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Über dieses Buch:

Die idyllische Halbinsel Eiderstedt ist ein Bild der Eintracht und Harmonie – bis das Chaos in Form von vier bayerischen Bazis über sie hereinbricht. Dorfpolizist Hinnercks und Oma Else haben alle Hände voll zu tun, den Frieden zu wahren, doch dann macht eine Reihe mysteriöser Todesfälle jede Hoffnung darauf zunichte. Haben die vier Bazis gar ein mörderisches Geheimnis zu verbergen? Die hübsche Kommissarin Denkewitz aus Husum soll Licht ins Dunkel bringen – und treibt den armen Hinnercks damit vollends in den Wahnsinn. Nun liegt es an Oma Else, ihr geliebtes Eiderstedt wieder ins Lot zu bringen …

Über die Autorin:

Christiane Martini, geboren in Frankfurt am Main, ist Diplom-Musiklehrerin und Absolventin des Konzertexamens. Sie leitet ihre eigene Musikschule »CasaMusica« und ist Dozentin für Blockflöte, Querflöte und Klavier. Neben eigenen Kompositionen hat sie auch zahlreiche musikalische Lehrwerke verfasst. Christiane Martini ist nicht nur Musikerin, sondern als Autorin in verschiedenen Genres zu Hause. Sie lebt mit ihrem Mann und zwei Kindern in der Nähe von Frankfurt und wurde von ihrer Heimatstadt Dreieich mit einem kulturellen Förderpreis für Musik und einem Stipendium ausgezeichnet.

Christiane Martini veröffentlichte bei dotbooks bereits ihre Romane »Mops Maple« und »Saitensprung mit Kontrabass«, den historischen Roman »Die Meisterin aus Mittenwald«, die Katzenkrimis um Kater Caruso sowie den heiteren Kriminalroman »Tote Oma im Weihnachtsfieber«.

Die Reihe um den schlauen Kater Caruso und seine Katzenbande umfasst die folgenden Bände:
»Meisterdetektiv auf leisen Pfoten – Carusos erster Fall«
»Venezianischer Mord – Carusos zweiter Fall«
»Die venezianische Schachspielerin – Carusos dritter Fall«
»Schatten über der Serenissima – Carusos vierter Fall«
Alle vier Fälle sind auch im Sammelband erhältlich:
»Mord in der Lagunenstadt – Kater Caruso ermittelt in Venedig«

Dieser Sammelband umfasst die folgenden Einzelbände der »Oma-Else«-Reihe:

»Tote Oma mit Schuss«

»Tote Oma auf Eis«

»Tote Oma Ahoi!«

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Sammelband-Originalausgabe April 2018

Copyright © der Originalausgabe von »Tote Oma mit Schuss« 2015 dotbooks GmbH, München

Copyright © der Originalausgabe von »Tote Oma auf Eis« 2016 dotbooks GmbH, München

Copyright © der Originalausgabe von »Tote Oma Ahoi!« 2017 dotbooks GmbH, München

Copyright © der Sammelbandausgabe 2018 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Redaktion: Birgit Förster

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von Bildmotiven von shutterstock/Sanif Fuangnakhon, ReeveeKhaosan, Africa Studio, Magyar, Chones und orangeberry

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (rb)

ISBN 978-3-96148-259-7

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Christiane Martini

Mord mit Seebrise

Oma Else ermittelt

dotbooks.

Tote Oma mit Schuss

Für Stephan und Johann Christoph,

Euch beiden Waidmannsheil und fette Beute!

Kapitel 1

Es ist Sommer in Nordfriesland. Die Wäsche flattert frisch gewaschen im Wind, Schönwetterwolken ziehen vom Meer in Richtung Landesinneres, und die Schafe grasen träge auf den Wiesen. Genau genommen befinden wir uns auf Eiderstedt in Osterhever, gleich hinterm Deich. Die Halbinsel ist in verschiedene Köge eingeteilt, und Helge, der ziemliches Magengrummeln verspürt, ist in Norderheverkoog mit dem Fahrrad unterwegs.

Er sei ein »Ökofuzzi«, sagen die Bewohner des Koogs. Diese Bezeichnung findet Helge aber nicht zutreffend, er möchte dann schon lieber ein »Ersatzenergiefuzzi« genannt werden. Denn mit »Ersatzenergie« hat er täglich zu tun. Er produziert nämlich aus Mais wertvollen Strom. Gleich hinterm Deich hat er zwei riesige Felder gepachtet, und zwar von Heiko.

Heiko besitzt einen großen Bauernhof mit ziemlich viel Land drumherum. Den größten Teil hat er an Helge verpachtet und den anderen an Friedje. Der hat ziemlich viele Schafe.

Vom schwarzen bis zum hellen Schaf, vom am Hinterteil verschmierten bis zum glatt geschorenen, vom Lamm bis zum alten, verzottelten Bock ist jegliche Ausführung zu finden. Aber egal, wie sie aussehen, sie laufen frei herum, und alle machen den gleichen Dreck. Überall liegen sie, die stinkenden, aufgehäuften »Landminen«.

Helge ist ziemlich genervt darüber und macht oft Jagd auf die Schafe. Dann rast er mit seinem Bonanzarad kreuz und quer auf dem Deich herum, sodass der Fuchsschwanz, den er an der Stange am Gepäckträger befestigt hat, im Wind weht. Natürlich macht er dies im Slalom um die elenden Dreckhaufen herum, aber manchmal fährt er auch mittendurch, sodass die Schiete nur so spritzt.

Maulwürfe können auch hervorragend häufeln, aber die gibt es auf dem Deich zum Glück nicht auch noch. Und wenn, dann würde Helge sie eiskalt mit Gummibärchen umbringen.

Gummibärchen wirken tödlich bei Maulwürfen, das behauptet Oma Else. Sie führt eine Pension, und sie muss es wissen, denn in ihrem Alter, da weiß man, wie die Dinge laufen. Zumindest bestimmte, die für ihr Alter geeignet sind. Pärchenbildung ist vielleicht nicht mehr so ihr Ding. Obwohl, manchmal schwoft sie mit dem alten Werner beim Lammfest auf der Bühne herum. Das geht zwar nur ganz langsam, aber die Blicke, die sich die zwei dabei zuwerfen, sprechen von ziemlicher Vertrautheit. Na, hier wollen wir aber mal nicht weiter drauf herumreiten, vielleicht kommt das noch später.

Apropos reiten, geritten wird hier in Nordfriesland natürlich viel. Es gibt jede Menge Pferde. Auch Heiko hat welche, und auf denen dürfen seine Feriengäste reiten. Derzeit hat er vier Gäste, und da er nur eine Ferienwohnung hat, ist er also ausgebucht. Man kann es kaum glauben, aber es sind vier junge Bazis, die sich an die Küste verirrt haben.

Heiko hat ein bisschen Schwierigkeiten gehabt, den einen von ihnen am Telefon zu verstehen. Sie wollten das Wochenende an der Nordsee verbringen, so viel war klar. Und proben wollten sie, denn sie spielen in einer Band, Gevatter Blechschuss heißen die.

Heiko bekam ihre Anfrage ganz kurzfristig. Es war fünf, und er saß gerade beim Abendbrot. Er und seine Frau Inge essen immer so früh. Um sieben gibt’s Frühstück, um elf gibt’s Mittag, und um fünf gibt’s Abendbrot, und daran ist nicht zu rütteln. Das ist Gesetz, das war schon immer so. Vererbt sozusagen von den Eltern. Wer außerhalb der Zeiten was will, ist gerne gesehen und wird angehört, aber eine Störung beim »heiligen Mahl«, das geht eigentlich gar nicht. Doch in diesem Fall hat Heiko eine Ausnahme gemacht, weil er einen Anruf von Inge erwartete, die in Husum mit der Schwiegermama beim Arzt war.

»Grüß Gott«, hörte er am anderen Ende eine Stimme.

»Moin«, sagte Heiko nur, weil er überrascht und genervt zugleich war, denn das war nicht seine Inge und bestimmt auch nicht der Arzt.

»Ja, tut mir leid, ist’s noch so früh bei euch da oben? Ja, soll ich dann vielleicht nochemol anrufen?«

»Wat wollen Sie denn?«, keifte Heiko nun völlig entnervt in den Hörer, denn der Duft seiner Wirsingsuppe drang in seine Nase, und der Teller wollte leer gelöffelt werden.

»Jo mei, mir san vier Buam aus Bayern und mir wolln a Ferienwohnung fürs kommende Wochenend, so von Freitag bis Sonntag.«

»Kommendes Wochenende« und »Ferienwohnung« hatte Heiko verstanden, den Rest nicht. Sein Blick streifte den Ferienkalender, und tatsächlich war an diesem Wochenende noch was frei.

»Dat geht klar«, sagte er, »da is noch wat frei. Zehn Uhr is Ankunft und wieder Abfahrtszeit, daran halten Sie sich bitteschön. Vor der Zeit ankommen geht nicht, wir haben nämlich Bettenwechsel, und vor zehn sind wir nicht fertig.«

Heiko hatte nun den Löffel in die Suppe getunkt und den Duft direkt unter der Nase. Er wollte, er musste jetzt seine Suppe essen, sonst würde er grantig werden. Aber natürlich durfte er keinen Gast vergraulen, das hat seine Inge angeordnet, und die würde sonst fuchsteufelswild werden. Da er ihre Pantoffeln schon hat fliegen sehen, wollte er dies unter allen Umständen vermeiden.

»Ham Sie auch einen Namen?«, fragte er so freundlich, wie es ging.

»Jo, freilich, I bin der Schleuser Berti.«

»Is gut«, meinte Heiko, »hab’s notiert. Bis Freitag.«

»Jo, freilich, grüaß di Gott und pfiat di«, sagte Berti am anderen Ende. Aber bevor er noch etwas sagen konnte, hatte Heiko bereits aufgelegt und sich den Löffel Suppe in den Mund geschoben. Eigentlich hätte er ihn am liebsten wieder ausgespuckt, denn die Suppe war jetzt kalt, und Wirsingsuppe musste nun mal heiß sein.

Entnervt ging Heiko in die Küche und schüttete die Suppe zurück, um sie wieder aufzuwärmen.

Als er sich erneut einen Teller auftun wollte, klingelte wieder das Telefon. Diesmal musste der- oder diejenige einen Moment warten. Um keine Zeit zu verlieren, schöpfte sich Heiko ein paar Löffel Suppe direkt aus dem Topf in den Mund. Hmm, wie das schmeckte! Und spritzte und kleckerte. Aber egal, niemand hatte es gesehen. Oder doch?

Wer spazierte denn da an seinem Küchenfenster vorbei und schaute ihm beim letzten Löffel direkt ins Gesicht? Den Mann kannte er nicht. Komisches Outfit hatte der Mann, ganz in Grün war er gekleidet.

»Pfui, essen alle Friesen hier so widerlich?«, empörte er sich und war im gleichen Moment am Fenster vorbeigeschritten.

Heiko schämte sich einen Moment, weil er die Tropfen an seinem Kinn spürte. Aber dann musste er lauthals lachen und steckte sich noch zwei weitere Löffel voll Suppe in den Mund, dass es nur so spritzte. Schon lange hatte es nicht mehr so viel Spaß gemacht, Wirsingsuppe zu essen. Aber dann bemerkte er den andauernden Klingelton. Solch eine Ausdauer konnte nur seine Inge haben. Er musste sich eine gute Ausrede einfallen lassen, sonst würde sie böse werden. Die Post! Er würde einfach sagen, der Briefträger wäre da gewesen und hätte ihn in ein Gespräch verwickelt. Gesagt, getan. Und die Spuren der Suppenkasperei entfernte er natürlich.

Wenig später schloss er seine Inge lächelnd in die Arme. Zu viel Freundlichkeit durfte aber nicht sein, sonst würde sie misstrauisch werden.

»War wat?«, sie schaute ihn forschend an.

»Nö«, meinte Heiko vielleicht etwas zu schroff, aber damit war der übliche Umgangston wiederhergestellt.

Auch Oma Elses Pension Zur goldenen Möwe ist ausgebucht. Was an der Pension golden ist, weiß eigentlich keiner so genau, aber das Schild sieht sehr hübsch aus, goldene Möwe eben. Derzeit verweilt bei Else eine junge Frau. Sie hat außergewöhnlich schöne Beine, das ist auch Oma Elses Blick nicht entgangen, obwohl sie sich eigentlich für solchen nackten Firlefanz nicht interessiert, zumindest nicht in der Öffentlichkeit.

Mit ihren langen Beinen, die die junge Frau mit kurzen Röcken oder Hotpants und High Heels zur Schau trägt, sieht sie echt klasse aus. Das sagt Werner. »Aber die Krasseste bist du«, hat er Else ins Ohr geflüstert und dabei seine Hand auf ihren runden Po gelegt, als er ihren entrüsteten Blick sah. Sie errötete, was sie nicht so schnell tat, und schenkte ihm einen vielsagenden Blick. Das ist gestern gewesen, als er kurz auf ein Bierchen hereingeschaut hatte.

Oma Else ist gerade auf dem Weg in die Küche, um das Frühstück, Kaffee, Brötchen und ein gekochtes Ei an Tisch zwei zu bringen. Dort sitzt ein in Grün gekleideter, wortkarger Mann. Er hat neben seinem Teller ein Buch über Vögel liegen und scheint sich für Watttiere zu interessieren.

Als Oma Else ihm nun das Frühstück serviert, schaut er kurz auf.

»Wann kommt denn die Flut, meine Gnädigste?«

»Gnädigste« hatte Else noch keinen sagen hören. Das ist wohl ein feiner Pinkel, den sie hier wohnen lässt.

Na, wat soll’s?, denkt sie. Und dann sagt sie: »Es gibt da den Gezeitenkalender. Ich bring Ihnen den gleich. Wollen Sie ins Watt?«

Der Mann mit dem langweiligen Namen Helmut Gruber hat nun bereits wieder sein Vogelbuch zur Hand genommen und antwortet nur mit einem Brummen. Auch als Oma Else ihm den Kalender bringt, gibt er nicht mehr als ein »Danke« von sich.

Seltsamerweise interessiert er sich nicht im Geringsten für die Frau mit den langen Beinen, Lisa Denkewitz, an Tisch eins. Sie würde sich aber alsbald für ihn interessieren, das wissen beide jedoch zu diesem Zeitpunkt noch nicht.

An Tisch drei der kleinen Frühstückspension Zur goldenen Möwe sitzt noch keiner, dort wird aber in den nächsten Tagen Peter Großmann, Akquisiteur eines Windkraftunternehmens, sitzen. Allerdings nicht für lange Zeit.

Die Frühstückspension bietet neben der Möglichkeit, dort zu übernachten, auch die Gelegenheit, bei kalten oder warmen Getränken zu plauschen, zu tratschen und natürlich zu lästern … Gesprächs- und Zündstoff gibt es hinterm Deich wahrlich genug. Auch süße Kleinigkeiten wie rote Grütze, Blaubeerpfannkuchen und Friesenschmarrn bietet Oma Else an.

Helge ist nun direkt auf dem Weg zur Goldenen Möwe. Er kehrt fast täglich auf ein oder zwei oder auch mehr Gläschen Korn dort ein. Eines seiner Lieblingsgetränke, das er sich vor achtzehn Uhr gerne schmecken lässt, ist Tote Oma. Eigentlich gibt es in Friesland Kaffee mit Schuss und Schlagsahne, und den nennt man Tote Tante, aber alle, die bei Else einkehren, nennen das herrliche Kaffeegesöff Tote Oma. Oma Else ist das egal, für sie ist die Hauptsache, dass der Umsatz stimmt.

Helge ist gerne mit seinem Bonanzarad unterwegs. Das macht er so oft wie möglich, um Benzin zu sparen. Er fährt gerade die Einfahrt hinauf, als ein Auto an ihm vorbeibrettert und mit quietschenden Reifen vor der Pension zum Stehen kommt.

Wer steigt aus? Natürlich Hinercks. Er ist der Dorfpolizist von Norderheverkoog.

Kapitel 2

»Moin, Hinercks, wohl zu viel getrunken, wat?«, ruft Helge säuerlich aus der Entfernung.

»Nö, hab doch heute dienstfrei. Aber zu diesem Zweck bin ich jetzt gekommen«, erwidert Hinercks aus seinem Autofenster heraus. Er steigt grinsend aus seiner alten Nuckelpinne, einem VW Polo, und Helge fährt mit seinem Bonanzarad vor.

Helge bremst so geschickt, dass sich das Fahrrad querstellt und viele kleine Steinchen, die eigentlich fein säuberlich auf dem Boden herumliegen, um den Weg zu zieren, auf Hinercks Füße regnen.

»Mensch, Helge, pass doch auf, sonst …«, entrüstet sich Hinercks.

»Na, wat sonst?«, fällt Helge ihm ins Wort. Helge hat Hunger, und immer wenn sein Magen leer ist, wird er streitsüchtig. Das lässt sich dann nur durch Nahrungsaufnahme bekämpfen. »Bekomme ich jetzt ein Verwarnungsgeld wegen falsch bremsen, oder wat?«, meint er bissig.

»Na, nu is aber gut, Helge. Meine Laune is heute auch nicht die beste. Komm, wir trinken ’ne Tote Oma. ’nen Toten könnt ich echt mal wieder gut gebrauchen. Es ist ja nur tote Hose, was hier abgeht. So ’n richtiger Fall, das wär doch mal was. Aber es klaut ja noch nicht ma einer ’n Fahrrad oder ’n Schaf. Das einzig Ereignisreiche war der Blitzeinschlag bei Albert, unserm Doktor, vor einer Woche. Das Feuer war echt klasse, aber das war leider nicht in meinem Zuständigkeitsbereich, und da niemand zu Tode kam, ist die Sache an mir vorbeigegangen. Schwups, weg war sie.«

»Sei froh, sonst hättest du ’nen Bericht schreiben müssen.«

»Den hätt ich glatt in Kauf genommen. Die Langeweile jeden Tag ist schlimmer, als du dir vorstellen kannst.«

Helge nickt verständnisvoll.

»Tut mir aber echt leid, dass dem Doktor sein Reetdach abgebrannt ist.«

»Nächste Woche bekommt der ’n Neues.«

»Ach ja?«

»Ja«, sagte Helge forsch.

»Komm, wir gehen rein«, sagt Hinercks.

»Geh du voran.«

»Is gut.«

Hinercks zieht seine Jacke straff, nimmt Haltung an und geht wie ein stolzer Gockel in Oma Elses Pension. Seine Jacke ist grün und arg abgetragen. Jeder hinterm Deich kennt Hinercks so, und er nimmt den ollen Kram in Kauf. Olle Jacke, olles Auto, olle Waffe.

Aber als er nun das unbekannte Fräulein dort am Fenster sitzen sieht, deren Beine kaum enden wollen, hätte er am liebsten kehrtgemacht.

Aber Helge schiebt Hinercks vor sich her. »Da am Tresen ist noch wat frei, komm.«

Hinercks eilt schnurstracks zum Tresen und setzt sich sofort, damit ihn das Fräulein erst gar nicht mustern kann. Er dreht sich auch nicht nach ihr um.

»Na, du hast’s ja eilig, Hinercks«, meint Else. »Alles klar mit dir?«

»Jo«, sagt Hinercks und versucht, sich etwas zu entspannen.

»Wat soll’s denn sein?«, fragt Else. »Wie immer?«

Hinercks gibt keine Antwort. Es ist ihm peinlich, wie sonst einen Korn zu bestellen. Wat denkt denn dann dat schöne Frollein von mir?, geht es ihm durch den Kopf. Bulle trinkt im Dienst. Die weiß ja nich, dass ich heut dienstfrei habe.

Helge knufft ihn in die Seite. »He, Hinercks, nimmst du auch ’ne Tote Oma mit Schuss?«

»Nööö«, meint Hinercks wie aus der Pistole geschossen und zieht dabei das »ö« ganz lang. »Höchstens mit einem Schüsschen. Und bring mir ’ne kalte Milch dazu.«

»Kalte Milch?«, fragt Helge in einem Ton, als wollte man andeuten, dass der andere nicht ganz richtig im Kopf ist.

»Jo«, meint Hinercks, etwas übertrieben euphorisch. »Milch ist überaus gesund, da ist viel Kalzium drinne, das ist gut für die Knochen.«

»Schon klar, Hinercks. Aber wat hast du denn mit den Knochen? Bist doch fit wie ’n Turnschuh.«

»Jo, da haste recht.«

»Erzähl mal, Hinercks, gibt’s was Neues bei dir?«, fragt Helge. Er weiß, dass das ein heikles Thema ist, aber er will testen, ob bei Hinercks noch alles knusper ist. Und das ist es. Denn bei dieser Frage sackt Hinercks augenblicklich in sich zusammen und schnauft frustriert.

»Ach ja«, meint er nur.

»Ach ja«, stöhnt nun auch Helge mitleidsvoll, froh, den alten Hinercks wiederzuhaben.

»Hier kommen die Tote Oma mit Schüsschen und die Milch.« Else stellt ein großes Glas Milch direkt vor Hinercks hin.

»Wat soll’s?«, meint er nun. »Gesundheit hin oder her, bring mir noch ’nen Klaren.« Diese Bestellung flüstert er so leise, dass Oma Else ihn nicht richtig versteht.

»Wat willste, Hinercks?«, blökt sie, etwas zu laut vielleicht. »Sach ma.«

»Bring mir noch ’n Korn, wenn’s geht.«

»’n Korn, na klar. Also doch wie immer.«

Hinercks könnte im Boden versinken. Ach was, soll die Dame mit den Beinen doch denken, was sie will. Er hat ganz andere Probleme.

»Haste aber Glück, Hinercks, hab vorhin ’ne Lieferung bekommen. Lauter frische Körnchen. Klingt doch auch gesund, oder? Wenn de zwei nimmst, isses ’n Vollkorn, und das is noch gesünder.« Else grinst und schiebt ihm einen Korn rüber. »Willste noch ’n Glas dazu?«

»Nö, geht so.«

»Na dann, wohl bekomm’s!«

»Wat isn dir heute auf den Magen geschlagen? Haste wat schwer Verdauliches gegessen?«, fragt Helge Hinercks so von der Seite.

»Nö, ist nur die pure Langeweile. Is ja nix los hier bei uns hinterm Deich. Kaum Verkehrssünder, außer vielleicht mal ’n Touri. Aber da stehste Stunde um Stunde hinterm Busch, und jedes Auto, das dahergefahren kommt, feuerst du innerlich an: schneller, schneller, nur weil de denkst, der rast mit hundert Sachen in die Radarkontrolle hinein. Das ist auf die Dauer blöde. Gestern habe ich sogar laut gerufen, weil ich dachte, gleich habe ich ihn, aber dann hat der plötzlich abgebremst. Wieso, weiß ich auch nicht, vielleicht hat der ja mein tolles Blitzgerät gesehen. Betrunkene Fahrer, die mal in mein super Röhrchen blasen könnten, gibt’s auch nicht. Dat Ding is noch wie neu, hab’s noch nicht mal ausgepackt. Neulich dacht ich, ich probier’s mal selber aus, aber dann kam ich mir doch zu blöde vor und hab’s gelassen.«

»Ach, Hinercks, dat wird schon mit deinem großen Fall«, versucht Helge, ihn zu trösten.

»Wat? Dat mit dem Toten?«

»Ja – ich meine natürlich, nö. Ich meine eigentlich nur dat mit deiner Langeweile. Du musst sie nur zu bekämpfen wissen. Vielleicht lieste ma wat.«

»Wat soll ich denn da lesen? So viel kannste gar nicht lesen, was ich mich langweilen tu.«

»Wie wär’s mit ’nem Kochbuch?«

Hinercks kommt für einen Moment ins Grübeln.

»Dat wär gar nicht so abwegig«, sagt er, »aber dann bekomm ich Hunger, und dat tut meiner Figur nicht gut. Du kennst doch Frauke, die mag mich nicht mit zu viel Bauch.«

»Wieso? Die hat doch auch einen.«

»He, werd nur nich frech! Sag nix gegen meine Frauke, die hat ’ne tolle Figur! Die hat höchstens ein Bäuchlein.«

»Ach so, na gut«, sagt Helge und kann sich das Grinsen nicht verkneifen, denn Frauke hat in seinen Augen mehr als ein sehr ausgeprägtes Bäuchlein. Und blind ist er nun wirklich nicht. Er weiß genau, was schick ist. Zum Beispiel die junge Frau, die da am Fenster sitzt. Aber wo ist die eigentlich?

»Suchst du die Nacktbeinige?«, fragt Else und erschreckt Helge. Er zuckt zusammen und schmeißt dabei fast Hinercks Milch um.

»Nö … also, äh … nicht direkt. Ich dacht nur, ich schau ma, ob die da noch sitzen tut.«

»Tut sie nicht«, meint Else. »Aber die kommt wieder.«

»Ja, ist schon gut«, meint Helge leicht genervt. »Irgendwie ist heute nicht so viel los bei dir, oder?«

»Jo, da haste recht. Leider! So ’n Bus mit ’ner ganzen Truppe Touris, das wär mal ’ne Maßnahme. Würde meinem Umsatz echt guttun. Wenn’s nicht besser wird, mach ich mich vom Acker.«

»Waaas?«, empören sich Hinercks und Helge wie aus einem Mund.

»Aber Else, du gehörst doch hierhin wie der Wurm ins Watt.«

»Na, danke für den Vergleich.«

»Sorry, du weißt doch, wie ich’s meine, äh …«

»Nööö«, stellt sich Else doof und zieht das »ö« ganz lang. Dabei schaut sie Helge nun fragend an und ist gespannt, wie er sich aus der Situation retten wird.

»Also, Else«, beginnt Helge, »du gehörst hierhin wie …« Er macht eine Gedankenpause.

»Na, wie?«, fragt Else.

»Nun ja, wie das Schaf auf die Wiese eben. Ach Else, nun mach es mir doch nicht so schwer.«

»Schon gut«, sagt sie und tut entrüstet, »eben wie ’ne olle Robbe auf ihre Sandbank, willste sagen.«

»Nein, Else, dat wollt ich nicht.«

»Ist doch schon gut«, lacht Else, »kommt, Jungs, wir trinken noch ’n Korn.«

»Dagegen ist nichts einzuwenden. Aber du bleibst hier bei uns in Osterhever«, meint Helge.

»Nö«, meint Else, »ich bin zu alt, um hier von der Hand in den Mund zu leben. Ich esse schon jeden Tag die Reste. Aber ewig rote Grütze und dergleichen aufzuessen, weil keiner kommt? Dat geht nicht, und dat will ich auch nicht. Morgen kommt so ’n Landakquisiteur, der will sich hier mal umschauen. Wenn der mein Haus und dat Drumherum kaufen will, und der tut gut zahlen, dann nehme ich wohl an. Dann zieh ich nach Husum, da gibt’s so ’n First-Class-Altenwohnstift in der Nähe vom Schloss. Dat tät mir echt gefallen.«

»Wat willste denn da versauern? Dat tut dir nicht gut«, sagt nun auch Hinercks.

»Jungs, lasst uns einen heben. Auf dat Gute, wat da kommt.«

»Auf dat, wat da kommt«, sagt Helge und runzelt die Stirn.

»Auf dat Leben und seine Überraschungen«, sagt Hinercks und kippt den Korn auf ex hinunter.

Kapitel 3

Gestern hat Gruber viel geschlafen, die Nordseeluft scheint ihn müde zu machen.

»Dat is die Luftumstellung«, hat Oma Else gemeint, als er vor lauter Gähnerei beim Frühstück fast eine Maulsperre bekommen hat. Darauf ist Gruber aber gar nicht eingegangen, sondern hat tapfer in sein Vogelbuch geschaut. Er wollte was über Seevögel lernen, hat er sich vorgenommen. Und wenn er schon mal an der See war, dann war das doch die Gelegenheit dafür.

Nachdem der gestrige Tag mit Schlafen, Gähnen, Lesen, Gähnen, Essen, Gähnen, Schlafen, Lesen, Gähnen und so weiter, und so weiter dahingegangen ist, will er heute das Gelernte entdecken.

Helmut Gruber steht nun im Watt. Seine nackten Füße haben ihn durch das matschige Zeug bis zum Meer getragen. Die grünen Hosen hat er sich hochgekrempelt, ebenso die Ärmel seines grünen Hemdes.

An der Nordsee ist es kalt, hat man ihm daheim gesagt, deswegen hat er auch nur warme Sachen dabei. Auf seine Lodenjacke, die er beim Jagen gerne trägt, hat er verzichtet, aber die grüne Wachsjacke, die ist mitgekommen. Eigentlich haben seine Freizeitklamotten fast alle die Farbe Grün, so ein mattes, langweiliges Grün, damit die lieben Rehe und Wildschweinchen den Jäger bloß nicht sehen können. Ja, ja, so ganz in Grün ist man gut getarnt, da im Teutoburger Wald.

Aber eigentlich ist das mit der Tarnung ganz unwichtig, und dem Wild ist es völlig egal, ob der Jäger Grün trägt. Die sind nämlich farbenblind, die lieben Tierchen. Also könnte der Jägersmann auch in Rot auftreten. Aber das machen die nicht. Schon komisch, die Angler tragen auch Grün, und die Fische können nun wirklich nicht sehen, ob da einer am Ufer sitzt. Vielleicht tarnen sich die Jäger und Angler ja nur, weil sie untereinander nicht gesehen werden wollen …

Aber hier an der Nordsee, da fliegt die grüne Tarnung auf. Jeder, dem Gruber begegnet, runzelt die Stirn. Die denken sicher: Ach ja, so ’n Touri oder Ho, ho, ein Jäger! Wie hat denn der sich hierher verirrt? Ab ins Feld mit dir, schlag dich in die Büsche, oder geh doch in den Wald nach Sankt Peter-Ording. Aber hier im Watt, da kannste nun wirklich nichts ausrichten. Man sieht dich, schlechte Tarnung.

Nur wie soll man sich denn tarnen? Vielleicht in Ringeln, wegen der Leuchttürme. Aber ein Mann in roten Streifen sieht doch komisch aus. Und für wen auch? Kein Fisch ist in Sicht, kein Krebslein. Nix Schießbares. Aber deshalb ist Gruber ja auch nicht an die Nordsee gefahren.

Gruber will entspannen, von der Arbeit, seinen Kollegen und auch von seinen Jagdkumpanen. Derzeit gibt es da echt nur Probleme, weil eine blöde Naturschutzorganisation so viel Wald bei ihnen daheim aufkauft. Bald ist kein Bereich mehr da, in dem er so richtig nach Herzenslust jagen kann. Gruber ist arg frustriert darüber, denn er jagt schon lange und immer im gleichen Wald. Da hat er seine Jagdbeteiligung.

Manchmal hilft er auch, Hochsitze zu bauen. Gemeinsamkeit im Wald und dann nach erfolgter Jagd ein Halalichen blasen, ach, ist das schön. Nein, für Gruber gibt es nichts Schöneres. Wenn da nur nicht diese blöden Naturschutzheinis wären.

Gruber mag es, allein zu sein. Obwohl er sich im Wald eigentlich nie allein vorkommt. Auch wenn er die Tiere nicht immer zu Gesicht bekommt, so weiß er doch, dass sie alle da sind.

Hier im Watt stapft er nun ziellos herum, hier gibt es keine Bäume, keine Büschlein. Hier gibt es auch Tiere, schon, aber Wattwürmer, bitte schön, die findet er nun wirklich nicht interessant. Die Würmer sind zu aufdringlich und too much, die hinterlassen überall ihre Spuren, das sind diese kleinen, unappetitlich gedrehten Häufchen. Na ja, und dann sind da noch die Möwen und die Austernfischer, deren Namen hat er aus dem Vogelbuch. Den Singsang von denen findet er sogar ganz ansprechend.

Auch wenn hier im Watt kein Baum ist, so fühlt er sich trotzdem recht wohl, denn es ist weit und breit kein Mensch zu sehen. Niemand, der ihn nervig von der Seite anquatschen könnte wie die Oma aus der Pension. Also, die geht ihm echt auf den Wecker. Gruber dreht sich noch einmal um, weil er auf Nummer sicher gehen will, dass da auch von hinten keiner anmarschiert kommt.

Die Sonne blendet ihn. Das Meer glitzert im gleißenden Licht, und viele kleine Lichtblitze hüpfen auf den Wellen umher. Aber irgendetwas nähert sich doch da am Meeresrand. Unverkennbar ist da etwas, eine Lichtgestalt. Beim Näherkommen erkennt Gruber einen Mann. Er stapft am Meeressaum daher und kommt direkt auf ihn zu. Das ist aber auch kein Wunder, denn Gruber steht ja dort, wo das Wasser anlandet. Jetzt will er am liebsten kehrtmachen und verschwinden. Aber im Watt kann er nicht schnell genug davoneilen. Außerdem ist es eklig und eine ziemliche Wutzerei, wenn man schnell durch das schlickige Watt stapft. Das spritzt, und dann bekommt die schöne grüne Hose noch Flecken. Aber wohin flüchten? Verstecken hinter irgendwelchen Hecken ist nicht.

»Vielleicht zweigt der ja ab«, hofft Gruber und stapft ein paar Schritte weiter. Der Schlick schmatzt zwischen seinen Zehen hindurch. Das findet er schrecklich eklig. Der Mann nähert sich, das spürt Gruber.

»Hallöchen«, ruft er nun. Gruber zuckt zusammen. Kann es sein …? Nein, absolut unmöglich! Das gibt es nicht. Nicht in seinen schlimmsten Träumen. Nicht hier, nicht hier in seinem Urlaub, nicht hier im Watt.

»Nein«, ruft Gruber innerlich und dreht sich hektisch um. Fast hätte er sich dabei den Knöchel verdreht.

Aber es ist doch wahr. Da steht es, das Monstrum von einem Mann, dessen Bräune im Sonnenlicht blendet und dessen rote Haare wie Feuer lodern. Dieses schiefe, süffisante Grinsen, diese hohe, unmännliche, unverkennbare Stimme. Der Teufel in Menschengestalt. Gruber möchte ein paar Schritte zurückgehen, aber er kommt nicht von der Stelle. Er ist in einer Schockstarre sozusagen. Angst überkommt ihn, Verachtung, Gänsehaut. Aber dann, dann schreitet er plötzlich tapfer auf den Feuerteufel los. Bevor er weiß, wie ihm geschieht, packt Gruber ihn an den Schultern und schubst ihn. Das Überraschungsmoment ist auf seiner Seite.

Der Typ stammelt was von: »Nun machen Sie doch mal halblang, was soll das denn? Wir kennen uns doch.«

Das weiß Gruber wohl, und genau deshalb ist er ja so wütend auf ihn. Aber dazu braucht er keine Worte. Er braucht nur seine Kraft und seine Fäuste. Er ballert dem Mann eine gegen die Schulter, er taumelt überrascht und blickt Gruber erstaunt an. Doch bevor er was sagen kann, pfeffert ihm Gruber seine Faust gegen das Jochbein, und nun verändert sich der Gesichtsausdruck des Mannes. Er beginnt, sich zu wehren, und erwidert einen Schlag mit der Faust, allerdings kann Gruber geschickt ausweichen und nutzt die Situation, indem er mit einem Schlag von unten ausholt und den Mann am Kinn trifft.

Das kann er gut, das hat er schon oft geübt. Ist zwar schon ein paar Jährchen her, aber das ist so drin in ihm, der Bewegungsablauf. Den kann er im Schlaf. Und er hat Erfolg damit, denn der Mann verliert augenblicklich die Kontrolle über sich und seinen Körper. Er fällt einfach so rücklings um. Gruber hat die Fäuste noch immer geballt, er ist kampfbereit, aber der Mann bleibt liegen, sein Kopf versinkt langsam im Watt. Gruber schaut seine Hand an.

Ist doch nur ’ne Faust, denkt er, nicht so ’n Hammerwerkzeug wie bei den Klitschko-Brüdern. Dennoch bewegt sich der Mann nicht. Den hab ich getroffen, aber das geschieht ihm recht, denkt Gruber. »Dann schlaf mal schön, und lauf mir bloß nicht mehr über den Weg, du armes Naturheiniwürstchen«, raunzt er den schweigsamen Mann an. Dann dreht sich Gruber um und stapft davon. Den Mann lässt er im Watt liegen. Soll er sich doch selber helfen.

Kapitel 4

»Berti, I komm mir ja doch ’n bisserl blöd vor, so in dieser Hose.«

»Ja mei, das ist eben der letzte Schrei, da bei uns in Kempten. Nu steh doch dazu, siehst fei fesch aus.«

»Also I find se bisserl knapp«, empört sich Hansi.

»Is scho a heißes Hösle«, meint Matthis, hebt die Arme und schiebt das Becken nach rechts und links, so, wie es Andreas Gabalier so schön kann. Und dazu singt er dann noch das Anbaggerlied von dem hübschen Kerl.

Die drei verbleibenden Bazis fangen ebenfalls an, dazu zu singen und mit den Hüften zu wackeln. Dann schauen sich die vier an, und nun überkommt sie ein Lachanfall, der kommt wie ’ne Welle, nee, eigentlich mehr wie ein Tsunami. Dabei schmeißt sich Ernst rücklings auf die Couch, Matthis lässt sich auf den Stuhl sacken, Hansi haut sich auf die Oberschenkel und geht in die Knie und Berti lehnt sich schräg an die Wand und reibt sich die Lachtränen aus den Augen.

Die Hose ist alles andere als knapp, mehr so Turnvater-Jahn-mäßig. Es handelt sich um eine Badehose, die den Schnitt einer Krachledernen hat, nur dass sie nicht aus Leder, sondern aus Mikrofaser ist. Die Nähte sind aufgedruckt, sie ist wasserabweisend und schnell trocknend.

»Ein fantastisches Material«, hat Bertis Oma gesagt, als er sich von ihr verabschiedet hat. »So was Schönes könnt ich auch mal gebrauchen.« Berti hat ihr nicht gesagt, um welches Corpus Delicti es sich handelt, er hat sie nur fühlen und bewerten lassen, um bei seinen Freunden mit seiner Oma punkten zu können. Sie ist nämlich mal Näherin gewesen und hat wohl schon jede Art von Stoff in der Hand gehabt. Das weiß er zwar nicht genau, aber das würde er sagen, falls es Widerstand geben sollte. Aber die Jungs behalten die Hosen tapfer an.

Berti hat die Hosen aus Gaudi gekauft, so als Überraschung für die Jungs. Sie wollen sich an der Nordsee entspannen und nicht alles so bierernst nehmen.

Die vier spielen in einer echt guten Blasmusikformation zusammen. Sie machen richtig bayrische Musik, so mit Blech, also Tuba, Trompete, Posaune, und Berti spielt Quetschkommode in jeder Größe und jeder Art. Das hat ihm sein Opa beigebracht, der Mann von seiner nähenden Oma.

Das gemeinsame Spielen macht Spaß, gute Laune, und die Lautstärke kommt prima rüber. Die vier haben jede Menge Fans, und ihre Konzerte sind für die nächsten Wochen ausgebucht. Da sie ein paar neue Stücke in ihr Programm aufgenommen haben, die Berti für die Gevatter Blechschuss, wie sie ja heißen, arrangiert hat, müssen diese noch geübt werden. »Desdawegen« hatte Berti die Idee für das Probenwochenende. Und weil man sie in Bayern und Umland so gut kennt, hat sich Berti gedacht, gehen sie eben dahin, wo keiner weiß, wer sie sind, nämlich an die Küste.

Die Ostsee soll rau sein, und da gibt es nicht ganz so tolles Watt, aber darauf hat Berti es abgesehen. Er will im Watt proben. Da, wo keiner ist, außer den kleinen Wattbewohnern und Möwen natürlich.

Also! Nachdem sich die vier Bazis nach ihrer Lachattacke wieder eingekriegt haben, schnappen sie sich ihre Instrumente und ihre grauen Sepplhüte und radeln los. Sie müssen ungefähr fünf Minuten am Deich entlangfahren, dann kommen sie zu einer super Wattstelle. Das hat Heiko gesagt, und er hat ihnen auch die Fahrräder gegeben.

Das sind so olle Dinger, viel zu niedrig und ohne Gangschaltung. Aber die vier Bazis finden sie klasse. Daheim wird auf Mountainbikes durch die Gegend gerast. Aber hier geht es eben langsamer und beschaulicher zu.

Da sie nun im Slalom um die Hinterlassenschaften der Schafe herumfahren müssen, wäre es ohnehin nicht viel schneller gegangen. Sie pfeifen sich eins und machen Country Viewing.

»Ja mei, is es hier scheeeeee.«

»Jo, nur die Berge sind net da.«

»Stell dir eben vor, die sind hinter einem Nebelschleier.«

»Da ist aber kein Nebelschleier, wir haben blauesten Himmel.«

»Mir fehlen die Berge.«, meint der Ernst.

»Nun wein doch nicht gleich.«, meint Berti.

Ernst schneidet Berti mit dem Fahrrad wegen seiner Bemerkung. Berti muss ausweichen und den Deich ein bisschen hinauffahren. Dabei flucht er, weil er fast gegen ein Schaf gefahren wäre, das sich dort sonnt. Hätte ja auch wie die anderen aufspringen und ausweichen können. Aber nein. Selbst bei Schafen gibt es Sturköpfe. Obwohl das ja bekannt ist. Ernst lacht, und auch Berti lacht und überlegt nun, wie er es Ernst heimzahlen kann.

Wart’s nur ab, kommt noch, denkt er.

Keine zwei Minuten später geht ein Weg schräg den Deich hinauf und auf der anderen Seite wieder hinunter.

»Dann noch so drei Minuten radeln, dann kommt ein Tor. Da müsst ihr durch. Und denkt daran, das muss wieder geschlossen werden«, hat ihnen Heiko als Hinweis mit auf den Weg gegeben.

Die vier denken daran. Sie bremsen vorm Tor wie die Irren, steigen ab, Tor auf, Tor zu, und dann legen sie die Räder am Deich ab.

»Mei, hier ist es aber wirklich hübsch«, sagt Matthis.

»Jo, da haste fei recht«, meint Hansi, und auch Berti stimmt ihm zu.

»Aber keine Berge sind da«, nörgelt Ernst und fängt sich einen strafenden Blick von Berti ein.

Genau so hat er sich das nämlich vorgestellt. Unendliche Weite, und kaum ein Wölkchen ist zu sehen. Das Watt ist breit und das Meer weit weg.

»Also gut«, meint Hansi, »wie hast du dir das denn jetzt gedacht, Berti?«

»Ja mei, passts auf. Wir machen unsere Koffer an den Rädern fest und gehen mit unseren Instrumenten raus ins Watt.«

»Aber net ganz bis zum Meer?«

Berti schaut hinaus zum Meer.

»Na, net ganz so weit. Das is scho klar. Mir ham ja auch auflaufende Flut. Hat der Heiko gesagt. Also, da dürfe ma net zu weit raus. Jetzt lassts uns halt einfach mal losgehen. Los, auf, kimmts mit.«

Gesagt, getan. Die vier schließen die Räder ab und machen ihre Instrumentenkästen daran fest. Dann stapfen sie in ihren feschen Badehosen los, Hansi mit T-Shirt, weil er so eine blasse Haut hat und sich nicht verbrennen möchte. Die anderen drei sind dick eingeschmiert, viel zu dick, man könnt meinen, sie haben eine zweite Haut aufgelegt, sie sieht so weiß und schmierig aus.

Nun gut. Die vier klettern geschickt die großen Steine am Wegesrand hinunter zum Watt. Der Steinstreifen ist ungefähr zwei Meter breit. Dann stehen sie auf hartem Sand.

»Ja, das ist ja ganz fest, das Watt, das habe ich gar nicht gedacht«, meint Ernst und schreitet voran. Allerdings verlangsamt er nach wenigen Metern sein Tempo, denn jetzt gibt es doch ganz schön nach, das Watt. Es ist in manchen Bereichen richtig schlickig, merken nun auch die anderen Jungs. Hansi bleibt als Erster stehen.

»Hier ist es schee, hier bleibe mir.«

Die drei anderen halten an und drehen sich um.

»Hier ist es so schee wie da drüben«, meinen Matthis und Ernst zugleich, dabei zeigt der eine nach links und der andere nach rechts. Aber Berti zeigt nach vorne.

»Kommt, Jungs, da vorne ist so ’n kleiner Tümpel, der glitzert so schön im Sonnenlicht, lassts uns dahin stellen.«

Die drei schauen sich an und nicken, nur Hansi zieht die Mundwinkel zu einer Fleppe, sagt aber nichts. Ob hier oder da spielt tatsächlich keine Rolle, nur das eklige Gestapfe durch das rutschige Watt ist lästig.

Berti denkt sich aber: Das ist gut für mein Großzehgelenk. Manchmal, eigentlich fast täglich, hat er Schmerzen darin. Das tut dann echt übel weh. So ’ne Schlickkur soll gesund sein.

Da fallen ihm die Worte »Fango« und »Tango« ein. Also, darüber muss er ein neues Lied schreiben. Da wird ihm ein guter Text einfallen. So ein bayrischer Tango, das wird was haben. Da ist er sich ganz sicher.

Als sie den Tümpel umgangen haben, stellen sie sich mit dem Rücken zur Sonne.

»Übrigens ist das kein Tümpel, vor dem wir stehen, sondern das da vor uns nennt man Priel. Das hat der Heiko gesagt. Wenn der Priel zu groß ist, soll’n wir bloß aufpassen und nicht zu weit rausgehen.«

»Schon gut, Ernst, nur keine Panik«, meint Berti. »Wie du siehst, sind da vorne unsere Fahrräder. Siehst die?«

»Jo.«

»Auf geht’s, Jungs«, meint Berti, »lasst uns den Almbrüller schmettern.«

Und schon geht es los. Das macht Fetz, und das hört man und würde man sehen, wenn man bei dem Spektakel dabei wäre. Die bayrischen Jungs mit ihren Badehosen und den grauen Sepplhüten spielen sich so in Begeisterung, dass sie gar nicht merken, wie die Zeit vergeht.

Unbewusst wandern sie mit der Sonne mit, damit sie nicht geblendet werden. Nur ein paar Schritte sind es, aber immerhin. Was sie auch nicht mitbekommen, ist, dass da was beziehungsweise wer, also jemand, von hinten angespült wird. Noch ist er recht weit entfernt.

Als sie ihr Programm fertig gespielt haben, sind sie ziemlich geschafft. So Blasmusik strengt an, da braucht man viel Luft. Das kostet viel Energie und ist gut für die Bauchmuskeln, wegen der Atemstütze, aber vor allem macht es Spaß.

Die vier sind in einer Art Rausch, musizieren macht high.

»Ja mei«, meint Hansi etwas erschöpft, »war’s das jetzt oder woll’n mir noch was spüln? Vielleicht …«

Aber die drei anderen Bazis wollen nicht mehr. Sie haben genug. Hansi schmerzt die Schulter vom Tubaheben, obwohl er sooolche Muckis hat. Aber auch Ernst tut was weh, nämlich die Lippen, und Matthis der Arm, weil er beim Posaunespielen immer den Arm so lang machen muss, wenn er den Zug rauszieht. Berti ist auch K. O. vom Quetschkommodespielen. Außerdem hat er so auf der Stelle mitgetanzt, dass es jetzt einfach genug ist. Seine Waden sehen ziemlich schlickverspritzt aus.

»Also mir reicht’s«, meint Berti, und die anderen nicken. »Dann lassts uns gehen. I könnt ma so ’n Busch gebrauchen.«

»I a«, meinen die anderen drei. Dann lachen sie.

»Hier ist aber kein Busch«, meint Berti und dreht sich um, ob da nicht doch noch irgendwo einer herumsteht. »Ja. gibt’s das? Da is ja das Meer, da vorne.«

»Oha«, meint nun Matthis.

»Und schaut, da schwimmt doch was im Wasser. Ist das ’ne Robbe?«

Die vier Bazis schauen das Etwas an, das da angetrieben kommt. Dann schauen sie einander an. Kann das sein? Aber sie sind doch nicht deppert! Oder haben sie einen Sonnenstich? Vielleicht ist das auch nur ’ne Fata Morgana.

»Kimmts, mir schauen nach«, sagt Berti. Er ist der Erste, der sich aus der Schockstarre löst.

»Der Heiko würde sagen: Fort mit euch, das Wasser kommt«, meint Hansi und will sich schon zum Gehen wenden.

Das Meer ist höchstens noch zehn Meter weg, und man kann regelrecht zusehen, wie es näher kommt.

»Hansi«, ermahnt ihn Ernst, »wir brauchen Gewissheit, verstehst?«

»Ja schon, aber wenn wir alle ertrinken?«

»Nu komm scho mit«, sagt Berti. »Wenns kommt, dann laufen mir.«

»Jo«, meint Hansi, »und das in dem schlickernden Watt da.«

»Wenns ihr weiterdiskutiert, kommt das Wasser eh«, mischt sich nun Matthis ein.

»Also gut«, meint Berti, »dann machen wir’s so. Der Hansi geht zurück und nimmt die Tuba mit und meine Quetschkommode. Und wir drei schauen nach.«

Hansi stimmt sofort zu. »Jo, so machen mirs.« Er schnappt sich die Quetschkommode, die ihm Berti hinhält, und hängt sich diese über die Schulter. Seine Tuba packt er sich auf die andere Schulter. Dann stapft er ziemlich langsam und schwerfällig los. Die drei anderen schauen sich an und wenden sich dem Meer und seinem Mitbringsel zu. Sie gehen ein Stück darauf zu. Was sie nun sehen, verschlägt ihnen nahezu die Sprache.

»Brat mir doch einer einen Storch«, flüstert Berti, ihm bleibt der Mund offen stehen. »Das ist …, das ist keine Robbe … das ist …«

»… eine Leiche«, vollendet Matthis Bertis aufgeregtes Gestammel.

Kapitel 5

Die Tür der Pension Zur Goldenen Möwe geht auf, und herein tritt das hübsche Fräulein mit den langen Beinen. Die junge Dame hat einen Spaziergang hinterm Deich gemacht. Zum Spazierengehen ist heute bestes Wetter, kaum Wind und herrlicher Sonnenschein.

Beim genauen Hinsehen kann man bemerken, dass ihre Beine leicht rot gefärbt sind. Die Sonne ist eben ungnädig und Lichtschutzfaktor zwanzig nicht ganz ausreichend.

Es wundert sie ein bisschen, als sie die beiden Männer noch immer am Tresen sitzen sieht. Haben die denn gar nichts zu tun? Immerhin sind sie doch Einheimische und keine Urlauber. Seltsam.

Als sie sich etwas erschöpft setzt, rutscht ihr kurzer Rock ein bisschen nach oben. Nun kann man einen leichten Röterand erkennen, also Bein zartrot und etwas höher kreidebleich. Sie hat recht empfindliche Haut, das liegt in der Familie, das hat auch ihr Bruder geerbt.

Es gelüstet sie nach einem warmen, kräftigen Kaffee. In dem Moment, als sie Oma Else erblickt und einen solchen bestellen will, verlässt diese den Raum, und bei dem einen von den beiden, die da am Tresen sitzen, klingelt das Handy.

Der Mann nimmt das Gespräch entgegen. »Hier Hinercks.«

Kaum dass am anderen Ende etwas gesagt wird, springt er von seinem Hocker auf. Er taumelt etwas und muss sich am Tresen festhalten, um wieder ins Gleichgewicht zu kommen.

»Nein«, brüllt er, »eine Leiche? Hier bei uns? Das gibt es nicht!« Dann beendet er das Gespräch.

Jetzt kichert er, es klingt ziemlich hysterisch und alkoholisiert. Er wischt sich die Lachtränen aus den Augen.

»Ich glaub’s nicht. ’ne Leiche, das ist lächerlich. Bei uns gibt es doch noch nicht einmal ein totes Schaf.«

Als er sich langsam wieder einkriegt, klingelt sein Handy erneut. Hinercks schaut Helge erstaunt an.

»Nu geh schon dran«, meint dieser hektisch.

»Wenn du meinst …« Hinercks drückt den grünen Knopf und hält sich das Handy ans Ohr. »Hmm«, sagt er, »hmmm.« Dann schaut er sein Handy an. Er hebt gerade den Zeigefinger, um das Gespräch zu beenden. Doch da nimmt ihm das hübsche Fräulein von hinten einfach das Handy aus der Hand.

»Darf ich?«, fragt sie nur und hält ihm mit der anderen Hand ein Etui mit irgendetwas vor die Nase. Hinercks will lautstark protestieren, gerne möchte er an ihrem Rock rupfen, um die Herausgabe seines Handys zu fordern. Aber sie lässt sich nicht beirren, sondern führt sein Gespräch einfach weiter. Eigentlich hört sie sich nur an, was am anderen Ende gesprochen wird.

Unverschämt, denkt Hinercks und macht einen mutigen Schritt auf sie zu und einen langen Arm. Aber sie hört unbeirrt dem Anrufer zu und stößt Hinercks mit ihrem spitzen Schuh gegen das Schienbein, um ihn sich vom Leibe zu halten.

»Autsch!«, ruft Hinercks. Oh, er ist so voller Wut! Was fällt dieser hübschen, blöden Schnepfe bloß ein? Wie kann sie sich ihm gegenüber, einem Polizisten, nur so frech verhalten?

Aber nun besieht er sich das Etui mit dem glänzenden Etwas mal genauer, und jetzt bemerkt er, dass es eine Polizeimarke ist, die sie ihm vor die Nase hält.

»Gut«, sagt sie nun ins Handy. »Ich komme, ja. Und ich bringe den Kollegen mit.« Dabei schaut sie Hinercks skeptisch an. Dann hört sie dem Anrufer wieder zu. Er scheint zu schimpfen, zumindest ist er wohl ziemlich aufgeregt.

»Nun beruhigen Sie sich doch!«, versucht es die Dame. Aber dann scheint er aufgelegt zu haben, denn sie nimmt das Handy vom Öhrchen, ohne ein weiteres Wort zu sagen.

Die ist ’ne Nummer zu hübsch