Autor:

Evan Charteris

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Ho-Chi-Minh-Stadt, Vietnam

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ISBN: 978-1-68325-632-8

Evan Charteris

 

 

 

John Singer

SARGENT

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Inhalt

Kindheit und Jugend

Aufbruch nach Paris

Sargent in England

Die 1890er Jahre

Sargents späte Porträts

Sargent und der Erste Weltkrieg

Der Porträtist der oberen Zehntausend

J. S. S. – IN MEMORIAM Von Vernon Lee

Biografie

Abbildungsverzeichnis

Selbstbildnis, 1906. Öl auf Leinwand, 70 x 53 cm. Galleria degli Uffizi, Florenz.

Kindheit und Jugend

John Singer Sargent wurde am 12. Januar 1856 in der Casa Arretini in Florenz geboren. Das Haus stand am Ufer des Arno, nur einen Steinwurf von der Ponte Vecchio entfernt. Am anderen Ufer ragte eine Reihe von Häusern empor, deren Mauern, ihres Alters wegen bernsteinfarben eingefärbt und mit rotbraunen Dächern gekrönt, hier und da die schimmernden Farben des Flusses trugen. Über ihnen erhoben sich der Bellosguardo, der Monte Alle Croci und weiter gen Osten die äußeren Ausläufer der Apenninen.

Europa besaß in diesen Zeiten für Amerikaner einige Anziehungskraft. Ebenso wie noch im 17. Jahrhundert der Strom von Osten nach Westen führte, hatten sich die Verhältnisse nun, zweihundert Jahre später, ins Gegenteil verkehrt und die Bewohner der neuen Welt drängten, unter völlig anderen Voraussetzungen, in entgegengesetzter Richtung über den Großen Teich. Befeuert durch das Verlangen, bis zu den Ursprüngen der eigenen Kultur vorzudringen und die Wurzeln künstlerischer Inspiration zu erforschen, hatte diese beständige Pilgerschaft eingesetzt, die, wenngleich nicht immer mit denselben Motiven, noch bis weit ins 20. Jahrhundert hineinreichte. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts hatten die Vorreiter dieser Bewegung ihr Werk jedoch weitestgehend getan. Von den Traditionen, Institutionen und Brauchtümern Europas war mannigfach berichtet worden.

Die Migration nach Europa also war zur damaligen Zeit bewährte Praxis. Die Zustände in Rom und Florenz kündeten bereits hinreichend von der amerikanischen Einreisewelle. Die Familie Sargent reiste daher als ein wohlbekannter Typus von Pilgern von der anderen Seite des Atlantiks in die alte Welt ein. Ein endgültiges Zuhause sollte sie dort allerdings erst sehr viel später finden. Der Kontinent verleitete sie mit seinen vielfältigen Reizen für viele Jahre zu Rastlosigkeit und steter Bewegung. Die Familie bereiste auf ihrer Wanderschaft, eines nach dem anderen, Florenz, Rom, Nizza, die Schweiz, die Heilbäder Deutschlands, Spanien, Paris, Pau, London und wieder Italien.

Ein Brief, den sein Vater Fitzwilliam Sargent an dessen Eltern sandte, erhellt die Umstände der Erziehung John Sargents:

Dem Jungen (John) geht es ausgezeichnet. Ich kann nicht behaupten, er sei ein Büchernarr. Wenngleich er recht gut liest, zieht er den Büchern die Spiele vor. Und darin, muss ich sagen, zeigt er eine gute Gesinnung. Ich habe ihn gerade für eine halbe Stunde zum Lesen geschickt, um ihn, sozusagen, in Schuss zu halten, und ich will ihn bald auf einen Spaziergang durch die Hügel schicken. Ich denke, seine Muskeln und Knochen sind für ihn in seinem Alter von größerem Gewicht als sein Kopf. Ich darf wohl sagen, dass der Letztere sich von ganz allein entwickeln wird. Ich versorge ihn so gut wie möglich mit interessanten Büchern über die Geschichte der Natur, für die er einige Neugier hegt, mit wohlgezeichneten Bildern von Vögeln und Tieren, mit einer hinreichenden Menge an Text, um in ihm Interesse zu wecken usf. Er ist, was man einen aufmerksamen Beobachter der belebten Natur nennen müsste, sodass er durch sorgfältigen Vergleich dessen, was er sieht, und dessen, was er in seinen Büchern liest, fähig ist, Vögel voneinander zu unterscheiden, die ihm auf seinen Wegen begegnen. Wie du siehst, kann ich so sein Gedächtnis, seine Beobachtungsgabe und sein Unterscheidungsvermögen schulen, ohne ihm dabei das unerfreuliche Gefühl zu geben, er studiere, was einem Kinde nicht angenehm sein kann.

Wir besorgen ihnen allen (den Kindern) hübsche kleine Bücher mit Bibelgeschichten, damit sie in der Theologie wohlunterrichtet sind. Ich habe sie noch nicht den Katechismus gelehrt, wie es mir jemand anempfohlen hat. Ich kann mir kaum etwas Stumpferes und Trübseligeres für ein kleines Kind vorstellen als regelmäßig über den Katechismus unterrichtet zu werden. (…) Ich gebe zu (und ich hoffe, damit niemanden zu verletzen), dass ich selbst nicht fähig bin, exakt auf die Fragen des Katechismus zu antworten. Mir ist kein eintönigeres Buch bekannt.

1862 lebte die Familie in Nizza in der Maison Virello, Rue Grimaldi. Sein Patriotismus ließ in Fitzwilliam Sargent den Entschluss heranreifen, seinen Sohn zur Navy zu schicken. Die Ankunft der Kriegsschiffe der Vereinigten Staaten in Nizza gab ihm die Gelegenheit, das Interesse des Jungen für die Seefahrt auf die Probe zu stellen. Es stellte sich heraus, dass dieser sehr viel mehr Enthusiasmus fürs Zeichnen der Schiffe als für technische Details aufbrachte. In ihm loderte bereits das Feuer, Eindrücke festzuhalten und ihnen Ausdruck zu geben. Jeder Tag regte seine Beobachtungsgabe und sein natürliches Talent mehr an.

Im Mai 1868 war die Familie in Spanien und bereiste Madrid, Valencia, Cordóba, Sevilla und Cádiz. Von Cádiz aus schifften sie sich nach Gibraltar ein und wurden während der Reise von einem Sturm überrascht. Das Schiff war in höchster Not, John Sargent jedoch scheint in seiner Kindheit Gefahren ebenso unerschrocken begegnet zu sein wie in seinen späteren Jahren. In Spanien erwarteten sie große Hitze und geradezu unappetitliche Wirtshäuser. Die Festung von Gibraltar hinterließ mehr Eindruck bei dem Jungen als die Szenerie und jene spanischen Galerien, die seinen Stil und seine Kunst bald darauf so nachhaltig beeinflussen würden.

Urnersee, Brunnen, 4. Juni 1870. Aus dem Schweizer Skizzenbuch von 1870. Aquarell, Gouache, und Graphit auf weißgrauem Velinpapier, 20,3 x 28,3 cm. The Metropolitan Museum of Art, New York.

Skizze aus dem Skizzenbuch „Splendid Mountain Watercolours, 1870. Verschiedene Medien auf weißgrauem Velinpapier, 27,6 x 40,6 cm. The Metropolitan Museum of Art, New York.

Den Sommer verbrachten sie in der Schweiz und in Mürren machten sie Bekanntschaft mit dem späteren Mitglied der Königlichen Akademie Joseph Farquharson. Dies war der Beginn einer Freundschaft, die bis zum Tode Sargents fortleben sollte. Farquharson, einige Jahre älter als Sargent, war beeindruckt von der Begabung des Jungen und gab ihm eine erste Unterrichtsstunde im Zeichnen von Köpfen. Mürren war nur eine von vielen Stationen der Sargents. Mrs. Sargent, von einer unstillbaren Lust am Reisen angetrieben, war es gelungen, den Rest der Familie zu überzeugen, dass es wirtschaftlicher sei, den Wohnort regelmäßig zu wechseln als sesshaft zu werden. Diese Rastlosigkeit war also kein Ausdruck eines unruhigen Geistes, sondern beruhte sowohl auf ökonomischen Gründen als auch auf Wissensdurst und Neugierde.

Den Winter 1868-1869 über lebten sie in Rom in direkter Umgebung der Trinità dei Monti und ebendort nahm Sargents Leben seine entscheidende Wendung. Jeder einzelne Tag hatte seine Liebe zur Kunst wachsen lassen. In Rom nun erkannte Carl Welsch, ein lange vergessener deutsch-amerikanischer Landschaftsmaler, die zeichnerische Begabung des Jungen und nahm sich seiner an. Er lud ihn ein, ihn in seinem Atelier zu besuchen und dort zu arbeiten. Von da an pflegte Sargent die Morgenstunden mit dem Kopieren der Aquarelle Welschs zu verbringen.

Das nähere Umfeld der Sargents kam kaum umhin, das außerordentliche Talent des Jungen zu bemerken. Mehr und mehr gaben sie ihrer Anerkennung Ausdruck. Während Sargents Mutter ihren Sohn jedoch darin unterstützte, akzeptierte sein Vater dessen Neigung nur widerwillig. Die Idee einer Seefahrerkarriere wurde zuerst zurückgestellt, dann unwiderruflich aufgegeben. Man einigte sich, dass er von nun an ernsthaft auf eine Künstlerkarriere hinarbeiten sollte. Währenddessen änderten sich auch seine Lehrer mit jedem Ortswechsel. Die Fächer Griechisch, Latein und Mathematik, das traditionelle Curriculum, wurden durch Musik und Fremdsprachen ersetzt, in denen er sich schnell hervortat.

Sargent, mittlerweile dreizehn Jahre alt, verschrieb sich ganz dem Künstlerberuf und war tagein, tagaus mit dem Zeichnen beschäftigt – er beobachtete und machte sich Notizen, bevor er an die Arbeit ging, brütete über seinem Entwurf, hob von Zeit zu Zeit den Kopf und hielt die Zeichnung hoch, um sie besser beurteilen zu können. Die Zeichnungen zeigten für sein Alter eine enorme künstlerische Reife, nicht im Hinblick auf seine Fantasie, sondern als wirklichkeitsgetreue Nachbildung dessen, was ihm vor Augen stand. Er zeichnete, was immer sich ihm darbot, sorgte sich niemals darum, besondere Motive zu finden, sondern genoss das schiere Nachbilden dessen auf Papier, was er sah. Er scheint im Knabenalter niemals „aus dem Gedächtnis heraus“ gezeichnet zu haben. Den üblichen Fantasien aus Geschichte und Mythologie, denen sich auch die ernsthaftesten Künstler in ihrer Jugend nicht entziehen konnten, widmete er offenbar keine Aufmerksamkeit. Er war weit mehr von den Dingen um ihn herum eingenommen, der Schatten eines Oleanders auf einer Wand, die Haltung eines Mitreisenden in einem Eisenbahnwaggon, die Bronzefiguren am Grab von Kaiser Maximilian in Innsbruck, eine Kutsche, eine Statue oder ein Architekturdetail, kurz: jede Einzelheit der sichtbaren Welt.

Den Winter verbrachte die Familie in der Via Solferino in Florenz. Hier führte Sargent seine Studien in einer von Monsieur Domengé, einem politischen Flüchtling, geführten Tagesschule fort. Nach den üblichen Sommerwanderungen kamen die Sargents im Winter 1870 erneut nach Florenz, diesmal lebten sie in der Via Magenta. Die anglo-amerikanische Gemeinde war erheblich angewachsen, darunter auch Arthur Lemon und Heath Wilson. Das Haus der Sargents wurde regelmäßig zum Treffpunkt der englischsprachigen Einwanderer. Zwei der Kinder der Familie waren gestorben, Mary Newbold 1853 und Mary Winthrop 1865. John wurde so zum ältesten Geschwisterteil. Ein fünftes Kind, Violet, die späterhin einen gewissen Mr. Ormond heiratete, war im Februar 1870 in Florenz geboren worden. Es blieben also drei Kinder: John, Emily und Violet.

Mrs. Sargent konnte nun die künstlerische Ausbildung ihres Sohnes forcieren, die Entscheidung war gefallen. Er trat in die Academia delle Belle Arti ein, wo er bald herausragte und den jährlichen Preis gewann. Im Frühling, wenn er keinen Unterricht hatte, ging er mit seiner Mutter hinaus, um in der Nachbarschaft, im Boboli-Garten oder in den Gutshöfen von Fiesole zu zeichnen, in den Tälern und Abhängen, die sich von den Bergen zum Flachland winden und überschlagen, oder unter den Olivenbäumen und Zypressen zu ihren Füßen. Die Inspiration durch seine Mutter, ihre leitende Hand und ihr eigenes Geschick im Zeichnen stimulierten ihn und trieben ihn an. Sie überschüttete ihn förmlich mit Zuneigung und Ermutigungen. Sie war ein Muster an Aktivität und Gründlichkeit, ein anregendes Wesen, entschlossen, der Begabung, die sie in ihrem Sohn entdeckte, alle Unterstützung zuteilwerden zu lassen, die sie ihr geben konnte. Nicht genug damit, dass sie die Idee der Seefahrerkarriere rundheraus abgewiesen hatte – sie musste der Richtungsänderung, für die sie verantwortlich war, nachträgliche Rechtfertigung verschaffen und ihren Mann mit der hingebungsvollen Leidenschaft seines Sohnes für die Kunst versöhnen.

Tiroler Schrein, 1871. Aquarell und Graphit auf weißem Velinpapier, 17,1 x 25,4 cm. The Metropolitan Museum of Art, New York.

Schiffsdeck im Mondschein, 1876. Aus einem Skizzenbuch. Aquarell auf weißgrauem Velinpapier, 22,9 x 29,8 cm. The Metropolitan Museum of Art, New York.

Aufbruch zum Fischfang, 1878. Öl auf Leinwand, 78,7 x 122,9 cm. National Gallery of Art, Washington, D.C.

Zu dieser Zeit war Sargent groß für seine dreizehn Jahre, von schmaler Statur und warmem Teint. Sein Haar war dunkel, in seinen Augen lag ein munterer und freundlicher Ausdruck, sein Gang war flott und entschieden und er brach leicht in Lachen aus. Er war bereits ein unbezähmbarer Arbeiter, mit einer milden Gesinnung voller Güte und gutem Willen ausgestattet. In ihm schlummerte ein hitziges Temperament, eine gewisse Kampfeslust, die nicht so tief in ihm verborgen lag, dass sie nicht jederzeit hätte geweckt werden können. Dieser militante Geist konnte bei ausreichender Provokation jederzeit an die Oberfläche gelangen und sollte ihm schließlich sogar Konflikte mit dem Gesetz einhandeln.

Im Winter 1871-1872 lebten die Sargents in Dresden, im Sommer 1872 führte sie ihr Hin und Her in einige Urlaubsorte in der Schweiz und in Tirol. Schon im Herbst kehrten sie nach Florenz zurück und bezogen ein Haus in der Via die Serragli. Edward Clifford besuchte in diesem Winter die Stadt und wie jeder, der Sargents Werke zu Gesicht bekam, erkannte er darin dessen außergewöhnliches Talent. Es war bereits mehr oder weniger eine ausgemachte Sache, dass Sargent in Paris studieren sollte. Clifford sprach sich dagegen aus und bat darum, Sargent nach London zu schicken. Im damaligen England stand das Ideal der Achtbarkeit über allem, Paris und Achtbarkeit hingegen galten als schlechterdings unvereinbar. Das Studium der französischen Kunst bedeutete Montmartre und Quartier Latin, und wenn es im alltäglichen Leben von Paris düstere Seiten gab, so war das Studentenleben der Gipfel aller schädlichen Einflüsse. Sich hier an einer künstlerischen Ausbildung zu versuchen, war im Hinblick auf die eigene Karriere ein einziges Vabanquespiel. Dies war die Ansicht von Edward Clifford und er verkündete sie den Sargents mit der Inbrunst eines Propheten. Er bot die Sicherheit seines eigenen Ateliers als Alternative an. Er sprach eloquent über die Vorteile einer behütenden Ausbildung in England. Seine Bitte war aufrichtig und offenbarte den Eifer puritanischen Glaubens. Die sogenannten „Wicked Nineties“ waren noch weit entfernt.

Die Wahl lag also zwischen London mit seinem soliden Ruf und seinem künstlerischen Ambiente, das, wenn auch in mancherlei Hinsicht wenig inspirierend, doch wenigstens seriös und durch und durch akademisch war, und Paris mit seinen schreienden Gefahren, jedoch auch seinen Ateliers, die in jener Zeit offen für Experimente waren und ununterbrochen neue Ideen produzierten. Eltern dieser Jahre, zumal in den Traditionen New Englands befangene, können sich die Entscheidung nicht leicht gemacht haben. Und so wird Mr. Sargent nicht ohne Bedenken Paris gewählt haben – eine Entscheidung, die, bedenken wir seine konservative Gesinnung, von einiger Freizügigkeit seines Urteils und vom tiefen Vertrauen in seinen Sohn zeugt. Nie wurde Voraussicht reicher belohnt.