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Dipl.-Psych. Christian Stadler, Psychologischer Psychotherapeut (TFP), Psychodrama-Therapeut (DFP, IAGP), Supervisor, ist in München in eigener Praxis und in der Fort- und Weiterbildung tätig.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

ISBN 978-3-497-02666-1 (Print)

ISBN 978-3-497-60430-2 (E-Book)

ISBN 978-3-497-60979-6 (EPUB)

© 2017 by Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, Verlag, München

Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne schriftliche Zustimmung der Ernst Reinhardt GmbH & Co KG, München, unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen in andere Sprachen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Printed in Germany

Covermotiv: © istock / lowball jack

Satz: JÖRG KALIES – Satz, Layout, Grafik & Druck, Unterumbach

Ernst Reinhardt Verlag, Kemnatenstr. 46, D-80639 München Net: www.reinhardt-verlag.de E-Mail: info@reinhardt-verlag.de

Inhalt

1         Anstelle eines Vorworts

2         Einführung

3         Rollen

3.1      Grundverständnis

3.2      Meine Innenwelt: Rollen des kulturellen Atoms

3.2.1   Erste Schritte in der Innenwelt

3.2.2   Gefühle, Körper und Ressourcen

3.2.3   Verschiedene Zugangswege zur Ressourcenexploration

3.2.4   Identitätskrisen und -konflikte

3.3      Repräsentanzen der Außenwelt

3.3.1   Die Anderen

3.3.2   Beziehungen

3.3.3   Aufstellungen

3.4      Innenwelt und Außenwelt: das soziokulturelle Atom

3.4.1   Sucht und Abhängigkeit

3.4.2   Traumafolgestörungen und die Introjekte

3.4.3   Borderline-Persönlichkeitsstörung (BLPS)

4         Innere Anteile: Inneres Kind, Innerer Helfer, Inneres Team

4.1      Grundverständnis

4.2      Störungsorientiertes Arbeiten mit dem Inneren Kind

4.3      Störungsorientiertes Arbeiten bei PTBS mit dem Inneren Helfer

4.4      Das Innere Team

4.4.1   Beobachter

4.4.2   Regiestuhl

4.4.3   Spezielle Teammitglieder und besondere Konstellationen

4.4.4   Die Modes der Schematherapie

4.4.5   Besondere Teamkonstellationen

4.5      Der Innere Dialog

5         Ego-States

5.1      Grundverständnis

5.2      Therapie und Beratung mit dem Ego-State-Ansatz

5.3      Störungsorientiertes Arbeiten mit Ego-States bei Suchtverhalten

5.4      Dissoziation und dissoziierte States

5.5      Dissoziative Identitätsstörung (DIS)

6         Persönlichkeitseigenschaften und Typen

6.1      Grundverständnis

6.2      States und Traits: Cattells 16 Persönlichkeitsfaktoren

6.3      Big Five – Fünf Hauptdimensionen der Persönlichkeit

6.4      Das Wertesystem von Schwartz

6.5      Teamrollen nach Belbin

6.6      Grundformen der Angst: Riemanns Persönlichkeitstypologie

6.7      Die Grundkonflikte der Operationalisierten Psychodynamischen Diagnostik (OPD)

7      Die Dimension Zeit bei der Arbeit mit Rollen, Anteilen, States und Typen

7.1      Zeitverläufe, Entwicklung und Veränderung

7.2      Zeiterleben

7.2.1   Momentaufnahme

7.2.2   Blick in die Vergangenheit

7.2.3   Wunsch und Zukunft

7.2.4   Begegnung mit meinem zukünftigen Ich

8      Literatur

Sachregister

1 Anstelle eines Vorworts

Patti Smith: „ […] Man darf die Unterhaltungen anderer Menschen darüber, was man tut oder getan hat, nicht zum Teil seines eigenen Selbstgesprächs werden lassen […] “.

Kristen Stewart: „ […] Es gibt eine Lebenskurve. Ich sage immer, dass mich jeder einzelne Moment zu dem gemacht hat, was ich bin. In jedem Film, den ich gemacht habe, ist ein kleiner Teil von mir, jeder ist eine Etappe meines persönlichen Wachstums. […] Sie alle sind, was ich bin. […]“.

Patti Smith: „Walt Whitman hat geschrieben, dass wir Vielheiten enthalten. Schauspieler geben den Vielheiten eine Stimme, die in jedem von uns sind. [….] Wir sehen Menschen zu, wie sie einen Teil von uns portraitieren, vielleicht sogar einen, den wir nicht leiden können. […]“,

Patti Smith interviewt Kristen Stewart (Smith, 2015).

„Inzwischen war ich eine Steinfrau geworden, eine Beobachterin, die auch Akteurin der Szene war. Ich erinnere mich lebhaft an all das, und doch sitzt ein Teil von mir immer noch an dem kleinen Tisch in der langen, schmalen Küche am Fenster und starrt auf Felix. Es ist das Bruchstück von Harriet Bürden, das nie mehr aufgestanden ist und nicht weitergemacht hat“ (Hustvedt, 2015).

„Jeder von uns ist mehrere, ist viele, ist ein Übermaß an Selbsten“ (Pessoa, 2006).

„Ich bin nämlich eigentlich ganz anders, aber ich komme nur so selten dazu“ (von Horvath, 1978).

„The best part about life? Every morning you have the opportunity to become a happier version of yourself” (#happsters Instagramm 18.03.2017).

„Was, wenn es die Zeit nicht gibt? Wenn alles, was man erlebt, ewig ist und wenn nicht die Zeit an einem vorübergeht, sondern nur man selbst an dem Erlebten? Ich frage mich das oft. Man würde dann zwar die Perspektive wechseln und sich von geliebten Erinnerungen entfernen, aber sie wären noch immer da, und könnte man zurückgehen, würde man sie dort noch immer finden. Wie bei einem Buch, in dem man zurückblättert, vielleicht ganz an den Anfang“ (Wells, 2016).

2 Einführung

„In Wirklichkeit sieht alles anders aus, als es wirklich ist“ (Stanislaw Jerzy Lec).

In diesem Buch geht es um unterschiedliche Zugänge zur Wirklichkeit. Oder besser noch, es geht um den Zugang zu unseren inneren Wirklichkeiten, denn wir haben mehrere. Dies ist die gemeinsame Aussage all derer, die hier in diesem Buch eine Stimme finden. Wir sind viele, das wissen wir seit dem Bestseller „Wer bin ich, und wenn ja wie viele?“ (Precht, 2007), auch ohne ein Studium der Psychologie oder Philosophie.

Konzepte zu den multiplen inneren Wirklichkeiten von Menschen entwickeln sich nicht im stillen, abgeschiedenen Kämmerlein, denn niemand denkt alleine. Wir sind eingewoben in Denktraditionen, geistige Netzwerke und einen gedanklich-verbalen Austausch mit anderen. So ist es auch nicht weiter verwunderlich, dass sich bestimmte Ansätze und Konzepte berühren oder in Teilen überschneiden. Ideen, die ursprünglich aus verschiedenen Denktraditionen und Richtungen kamen, werden mit unterschiedlichen Namen plötzlich in dem gemeinsamen Feld Psychotherapie und Beratung sichtbar. So verhält es sich auch mit den Konzepten von Rolle, Anteil, (Ego-)States und Typ; anhand dieser Kategorien wird ein methodenübergreifender Zugang für Psychotherapie und Beratung vorgestellt. Nach einer kurzen Darstellung des jeweiligen Grundverständnisses werden praxisnah konkrete Vorgehensweisen für den beruflichen Alltag beschrieben. Beispiele aus der Praxis, konkrete Beschreibungen von Übungseinheiten im Einzel- und Gruppensetting und exemplarische Instruktionen machen es den Lesern leicht, das Gelesene im beruflichen Kontext selbst anzuwenden. Die Kapitel zu den strukturellen Störungsbildern sowie zur Traumafolgestörung und zu Sucht und Abhängigkeit sind etwas ausführlicher ausgefallen. Dies hat damit zu tun, dass im klinischen Bereich die Arbeit mit Rollen, Anteilen und Ego-States hier am effektivsten ist.

Im Text wurde in der Regel die männliche Schreibform gewählt, soweit nicht in Beispielen von konkreten Menschen die Rede ist. Die männliche Form steht als Chiffre für Männer und Frauen und soll nicht den Eindruck erwecken, dass Frauen nicht gemeint sind.

Noch ein Wort zur Verwendung der Sprache: Die Konzepte der Rolle, der Persönlichkeits- oder Selbstanteile sowie der (Ego-)States haben gemeinsame Wurzeln, aber unterschiedliche Entwicklungen genommen. Ich verwende die Begriffe, wo es mir logisch erscheint synonym, wo nicht, werden die Unterschiede erläutert. Aufgrund der verschiedenen therapeutischen Ausbildungen, die ich im Laufe meines Berufslebens genossen habe, fließen Begriffe aus verschiedenen Denktraditionen in diesem Text zusammen. Manchmal spreche ich von Selbst- und Objektrepräsentanzen, was aus der psychodynamischen Objektbeziehungstheorie kommt, manchmal von soziokulturellen Rollen, wie sie das Psychodrama nennt. Ich hoffe, es bleibt immer verständlich; die Grundidee war die Integration der Ideen, nicht die Ausgrenzung einer Denkrichtung.

Und noch ein letzter Punkt zur sprachlichen Vereinfachung: Psychotherapie und Beratung wird weitgehend synonym verwendet. Unter Beratung wird die Beratung in psychosozialen Anwendungsfeldern verstanden wie z. B. in Ehe-, Familien- und Lebensberatung, aber auch Suchtberatung oder Beratung zu psychischer Gesundheit, und auch das Coaching und die Supervision.

Das Schreiben eines Buches erfordert Zeit, Ideenaustausch und Anregungen. Danken möchte ich an dieser Stelle den zahlreichen Kolleginnen und Kollegen, die durch ihre Ideen das Buch angereichert haben, den Patientinnen und Patienten für ihre Bereitschaft und ihr Vertrauen, Ausschnitte ihrer Lebensgeschichten für eine Veröffentlichung zur Verfügung zu stellen, den Teilnehmerinnen und Teilnehmern meiner Seminare für anregende Erlebnisse und Diskussionen, Andrea Meents für die kritische Durchsicht des Manuskripts, Ulrike Landersdorfer und ihren Kolleginnen vom Ernst Reinhardt Verlag für die hilfreiche und unkomplizierte Begleitung des Projekts, Claudia für all die Unterstützung in großen und kleinen Dingen und Paula für die Begleitung zu meinen Schreibklausuren in die inspirierende Bergwelt Südtirols.

3 Rollen

3.1 Grundverständnis

Rollen sind uns im Alltag vor allem aus Kino und Theater, der Soziologie und Sozialpsychologie, eventuell auch aus dem Bereich von Institutionen und Organisationen geläufig: Jennifer Lawrence hat die Rolle der emotional instabilen Tiffany Maxwell in dem Kinofilm „Silver Linings Playbook“, Bibiana Beglau die Rolle des Mephisto in der Theaterinszenierung von „Faust“, Gerhard Pauls die Rolle des Polizisten im „Stadtviertel“ und Jorgen Vig Knudstorp die Rolle des Geschäftsführers bei LEGO.

Das Wort Rolle kommt ursprünglich aus dem Lateinischen. Als „Rotula“, das „Rädchen“, wurde früher die Holzrolle bezeichnet, um die Papyrusblätter mit Texten gewickelt wurden, damit die Blätter nicht zerbrachen. Es handelte sich dabei meist um Texte von öffentlichem Belang, die z. B. in Vorläufern der Parlamente, bei Gerichtsverhandlungen, später aber auch im Theater Verwendung fanden.

Im Theaterzusammenhang wird unter Rolle die Funktion eines Schauspielers in einem bestimmten Stück verstanden. Die Rolle ist zunächst durch den Text definiert, welcher einem Schauspieler zugeordnet ist.

Aber nicht nur im Theater hat die Rolle Tradition. In sozialpsychologischen Untersuchungen wie sie z. B. Keupp in Bezug auf seine Identitätskonzepte anstellt, zitiert er Montaigne:

„Ich gebe meiner Seele bald dieses, bald jenes Gesicht, je nach welcher Seite ich es wende. Wenn ich unterschiedlich von mir spreche, dann deswegen, weil ich mich als unterschiedlich betrachte“ (Montaigne nach Keupp, 2004, 1).

Auch Nietzsche wird von Keupp im Kontext der Identität angeführt:

„Scharf und milde, grob und fein, vertraut und seltsam, schmutzig und rein, der Narren und Weisen Stelldichein: Dies Alles bin ich, will ich sein, Taube zugleich, Schlange und Schwein“ (Nietzsche nach Keupp, 2004, 2).

Rollen sind hier Bestandteile einer Person im Sinne von unterschiedlichen Identitäten.

In der Soziologie sind die Rollenkonzepte heute vor allem mit den Namen von Mead (1934) und Dahrendorf (2006) verbunden. Soziologisch gefasst ist dabei die Rolle mit der Gesellschaft, den anderen und ihren Erwartungen bzw. Zuschreibungen verknüpft. Das Verhältnis Individuum-Gesellschaft ist dabei im Blickpunkt. Wie ist das Zusammenspiel von Individuum und Gesellschaft in Rollen gefasst? Wie prägen gesellschaftliche Rollen die Einzelnen? Wie verändern sich gesellschaftliche Rollenmuster? Dies sind mögliche allgemeine Fragestellungen, die, da sie den einzelnen Menschen direkt betreffen, auch in Psychotherapie- und Beratungssettings relevant werden können. Soziologische Fragestellungen, wie der Wegfall von rigiden gesellschaftlichen Rollenmustern oder die Freisetzung aus diesen Mustern (Beck, 1986; Beck & Beck-Gernsheim, 1994) verarbeitet werden, spiegeln sich als Einzelschicksale in Rollenkonflikten. Patienten fragen sich, von Versagensängsten und Schuldgefühlen geplagt, wie sie z. B. in ihrer Patchwork-Familie ein „guter“ Vater oder ein „liebevoller Partner“ sein können. Oder die sozialpsychologische Frage, wie sich verschiedene Identitätsmuster zu einem Patchwork zusammensetzen ( Keupp et al., 1999), wird in der Psychotherapiestunde einer Frau zur Frage, „wie kann ich meine verschiedenen Rollen (Partnerin, Berufstätige, Laienschauspielerin) in meiner Beziehung zu meinem Mann mit meiner Rolle in meinem 50-Stunden-Job und meinem Engagement in der Laientheater-Gruppe vereinbaren?“

Auf das Feld der Psychotherapie und Beratung (hier in einem umfassenden Sinn verstanden, also klassische Beratung in klinischem wie pädagogischem Sinn, aber auch die Supervision, das Coaching und die Personalberatung, dementsprechend wird auch die Zielgruppe abwechselnd Klient oder Patient genannt) bezogen stammt der breiteste und bereits zu seiner Zeit revolutionärste Ansatz zur Rolle von dem Psychodrama-Gründer Jakob Levy Moreno (1889–1974). Sein Rollenbegriff umfasst sowohl kollektive, soziokulturelle Stereotypien (soziologische und sozialpsychologische Perspektive: gesellschaftliche Rollenangebote), individuell vorgegebene (biografische Perspektive: persönliche Entwicklung einer Rolle) sowie individuell gestaltete Handlungsmuster (differentialpsychologische Perspektive: Unterschiede von Rollenausprägungen) und Rolle als tatsächliches konkretes Handeln in einer Situation.

BEISPIEL

„Frau Stein ist von Beruf Rechtsanwältin. Sie betreibt eine eigene Kanzlei und ist gewählte Vorsitzende in einer Bürgerinitiative, die sich für die Integration straffällig gewordener Jugendlicher einsetzt. Sie ist zum zweiten Mal verheiratet und hat aus erster Ehe zwei Kinder. In ihrer Freizeit spielt sie in einer Laiengruppe Theater.

Die Berufsrolle entspricht der ersten Dimension, auch die Rolle der BI-Vorsitzenden. Es sind soziokulturelle Rollen, die unabhängig von der sie innehabenden Person bestehen und mit denen bestimmte Erwartungen verknüpft sind. Auch die Rollen der Ehefrau und Mutter sind soziokulturelle Rollen.

Als Laienschaupielerin hat Frau Stein, wenn sie Theater spielt, mit Rollen als individuell vorgegebenen Handlungsmustern zu tun. Sie lernt Handlungsabläufe und Texte auswendig und rezitiert letztere in der Vorstellung.

Die individuell gestalteten, abrufbaren Handlungsmuster zeigen sich darin, wie Frau Stein ihre soziokulturellen Rollen ausfüllt. Ihr persönlicher Gestaltungsspielraum kommt hier zum Tragen. Frau Stein ist eine streitbare Juristin, die sich mit Haut und Haar in ihre Prozesse stürzt, dagegen handelt sie eher vorsichtig und bedächtig als Vorsitzende der Bürgerinitiative. Als Ehefrau begegnet sie ihrem Mann auf Augenhöhe und als Mutter ist sie äußerst fürsorglich.

Die Rollen als tatsächliches Handeln kann man in der unmittelbaren Situation erleben. Sie sind nicht nur von den soziokulturellen und den individuellen Mustern geprägt, sondern ebenso abhängig von Tagesform, beteiligten anderen Personen, Stimmungen, Affekten etc. Frau Stein zeigt sich zum Beispiel an einem ganz bestimmten Montag in der Verhandlung mit einem Kollegen für ihre Verhältnisse als äußerst kompromissbereit“ (Stadler, 2014, 39).

Rollen sind damit „verschiedene Handlungs-, Verhaltens- und Erlebensmuster einer Person, welche identifiziert werden können und die Persönlichkeit in ihrer Gesamtheit konstituieren“ (Stadler, 2014, 11).

Nach diesem kurzen Überblick über das Grundverständnis zum Thema Rolle werden im Folgenden konkrete Anwendungsfelder des Rollenkonzeptes für die Arbeit mit Klienten und Patienten vorgestellt.

3.2 Meine Innenwelt: Rollen des kulturellen Atoms

„Wer bin ich?“

Mit „Wer bin ich?“ und „Was macht mich aus?“ sind Kernfragen der Identität angesprochen, mit der sich Menschen, die sich selbst reflektieren, im Laufe ihres Lebens implizit oder explizit beschäftigen. Auch während eines Therapie- und Beratungsprozesses sind diese Fragen neben der konkreten Symptom- („Welche Beschwerden habe ich?“), der Störungs- („Was ist mein übergreifendes Problem?“), der Ressourcen- („Was hilft mir?“) und der Zielorientierung („Was will ich erreichen?“) zentral. Manche Symptome, Störungen oder Erkrankungen lassen sich mit solch einem Blick auf die Gegenwart und gewünschte Zukunft nicht ausreichend erfassen. Eine Erweiterung in Bezug auf die Symptome gelingt durch Fragen nach dem ersten Erscheinen der Symptome und Schwierigkeiten („Wann ist das Symptom zum ersten Mal aufgetaucht?“). Soll die Identität im Fokus stehen ist die Frage nach dem „Woher komme ich und was macht mich aus?“ zielführend.

Das Psychodrama betrachtet das Selbst des Menschen als ein Konglomerat verschiedener Rollen. Dieses nach und nach im Lebenslauf entstehende und miteinander sich immer komplexer verwebende Rollenbündel wird kulturelles Atom oder Rollen-Atom genannt werden. Diese Rollencluster sind neuronale Netzwerke und repräsentieren Person- und kontextgebundene Erfahrungen. Das Rollenatom bildet die Summe aller Rollencluster einer Person. Das Gehirn ist grundsätzlich in der Lage, lebenslänglich neue Rollen zu speichern. Lebensgeschichtlich frühere Rollen, die im Kontext relevanter Bezugspersonen (Eltern) entstanden sind, können sich jedoch stärker einprägen als spätere; ein Faktor, den die psychodynamische Therapie sehr betont. Frau Steins Tochterrolle ist zunächst prägnanter als die Berufs- und diese wieder prägnanter als die Laienschauspielerrolle. Dies kann sich jedoch ändern in Abhängigkeit des sich entwickelnden inneren Wertesystems (Kap. 6.4 Wertesystem).

Das Rollenatom wird im therapeutischen Setting (im folgenden mit Beratung gleichgesetzt, wenn es nicht gesondert kenntlich gemacht wurde) genutzt, um unterschiedlichste Fragestellungen mit den Patienten anschaulich zu machen und zu bearbeiten: Dies können Fragen nach der eigenen Identität, dem Selbst, der eigenen Motivation bzw. bei der Klärung innerer Konflikte sein.

3.2.1 Erste Schritte in der Innenwelt

Bei der Arbeit mit dem kulturellen Atom werden zunächst die eigenen, inneren Rollen erfasst. Darunter fällt alles, was im Alltag auch als Selbstbeschreibung verwandt wird:

„Ich bin Andreas, von Beruf Schreiner in einem großen Möbelunternehmen. Ich bin verheiratet, Vater zweier Kinder und Stiefvater eines weiteren Kindes. In meiner Freizeit bin ich Fußballtrainer für die F-Jugend und Mitglied im Sportschützenverein. Geboren bin ich in Burghausen. Ich habe zwei ältere Schwestern.“

Daraus wird gemeinsam mit dem Patienten eine Liste seiner sozialen Rollen erstellt:

  Schreiner

  Ehemann

  Vater

  Stiefvater

  Fußballtrainer

  Sportschütze

  Burghausener

  Bruder zweier Schwestern

  Jüngster in der Geschwisterreihe

Eine erste Differenzierung dieser Rollen erhält der Patient durch die Frage, welche Rollen aktiver sind, also in seinem aktuellen Lebensvollzug im Vordergrund stehen. Des Weiteren, welche Rollen eher im passiven Bestand existieren, und welche emotional positiv für ihn besetzt sind, welche emotional negativ. Alternativ kann auf einem Zeitstrahl erhoben werden, wie alt die Rollen jeweils sind (Kap. 7).

„Ich habe gerade viel zu tun in der Arbeit, so dass dies gerade meine aktivste Rolle ist, die Familienrollen stehen dagegen gerade leider mehr zurück. Das macht mir richtig Spaß, auch wenn es anstrengend ist. Meine Stiefvaterrolle, die ich seit fünf Jahren habe, ist auch aktiv, weil es gerade Probleme mit meinem Stiefsohn in der Schule gibt, und ich jeden Tag mit ihm Mathe lerne; das nervt mich ziemlich, wenn ich ehrlich bin. Ich finde es schade, dass ich gerade kaum Zeit mit meiner Frau und unseren (gemeinsamen) Kindern verbringe; sie bedeuten mir viel. Fußballtraining gebe ich meist mit Freude seit einem Jahr zweimal die Woche. Beim Schützenverein bin ich zwar schon zehn Jahre, aber ich war schon länger nicht mehr dort, da werde ich vielleicht auch austreten. Auch zu meinen Geschwistern habe ich keinen Kontakt, die leben noch in Burghausen, da war ich lange nicht mehr. Das sind schwierige Beziehungen.“

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Abbildung 1: Andreas´ aktive Rollen als Tortendiagramm

Die so mit dem Klienten erarbeiteten Rollen können mit Hilfe eines Tortendiagramms in ihrer Gewichtung dargestellt werden. Dadurch werden innere und evtl. auch äußere Problemlagen für die Patienten schnell deutlich. Allein durch die Veranschaulichung entsteht bei Problemlagen wie z. B. Einseitigkeiten im Rollencluster des Patienten ein innerer Motivations- und Veränderungsdruck. Wird die Momentaufnahme eines solchen Tortendiagramms zum rechten Zeitpunkt eingesetzt, fördert dies seine Mentalisierungsfähigkeit (Schultz-Venrath, 2013; Krüger, 2015). Der Klient sieht sich wie von außen und über das Tool Tortendiagramm hat er für sich selbst so etwas wie einen markierten Spiegelprozess, die Grundlage des Mentalisierens geschaffen. Er betrachtet sich und seine Rollen reflexiv.

Im Patienten erwachsen dadurch kreative Kräfte, die ihn herausfordern, mit der aktuellen Lage handelnd umzugehen. Noch deutlicher wird dies durch die grafische Kombination zweier Kriterien, dem Aktivitätsgrad und der emotionalen Bewertung.

Emotional positiv besetzte Rollen: Schreiner, Ehemann, Vater, Fußballtrainer Emotional negativ besetzte Rollen: Stiefvater, Sportschütze, Bruder, Burghausener

Aktive Rollen: Schreiner, Stiefvater, Fußballtrainer

Passiver Bestand: Mann, Ehemann, Vater, Sportschütze, Bruder zweier Schwestern, Jüngster, Burghausener

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Abbildung 2: Kombination von Grad der Aktivität und Emotionaler Bewertung im Koordinatensystem (rechts aktiv, links passiv, oben emotional positiv, unten emotional negativ)

Allein durch die Unterscheidung nach diesen beiden Kategorien werden potentielle Konfliktfelder deutlich, etwa wenn eine emotional positiv besetzte Rolle im passiven Bestand ist (Bsp. Ehemann und Vater), bzw. eine emotional negativ besetzte Rolle im aktiven Modus ist (Stiefvater). Aber auch, wenn das Verhältnis unausgewogen ist, kann dies auf Dauer zu inneren Konfliktlagen führen. Diese Inventarisierung und erste Systematisierung des Rollenatoms führt dazu, dass mögliche Konfliktfelder bewusst in den Blick geraten und damit leichter bearbeitbar werden.

Möchte man als Therapeut einen Schritt weiter gehen, werden die sozialen Rollen in weitere Subrollen differenziert.

BEISPIEL

„Als Schreiner in der Firma Wohnlich habe ich verschiedene Aufgaben. Einerseits bin ich Planer neuer Küchen-Einrichtungen für die Produktpalette, leite aber auch die Abteilung Exklusive Küchen mit 5 Mitarbeitern und die Lehrlingsbetreuer im gesamten Unternehmen. Manchmal, wenn es ein kniffliges Projekt gibt, kontaktiere ich auch die Produktion oder unsere Finanzierungsabteilung.“

Obige Liste der Rollen wird dann durch die genannten Subrollen (Abb. 3 Bereich der Berufstätigkeit) erweitert.

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Abbildung 3: Soziale Rolle und Subrollen in der Berufsrolle

Dasselbe kann selbstverständlich auch für alle anderen sozialen Rollen gemacht werden. Es ist jedoch sinnvoll, zu Beginn nicht zu viele soziale Rollen zu differenzieren, sondern mit dem Patienten einen Schwerpunkt zu verfolgen.

Schreiner

Planer

Abteilungsleiter

Lehrlingsbetreuer

Vermittler zur Produktion

Vermittler zur Finanzierung

Ehemann

Partner

Geliebter

Vater

Vater von Sabine

Vater von Felix

Stiefvater

Therapeut: „Sie haben mir jetzt einen ersten Überblick über Ihre unterschiedlichen Rollen gegeben, lassen Sie uns jetzt einen genaueren Blick auf eine der Rollen werfen. Der Schreiner ist Ihnen als erstes eingefallen, und dabei gleich eine ganze Reihe an Teilrollen…“

Eine weitere Differenzierung der erarbeiteten Rollen wird im Gespräch durch die Ebene der psychischen Rollen erreicht. Die psychischen Rollen nach Moreno zeigen die Qualität der einzelnen sozialen Rollen, z. B. der Rolle des Stiefvaters auf.

Stiefvater

  Der Unterstützer und Helfer

  Der Begrenzer (mehr Lernen, weniger Freizeit)

  Der Väterliche

  Der Antreiber

  Der Empathische

Eine weitere Differenzierung ist auf der Ebene der Subrollen möglich: Wie ist die Rolle des Abteilungsleiters oder des Lehrlingsbetreuers entwickelt?

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Abbildung 4: Berufsrolle mit Subrollen und psychischen Rollen

Weiter kann es in Beratungs- und Therapiegesprächen hilfreich sein, wenn die Gefühlsqualitäten fokussiert werden. Innerhalb der Ehemann-Rolle (soziale Rolle) und Stiefvater-Antreiber-Rolle (psychische Rolle) kann dies so aussehen:

Ehemann

meine anlehnungsbedürftige Seite,

meine lustvolle Seite,

mein Schuldgefühl,

meine enttäuschte/traurige Seite,

meine Wut,

meine Einsamkeit

Stiefvater

der Unterstützer und Helfer

der Begrenzer (z. B. mehr Lernen, weniger Freizeit)

der Väterliche

der Antreiber

der ungeduldige Antreiber

der herausfordernde Antreiber

der fördernde Antreiber

der Empathische

Auf den verschiedenen Ebenen können sich jeweils Konfliktlagen zeigen. Konfliktthemen zwischen verschiedenen sozialen Rollen und/oder innerhalb der einzelnen Rollen, also im Bereich der Subrollen oder psychischen Rollen:

BEISPIEL

Andreas möchte gerne mehr Zeit als Ehemann haben, ist aber in seiner Rolle als Stiefvater sehr gefordert (Konfliktfeld soziale Rollen). In seinem Job würde er gerne mehr kreativ planen, braucht aber seine ganze Zeit aktuell für Personalfragen, was seine Abteilung angeht (Subrollenkonflikt). Als Abteilungsleiter macht ihm die Mischung aus Ungeduld und Kumpelhaftigkeit Probleme (psychische Rollen).

Ausgehend von diesen Interrollenkonflikten wird mit dem Patienten das weitere Vorgehen besprochen:

  Wie kann konstruktiv mit der bestehenden inneren – wie manchmal auch äußeren – Konfliktlage umgegangen werden?

  Können für den Konflikt andere materielle oder personelle Ressourcen herangezogen werden?

  Wie sieht die zeitliche Perspektive im bestehenden Konflikt aus?

  Ist die Lage begrenzbar, absehbar, aushaltbar, veränderbar?

  Woher rühren die verschiedenen psychischen Rollen?

  Gibt es Rollenvorbilder innerhalb der Familie?

Wie anhand des kurzen Beispiels von Andreas sichtbar wird, lässt sich in einem Beratungs- oder Therapiegespräch in kürzester Zeit eine beliebig große Differenzierung von Rollen innerhalb eines Anamnesegespräches herstellen. Diesem Vorteil des strukturierten Vorgehens steht der Nachteil gegenüber, dass der Patient stark geführt wird und sich damit unbewusste Zusammenhänge und Strukturen nicht so einfach zeigen.

ZUSAMMENFASSUNG

Über die Schritte Sammlung der sozialen Rollen und ihrer Subrollen, einer ersten Unterscheidung entweder in aktiv/passiv oder entsprechend der emotionalen Bewertung, dem Blick auf Interrollenkonflikte, der Erfassung der psychischen Rollen und der Rollenqualitäten wird sehr viel von der inneren Welt eines Patienten sichtbar. Das strukturierte Vorgehen verhilft dem Patienten und dem Therapeuten innerhalb kürzester Zeit zu einer großen Menge an weiter bearbeitbarem Material.

Bevor diese Aufschlüsselung von Rollen mit Klienten und Patienten durchgeführt wird, ist es für den Therapeuten oder Berater sinnvoll, diese einmal in Bezug auf die eigene Person zu erleben.

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Übungsaufgabe (ca. 30–45 Minuten):

Nehmen Sie sich ein Blatt Papier und einen Stift und schreiben Sie einmal in der Reihenfolge, wie es Ihnen einfällt, Rollen von Ihnen auf. Zensieren Sie nicht! Wenn Sie nicht sicher sind, ob es eine „Rolle“ ist oder nicht, schreiben Sie diese zunächst einmal auf das Blatt.

Wenn Sie damit fertig sind, d. h. Ihnen für den Moment keine weiteren Rollen mehr einfallen, gehen Sie die Liste durch und bringen Sie die aufgeschriebenen Rollen auf einem weiteren Blatt in eine (neue) Reihenfolge. Nummer 1 wird jetzt, was Ihnen am wichtigsten erscheint, Nummer 2 am zweitwichtigsten, usf. Steht die Rangreihe, ziehen Sie bitte zwei Linien. Einmal nach der letzten Ihrer als „wichtig“ erachteten Rollen, einmal nach den als „neutral“ und vor den „weniger wichtig“ eingeschätzten Rollen. Sie können sich nun etwas Zeit nehmen über die Lage dieser Linien nachzudenken, oder aber auch über mögliche Diskrepanzen: Warum ist mir meine Nummer 1 nicht als erste eingefallen? Welcher innere Konflikt, welcher Wunsch, welche Sehnsucht zeigt sich hier?

Dann nehmen Sie wieder Blatt 1. Wählen Sie eine beliebige Rolle vom Blatt und versuchen Sie hier auf einem neuen Blatt zu differenzieren. Welche Unterrollen und welche Gefühlsqualitäten fallen Ihnen zu der ausgewählten Rolle ein? Beschreiben Sie mindestens jeweils drei!

Danach nehmen Sie wieder Ihr zweites Blatt, das mit den Rangreihen, und suchen sich ein Rollenpaar aus. Zwei der Rollen, die für Sie „irgendwie“ innerlich eine Verbindung zu haben scheinen. Was haben Sie für ein Paar gewählt? Ist es harmonisch? Stärkt es sich, oder steht es in Spannung? Behindert eine Rolle die andere? Sind sie aus unterschiedlichen Bereichen der Reihe (wichtig/neutral/weniger wichtig) oder aus einem Bereich?

Alternativ können Sie Farbstifte nehmen und Rollen, die für Sie zusammengehören in der jeweils gleichen Farbe markieren.

Als letztes erstellen Sie noch ein Tortendiagramm Ihrer Rollen. Welche Rolle hat welches zeitliche Gewicht? Wie ist das, wenn z. B. eine Rolle, die viel Zeit einnimmt, auf Ihrer Rangreihe relativ weit unten rangiert?

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3.2.2 Gefühle, Körper und Ressourcen

Gefühle als Rollen

Innere Gefühlszustände können selbstverständlich auch ohne die sozialen Rollen erfasst werden. Im Dialog mit Patienten können die verschiedenen emotionalen Rollen, die sich bei ihm zu Worte melden, gesammelt werden: der Wütende, der Traurige, der Lustige, der Genießer, oder die Ängstliche, die Enttäuschte, die Hektische, die Empathische, die Liebende usw.

Mit dem Patienten wird gemeinsam betrachtet, wie aktiv und handlungsleitend einzelne Rollen sind, wie gut bzw. schlecht Rollen untereinander harmonieren bzw. sich ins Gehege kommen, ob es unter- bzw. überrepräsentierte Rollen gibt, ob der erlebte Ist-Zustand große Differenzen zu einem vorgestellten Soll-Zustand aufweist, und wie zufrieden der Klient mit seinem emotionalen Rollenatom als Ganzem ist. „Gibt es eine Gefühlsqualität, die Sie bei sich besonders mögen?“ oder „…, die Sie bei sich überhaupt nicht mögen?“

Im Gespräch über die Gefühle in Form von Rollen kommen Patienten meist von alleine auf frühere Bezugspersonen, an welche die jeweiligen Gefühle innerlich gebunden sind. „Meine jähzornige Seite mag ich gar nicht, da bin ich dann so wie mein Großvater: Der hat die gesamte Familie in Angst und Schrecken versetzt…“, oder „Dass ich so freundlich auf Menschen zugehe, habe ich von meiner Oma, sie war immer offen und hilfsbereit zu anderen“. Die Bezüge der Gefühle können auch vom Therapeuten aktiv nachgefragt werden: „Wenn Sie an dieses Gefühl, an diese Seite oder Rolle von Ihnen denken, wer fällt Ihnen dazu aus Ihrer Familie ein?“ (siehe Soziokulturelles Atom). Häufig werden dadurch die Ablehnungen bestimmter eigener Gefühlsqualitäten schnell verständlich. Ist der Zusammenhang für die Patienten klar, ist das abgelehnte eigene Gefühl nicht mehr so bedrohlich, bzw. wird der Kontext des bedrohlichen Charakters sicht- und damit handhabbar.

Manchmal entsteht spontan ein Schuld- oder Schamgefühl: „Oh mein Gott, jetzt bin ich genauso jähzornig wie mein Bruder …!“ Diese Erkenntnis kann über ein paar Zwischenschritte dazu beitragen, dass man sich einer abgelehnten Person gegenüber aber wieder verbundener fühlt, eventuell bestehende Projektionen zurücknehmen kann.

Der Patient erkennt, dass er nicht so ist, sondern, dass er sich in diesem Moment so verhält (zeitliche begrenzte Dimension einer Rolle).

Er kann mentalisieren, d. h. in diesem Kontext über das Motiv seiner inneren Handlung nachdenken, und sich diese Gefühle, Gedanken und Handlungsimpulse verständlich machen.

Er kann weiter erkennen, dass sich z. B. auch sein Bruder zuweilen so verhält.

Er kann weiter mentalisieren, dass auch sein Bruder nicht so ist, sondern innere Motive hat, sich in einer bestimmten Situation auf eine bestimmte Weise zu verhalten.

Die Arbeit mit dem kulturellen Atom umfasst unterschiedlichste Arten von Rollen, nicht nur soziale und psychische Rollen, welche oben dargestellt wurden. Zwei gebräuchliche Sonderformen werden an dieser Stelle kurz vorgestellt: die Arbeit mit Körperteilen und somatischen Symptomen und die Arbeit mit Ressourcen.

Körper und Symptom als Rolle

„Mein Körper hat die Fibromyalgie und meine Seele hat die spanische Grippe“ hat unlängst eine Freundin gesagt. Nicht immer sind Menschen mit körperlichen und seelischen Beschwerden so originell, aber nicht selten kommen Klienten oder Psychotherapiepatienten in die Sprechstunde mit der Klage über körperliche Symptome und Probleme. „Mein Rücken tut so weh…“, „Ich habe immer Kopfschmerzen…“, „Kaum habe ich etwas gegessen, bekomme ich Magenschmerzen und mir ist übel…“. „Mein Hausarzt hat mich geschickt, er sagt, ich habe nichts Körperliches“, ist dann meist der nächste Satz der Patienten mit somatoformen Störungen. „Kein Befund und trotzdem krank“ nennen dies Hausteiner-Wiehle und Henningsen (2015). Ein psychischer Sachverhalt wird körperlich ausgedrückt (Tab. 1).

Tabelle 1: Unterschiedliche Diagnosen und Begriffe im Kontext Körper/Psyche (nach Ermann (2007); Morschitzky (2007); Rudolf (2000))

Somatoforme (Funktions-) Störungen = psychovegetative Störung

Störungen, Beschwerden und Symptome, die einem Organ zugeordnet werden (Herzphobie, Reizdarm, Reizmagen etc.). Sie sehen so aus, als ob es körperlich verursachte Erkrankungen wären, für die sich aber beim Patienten kein organischer Befund finden lässt. Körperliche Symptome werden als krankhaft verkannt.

Somatisierungsstörung

Relativ seltenes, rasch wechselndes multiples körperliches Beschwerdebild (z.B. Erbrechen, Übelkeit, Juckreiz, Brennen) ohne körperliche Ursache.

Konversionsstörung (früher Hysterie)

Konversionssymptome sind körperlich nicht begründbare Dysfunktionen, die einen speziellen Ausdrucksgehalt beinhalten. In dem Symptom ist ein verinnerlichter Konflikt kompromisshaft gelöst.

Dissoziative Störung (im engeren Sinne)

Schutzmechanismus, um unbewusst unerträgliche seelische Spannungen von dem Bewusstsein fernzuhalten ohne speziellen Ausdrucksgehalt (z.B. Schwindel, Lähmung, Vergessen, Depersonalisation, Derealisation). Oft in Folge von Traumatisierungen.

Psychosomatische Erkrankung

Früherer gebräuchlicher Oberbegriff über Erkrankungen, bei denen ein klarer Zusammenhang zwischen dem seelischen und dem körperlichen Befinden vermutet wurde (z.B. Asthma, Tinnitus, Hauterkrankungen inkl. der somatoformen und der Konversionsstörungen).

Hypochondrische Störung

Angst, an einer bestimmten Erkrankung zu leiden im Vordergrund. Wunsch nach immer neuen Untersuchungen.

Aber auch bei und nach schweren körperlichen Erkrankungen wie Krebs, Schlaganfall, Herzinfarkt oder chronischen Schmerzzuständen, z. B. bei Bandscheibenleiden oder bei einer bestehenden Fibromyalgie, steht zunächst das Körperliche im Vordergrund der Erzählung des Patienten. „Ich hatte einen Herzinfarkt, jetzt habe ich wieder so ein beklemmendes Gefühl in der Brust. Ich habe Angst, wieder einen Infarkt zu haben. Was meinen Sie?“ oder „Ich hatte vor zwei Jahren Brustkrebs, jetzt muss ich nächste Woche zur Nachsorge und ich überlege, dass ich den Termin absage, weil ich solche Angst habe. Ich meine, ich spüre schon wieder etwas.“

Der Körper, seine Symptome und die körpersymptombezogenen Ängste sind immer das Naheliegende, das, was man als Patient unmittelbar spürt. Daher ist es relativ einfach, diese Phänomene in Worte zu fassen; sie bringen ihre Not direkt auf den Punkt. Zugang zu Menschen mit Körpersymptomen findet man als Therapeut oder Berater nur, wenn es innerlich gelingt diese zu würdigen. Es gibt nichts Kränkenderes für Patienten als den Satz: „Ihnen fehlt nichts, das ist alles nur psychisch.“ In der Würdigung des Körpersymptomes bekommen Patient und Therapeut einen Schlüssel in die Hand für die Innenwelt des Patienten und zu seinen Bewältigungsmechanismen.

Wie bei der Arbeit mit den sozialen und psychischen Rollen werden dazu mit dem Patienten Körperrollen, die er betroffen sieht, gesammelt.

BEISPIEL