichen
Ereignissen. Alles hat sich so abgespielt wie beschrieben.
Die Figuren des Romans haben wirklich gelebt.
Nur ihre Namen wurden geändert.

Nachklang

Ich sah ein Gesicht, das ich kannte. Es war sehr nahe. Es hatte einen lächelnden Mund.

»Hans«, sagte das Gesicht.

»Mein Name ist Berta Grün«, sagte ich. »Ich bin Jude.« Das Gesicht zog sich zurück. Ich konnte es nicht mehr sehen. Ich hörte seine Stimme.

»Er kommt zu sich.«

Da war noch ein Gesicht. Dünn und hager. Ich kannte auch dieses Gesicht.

»Herr Dr. Bauer.«

»Ich bin ein Jude.«

»Wir alle hier sind Juden«, sagte das Gesicht.

Etwas berührte meinen Arm. Das Gesicht löste sich auf.

 

Ich erwachte. Ich öffnete die Augen. Es tat sehr weh, aber ich konnte sehen. Ich lag in einem Bett. Ich versuchte den Kopf zu heben. Es schmerzte. Mein Kopf war verbunden. Etwas hämmerte darin. Ich sah viele Betten, Reihen von Betten, eng nebeneinander. Und Gesichter in allen.

Ich sah einen Mann in einem weißen Kittel, der sich über eines der Betten beugte. Er war dünner als je zuvor, sein unrasiertes Gesicht leichenblaß, das Gespenst eines Mannes. Er kam auf mich zu.

»Herr Dr. Hirsch«, sagte ich, »seit wann bin ich hier?«

»Seit zwei Wochen. Wie sind die Schmerzen?«

»Schlimm.«

»Versuchen Sie, ob Sie sie eine Zeitlang aushalten können. Wir haben zuwenig Schmerzmittel.«

Ich nickte.

»Dr. von Isenberg war hier, als Sie zum ersten Mal zu sich kamen«, sagte Dr. Hirsch. »Ich habe versprochen, ihn anzurufen.«

Ich hörte ihn sprechen. Ich hatte den Klang einer menschlichen Stimme vergessen.

»Wie geht es Berta Grün?« fragte ich.

»Sie ist noch in meiner Wohnung. Vor einer Woche ist sie zum ersten Mal aufgestanden. Jetzt kann sie schon recht gut gehen. Ihre Papiere sind eingetroffen. Sie fährt nach Mexiko.«

»Mit Ihrem Affidavit«, sagte ich.

»Es war kein Problem, es umschreiben zu lassen.«

»Was wird aus Ihnen?«

»Berta Grün hat nach Ihnen gefragt«, sagte er, ohne meine Frage zu beantworten.

»Sie hat mir das Leben gerettet«, sagte ich.

Dr. Hirsch sah mich prüfend an. »Sie dürfen nicht so viel sprechen. Sie haben es vielleicht noch nicht bemerkt, aber Ihr ganzer Körper ist fest bandagiert. Je weniger Sie sich bewegen, desto besser.«

»In Ordnung.«

Ich merkte, daß mir das Atmen schwerfiel. Ich fragte: »Wie bin ich hierhergekommen?«

»Herr Dr. von Isenberg hat bei uns im Krankenhaus angerufen«, sagte er. »Er wird es Ihnen selbst erzählen.«

»Ja.«

»In etwa einer Stunde gebe ich Ihnen ein Schmerzmittel. Die Regierung hat unsere Zuteilung halbiert.«

Die Schmerzen wurden stärker. Bevor Dr. Hirsch wiederkam, verlor ich das Bewußtsein. Ich war noch immer bewußtlos, als er mir das Schmerzmittel gab. Ich muß sehr lange geschlafen haben.

 

Als ich aufwachte, sah ich Berta Grün. Sie saß auf einem Stuhl neben meinem Bett. Sie trug ein dunkles Kostüm. Die meisten der Verbände um ihren Kopf waren entfernt. Ihr Gesicht, obwohl noch immer entstellt, wirkte voller. Ihre Brauen hatten zu wachsen begonnen.

Sie lächelte mich an. Es war ein armseliges Lächeln; ihre Gesichtsmuskeln waren noch sehr schwach. Mir gefiel das Lächeln. Es machte sie jünger.

»Also, hier bin ich«, sagte sie.

»Ja. Ich bin sehr froh. Jetzt kann ich Ihnen sagen …«

Ich hob den Kopf. Es schmerzte. Aber so konnte ich sie besser sehen.

»Was wollen Sie mir sagen?«

»Daß ich ohne Sie nicht überlebt hätte. Ich habe an Sie gedacht und daran, was sie Ihnen angetan haben. Und wie mutig Sie gewesen sind.«

Sie schüttelte den Kopf. »Das bilden Sie sich ein.«

»Für mich war es sehr real«, sagte ich. »Sie wissen, daß ich Jude bin?«

»Ja.«

»Ich wollte kein Jude sein. Ich weiß nichts über Juden.«

»Es fängt mit Schmerzen an«, sagte sie. »Soviel wissen Sie jetzt.«

»Sind Sie religiös?«

»Ja.«

»Ich habe keine Ahnung von der jüdischen Religion.«

»Sie können doch lernen, oder?«

»Jesus Christus war Jude. Das habe ich vor vielen Jahren gelernt.«

»Die Juden erkennen in ihm nicht den Messias. Sie warten noch immer auf den Messias.«

»Sagen Sie ihm, er soll sich beeilen«, sagte ich. »Wir brauchen ihn.«

Dr. Hirsch kam an mein Bett. Er sagte zu Berta: »Sie müssen gehen. Ich habe Ihnen fünf Minuten erlaubt.«

Er half ihr aufzustehen. Zu mir gewandt, sagte sie: »Ich kann schon wieder gehen.«

Sie stand aufrecht.

»Dr. Hirsch hat mir ein Affidavit für Mexiko besorgt.«

»Ich freue mich sehr für Sie«, sagte ich.

Sie lächelte. »Ich reise ab, sobald ich einigermaßen wiederhergestellt bin. Es wird zwar noch einen Monat dauern, aber ich habe bereits meinen Paß und die Ausreisegenehmigung.«

»Ich wünsche Ihnen viel Glück in Mexiko.«

Sie nickte. »Vor meiner Abfahrt sehen wir uns noch.«

Am nächsten Abend kam mich Klaus besuchen. Er legte seine Aktentasche auf den Stuhl und setzte sich auf mein Bett.

»Geht es dir ein bißchen besser?«

»Dr. Hirsch hat versprochen, mich wieder zusammenzuflicken«, sagte ich. »Es scheint, daß fast alle meine Rippen gebrochen sind. Ich habe ein paar schlimme Wunden an den Genitalien, und die Knochen in meinem Schädel müssen repariert werden. Abgesehen davon …«

Er lächelte nicht. Er wirkte besorgt und angespannt.

»Sag mir, was passiert ist, Klaus.«

»Du willst einen ausführlichen Bericht. Bist du sicher, daß du das aushältst?«

»Ich muß ja nur zuhören«, sagte ich.

»Na gut.«

Er legte seine Aktentasche aufs Bett und setzte sich auf den Stuhl. »An dem Tag, als sie dich abholten, rief Magda bei dir zu Hause an. Du hattest einen Termin und warst eine Stunde überfällig.«

»Sie ließen mich nicht telefonieren.«

»Ja. Ich weiß. Magda sprach mit Hanna, die ihr erzählte, was passiert war. Ich rief Adriani an, und er bat mich, in sein Büro zu kommen. Ich erfuhr die ganze Geschichte direkt von ihm.«

Er hielt inne. Ich fragte: »Was ist mit Barbara und Konrad? Haben sie es nach London geschafft?«

Er sah mich an.

»Bist du sicher, daß du auch diesen Teil der Geschichte hören willst?«

Ich richtete mich auf.

»Hat die Gestapo sie erwischt? Bitte sag mir die Wahrheit.«

Er zögerte noch immer. Dann atmete er tief durch. »Deine Freunde, die Willmanns, erfreuen sich bester Gesundheit. Es geht ihnen ausgezeichnet. Konrad inszeniert das Hauptmann-Stück, und Barbara …«

Ich unterbrach ihn: »Sie sind hiergeblieben?«

»Sie wollten nie weg, Hans. Deine Freunde Barbara und Konrad haben dich verraten und verkauft, um ihre eigene Haut zu retten. Sie haben dich in eine Falle gelockt.«

Ich starrte ihn ungläubig an.

»Sie haben dich mit Adriani in der Oper gesehen. Dort muß etwas zwischen Konrad und dir vorgefallen sein, jedenfalls dachten sie, du wärst ein Nazi geworden. Als sie bemerkten, daß die Gestapo Konrad suchte, ging er zu Adriani und erzählte ihm von dir und Butler, von Butlers Nachricht, die du Konrad überbracht hast – kurz, er tat alles, damit es so aussah, als würdest du ein doppeltes Spiel treiben. Um den Nazis deine Illoyalität zu beweisen, boten sie an, dir eine Falle zu stellen. Barbara arrangierte ein ›geheimes‹ Treffen, um dir von ihren Problemen und angeblichen Plänen zu berichten. Sie wußten, daß du sie nicht an Adriani verraten würdest. Sie verließen sich auf deine Freundschaft und Integrität.«

Wir schwiegen beide. Ich sagte: »Sie waren meine Freunde.«

Klaus nickte.

»Ich bin so dumm, Klaus. Du kannst froh sein, daß du mich los bist. Irgendwo in meinem Hinterkopf wußte ich die ganze Zeit, daß etwas nicht stimmte, aber … ich habe den beiden vertraut.«

Klaus sagte: »Solange die Nazis an der Macht sind, kann man niemandem vertrauen. Das Regime ist auf Lüge und Verrat aufgebaut. Davon wird keiner verschont, der in diesem Land bleibt, das einmal Deutschland war.«

Mein Kopf sank aufs Kissen zurück. Ich war sehr müde.

»Wie Berta Grün«, sagte ich. »All die Schmerzen für nichts und wieder nichts. Und weißt du Klaus, ich kam mir innerlich so … heldenhaft vor. Ich bin froh, daß ich das alles nicht wußte.«

Ich sah, daß Klaus bewegt war, aber er sprach weiter: »Um Adriani gegenüber gerecht zu sein – obwohl er so verkommen ist wie alle anderen –‚ will ich hinzufügen, daß er ein ›Scheinverhör‹ anordnete. Zumindest hat er mir das gesagt. Er wußte nicht, daß du dem übelsten Sadisten der Gestapo ausgeliefert würdest, und er konnte natürlich nicht wissen, daß Angermann die Gelegenheit nutzen würde, um sich an dir zu rächen.«

Ich sagte: »Sobald ich wieder zu Kräften komme, muß ich mich entscheiden, wie mein Leben weitergehen soll.«

»Du gehst in die USA.«

»Wie?«

Klaus lächelte. »Als du von deiner ersten Unterredung mit Adriani zurückkamst, habe ich einem Freund in New York geschrieben und ihn um ein Affidavit für dich gebeten. Ich war sicher, daß du nie ein Nazi werden würdest.«

Er nahm die Aktentasche von meinem Bett und holte einige Papiere heraus.

»Ich bin anders als du«, sagte er. »Irgendein teutonisches Element in mir zwingt mich, sie mit ihren eigenen Waffen zu bekämpfen. So komme ich ganz gut zurecht, zumindest noch eine Zeitlang.«

Er gab mir einen Umschlag.

»Hier sind die Bürgschaftserklärung und die Ausreisegenehmigung.«

Ich sah ihn ungläubig an. »Klaus …« Meine Stimme versagte, und ich mußte noch einmal beginnen. »Wie kann ich dir je …«

»Du sollst nicht so viel sprechen«, sagte Klaus. »Hier ist dein Paß.«

Ich nahm ihn und schlug ihn auf. Ich las

 

Hans Israel Bauer.

 

Ich starrte lange Zeit darauf.

»Mein Diplom«, sagte ich.

22. April 1933, St. Moritz

Heute ist mein letzter Tag in St. Moritz: Morgen früh fahre ich nach Hause. Ich bin gespannt, ob Berlin sich nach Hitlers Machtübernahme verändert hat. Fast vier Monate sind vergangen, seit ich Deutschland verließ, mir kommt es vor wie vier Jahre.

Natürlich bekam ich Briefe von Klaus und Magda, meiner Sekretärin, aber sie waren kurz und nicht sehr aufschlußreich. Auch Karin hat geschrieben (in den letzten acht Wochen seltener als vorher), doch meistens nur über Partys und Feierlichkeiten und über ihre amerikanische Freundin Margie, die offenbar dem neuen Regime sehr nahesteht.

Es war dies mein erster Urlaub, seit Klaus von Isenberg, Siegmund Schwartz und ich vor acht Jahren unsere gemeinsame Anwaltspraxis eröffnet haben. Ich brauchte diese vier Monate völliger Ruhe. Als ich kurz vor Weihnachten bei Dr. Aaron zur Untersuchung war, sagte er: »Wie alt sind Sie – dreiunddreißig? Sie sehen zehn Jahre älter aus.«

Das würde er jetzt nicht mehr sagen, wenn er mich so sähe: braungebrannt und drei Kilo leichter. Die Höhenluft und das Skifahren haben mich verjüngt. Ich fühle mich großartig.

Meine einzige Sorge sind diese Papiere, die ich bekommen habe. Ich bin froh, daß sie erst vor ein paar Tagen hier eintrafen. Wären sie früher gekommen, als ich noch müde und abgespannt war, hätten sie mir möglicherweise den Urlaub verdorben.

23. April, im Zug nach Berlin

Ich hatte monatelang keine Zeitung in die Hand genommen – bis heute. Wann immer jemand in St. Moritz das Radio anstellte, um Nachrichten zu hören, verließ ich den Raum. Ich habe ganz bewußt den Kopf in den Sand gesteckt. Ich wollte mich nicht aufregen. Wollte meinen Urlaub genießen.

Ich bin eingeschriebenes Mitglied der Demokratischen Partei und hatte noch nie Sympathien für die Nazis. Ich hätte es nicht für möglich gehalten, daß Hitler Reichskanzler wird. Als es dann doch geschah, während ich in der Schweiz war, und ich von der Amtseinführungszeremonie las, mit all den kaiserlichen Insignien und unserem geliebten, altersschwachen Reichspräsidenten Hindenburg, da wußte ich, daß ich nicht den Mumm haben würde, die bombastischen Reden zu hören und die Glorifizierung des »Führers« zu ertragen. Ich dachte, nach meiner Rückkehr nach Berlin bliebe noch genügend Zeit, mich mit der neuen Situation auseinanderzusetzen.

Heute jedoch bekam ich im Zug deutsche Zeitungen. Genau vor einem Monat, am 23. März, hat der Reichstag das Ermächtigungsgesetz verabschiedet und damit der Hitler-Regierung diktatorische Vollmachten erteilt. Ich fand folgende Meldung auf der Titelseite:

Verordnung

Alle nicht-arischen Rechtsanwälte werden hiermit aufgefordert, einen Antrag auf Ruhen der Zulassung für unbestimmte Zeit einzureichen. Dieser Erlaß tritt mit Wirkung von heute in Kraft. Alle Anträge müssen bis zum 15. Mai 1933 eingereicht werden. Nicht-arische Rechtsanwälte, die im Krieg in der deutschen Wehrmacht gedient haben, können in begründeten Ausnahmefällen ein schriftliches Gesuch um Verlängerung der genannten Frist an das Justizministerium richten.

 

Als ich diese Verordnung las, mußte ich an unseren Sozius Siegmund Schwartz denken. Er ist Jude, älter als Klaus und ich, Anfang Fünfzig. Ein kluger Kopf. Ein brillanter Anwalt. Was wird aus ihm werden?

Dann dachte ich an mich selbst. Ich sehe aus wie das Urbild des Deutschen, blond, blaue Augen, einsachtzig groß, ein eher durchschnittliches ovales Gesicht. Selbst mein Name kommt hundertfach vor: Hans (Johannes) Bauer. Meine Vorfahren siedelten sich vor über dreihundert Jahren in Bremen an, um Schiffe zu bauen und sie über die Nordsee zu schicken. Sie trieben Handel mit England und den skandinavischen Ländern. Später dann, als der Pazifik sich öffnete, fuhren sie mit Segelschiffen und Dampfern nach Osten, bis nach Singapur, Burma und Japan. Sie waren stolz auf ihre Familie. In meiner Jugend war der Firmenname Hermann Bauer und Söhne einer der angesehensten der ganzen Stadt.

Die Familie meiner Mutter stammt aus Annaberg in Sachsen, nahe der tschechischen Grenze. Ihr Vater brachte einen Schuß slawisches Blut in den Familienstammbaum.

Ich war vierzehn, als der Weltkrieg ausbrach. Ich wußte nur vom Glanz des Sieges und der Ehre, für Deutschland zu sterben. Ich sah die strahlende Erscheinung des Kaisers, die Fahnen und Standarten, die flüchtigen Bilder angreifender Husaren und Dragoner. Ich wußte nichts vom Todeskampf, von Kriegskrüppeln oder dem Ertrinken in Schlamm und Morast.

Ebensowenig wußte ich über Kredite, überzogene Konten und plötzliche Firmenzusammenbrüche. Erst viel später sollte ich verstehen, weshalb mein Vater die Pistole auf sich richtete und abdrückte.

Ich war ein Einzelkind. Nach dem Tod meines Vaters lebte ich bei meiner Mutter, doch sie konnte meinen Anblick nicht ertragen: Ich sah dem Mann, den sie geliebt hatte, zu ähnlich … dem Mann, der sie im Stich gelassen hatte. Sie wurde krank. Ich wuchs bei wohlhabenden Vormunden auf, wurde in einer unpersönlichen Atmosphäre erzogen: zuerst von einer Gouvernante, dann von einem Hauslehrer. Alle waren kalt und streng. Schon früh lernte ich, meine Sehnsucht nach Wärme und Zuneigung zu unterdrücken – das führte schließlich dazu, daß ich selbst jene wohlerzogene kühle Distanziertheit annahm, mit der ich aufwachsen mußte. Auch jetzt noch hasse ich es, meine Gefühle offen zu zeigen.

Meine Mutter sah ich vor ihrem Tod nicht wieder. Ich wollte Musiker werden oder Schriftsteller, doch meine Vormunde bestanden auf einem »handfesteren« Beruf, deshalb ging ich zum Jurastudium nach Freiburg. Innerhalb kurzer Zeit verschlang die galoppierende Inflation das Vermögen meines reichsten Vormunds, und ich verlor, was von meinem großen Erbe noch übrig war.

Einige der berühmtesten und scharfsichtigsten Professoren für Jura und Wirtschaftswissenschaft lehrten damals an der Freiburger Universität, und ihnen gelang es, ein echtes Interesse an diesen nicht frei gewählten Fächern zu wecken und zu vertiefen. Was ich immer für trocken und langweilig gehalten hatte, entpuppte sich nun als lebendig und aufregend.

Es war eine Zeit großer Unruhen. Rechtsgerichtete ehemalige Offiziere des Weltkriegs gründeten private Freikorps und trugen gesetzwidrige Grenzgefechte aus, was Angst und Schrecken in der Bevölkerung verbreitete. Kommunisten rissen in einigen Ländern die Macht an sich, und als die Reichsregierung rechte Militärorganisationen gegen sie zu Hilfe rief, verstärkte das nur die brutale Gewalt der Führer jener Freikorps, denen die Republik verhaßt war. Die Nationalsozialistische Partei wurde stärker und gewann viele Mitglieder und Anhänger, indem sie den latenten Antisemitismus der Deutschen für sich ausnützte.

Die Niederlage der deutschen Wehrmacht war vergessen. Niemand wollte mehr wissen, daß das Oberkommando der Armee dem Kaiser und seiner Regierung ein Ultimatum gestellt hatte, den sofortigen Waffenstillstand zu fordern. Tatsächlich schufen und verbreiteten nun dieselben Generäle, die den Waffenstillstand verlangt hatten, die »Dolchstoßlegende«: Die siegreiche deutsche Armee, so behaupteten sie, sei von Kommunisten, Sozialisten und Juden verraten worden.

Die Universität Freiburg war ein Mikrokosmos all der Streitigkeiten, des Hasses und der Gewalt, die Deutschland zerrissen. Die Studentenschaft zerfiel in zahllose Fraktionen. Es gab noch immer eine starke liberale Gruppierung, aber selbst dort waren Juden nur mehr geduldet.

Meiner Erziehung und Veranlagung nach war ich ein Liberaler – unsere Stadt wie das Familienunternehmen trugen eine kosmopolitische Prägung –‚ aber wir waren immer Patrioten gewesen. 1871, nach der Reichsgründung, hatte sich das Motto der Hermann-Bauer-Werft geändert: Aus »Vorwärts mit Bremen« wurde »Deutsche Schiffe auf Deutschen Meeren«.

Und jetzt war ich ein deutsches Schiff außerhalb deutscher Gewässer. Als meine Sekretärin mich über das neue Gesetz unterrichtete, nach dem man durch Dokumente nachweisen muß, daß in der Familie (mindestens) innerhalb der letzten vier Generationen kein jüdisches Blut war, bat ich sie, mir meine persönlichen Unterlagen zu schicken. Vor ein paar Tagen waren sie in St. Moritz angekommen, und ich hatte sie oberflächlich durchgesehen. Dann aber stellte ich fest, daß eine meiner Großmütter jüdischer Herkunft war. Das traf mich unvorbereitet.

Unter den neuen Nazi-Gesetzen gelte ich nun nicht mehr als Arier.

 

Über all das dachte ich während der Zugfahrt nach.

Wir kamen in Basel an die deutsch-schweizerische Grenze. Ich hörte das Knallen der Hacken, zackige Stimmen: »Heil Hitler!« Zuvor hatte ich diesen Gruß nur in der Wochenschau gehört, bei Aufnahmen von Nazi-Versammlungen. Aber ich wußte, daß dieser Gruß nun »Guten Morgen«, »Guten Abend« und »Gute Nacht« ersetzen sollte.

Die Abteiltür öffnete sich. Der Zollbeamte und ein SA-Mann in brauner Uniform traten ein. Hacken knallten. »Heil Hitler!« Arme flogen nach oben.

»Haben Sie etwas anzumelden?«

»Nichts«, sagte ich.

Eine Frau mittleren Alters schüttelte den Kopf und strickte ruhig weiter.

»Die Pässe bitte.«

Ich gab ihm meinen. Die Frau seufzte und legte ihr Strickzeug weg. Zwei weitere Fahrgäste befanden sich in unserem Abteil: Ein junger Mann mit Brille, der in Alfred Rosenbergs Mythus des zwanzigsten Jahrhunderts las, und ein älterer Herr im schwarzen Anzug, der bislang bewegungslos dagesessen hatte, in stiller Isolation. Er reichte dem Beamten als letzter seinen Paß. Der sah ihn kurz an und gab ihn an den SA-Mann weiter.

»Sie heißen Herbert Cohn?« fragte der SA-Mann.

Der Mann nickte nervös.

»Ich habe Sie nicht gehört.«

»Ja«, sagte der Mann, »mein Name ist Herbert Cohn.«

»Sie waren drei Wochen in Zürich.«

»Drei Wochen und zwei Tage.«

»Was war der Zweck Ihrer Reise, Herr Cohn?«

»Geschäfte«, sagte der Mann, »ich war geschäftlich unterwegs.«

»Was heißt das, Herr Cohn?«

»Im Interesse einiger meiner Klienten.« Herbert Cohn wurde immer nervöser und begann stark zu schwitzen. Es war mir peinlich, ihn anzusehen.

Der SA-Mann sagte zu dem Beamten: »Er soll seinen Koffer aufmachen.«

»Welcher Koffer gehört Ihnen, Herr Cohn?« fragte der Beamte. Der SA-Mann sah ihn kurz an, dann sagte er in barschem Ton: »Holen Sie ihn runter, Cohn! Aufmachen!«

Herbert Cohn griff nach seinem Koffer im Gepäcknetz. Er war sperrig und offenbar schwer, also stand ich auf, um ihm zu helfen. Der SA-Mann starrte mich an. Ich erwiderte seinen Blick. Er sagte nichts.

»Danke. Vielen Dank«, sagte Cohn zu mir.

Wir stellten den Koffer auf seinen Sitz. Seine Hände zitterten. Er hatte Mühe, den Schlüssel ins Schloß zu stecken.

»Nehmen Sie Ihr Gepäck und kommen Sie mit, Herr Cohn«, befahl der SA-Mann.

»Nein, nein, es geht schon … ich hab’s.«

Er zitterte am ganzen Körper. Schließlich gelang es ihm, den Koffer aufzuschließen. Der Deckel öffnete sich. Der Zollbeamte inspizierte den Inhalt.

»Wie heißt Ihre Firma und welche Position haben Sie dort?« fragte der SA-Mann.

»Die Nationalbank. Ich bin … ich bin einer der Vizepräsidenten.«

Der SA-Mann grinste. »Vizepräsident Cohn … Sie haben Klienten erwähnt, Vizepräsident Cohn. Handelt es sich um Deutsche oder um Juden?«

Einen Moment lang zögerte Herbert Cohn. Dann sagte er: »Deutsche Juden.«

»Das gibt es nicht, Vizepräsident Cohn«, entgegnete der SA-Mann. Herbert Cohn atmete hörbar.

»Zwei von ihnen sind Juden. Einer nicht.«

»Und Sie haben das Geld Ihrer jüdischen Freunde nach Zürich transferiert, Vizepräsident Cohn?«

»Nein … bei Gott, nein.«

»Lassen Sie Ihren Gott aus dem Spiel, Vizepräsident Cohn«, sagte der SA-Mann. Er wandte sich an den Beamten. »Was haben Sie gefunden?«

»Nichts.«

»Nichts?«

»Sie können den Koffer wieder schließen, Herr Cohn«, sagte der Beamte.

»Und was ist mit Ihrem eigenen Geld, Vizepräsident Cohn?« fragte der SA-Mann. »Das haben Sie ins Ausland geschmuggelt, nicht wahr?«

»Alles, was ich besitze, ist bei der Nationalbank angelegt«, antwortete Cohn.

Es entstand eine Pause. Der Beamte fragte den SA-Mann ungeduldig: »Können wir jetzt ins nächste Abteil gehen?«

Der SA-Mann nickte. »Ihre Auskünfte waren nicht befriedigend, Herr Cohn. Ich muß Sie bitten, mit mir den Zug zu verlassen.«

Herbert Cohn schwankte. Seine Stimme brach: »Bitte, Herr …«

»Sie gehen vor, Cohn«, sagte der SA-Mann.

Ohne uns zu beachten, verließ Herbert Cohn das Abteil, wobei er mit seinem Koffer gegen Sitze und Tür stieß. »Heil Hitler!« sagte der SA-Mann zu uns.

Der junge Mann mit Brille murmelte »Heil Hitler!«, ohne den Blick aus seinem Buch zu erheben. Die Frau nahm ihr Strickzeug wieder zur Hand.

Wir drei übriggebliebenen Passagiere saßen regungslos da und vermieden jeden Blickkontakt. Wo brachte der SA-Mann ihn hin? Was hatte Herbert Cohn getan? Hatte er wirklich Geld außer Landes geschmuggelt? War er schuldig? Oder hatte man ihn vielleicht nur deshalb so behandelt, weil er Jude war?

Der Zug fuhr weiter.

 

Universität Freiburg. Ein Tag im Juni. Der Tag, an dem Walther Rathenau erschossen wurde. Rathenau war ein reicher Industrieller gewesen, der berühmte Sohn eines berühmten Vaters, ein Staatsmann und Intellektueller. Ein Jude – der erste und einzige jüdische Außenminister der deutschen Republik.

Als Rathenau dem Anschlag eines der übelsten Freikorps zum Opfer fiel, triumphierten die rechten Burschenschaften der Universität, ihr einziger Streit entzündete sich an der Frage, welche von ihnen sich den Mord auf die Fahnen schreiben durfte. Die liberalen Gruppierungen empörten und bewaffneten sich. Heimlich fanden Duelle statt, die offiziell verboten waren. Es kam zu Schlägereien. Die große Frage war, würde die Fakultät Stellung beziehen? Gelegentliche Bemerkungen, politische Untertöne bestimmter Vorlesungen ließen darauf schließen, daß die politischen Differenzen im Lehrkörper ebensogroß waren wie unter uns Studenten. Die meisten der Lehrenden waren nur zu schlau oder zu vorsichtig, sich öffentlich zu einem Standpunkt zu bekennen.

Die meistbesuchte Vorlesung hielt ein international anerkannter Experte auf dem Gebiet der Rechts- und Wirtschaftswissenschaft. Er entstammte einem der ältesten Adelsgeschlechter Deutschlands. Bei jeder seiner Vorlesungen war das Auditorium bis auf den letzten Platz gefüllt. Er verfügte über die wunderbare Gabe, seine Zuhörer gleich vom ersten Wort an in seinen Bann zu ziehen, den er durch seine Beredsamkeit und seine Ausstrahlung bis zur letzten Minute aufrechterhielt. Aus der Art, wie er juristische und ökonomische Veränderungen auf geschichtliche Ereignisse und Entwicklungen bezog, konnte man ersehen, daß er über profunde Geschichtskenntnisse verfügte. Doch zu tagespolitischen Fragen hatte er sich noch nie geäußert.

An diesem Junitag jedoch hatte sich unter uns die Überzeugung verbreitet, der Baron – gleichzeitig sein Titel und Spitzname – werde zu Rathenaus Ermordung Stellung nehmen. Das Gerücht wuchs und wuchs während der Vormittagsstunden und elektrisierte die gesamte Universität. Keiner von uns erwartete, daß der Baron einen brutalen Mord billigen würde, die Frage, die alle am meisten bewegte, war, ob er die Tat direkt als Verbrechen bezeichnen oder eine solche Handlungsweise allgemein als politisch nicht vertretbar verurteilen würde. Es kam zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen uns, Wetten wurden abgeschlossen. Am Nachmittag war die Spannung fast unerträglich geworden. Die Vorlesung des Barons sollte um 15 Uhr beginnen, und der Hörsaal war bereits eine halbe Stunde vorher brechend voll. Studenten saßen in den Gängen, und in dem Raum hinter den Bankreihen war kein Stehplatz mehr zu finden. Um zehn Minuten vor drei mußten die Türen geschlossen werden.

Damals applaudierten Studenten durch Trampeln und taten ihren Unmut durch Scharren mit den Füßen kund. Pünktlich um drei betrat der Baron durch eine Seitentür den Hörsaal. Ein ohrenbetäubendes Trampeln begrüßte ihn. Er war klein, Mitte Fünfzig und trug einen gutgeschnittenen grauen Anzug. Langsam trat er ans Pult, ohne sich um die Ovationen zu kümmern, legte seine Notizen und diverse Bücher vor sich, streckte dann die Arme nach vorn und hielt sich an den Kanten des Pults fest, wie er es immer tat. Dann schaute er hoch und nickte uns zu. Auf seinem feinen, energischen Gesicht mit dem grauen Spitzbart spielte ein Lächeln. Er wußte, was wir von ihm erwarteten. Er wartete, bis das Trampeln leiser wurde und schließlich ganz aufhörte.

In diese Stille drangen seine ersten leisen Worte: »Der jüdische Philosoph Jesus Christus …«

Weiter kam er nicht. Die Hölle brach los, eine Kakophonie, in der sich Trampeln und Scharren beinahe die Waage hielten. Der Baron hatte den Kopf gesenkt, doch dann, mit einer plötzlichen, dramatischen Geste warf er ihn zurück und sah uns an, und wir konnten die Leidenschaft in seinen großen dunklen Augen fast körperlich spüren. Nach und nach wurde das Scharren schwächer und das Trampeln lauter, bis es in einem gewaltigen Crescendo seinen Widerpart ausgelöscht hatte. Nichts war zu hören außer dem donnernden Stampfen Hunderter Füße.

In diesem Moment gab es keine Fraktionen mehr. Die Studenten waren geeint durch die Humanität eines einzigen Mannes.

Der Baron las dann aus Rathenaus Büchern: Bemerkungen zu Philosophie, Staatskunst und über die Bedeutung des Patriotismus. Nach jedem Zitat hob der Baron die Stimme: »Dies sagte der Mann, dessen Mörder grölten: ›Schlagt sie tot, die Judensau! Tötet, tötet Rathenau!‹«

 

Der Zug fuhr nun schneller. In der Abenddämmerung konnte ich Sümpfe und Seen erkennen, die eintönigen Felder und Wiesen und dichte Wälder von alten, verkrüppelten Kiefern.

Rataplan. Rataplan. Herbert Cohn. Herbert Cohn.

Vor zwei Tagen war ich im frischen Pulverschnee von St. Moritz nach Celerina Ski gefahren, mit Fritz von Theiss und seiner französischen Freundin. Seine braunen und grausilbrigen Chow-Chows rannten um uns herum. Manchmal hatten ihre Hinterpfoten Schnee aufgewirbelt, der uns gegen die Sonnenbrillen schlug. Zweimal mußten wir deshalb anhalten und die Brillen putzen.

Rataplan. Rataplan. Herbert Cohn.