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Moonlight Romance
– 3 –

Die Toten aus dem Moor

… denn der Schatz des alten Argyle war verflucht

Susan Lennox

Impressum:

Epub-Version © 2019 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: http://www.keltermedia.de

E-mail: info@kelter.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74092-887-2

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Gwen blickte wie ein gehetztes Tier über die linke Schulter. Sean hatte den Stuhl mit dem Bein beiseite geschoben und kam hinter ihr her. »Nein!«, rief er, doch da hatte Gwen die Eingangstür bereits aufgerissen. Und noch während sie einen spitzen Schrei ausstieß, war es ihr, als würde sie aufhören zu atmen. Vor ihr stand ein Mann, der gerade die Faust erhoben hielt, um erneut an die Tür zu schlagen. Sein Kopf war nach vorn gebeugt, so dass der Blick aus seinen müden Augen Gwen von unten her streifte und den Eindruck erweckte, er würde etwas Böses im Schilde führen. Die Schultern des Mannes hingen schlaff herab, genau wie der Rest des Körpers auch durch seine fehlende Straffheit auffiel. Das dunkle Haar klebte nass am Schädel. Von Stirn, Nase und Kinn tropfte Wasser. Doch Gwen wusste, dass es nicht nur Regenwasser war, das sich um die schweren Schuhe des unheimlichen Mannes zu einer Pfütze zusammenschloss. Die Algen an seinen Beinen und an den Handgelenken verrieten es Gwen. Genau wie die Spuren von Schlamm, die über den ganzen Körper verteilt waren. Vor ihr stand eine Moorleiche.

»Wir hätten die andere Abzweigung nehmen sollen.«

Gwen sagte diese Worte so, als trügen sie das Unheil schon in sich. Sie wischte mit der Handfläche die beschlagene Scheibe des kleinen Mietwagens frei und blickte hinaus. Der Himmel war grau und regnerisch. Über die weitläufigen Grashügel der östlichen Ausläufer der Cairngorm Mountains zogen tief hängende Wolken. Erst war es nur ein schwacher Nieselregen, doch bald schon fielen dickere Tropfen und machten die erdige Landstraße matschig und morastig.

Martin Wilkens fluchte derb. Der groß gewachsene, junge Mann mit dem braunen, ewig unfrisierten Haar stieg wieder ins Auto und setzte sich auf den Fahrersitz. Regenwasser tropfte von seinen Schultern und befeuchtete das Sitzpolster.

»Der Regen wird immer schlimmer«, murrte er. »Und der Himmel scheint in schwarze Tinte getaucht worden zu sein. Ich habe nicht weit sehen können.«

»Glaubst du, wir sind noch auf der richtigen Straße, um nach Braemar zu kommen?«, fragte Gwen.

Martin zuckte mit den Schultern. Es war Ende März, und das Wetter wollte einfach nicht besser werden. Aber Martin hatte es gleich geahnt, dass der kleine Urlaubstrip tief nach Schottland hinein, den er und seine Schwester spontan in Angriff genommen hatten, nun mal kein Badeurlaub werden würde. Dafür bot die Schwemmlandebene in den Cairngorm Mountains einfach zu wenig Sandstrände, hatte er schon vor der Abfahrt aus Liverpool in seiner typisch sarkastischen Art gesagt.

Gwen Wilkens strich sich mit einer Hand durch ihr dunkelblondes, schulterlanges Haar, dessen Stirnfransen ihr immer wieder ungebändigt ins Gesicht fielen. Sie war schlank ohne zerbrechlich zu wirken und besaß eine hübsche Figur, für die sie keinerlei Sport treiben brauchte, was ihr von einigen Freundinnen durchaus auch neidvolle Blicke einbrachte. Sie hatte grünbraune Augen, in denen stets eine Mischung aus Energie und Melancholie zu erkennen war, und je nach ihrer Gefühlslage gewann mal das Eine, mal das Andere die Oberhand und bestimmte ihr Handeln. Sie hockte auf dem Beifahrersitz, hatte die Hände auf den Schoß gelegt und starrte auf den schmalen Fluss, der über sein Bett getreten war und nun ein breites Stück der Landstraße überflutete. Matsch führte mitten in eine tiefe Wasserpfütze hinein, deren Ausmaße längst den eines mittelalterlichen Burggrabens erreicht hatte. Durch die starken Regenfälle der vergangenen Tage war das Wasser schmutzig und schlammig. Losgerissene Zweige und vom Wind getragene Blätter trieben darin, wirbelten manchmal in einem Strudel, bevor sie weitergerissen wurden.

»Siehst du auch nicht, was ich nicht sehe?«, maulte Martin Wilkens.

»Was meinst du?«

»Keine Brücke«, sagte Martin. »Ich sehe keine Brücke, die über den Fluss führt. Nicht einmal eine aus Holz, die weggespült worden wäre.«

Gwen verzog den Mund zu einem schwachen Lächeln. Sie konnte den Unmut ihres um zwei Jahre älteren Bruders verstehen, aber sie selbst hielt sich nicht lange damit auf, sich zu ärgern. Warum mit etwas hadern, was sich nicht ändern ließ? Und Einfluss auf das Wetter hatten weder Gwen noch Martin.

»Wir hätten die andere Abzweigung nehmen sollen«, sagte sie noch einmal.

»Du meinst die, wo der umgestürzte Baumstamm die Weiterfahrt versperrte? Ich hätte ja nur bei strömendem Regen den Baumstamm zur Seite zerren brauchen und wäre nass bis auf die Knochen geworden.«

»Da hat es noch nur genieselt.«

»Nass wäre ich trotzdem geworden.«

»Früher oder später blüht uns das sowieso«, mutmaßte Gwen. Sie klopfte mit dem Zeigefinger auf die Armaturen. Die Nadel der Tankanzeige schwankte in den roten Bereich hinein.

»Mist«, fluchte Martin erneut. »Der Händler, von dem wir diesen Wagen extra für diese Tour gekauft haben, hatte gesagt, dass der Tank bis zum Rand gefüllt ist.«

»Laut Anzeige war er das wohl auch. Ich vermute aber mal, dass die Anzeige genauso defekt ist wie die Heizung. Die Nadel springt ständig hin und her, als wäre sie besoffen.«

Gwen fror seit Stunden. Der kleine Wagen schien löchrig wie eine jahrhundertealte Ruine zu sein, so stark pfiff der Wind durch alle Ritzen. Hinzu kam, dass sich ihr Seitenfenster nicht ganz schließen ließ, sodass durch den schmalen Spalt unaufhörlich der immer stärker werdende Regen hineinspritzte.

»Was schlägst du vor, Schwesterherz?«

»Ach, jetzt soll ich plötzlich eine Lösung parat haben?«

»Hast du doch sonst auch immer.«

»Schon, aber du willst sie meistens nicht hören.«

»Meistens sind wir ja auch nicht in der schottischen Wildnis, bei Unwetter und hereinbrechender Dunkelheit.«

»Habe ich dir eigentlich schon mal die Geschichte von dem Werwolf erzählt?«, meinte Gwen mit schelmischem Grinsen, das ihr kleine Grübchen in die Wagen zauberte. »Ich meine, die Geschichte, die genau in dieser Region hier spielt? In der Moorlandschaft des River Dee?«

Martin mochte solche Schauergeschichten gar nicht gern, und er hatte es seiner Schwester schon häufig zu verstehen gegeben, dass er sie noch weniger in solch misslichen Situationen hören wollte. Aber Gwen machte es gehörig viel Spaß, ihrem Bruder ein bisschen Angst einzujagen. Immer tat Martin so abgeklärt und vermittelte ihr das Gefühl, sie mache sich das Leben doch nur selbst schwer, dass Gwen es mit der genüsslichen Genugtuung, die es unter Geschwistern gab, von Zeit zu Zeit gerne sah, wenn auch Martin ins Schwitzen kam. Doch diesmal hatte sie kaum ausgesprochen, da bereute sie es auch schon, denn die Landschaft war bei diesem tiefgrauen Unwetter gruselig genug, um auch ihre eigene Fantasie anzukurbeln.

»Jedenfalls kommen wir hier nicht weiter«, sagte Martin.

»Drehen wir also um und fahren zurück, solange die Landstraße nicht vollends im Matsch versunken ist.«

Martin seufzte. »Ich fürchte, wir werden mitten auf der Strecke liegen bleiben.«

»Also, was schlägst du vor?«

»So weit zu fahren, wie wir kommen. Und dann die Nacht im Auto verbringen, um morgen früh zu Fuß zu einer Tankstelle zu laufen.«

»Die Nacht im Auto?« Diese Aussicht war für Gwen gruseliger als die Werwolfgeschichte.

Martin zuckte mit den Schultern. »Eine andere Idee habe ich momentan nicht.«

»Na schön, fahren wir, solange wir noch können.«

Martin würgte den Rückwärtsgang hinein, wendete den Wagen und fuhr den Weg zurück, den sie gekommen waren. Der Regen prasselte laut und in dicken Tropfen gegen die Windschutzscheibe. Die Scheibenwischer hätte Martin auch ebenso gut ausschalten können, denn sie bewältigten die Wassermassen, die von oben herunterschütteten, kaum noch ausreichend genug, um die Landstraße vor ihnen erkennen zu können. Zum Glück war es eine wenig befahrene, sehr abseits gelegene Straße, sodass nicht mit Gegenverkehr gerechnet werden musste, der bei dieser undurchdringlichen Dunkelheit erst im letzten Moment hätten festgestellt werden konnte.

»Fahr bitte langsamer«, mahnte Gwen.

»Wenn ich noch langsamer fahre, dann schiebt uns der Wind wieder zurück«, entgegnete Martin.

Dennoch drosselte er das Tempo. Er folgte den Ratschlägen seiner Schwester meistens, auch wenn er ihr zuerst regelmäßig Widerworte gab. Es war mehr der innere Zwang, sich nichts vorschreiben zu lassen, als mangelnde Einsicht, dass Gwens Ratschläge ganz brauchbar sein konnten. Für eine Frau, so dachte Martin, ganz besonders für seine Schwester. Aber zurzeit wollte er ihr nicht zusätzlich noch eine Nervenbelastung sein, wenn er immer wieder und mit einer Freude am Dagegensein ihre Ratschläge als unwichtig abtat. Gwen hatte genug zu knabbern im Moment.

»Willst du reden?«, fragte er plötzlich, und als er das sagte, klang er sehr einfühlsam. Auch so konnte der junge Mann sein. Das war seine andere Seite, nicht die des Verweigerers, der sein Studium in Liverpool gerne hinauszögerte, um noch kein vollwertiges Mitglied der arbeitenden Gesellschaft werden zu müssen.

Gwen reagierte nicht sofort, obwohl sie ihn gut verstanden hatte. Der Regen prasselte zwar unverschämt laut gegen die Windschutzscheibe, aber Martin hatte klar und deutlich genug gesprochen.

»Worüber?«, wich sie aus, um ein wenig Zeit zu schinden.

»Du weißt schon«, sagte Martin, »über ihn.«

Gwen saß auf dem Beifahrersitz und rührte sich nicht. Sie versuchte, so unbeteiligt wie möglich auszusehen, doch wer sie genau betrachtete, erkannte, wie verkrampft sie dasaß.

»Nein, will ich nicht«, sagte sie schließlich und war froh, ihre Stimme einigermaßen im Griff zu haben. Wenn sie nur an ihn dachte, konnte sie entweder ein infernalischer Schreikrampf oder ein wasserfallähnlicher Weinkrampf befallen. Beides war eindeutig zu viel Krampf und nicht erstrebenswert.

»Ich dachte nur«, sagte Martin.

»Brauchst nicht zu denken, das verursacht Kopfschmerzen.«

»Ich dachte nur, dass dieser Kurztrip auch dazu dient, um über ihn zu sprechen«, sagte er. »Um alles zu verarbeiten, was in den letzten Monaten geschehen ist.«

Gwen seufzte. »Vielleicht irgendwann einmal in den nächsten zehn Tagen, aber vorläufig dient diese Fahrt in erster Linie dazu, ein Abenteuer zu erleben.«

»Oho.« Martin pfiff anzüglich. »So kenne ich dich gar nicht. Ich lerne doch immer wieder etwas Neues über meine Schwester kennen.«

»Mit Abenteuer meine ich die herrliche Landschaft Schottlands«, rechtfertigte sich Gwen ohne Not, weil sie bemerkte, wie missverständlich ihre Aussage gewesen war.

Martin lachte auf und zeigte mit der Hand zur Windschutzscheibe, auf der alles verschwamm, was Konturen besaß, und die Schwärze der Nacht sogar das spärliche Licht der Scheinwerfer verschluckte.

»Meinst du etwa diese Schönheiten?«

»Du weißt, was ich meine. Jedenfalls möchte ich mich einfach nur erholen.«

»Mit oder ohne einem Mann aus den Highlands?«, feixte Martin.

»Seit wann bedeuten Männer denn Erholung?«, konterte Gwen.

»Also ich bin eigentlich nur mitgekommen, weil ich auf eine Gelegenheit mit einer süßen Schottin hoffe«, sagte Martin mit einem Augenzwinkern.

»Wusste ich es doch«, entgegnete Gwen. »Mein Seelenheil ist dir nicht so wichtig wie ein flüchtiges Abenteuer im Urlaub.«

»Ganz genau, du hast mich durchschaut.«

Martin lachte und erhielt einen sanften Ellbogenstoß seiner Schwester.

Gwen war dankbar, dass ihr Bruder auf diese Reise mitgekommen war. Und auch wenn Martin häufig so einen Blödsinn schwafelte, so wusste sie doch ganz genau, dass er nur aus Sorge um sie mitkam und nicht um einen Vergleich zwischen Liverpool-Girls und Schottenröcken anzustellen. Na ja, nicht nur, zumindest.

Aber sie selbst hatte vorläufig die Nase von Beziehungen voll. Gut, auch das stimmte nicht ganz. Von schlechten Beziehungen hatte sie genug. Von einer guten würde sie nicht genug bekommen können. Ein feiner Unterschied, aber entscheidend. Vor allem für Gwen. Die vergangenen fünf Jahre hatte die Sechsundzwanzigjährige in einer, wie sie immer geglaubt hatte, harmonischen und in allen Belangen sehr glücklichen Beziehung mit Stephen gelebt. Bis sie vor wenigen Wochen dahinter gekommen war, dass Stephen so eine Art Doppelleben führte. Neben Gwen hatte er noch eine ›feste Freundin‹, und das schon seit über vier Jahren, also beinahe die gesamte Zeit mit Gwen zusammen. Als Gwen das herausfand, dachte sie, ihr würde der Boden unter den Füßen weggezogen. So etwas hörte man doch nur von anderen, das passierte einem nicht selbst. Und nun musste Gwen feststellen, dass sie zu dem Kreis der Betrogenen gehörte. Sie fühlte sich nicht nur unendlich schwach und gedemütigt, sondern auch leer und mutlos, was die eigene Zukunft betraf. Von der Bitterkeit, die sie aushöhlte, ganz zu schweigen.

Die zehn Tage Schottland-Rundfahrt mit Martin zusammen kamen Gwen da gerade recht. Liverpool hinter sich lassen und statt in üblen Erinnerungen baden lieber über grüne Hügel und sumpfige Landschaften fahren, faszinierende Seen und Dörfer besuchen und einen Menschenschlag kennen lernen, von dem sie bisher das wusste, was aus den erzählten Witzen bekannt war.

Auf andere Gedanken kommen. Gwen lächelte schwach, als sie an diese Floskel dachte. Das war leichter gesagt, als getan. Aber sie gab sich Mühe.

Der kleine Wagen fuhr durch aufgeweichten Boden. Manchmal drehten die Räder durch, so dass der Wagen kurz stehenblieb und nur mit einem mühevollen Ruck wieder vorsprang.

»Siehst du eigentlich noch ge­nug?«, fragte Gwen.

Martins Nase klebte dicht an der Windschutzscheibe. Er nickte konzentriert, was man so oder so deuten konnte.