CYRIL M. KORNBLUTH

 

Nicht in diesem August

 

 

 

 

Roman

 

Apex Science-Fiction-Klassiker, Band 21

 

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

 

Vorwort 

 

NICHT IN DIESEM AUGUST 

 

ERSTES BUCH 

Kapitel Eins 

Kapitel Zwei 

Kapitel Drei 

Kapitel Vier  

Kapitel Fünf 

Kapitel Sechs 

Kapitel Sieben 

Kapitel Acht 

Kapitel Neun 

Kapitel Zehn 

 

ZWEITES BUCH 

Kapitel Elf 

Kapitel Zwölf 

Kapitel Dreizehn 

 

DRITTES BUCH 

Kapitel Vierzehn 

Kapitel Fünfzehn 

Kapitel Sechzehn 

Kapitel Siebzehn 

Kapitel Achtzehn 

 

VIERTES BUCH 

Kapitel Neunzehn  

Kapitel Zwanzig 

 

Das Buch

 

 

Per Dekret werden die USA zur Amerikanischen Demokratischen Republik erklärt. Etwas Anderes war nach der Besetzung des Landes durch russische und chinesische Streitkräfte nicht zu erwarten gewesen.

Nach und nach fallen die durch die Ereignisse der Okkupation aufgescheuchten Bürger wieder zurück in ihren Alltagstrott. Dabei erleben sie zum ersten Mal, was Plansoll und Verstaatlichung bedeuten. Doch das gepriesene kommunistische System scheint mit waschechten Amerikanern nicht so glatt zu funktionieren: Es regt sich bald bewaffneter Widerstand...

 

  Cyril M. Kornbluths (1923 – 1958) Klassiker der düster-dystopischen Literatur erscheint als durchgesehene Neuausgabe in der Reihe APEX SF-KLASSIKER.

 

  »NICHT IN DIESEM AUGUST von Cyril M. Kornbluth hat auf den Leser eine weitaus nachhaltigere Wirkung als George Orwells 1984.« 

  - New York Daily News

  Vorwort

 

 

 

Um die Mitte der fünfziger Jahre war die New York Sunday News die annähernd auflagenstärkste Zeitung der Welt. Entsprechend gering war das geschmackliche und inhaltliche Niveau. Viel Sport. Viele Bilder. Viele kurze, einfache Sätze mit vielen einsilbigen Wörtern. Bücher fanden in der News wenig Beachtung, am allerwenigsten Science-Fiction-Bücher. Dennoch sahen sich am 14. August 1955 News-Leser, die das Feuilleton aufschlugen, mit dem Foto eines Science-Fiction-Schriftstellers namens C. M. Kornbluth konfrontiert. Ein umfangreicher Artikel befasste sich ausführlich mit »einem neuen Roman, bei dem es Ihnen schwerfallen wird, ihn aus der Hand zu legen, wenn Sie einmal mit dem Lesen begonnen haben: Nicht in diesem August von C. M. Kornbluth... Dieses Buch verdient es wirklich, ein Publikumserfolg zu werden.« Der Verfasser des Artikels wurde namentlich nicht erwähnt, aber wer immer es war, er war von dem Buch sichtlich angetan; der Artikel wimmelt von Formulierungen, wie »meisterliches schriftstellerisches Können«, und vergleicht Nicht in diesem August mit 1984 - wobei der Vergleich zum Nachteil von 1984 ausfällt.

Soviel ich weiß, hat die News seitdem nie wieder einem Science-Fiction-Roman solche Beachtung geschenkt - und gewiss muss es schon ein außergewöhnlicher Science-Fiction-Roman gewesen sein, der diese Beachtung damals auslöste. Nicht in diesem August ist eine negative Utopie in der großen Tradition von 1984, von Schöne neue Welt, Das letzte Ufer und vielen anderen. Der Roman will keine Vorhersage sein. Er ist lediglich als Warnung gemeint. Er sagt nicht, was geschehen wird, sondern was geschehen könnte, wenn...

Nicht in diesem August erschien zum ersten Mal vor einem Vierteljahrhundert (*im Jahr 1955, Anm. d. Apex-Verlags). Danach habe ich den Roman nicht wieder gelesen, bis nun diese neue Ausgabe vorbereitet wurde. Zunächst war ich mir nicht sicher, ob seine Aussagekraft all die Jahre überdauert hatte; doch als ich ihn jetzt wieder in Händen hielt, fesselte er mich aufs Neue von der ersten bis zur letzten Seite. Die Weltgeschichte verlief nicht so, wie Kornbluth es in diesem Buch prophezeit hatte, als er es in den rauen, kalten fünfziger Jahren schrieb. Aber die Kernaussage des Romans stimmt noch immer.

Wenn ich diesen Roman über eine Zukunft, die hätte eintreffen können, dann aber doch nicht eintraf, lese, löst das in mir bittersüße Gefühle aus. Cyril Kornbluth war ein guter Freund und hochgeschätzter Mitarbeiter. Er war einer der besten Science-Fiction-Schriftsteller in den Jahren um 1950. Die Bitterkeit wird durch die Tatsache ausgelöst, dass seine Karriere kurz nach dem Erscheinen von Nicht in diesem August ein jähes Ende fand: Mit zwanzig wurde Cyril Soldat im Zweiten Weltkrieg. In der Ardennenschlacht schleppte er ein schweres Maschinengewehr, Kaliber 50; dabei überanstrengte er sich und zog sich ein bleibendes Herzleiden zu, an dem er 1958 starb. Ich glaube, er wäre der Größte von uns Science-Fiction-Schriftstellern geworden, denn er war gewiss auf dem besten Wege dazu. Doch als er starb - mit 34 Jahren! -, blieben leider nur eine Handvoll eigene Bücher, einige weitere, die in Zusammenarbeit mit Judith Merril oder mit mir entstanden waren, und ein paar Dutzend Kurzgeschichten und Novellen. Er stand erst am Anfang seiner Karriere.

 

Cyril Kornbluth wurde 1923 in New York geboren. In seinem ersten Lebensjahr entkam er nur knapp dem Krippentod, mit fünf Jahren versuchte er, mit dem Hammer Revolverpatronen in die Luft zu jagen, konnte aber gerade eben noch von seinem Bruder gerettet werden. Dann, während er noch die High School besuchte, entdeckte er die Welt der Science Fiction. Wir begegneten uns, als Cyril Mitglied der New York Futurians wurde, jener Gruppe von SF- Fans und angehenden Schriftstellern, aus der Isaac Asimov, James Blish, Damon Knight und noch eine ganze Menge anderer namhafter SF-Autoren hervorgingen. Cyril war 1938 der wohl jüngste und höchstwahrscheinlich talentierteste Futurianer: klein, dick, unsportlich und zynisch wie er war, schien er für diese Rolle wie geschaffen.

Cyril war einer der intelligentesten Menschen, der mir je begegnet ist, aber auf schulischem Gebiet zeigte sich nicht viel von dieser Intelligenz. Bereits mit Fünfzehn begann er zu schreiben. Mit Sechzehn verkaufte er seine ersten Stories. Ein Leben als Schriftsteller schien möglich, und es ist nur zu verständlich, dass Cyril nun kein großes Interesse mehr an den Dingen zeigte, die an der George Washington High School unterrichtet wurden. Vermutlich hatte er damit Recht. Schriftsteller müssen eine Menge wissen, aber nur wenig von diesem Wissen wird in den Schulen gelehrt. Eine Lehrerin beeindruckte Cyril. Sie hieß Mary J. J. Wrinn, war Dichterin und hatte ein Buch über die Dichtkunst geschrieben, das The Golden Treasury hieß. Cyril brachte das Buch mit, um während der langen U-Bahn-Fahrten zum Treffpunkt der Futurianer in Brooklyn darin zu lesen. Als ich es sah, bat ich ihn gleich, es mir zu leihen. Alle Versformen waren darin beschrieben, von der Sestine bis zum Chant Royale, und wochenlang maßen Cyril und ich uns darin, Sonette und Villanellen zu schreiben - eine Übung, die ich auch heute noch jedem angehenden Schriftsteller empfehlen möchte. Mary Wrinn hoffte, dass Cyril ein bedeutender Dichter werden würde, und vielleicht wäre es tatsächlich dazu gekommen, wenn er nicht die Science Fiction vorgezogen hätte.

Dabei spielten auch wirtschaftliche Gesichtspunkte eine Rolle. Cyrils Vater war Gerichtsdiener beim Verwaltungsgericht, ein guter und verantwortungsvoller Beruf, mit dem sich aber wohl kaum ein Vermögen machen ließ. Es war Cyril klar, dass er sich seinen Lebensunterhalt selbst verdienen musste, auf welche Weise auch immer. So betrachtet, bot ihm die Science Fiction bessere Zukunftsaussichten. (Wenn man sich vor Augen führt, wie wenig Science-Fiction-Autoren in den dreißiger Jahren verdienten, lässt das schlimme Rückschlüsse auf das Los des Dichters zu!)

Wie dem auch sei, Cyrils schulische Leistungen ließen sehr zu wünschen übrig, gemessen am Standard der George Washington High School. Im letzten Schuljahr bewarb er sich für das City College, wurde aber wegen seiner schlechten Noten abgelehnt. Sein Vater begriff sofort, was die Ursache war - nicht mangelndes Können, sondern Anreiz - und bot Cyril fünf Dollar, wenn er an einer speziellen Aufnahmeprüfung des Colleges teilnahm und sie bestand, was Cyril natürlich mit Leichtigkeit gelang. Cyrils schulische Leistungen waren nicht annähernd so eindrucksvoll wie die seines Schulkameraden Heinz Kissinger - aber Kissinger brachte es trotzdem nur zum Außenminister.

Als ich Nicht in diesem August für diese Neuausgabe vorbereitete, habe ich mir erlaubt, einige Textänderungen vorzunehmen. Der Roman wird dadurch nicht verfälscht, lediglich ein paar allzu störende Anachronismen wurden beseitigt. Die Aussage des Buches bleibt davon unberührt.

Man könnte Nicht in diesem August vorwerfen, dass es eine nicht eingetroffene Vorhersage ist, aber dann begreift man die Absicht des Autors nicht. Einer der vielen Vorzüge einer negativen Utopie ist, dass eine solche Geschichte nicht wahr zu werden braucht und trotzdem wertvoll sein kann - niemand will, dass sie wahr wird, der Autor am allerwenigsten. Cyril Kornbluth wollte uns vor großen Gefahren warnen, die es damals gab - die auch heute noch in ganz ähnlicher Weise existieren - und davor, dass das Beseitigen solcher Gefahren noch größere Gefahren heraufbeschwört, wie der Schluss des Romans zeigt. Und auch diese noch größeren Gefahren existieren leider noch immer, und wir müssen nach wie vor auf der Hut sein vor ihnen.

Aber die meisten Leute lesen einen Science-Fiction-Roman nicht wegen seiner heuristischen oder normativen Qualitäten - Gott sei Dank! Wir lesen Science Fiction zu unserer Unterhaltung, und besonders wegen der ironischen, überraschenden Einsichten mit denen sie uns die Welt, in der wir leben, erhellt.

Cyril Kornbluth konnte uns diese verblüffenden Einsichten ebenso gut vermitteln wie alle anderen Science-Fiction-Autoren, die je gelebt haben. Nicht in diesem August ist Kornbluth in Höchstform - geistvoll, packend und lehrreich -, und ich bin außerordentlich froh darüber, dass der Roman nun wieder erhältlich ist.

 

  Frederik Pohl

NICHT IN DIESEM AUGUST

 

 

 

   

 

 

 

»Nicht in diesem August, auch nicht in diesem September; in diesem Jahr könnt ihr tun und lassen, was ihr wollt. Nicht im nächsten August, auch nicht im nächsten September; das ist immer noch zu früh... Aber im übernächsten Jahr oder im überübernächsten Jahr gibt es Kampf.«

 

 

 

 

 

 

  ERSTES BUCH

 

 

 

 

  Kapitel Eins

 

 

 

Für Billy Justin begann der schwärzeste Tag in der Geschichte der Vereinigten Staaten genau wie jeder andere Tag. Er war siebenunddreißig Jahre alt, ein pensionierter Korea-Veteran, der früher in der Werbebranche tätig gewesen war und nun, seit Ausbruch des Krieges vor drei Jahren, eine Farm bewirtschaftete. Die einzigen Alternativen dazu hätten gelautet, für den Straßenbau oder - mit viel Glück - als Fabrikarbeiter eingeteilt zu werden.

Er stand also um Viertel nach fünf auf, stellte den Wecker ab und ging, verschlafen blinzelnd, in Bademantel und Pantoffeln in den Stall, um seine acht Kühe zu melken. Er hob die Milchkannen auf den Podest, wo sie vom Lieferwagen des Milchversorgungsamtes Ost abgeholt werden würden, und spielte kurz mit dem Gedanken, die Melkmaschine und die Eimer auszuwaschen, wie es eigentlich seine Pflicht gewesen wäre. Dann warf er einen angewiderten Blick auf seinen Stall, sein Haus, seine Felder - jene Dinge, von denen er einmal geglaubt hatte, dass sie ihm einen beschaulichen, würdigen Ruhestand ermöglichen würden, und die stattdessen an seiner freien Zeit saugten wie Vampire - und ging wieder ins Bett.

Um zehn, einer wesentlich urbaneren Zeit, stand er wirklich auf und frühstückte, wobei er zusätzlich ein illegales Ei verzehrte, das er von seiner Quote zurückgehalten hatte. Während er den scheußlichen synthetischen Kaffee trank, zog er das Elektrizitäts-Bulletin zu Rate, das an der Küchenwand hing, und murmelte mürrisch: »Na fein.« Die Farmer von Chiunga County bekamen heute vier Stunden lang Strom - von halb elf bis halb drei.

Vor allem musste er seine Autobatterie aufladen. Er begriff vage, dass es Batterien ruinierte, wenn man sie einfach leer herumstehen ließ. Immer noch in Bademantel und Pantoffeln ging er zu seiner windschiefen Garage und klemmte die beiden Kabel des Ladegeräts an die rostigen Batteriepole. Vier Stunden Ladedauer würden gewiss nicht lange Vorhalten, überlegte er, aber vielleicht konnte er irgendwo etwas Traktorensprit auftreiben. Es hieß, dass der alte Croley, dem der Laden unten in Norton gehörte, sich mit dem Tankwagenfahrer des Treibstoffversorgungsamtes arrangiert hatte.

Er hielt sich noch in der Garage auf, als es halb elf wurde; er sah, wie im Voltmeter des Ladegerätes die Nadel emporschnellte, und hörte ein Summen. Das wenigstens war also in Ordnung.

Im Haus brannten ein paar Lampen. Die letzte Stromzuteilung war am späten Nachmittag und am Abend des Vortages erfolgt, eine weitaus vernünftigere Zeit als halb elf bis halb drei. Chiunga County kam, wie üblich, zu kurz, entschied er nach kurzer Überlegung.

Sein altes Radio, das nur sehr langsam warm wurde, dröhnte plötzlich los: »...dürfen wir nicht wankend werden in unserem Glauben. Liebe Brüder und Schwestern, lasst uns beten. Allmächtiger Vater...«

Justin sagte ohne Groll: »Amen«, und schaltete um auf den anderen CONELRAD-Sender. Zu Anfang des Krieges war dies eines der größten Ärgernisse gewesen: nur noch zwei Sendefrequenzen statt des alten freien amerikanischen Rundfunks, der Raketen und Bombern die Zielsuche erleichtert hätte. Nur zwei Frequenzen bedeutete natürlich auch, dass es nur noch zwei Programme gab, die oft genug beide mies waren. Dieses anfängliche Ärgernis geriet überraschend schnell in Vergessenheit, als man sich wieder auf die Mundpropaganda besann und kaum noch Radio hörte.

Erfreut stellte er fest, dass im anderen Kanal eine Nachrichtensendung lief.

»Das Verteidigungsministerium gab heute bekannt, dass die heftigen Kämpfe südlich von El Paso andauern. Russische Einheiten haben sich dem amerikanischen Verteidigungsgürtel bis auf dreihundert Yards genähert. Kanadische Panzerverbände attackieren die Flanke des Gegners mit Hunderten von Acheson-Panzern und 280-Millimeter-Panzerhaubitzen. Die Kampfmoral unserer Truppen ist unverändert gut, und die heroischen Taten einzelner Soldaten sind zu zahlreich, um hier gewürdigt werden zu können.

Heute wurden Zahlen bekanntgegeben, die zeigen, dass gegen den Feind an der Heimatfront genauso hart und gerecht vorgegangen wird wie gegen die fremden Invasoren, denen er sich anzubiedern versucht. Eine kurze Bekanntmachung des Staatsgefängnisses Lewisburg enthielt folgenden Satz: 784 Zivilisten in den vergangenen sechs Monaten wegen Hochverrats exekutiert. Von hier aus an die Jungs vom FBI ein herzliches gut gemacht.

Das Büro des Generalstaatsanwalts veröffentlichte heute eine sehr ernste Warnung, dass es ein schweres Verbrechen ist, Deserteuren Zuflucht zu gewähren, und dass eine solche Handlung aufs Schärfste bestraft wird. Der Staat wird die Todesstrafe für die 87jährige Mrs. Arthur Schwartz aus Chicago fordern, die ihrem Enkel, dem Gefreiten William O. Temple, Geld und Essen gab, als er nach Chicago kam, nachdem er Fahnenflucht begangen hatte. Temple wurde selbstverständlich am 17. März in Windsor, Ontario, gefasst und erschossen.

Gute Nachrichten für die Freunde von Süßigkeiten! Die Agentur für Genussmittel berichtet, dass eine neue Ersatzschokolade die Labortests bestanden hat und für die Besitzer von B-Karten bald in allen Lebensmittelläden erhältlich sein wird. Einen großen, großen 15-Gramm-Riegel gibt es schon für zwei Marken! Von hier aus an die Jungs und Mädchen von der NFA ein herzliches...

Ein wenig angewidert schaltete Justin das Gerät ab. Es war sowieso Zeit, zum Briefkasten zu gehen. Er hoffte, dass die Postbotin ihn nach Norton mitnahm. Der Schwengel seiner Brunnenpumpe war gebrochen, und er war es leid, das Wasser mit dem Eimer heraufzuholen. Der alte Croley hatte vielleicht einen Schwengel oder kannte jemanden, der ihm einen neuen machen konnte.

Er zog sich hastig und nachlässig an und dachte nicht einmal ans Rasieren. Rasierklingen waren gegenwärtig Mangelware. Er schnaufte die steile Viertelmeile zu seinem Briefkasten hinauf, lehnte sich dagegen und starrte nach Norden auf die gewundene Straße. Er wusste, dass seit ungefähr zehn Tagen ein neues Mädchen die Post brachte und fragte sich, was wohl mit Mrs. Elkins geschehen war - der dicken, freundlichen, schlampigen Mrs. Elkins, die nicht rechnen konnte, und deren Briefkastennotizen und Postzustellungen stets ein schreckliches Durcheinander hervorriefen. Er war dem neuen Mädchen noch nicht begegnet, und es hatte auch noch keinen Anlass für Briefkastenmitteilungen zwischen ihnen gegeben.

Hoch oben im wolkenlosen Himmel im Norden tauchte plötzlich ein weißer Strich auf - der Kondensstreifen einer Stratosphären-Rakete. Der wilde Zickzackkurs bedeutete, dass die Rakete Ausweichmanöver flog. Ohne großes Interesse kam er zu dem Schluss, dass es ein russisches Geschoss sein musste. Sie versuchten wohl wieder einmal, die feinmechanische Industrie in Coming zu erwischen, oder vielleicht auch den großen Luftwaffenstützpunkt in Elmira. Die Rakete war zweifellos von einem russischen oder chinesischen U-Boot irgendwo im Atlantik abgefeuert worden. Doch, wie fast immer, reagierte die Continental Air Defense sofort. Ein halbes Dutzend dünnerer weißer Streifen fegten heran, umkreisten das Ziel, und dann konnte man dort oben einen goldenen Lichtball sehen, der bedeutete, dass sie ihre Mission erfolgreich beendet hatten. Die Mädchen von der CAD waren schon gut, dachte er anerkennend. Wenn Cruise Missiles oder Stratosphärenraketen in der Luft waren, erwischten die Mädchen sie, und wenn sie oberhalb der Atmosphäre flogen, wurden sie von den antiballistischen Lasern aus dem Orbit gepflückt. Schade um Chicago und Pittsburgh, aber damals waren die Mädchen noch grün gewesen...

Natürlich wäre längst alles vorbei gewesen, wenn die Roten über Radartarnung verfügt hätten. Aber das war nicht der Fall. Und wenn die USA erst einmal ihren radargetarnten Satelliten hatten...

Er war allerdings noch nicht fertig; und die Front rückte Tag für Tag näher an seinen Startplatz heran.

Es hatte keinen Sinn, an solche Dinge zu denken.

Er beschattete seine Augen und blickte wieder nach unten auf die Straße. Was er dort sah, ließ ihn ungläubig blinzeln. Ein Kinderwagen, der sich schneller bewegte, als es ein Kinderwagen für gewöhnlich tat - oder ein riesiger Rollschuh - aber mit zwei hin- und herfliegenden Kolben...

Das groteske Fahrzeug näherte sich ihm und kam quietschend zum Stehen. Es war nun plötzlich gar nicht mehr grotesk. Es handelte sich um einen solide gebauten dreirädrigen Wagen, der durch eine lange Stange an der Achsgabel des Vorderrades gesteuert wurde. Für den Vortrieb sorgte ein Mann in Khaki, der abwechselnd zwei Hebel vorschob, die an einer Kurbelwelle befestig waren, die zugleich die Hinterachse des Karrens bildete. Dem Mann waren beide Beine bis zu den Knien amputiert.

Er sagte fröhlich zu Justin: »Können Sie auf Ihrer Farm eine helfende Hand gebrauchen, Mister?«

Justin, der seine guten Manieren ganz vergessen hatte, konnte ihn nur anstarren.

Der Mann sagte: »Ich komme mit diesem Ding ausgezeichnet zurecht, und man bekommt dabei Schultern wie ein Stier. Sie werden überrascht sein, was ich alles kann. Zäune reparieren, einen Traktor fahren, falls Sie einen haben, ein Pferd reiten, wenn nicht: melken, Holz hacken, Hausarbeit erledigen - und außerdem, wen können Sie sonst schon bekommen, Mister?«

Er holte ein großes Stück kräftigen, selbstgebackenen Brotes hervor und fing an, darauf herumzukauen.

Justin sagte langsam: »Ich weiß, was Sie meinen; und ich würde Sie wirklich gern einstellen, aber ich kann es nicht. Getreu dem Farmer-oder-Soldat-Gesetz wurstele ich mit meinen acht Kühen herum. Für mehr Kühe reicht meine Weidefläche nicht, und Saatgut kann ich mir natürlich nicht leisten. Es ist einfach nicht genug Arbeit da für ein weiteres Paar Hände, und nicht genug zu essen für einen weiteren Mund.«

»Ich verstehe«, sagte der Mann. »Gibt es hier in der Gegend jemanden, der mich vielleicht nimmt?«

»Versuchen Sie's bei den Shiptons«, sagte Justin. »Hier diese Straße entlang, das dritte Haus auf der linken Seite. Es ist weiß mit grünen Fensterläden. Ungefähr zwei Meilen. Sie klagen immer darüber, dass sie dringend eine Hilfe brauchen und niemanden finden können.«

»Vielen Dank, Mister. Dann werde ich es dort einmal probieren. Würden Sie mich vielleicht eben anschieben? Dieses Ding ist etwas schwer in Gang zu bekommen, aber wenn es erst einmal rollt, läuft es prima.«

»Augenblick noch«, sagte Justin beinahe ärgerlich. »Müssen Sie das tun? Ich meine, ich bewundere aufrichtig Ihren Mut, aber der Staat müsste doch, verdammt noch mal, eigentlich dafür sorgen, dass ihr Jungs euch nicht obendrein noch auf einer Farm abzurackern braucht!«

»Teufel noch mal«, der Mann grinste.

»Nehmen Sie's mir nicht übel, aber ihr Farmer habt einfach keine Ahnung.«

»Bekommen Sie denn keine ausreichende Rente? Das müsste doch selbstverständlich sein. Bei einer solchen Verwundung.«

»Sie ist ausreichend«, sagte der Mann. »Dreihundert im Monat - mehr als ich je zuvor verdient habe. Aber ich war es leid, ständig hinter dem Geld herrennen zu müssen. Manchmal kam gar kein Geld, oder ich bekam einen verkehrten Scheck, oder es war der richtige Scheck, aber sie hatten vergessen, ihn zu unterschreiben. Und wenn ich endlich den richtigen Scheck hatte, mit der richtigen Summe und richtig unterzeichnet, musste ich in der Bank vier oder fünf Tage Schlange stehen. Also schrieb ich ihnen, dass ich auf hundert Dollar verzichten würde, wenn sie mir das Geld dafür in Silberdollar auszahlten. Als Antwort kam ein Brief, dass mein Gebot für dreihundert Chromstahl-Formteile zufriedenstellend gewesen sei, und dass sie mir die Vertragspapiere zusenden würden. Also kam ich zu dem Schluss, dass die Lage ganz schön schlimm ist, und dass sie vielleicht noch schlimmer wird; und wenn sie noch schlimmer wird, wollte ich dann lieber auf einer Farm sein. Wie schon gesagt, nehmen Sie's bitte nicht übel, aber ihr Farmer wisst gar nicht, wie gut ihr's habt. Hier oben gibt es zum Beispiel keine Cholera, nicht wahr?«

»Cholera? Gütiger Himmel, nein!«

»Na also, da sehn Sie's. Würden Sie mich jetzt bitte anschieben. Es ist heiß hier in der Sonne.«

Justin schob ihn an. Der Mann fuhr davon, linke-Hand-rechte-Hand-linke-Hand-rechte...

Cholera?

Justin hatte den Mann noch nicht einmal gefragt, wo. New York? Boston? Aber er bekam doch jede Woche die Sunday Times...

Die Postbotin kam in einem verbeulten Buick. Sie war jung und hübsch und angesichts des fremden, unrasierten Mannes, der da an einem Briefkasten auf sie wartete, war ihr offensichtlich gar nicht wohl zumute.

»Ich bin Billy Justin«, erklärte er hastig durch das Fenster hindurch, das sie nur einen Spaltbreit geöffnet hatte. »Einer Ihrer besten Kunden, auch wenn ich vergessen habe, mich zu rasieren. Ist heute etwas für mich dabei?«

Sie steckte seine Times durch den Spalt, lächelte nervös und legte bereits wieder den ersten Gang ein.

»Bitte«, sagte er, »Sie könnten mir einen großen Gefallen tun. Nehmen Sie mich mit nach Norton?«

»Das hat man mir ausdrücklich untersagt«, sagte sie. »Deserteure, Drückeberger - man kann nie wissen.«

»Ma'am«, sagte er, »ich bin ein ehrenwerter Farmer, den das Farmer-oder-Soldat-Gesetz von einem lukrativen Leben in Schande als Werbetexter erlöst hat. Ich würde Sie wirklich nicht damit belasten, wenn ich es zu Fuß schaffen könnte, rechtzeitig zum Melken wieder zurück zu sein.«

»Werbetexter?«, fragte sie.

»Nun, dann ist es wohl in Ordnung.« Sie lächelte und öffnete die Tür.

Es waren vier Meilen bis nach Norton, mit einem Halt an jeder Farm. Es dauerte eine Stunde. Er fand heraus, dass sie Betsy Cardew hieß. Sie war zwanzig. Sie hatte in Cornell Physik studiert und konnte deshalb nur zu R.W.O.T.C.-Kursen eingezogen werden.

»Eigentlich kann ich es ruhig zugeben.« Sie zuckte die Achseln. »Ich fiel bei den Prüfungen durch. Es war Unsinn, dass ich mich überhaupt mit Physik herumquälte, aber mein Vater bestand darauf. Doch schließlich wurde ihm wohl klar, dass sich aus mir kein weiblicher Einstein machen ließ, und nun bin ich hier gelandet.«

Sie schien hier - den Fahrersitz eines Landpostautos, einen der angenehmsten Jobs überhaupt - als einen unwürdigen, unbequemen Arbeitsplatz zu betrachten.

Justin schnippte mit dem Finger. »Cardew«, sagte er. »T. C.?«

»Das ist mein Paps.«

Das erklärte, warum Betsy nicht beim WAC oder der CAD war oder in einem Arbeitsbatallion Soldatenhemden nähte. T. C. Cardew wohnte in einem Landhaus auf einem Flügel und war Mitglied des National Komitee. Er kaufte in Scranton oder in New York ein, aber ihm gehörte der Boden, auf dem beinahe jeder Laden in Chiunga County stand.

»Betsy«, sagte Justin probeweise, »wir kennen einander noch nicht sehr lange, aber ich empfinde aufrichtige Zuneigung für Sie. Sie sind wie eine Schwester für mich. Wäre es nicht schön, wenn Mr. T. C. Cardew mich adoptierte, um die Sache zu legalisieren?«

Sie lachte laut auf. »Es tut gut, mal wieder einen Scherz zu hören«, sagte sie. »Aber es würde Ihnen wohl kaum gefallen. Um ehrlich zu sein, Mr. T. C. Cardew ist ein Stinktier. Ich hatte einmal eine sehr nette Mutter, aber er ließ sich von ihr scheiden.«

Ihre Worte brachten ihn ziemlich in Verlegenheit. Eine Pause entstand, dann fragte er: »Waren Sie in letzter Zeit in einer der großen Städte? New York? Boston?«

»Letzten Monat war ich in Boston. Meine Maschine aus Ithaca wurde gezwungen, Nordkurs zu fliegen, und der Pilot wagte nicht, umzudrehen. Wir wären von der CAD für ein feindliches Flugzeug gehalten worden, und wumm! Die Ladies halten sich nicht mehr mit langen Fragen auf. Nicht seit Chicago und Pittsburgh.«

»Wie war die Lage in Boston?«

»Ich habe nur den Flughafen gesehen. Das übliche - Bettler, Verwundete, die Straßen voller Müll. Aber keine Fliegen - dazu war es noch zu früh im Jahr.«

»Ich habe das Gefühl, dass wir hier auf dem Land nicht viel mitbekommen von dem, was außerhalb unserer Weidezäune vorgeht. Außerdem habe ich das Gefühl, dass die Leute in Boston nichts über die Leute in New York erfahren und umgekehrt.«

»Mr. Justin, Sie ahnen gar nicht, wie recht Sie haben«, sagte sie mit Nachdruck. »Das Leben in den großen Städten ist die reinste Hölle. Die Lebensumstände sind dort absolut unerträglich geworden, und trotzdem müssen die Leute irgendwie damit fertig werden. Wussten Sie, dass New York unter Kriegsrecht steht?«

»Nein!«

»Ja. Die 104. Division und die 33. Panzerdivision sind in der Stadt. Sie würden eigentlich in El Paso gebraucht, man hat sie aber nach New York beordert, um zu verhindern, dass in der Stadt eine Sezessions-Abstimmung stattfindet.«

Er hätte beinahe etwas Dummes gesagt (»darüber stand ja gar nichts in der Times«), fasste sich aber noch rechtzeitig. Sie fuhr fort: »Natürlich sollte ich Ihnen keine Staatsgeheimnisse verraten. Aber ich habe feststellen müssen, dass ein Staatsgeheimnis etwas ist, über das jeder Bescheid weiß, der mehr als Fünfzigtausend im Jahr verdient, und niemand, der weniger verdient. Fühlen Sie sich jetzt nicht sehr reich, Mr. Justin?«

»Stinkreich. Sie brauchen sich übrigens keine Sorgen zu machen. Ich werde niemandem etwas verraten.«

»Natürlich werden Sie das nicht! Ihre Post wird gelesen, Ihr Telefon wird abgehört, und Ihre Nachbarn warten womöglich nur auf eine Gelegenheit, Sie als PVS anschwärzen zu können.« Ein PVS war eine politisch verdächtige oder staatsgefährdende Person - kein richtiger Krimineller, aber gewiss auch kein anständiger Staatsbürger. Für gewöhnlich fand er sich eines Tages plötzlich in Nevada hinter Stacheldraht wieder, wo er dann Tarnnetze herstellen durfte und sich fragte, was er wohl verbrochen haben mochte.

»Da tun Sie meinen Nachbarn aber ein bisschen Unrecht. Bei uns wird niemand angeschwärzt, weil er etwas Unbedachtes gesagt hat. Das ist hier noch anders als in der Großstadt.«

Sehr gefährlich, so mit einer Fremden zu sprechen - sehr gefährlich und ungeheuer amüsant. Manchmal ging er hinüber zur Gemüsegärtnerei seiner Freunde, den Bradens, die wie er ehemalige Städter waren. Dort diskutierten sie dann bis in die frühen Morgenstunden und befreiten sich so von Sorgen, die sich angestaut hatten wie Eiter in einer Furunkel. Amy Bradens starkes, selbstgebrautes Bier war dabei sehr hilfreich...

Rumpel-rumpel, der Wagen polterte über Nortons Bahnübergang; Croleys Laden lag genau gegenüber, am anderen Ende der kurzen Hauptstraße. In Norton, New York, lebten ungefähr sechzig alte Leute, keine jungen. Seit ein paar glorreichen Jahren als Hafenstadt am Susquehanna, die schon eineinhalb Jahrhunderte zurücklagen, befand sich Norton im Niedergang. Aber irgendwie schaffte Croley es, dort einen rentablen Laden zu unterhalten.

Sie hielt vor dem Haus und reichte Justin einen dicken Stapel Post. »Geben Sie das dem alten Griesgram«, sagte sie. »Dann bleibt mir sein Anblick heute erspart.«

»Danke für's Mitnehmen«, sagte er. »Und für das Gespräch.«

Sie lächelte strahlend: »Wir müssen das bald einmal wiederholen«, und fuhr davon.

Er sorgte sich sofort um seine Rückfahrt und warf einen Blick auf die Autos und Pferdefuhrwerke, die vor Croleys Laden standen. Als er Gus Feinblatts Rungenwagen erkannte, mit den beiden großen Wallachen Tony und Phony, wusste er, wie er wieder nach Hause kommen würde. Gus war eine fantastisch anmutende Seltenheit, ein jüdischer Farmer, und er wohnte hinter Justin an derselben Straße.

Im Laden war es gerammelt voll. Alle Nortoner waren da und es herrschte Totenstille. Croleys grimmiges Gesicht drehte sich Justin zu, als dieser eintrat; dann deutete der Händler mit einem Kopfnicken auf eine Gefrierkühltruhe, auf der Justin Platz nehmen konnte.

Justin wollte rufen: »Was ist denn hier los?«

Dann drang eine Stimme aus dem Radio, das hoch oben auf einem Regal stand. Während Justin der Stimme zuhörte, wurde ihm klar, dass das Radio seit vielleicht einer halben Stunde ständig die gleiche Botschaft wiederholte. Die Leute hörten sie sich nur wieder und wieder an, weil sie vergeblich darauf hofften, dass irgendjemand »Betrug«, schrie, oder: »Weg von dem Mikrofon, du dreckiger Roter«, doch nichts dergleichen geschah.

Das Radio sendete: »Meine Damen und Herren, der Präsident der Vereinigten Staaten.« Dann folgte die unnachahmliche Stimme, die müde klang, schrecklich müde: »Sehr geehrte Mitbürgerinnen und Mitbürger. Unsere Streitkräfte haben zu Lande und zu Wasser eine entsetzliche Niederlage erlitten. Mir wurde soeben von General Fraley mitgeteilt, dass er sich mit der Südwest-Armee eigenmächtig den Generälen Novikov und Feng ergeben hat. General Fraley sagte, ihm sei keine andere Wahl geblieben, denn andernfalls wäre seine Armee bis zum letzten Mann von übermächtigen feindlichen Truppen vernichtet worden. Ob das eine kluge Entscheidung war, muss die Geschichte zeigen; ich kann hier und jetzt nur sagen, dass durch seine Kapitulation das letzte Hindernis für den Vormarsch der Armeen der Sowjetunion und der Volksrepublik China nach Norden gefallen ist.

Sehr geehrte Mitbürgerinnen und Mitbürger, ich muss Ihnen nun mitteilen, dass die Vereinigten Staaten bereits seit drei Monaten nicht mehr über eine Flotte verfügen. Sie wurde in einer großen Seeschlacht vor den Azoren vernichtet. Es wurde für klug erachtet, den Ausgang dieser Schlacht vorübergehend geheimzuhalten.

Wir sind waffenlos. Wir sind besiegt.

Ich habe nun formell die Kapitulation der Vereinigten Staaten von Amerika unserer Botschaft in der Schweiz übermittelt. Sie wird dort den Botschaften der UdSSR und der Volksrepublik China übergeben werden.

Als Oberbefehlshaber der Streitkräfte der Vereinigten Staaten befehle ich hiermit allen Offizieren und Mannschaften, das Feuer einzustellen. Bewahren Sie Disziplin, aber leisten Sie dem Vormarsch der gegnerischen Truppen keinen Widerstand mehr. Jeder Widerstand würde einen unnötigen Verlust von Menschenleben bedeuten und wäre zudem ein Akt, für den die gegnerischen Truppen möglicherweise zehnfache Vergeltung üben würden. Sie werden schon bald ordnungsgemäß aus dem Militärdienst entlassen werden, damit Sie zu Ihren Familien zurückkehren können. Bewahren Sie bis dahin Disziplin. Sie waren eine großartige Armee, aber Sie waren zahlenmäßig unterlegen.

Auch den Zivilisten der Vereinigten Staaten rufe ich zu: Bewahren Sie Disziplin! Sie haben es umso schwerer, denn von Ihnen wird Selbstdisziplin gefordert. Halten Sie Ruhe und Ordnung aufrecht. Halten Sie die Gesetze ein. Befolgen Sie behördliche Anordnungen. Verzichten Sie auf unsinnige Demonstrationen. Betragen Sie sich anständig, damit die Besatzer uns respektieren.

Darüber hinaus kann ich keine weiteren Ratschläge erteilen. Man wird mir in Kürze die Kapitulationsbedingungen mitfeilen, die Ihnen dann sofort übermittelt werden. Bis dahin möge Gott Sie alle beschützen und Ihnen in dieser schweren Stunde beistehen.«

Eine lange Pause folgte, und dann drang es wieder aus dem Radio: »Meine Damen und Herren, der Präsident der Vereinigten Staaten.«

Sehr geehrte Mitbürgerinnen und Mitbürger. Unsere Streitkräfte haben zu Lande und zu Wasser...«

Justin blickte ungläubig umher und sah, dass die meisten Anwesenden leise weinten.

 

 

 

 

 

 

  Kapitel Zwei

 

 

 

Gegen ein Uhr verließen die Leute verwirrt und betäubt den Laden. Draußen auf dem Bürgersteig unterhielten sie sich flüsternd. Der alte Croley schaltete das Radio ab, als eine Frauenstimme erklärte, um 21 Uhr werde es eine neue Sendung geben, für die die Stromsperren kurzfristig gelockert würden.

»Das werden die Kapitulationsbedingungen sein«, sagte Gus Feinblatt zu Justin.

»Wahrscheinlich. Gus - wie siehst du die Sache?«

Viertausend Jahre düsterer Geschichte spiegelten sich in Feinblatts Augen wieder. »Ich glaube, das Schlimmste steht uns noch bevor, Billy.«

»Deine Kinder werden nach Hause kommen.«

»Doch zu welchem Preis? Ich weiß nicht, ob es das wert war... Nun, das Leben geht weiter. Mr. Croley?«

Der Händler blickte auf. Er sagte nicht »Ja?« oder »Was kann ich für Sie tun?« Das tat er nie; er blickte auf und wartete und redete nie jemanden mit dem Namen an. Er war nicht wie die Alten, die ihr ganzes Leben in Norton zugebracht hatten; er war vor zehn Jahren aus Minnesota gekommen, wo er ebenfalls einen Lebensmittelladen besessen hatte, und er hatte diese zehn Jahre gut genutzt. Justin wusste, dass er nicht nur Lebensmittel verkaufte, sondern auch Eisenwaren, Zaundraht, Kohle, Dieselöl, Kunstdünger, Futter und Saatgut - kurz, alles was ein Farmer zum Leben brauchte. Justin hatte den Verdacht, dass Croley außerdem eine kleine Privatbank betrieb, die zu illegalen Zinsen Geld verlieh. Er wusste, dass es Farmer gab, die blass wurden, wenn Croley sie forschend ansah, und Farmersfrauen; die ihn hinter seinem Rücken verfluchten. Croley war fünfundsechzig, kinderlos, und mit einer kränkelnden, dünnen Frau verheiratet, die die meiste Zeit in der Wohnung über dem Laden zubrachte.

»Mr. Croley«, sagte Gus, »ich hätte jetzt gern mein Futter. Mein Wagen steht draußen vor dem Laden.«

Croley streckte seine Hand aus und wartete. Gus legte siebenundzwanzig Dollar hinein, doch die Hand blieb wartend ausgestreckt.

»Scheine?«, fragte Gus gequält.

»Sie haben ihn ja gehört«, sagte Croley. (Nach kurzem Nachdenken wurde klar, dass er mit ihn den Präsidenten meinte, der gesagt hatte, dass die Zivilisten sich weiter so verhalten sollten wie bisher, und dass sie Disziplin wahren sollten.) Gus riss Rationierungsscheine von seinem F-Buch ab und legte sie auf das Geld. Die Hand wurde zurückgezogen. Croley stapfte nach draußen, öffnete die Tür des Lagerraumes und sah zu, wie Feinblatt und Justin die Futtersäcke auf den Rungenwagen luden. Als der letzte Sack auf die Ladefläche plumpste, schloss er die Tür wieder ab, drehte sich um und ging zurück in seinen Laden.

»Gus«, sagte Justin, »würdest du einen Augenblick warten? Ich möchte den alten Croley fragen, ob er nicht vielleicht einen Pumpenschwengel für mich hat - und dann würde ich gern mit dir zurückfahren.«

»Ich freue mich immer über deine Gesellschaft«, sagte Feinblatt, höflich abstrahierend.

Croley hörte Justin schweigend zu und knallte dann einen Pumpenschwengel vor Justin auf den Ladentisch. Er schnauzte: »Zwölf-Fünfzig ohne Eisenwarenschein. Drei-Fünfzig mit.«

Das alte Stinktier wusste natürlich, dass Justin seine Ration Eisenwarenscheine beim Reparieren der Melkmaschine aufgebraucht hatte. Justin bezahlte mit zornrotem Gesicht, ging hinaus und kletterte neben Feinblatt auf den Kutschbock. Gus schnalzte mit der Zunge, und das Gespann setzte sich in Bewegung.

Rumpel-rumpel