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Über dieses Buch:

Ein renommierter Professor lässt sich in eine ordinäre Kneipenprügelei verwickeln? Das erscheint Privatermittler Jeremias Voss reichlich ungewöhnlich – zumal Professor Stieleke kurz darauf tot im Alsterfleet treibt. Seine Arbeitgeberin Charlotte Malakow, Chefin des milliardenschweren Malakow-Konzerns, bittet Voss um Hilfe – denn Stieleke, der Leiter ihres Forschungslabors, arbeitete an einem brisanten Geheimauftrag. Bald wird Voss klar, dass er einer großen Sache auf der Spur ist, der er allein nicht gewachsen ist. Aber wird ihm Marten Hendriksen, der Pathologe mit der Leichenallergie, wirklich eine Hilfe sein?

Über den Autor:

Ole Hansen, geboren in Wedel, ist das Pseudonym des Autors Dr. Dr. Herbert W. Rhein. Er trat nach einer Ausbildung zum Feinmechaniker in die Bundeswehr ein. Dort diente er 30 Jahre als Luftwaffenoffizier und arbeitete unter anderem als Lehrer und Vertreter des Verteidigungsministers in den USA. Neben seiner Tätigkeit als Soldat studierte er Chinesisch, Arabisch und das Schreiben. Nachdem er aus dem aktiven Dienst als Oberstleutnant ausschied, widmete er sich ganz seiner Tätigkeit als Autor. Dabei faszinierte ihn vor allem die Forensik – ein Themengebiet, in dem er durch intensive Studien zum ausgewiesenen Experten wurde.

Heute wohnt der Autor in Oldenburg an der Ostsee.

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Der Autor im Internet: www.herbert-rhein-bestseller.de

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Originalausgabe Mai 2018

Copyright © der Originalausgabe 2018 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Redaktion: Ralf Reiter

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von Bildmotiven von Shutterstock.com/the beauty of the world und Shutterstock.com/SJ Travel Photo and Video

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (aks)

ISBN 978-3-96148-258-0

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Ole Hansen

Jeremias Voss und der Tote im Fleet

Der zehnte Fall

dotbooks.

Kapitel 1

Jeremias Voss, Hamburgs berühmter Privatdetektiv, saß mit seiner Assistentin Vera Bornstedt im Karo-Fischrestaurant in der Feldstraße. Sie hatten einen komplizierten Fall gelöst, und Voss hatte Vera als Dank für ihre Arbeit zum Essen eingeladen. Da sie Fisch liebte, hatte er einen Tisch im Karo bestellt. Es war angebracht, sich rechtzeitig anzumelden, wenn man hier nicht in einer Warteschlange stehen wollte.

Das Karo war ein Zwischending zwischen Imbiss und Restaurant, doch das störte den Kenner nicht, denn es servierte den besten Fisch in Hamburg.

Voss unterhielt Vera gerade mit Anekdoten aus dem letzten Fall, als er plötzlich bemerkte, dass sie unkonzentriert war. Ihre Aufmerksamkeit galt dem Nebentisch, an dem zwei Herren saßen, die eine Zeitung unter sich aufgeteilt hatten und darin vertieft waren.

»Langweile ich Sie?«, fragte Voss.

»Wie hieß noch mal der Leiter des Forschungslabors des Malakow-Konzerns, mit dem Sie manchmal zu tun hatten?«, fragte Vera, ohne auf seine Frage einzugehen.

»Professor Stieleke«, antwortete Voss verwundert. »Warum?«

»Sehen Sie mal zum Nebentisch, zu dem Herrn mit der braunen Strickkrawatte. Schauen Sie auf die Überschrift der Zeitungsmeldung links oben. Beeilen Sie sich, bevor er umblättert.«

Neugierig folgte er Veras Anweisung und starrte plötzlich wie elektrisiert auf die Zeitung. In dicken, schwarzen Lettern stand dort:

Hamburg ist um eine Berühmtheit ärmer!

Der international bekannte und für den Nobelpreis in Chemie nominierte Forscher Markus Stieleke ist tot.

In den …

Weiter kam er nicht, da die Zeitung in diesem Moment umgeblättert wurde. Voss verharrte einen Moment unschlüssig. Dann stand er auf und ging zum Nebentisch.

»Entschuldigen Sie meine Aufdringlichkeit. Dürfte ich mir vielleicht für zwei Minuten Ihre Zeitung ausleihen? Ich habe durch Zufall eine Meldung gelesen, die mich sehr betroffen macht. Ich würde gerne den Artikel lesen, um zu sehen, ob es sich tatsächlich so verhält, wie ich befürchte.«

Der Herr, den er angesprochen hatte, faltete seinen Teil der Zeitung zusammen und reichte ihn Voss.

»Behalten Sie sie. Ich bin durch. Und du, Carlos?«

Der Angesprochene winkte ab. »Ich auch.«

»Herzlichen Dank, meine Herren. Darf ich mich mit einem Bier bei Ihnen bedanken?«

»Da sagen wir nicht Nein.« Er sah den Mann namens Carlos an, und der nickte zustimmend.

Voss winkte der Bedienung und bat sie, zwei Bier nach den Wünschen der Herren zu bringen.

Da in diesem Augenblick ihr Essen serviert wurde, legte er widerstrebend die Zeitung auf den Stuhl neben sich, faltete sie auseinander und überflog den Artikel.

»Nun machen Sie es nicht so spannend. Was schreiben sie?«

Voss beugte sich vor, und Vera tat das Gleiche.

»Ist eine Tragödie«, flüsterte er. »Ein Straßenarbeiter hat den Professor gegen fünf Uhr morgens im Alsterfleet treibend gefunden. Er hatte am Abend zuvor mit einer Gruppe französischer Biochemiker in den Alsterarkaden zu Abend gegessen. Nach dem Bericht soll es dabei hoch hergegangen sein. Wie der Kellner aussagte, soll keiner mehr einen sicheren Gang gehabt haben, als man sie in den frühen Morgenstunden hinauskomplimentierte. Soweit die Fakten. Alles andere ist Blabla.«

»Wer hat den Artikel geschrieben?«

Voss lächelte. »Raten Sie mal.«

»Wenn Sie so fragen, dann war es Knut Hansen.«

»Richtig. Der ganze Artikel klingt nach ihm. Nur er ist in der Lage, aus wenigen Fakten eine spannende Story zu schreiben. Ich werde ihn nachher anrufen und sehen, was stimmt und was seiner Fantasie entsprungen ist. Wie ich ihn kenne, wird er sich diebisch freuen, dass er mal eine Story hat, die nicht von mir stammt.«

Vera wusste, dass dies den Tatsachen entsprach. Die beiden Männer verband eine Art berufliche Freundschaft. Voss lieferte Hansen Material für seine Artikel, und Hansen gab dafür Gerüchte und vertrauliche Hintergrundinformationen preis, die für Voss’ Ermittlungen hilfreich waren. Wäre der Reporter nicht die Unpünktlichkeit in Person gewesen, hätten Voss und er ein gutes Team abgeben können. Dafür aber knirschte es zu oft zwischen den beiden.

Veras Handy klingelte. Sie nahm das Gespräch an, hörte einige Augenblicke schweigend zu, um dann zu sagen: »Wir rufen zurück. Können augenblicklich nicht reden.« Sie drückte das Gespräch weg und steckte das Handy wieder in die Handtasche. Voss sah sie neugierig an.

»Elisabeth Gerkens hat angerufen, die Sekretärin von Charlotte Malakow. Die Vorstandsvorsitzende des Malakow-Konzerns möchte dringend mit Ihnen sprechen.«

»Charlotte? Was will sie?«

Seit Voss ihr und ihrem Vater einen wertvollen Dienst erwiesen hatte, war er mit beiden befreundet. Es war Charlotte gewesen, die ihn mit Professor Stieleke bekannt gemacht hatte und den Wissenschaftler angewiesen hatte, seine Wünsche vorrangig zu bearbeiten.

»Hat sie nicht gesagt, nur dass es dringend ist.«

»Was halten Sie davon, wenn wir ins Büro zurückfahren und den Kaffee dort nehmen? Ich habe jetzt keine Ruhe mehr.«

»Das wollte ich Ihnen gerade vorschlagen.«

Voss winkte dem Kellner und zahlte. Per Handy hatte Vera inzwischen ein Taxi bestellt. Sie war von Beginn an bei Voss angestellt und kannte ihren Chef inzwischen so gut, dass sie im Voraus wusste, was er wünschte.

Das Büro für vertrauliche Ermittlungen lag in Voss’ Jugendstilvilla im Mittelweg, nicht weit von der Außenalster entfernt. Das renovierte Gebäude beherbergte im Hochparterre das Büro und in der ersten Etage Voss’ Privaträume.

Sie stiegen die fünf Stufen zur Eingangstür hoch und betraten einen kleinen Windfang. Eine weitere Tür führte in eine größere Diele, von der wiederum zwei Türen abgingen. Hinter einer lag die Treppe zum Keller, durch die andere gelangte man in Veras Büro. Gegenüber der Kellertreppe gab es eine Wendeltreppe, über die Voss zu seinen Wohnräumen gelangte.

Voss und Vera hatten gerade den Windfang betreten, als sich in der Diele jemand wie wild gebärdete. Vera trat sicherheitshalber hinter Voss, denn als er die Tür zum Büro öffnete, stürzte ein Muskelpaket von Hund auf ihn zu, sprang ihn mit seinen fünfundfünfzig Kilo an und leckte ihm vor Freude das Gesicht. Voss hatte sich in weiser Voraussicht so gestellt, dass er von Nero nicht umgeworfen wurde.

Ein bis zwei Sekunden ließ er ihn gewähren, dann befahl er: »Aus!« Nero gehorchte auf der Stelle, setzte sich zu Voss’ Füßen und wartete darauf, dass der seinen mächtigen Kopf kraulte.

Nero war ein Mischling, den er als Welpen aus Istanbul mitgebracht hatte. Nachdem er ihn vor dem Schlachtermesser eines Fleischers gerettet hatte, war ihm der Kleine hinterhergelaufen. Als es Voss trotz mehrfacher Versuche nicht gelungen war, ihn abzuschütteln, nahm er ihn mit nach Deutschland. Er sollte es nicht bereuen, denn Nero war gelehrig, treu und gehorsam. Seine Anhänglichkeit ging so weit, dass er jedes Hindernis, das ihn von seinem Herrn trennte, beiseite räumte. Gegen geschlossene Türen rannte er mit dem überbreiten Kopf so lange an, bis entweder das Schloss nachgab oder das Türblatt zersplitterte.

Veras Büro hatte eine moderne Einrichtung mit allem, was sie für die Arbeit benötigte. Der Computer auf ihrem Schreibtisch war das neueste Modell. Etwas abgesetzt gab es eine Sitzgruppe als Wartebereich für Besucher. An der Wand rechts vom Schreibtisch war über die ganze Fläche vom Boden bis zur Decke ein Aktenschrank eingebaut. Er diente aber nur zur Hälfte der Lagerung von Akten, die andere verbarg eine Pantry-Küche. Hier wurde Voss’ Lebenselixier, der Kaffee, aufgebrüht. In einem Kühlschrank darunter lagerten Milch, Mineralwasser und Bier.

Voss half Vera aus dem Mantel und ging dann weiter in sein eigenes Reich. Der Raum wurde von einem großen Schreibtisch dominiert. Dahinter befand sich ein Sessel, der speziell für Voss’ lädierte Wirbelsäule gefertigt worden war. Es war der einzige Platz, an dem er stundenlang ohne Schmerzen sitzen konnte. Es war der Rücken gewesen, der ihn dazu veranlasst hatte, vertraulicher Ermittler zu werden. Zuvor war er Hauptkommissar und Hubschrauberpilot bei der GSG 9 gewesen, war bei einem Einsatz zur Geiselbefreiung mit dem Helikopter abgestürzt und hatte sich dabei mehrere Rippen und Wirbel gebrochen. Viele Monate verbrachte er in Krankenhäusern und Reha-Kliniken. Seine Verletzungen verheilten weitgehend, doch er war für den Außendienst nicht mehr geeignet. Da er keine Lust hatte, hinter einem Schreibtisch zu versauern, nahm er seinen Abschied und baute sich eine Ermittlungsagentur auf. Eine Entscheidung, die er nicht bereute. Schon nach kurzer Zeit war er Hamburgs erfolgreichster Privatdetektiv gewesen. Er konnte sich rühmen, jeden Auftrag erfolgreich beendet zu haben. Inzwischen konnte er es sich leisten, nur Fälle zu übernehmen, die tatsächlich eine Herausforderung darstellten.

Voss setzte sich hinter den Schreibtisch, und Nero legte sich auf seine Matte, die an der Wand hinter dem Schreibtisch lag. Kurz darauf hörte Voss das vertraute Schnarchen.

Er kippte den Sessel nach hinten und legte die Füße auf die Schreibtischplatte – die beste Haltung, um nachzudenken. Er kam jedoch nicht dazu, denn schon trat Vera mit zwei Bechern Kaffee ins Büro.

»Chef, bevor Sie sich Ihren Gedanken hingeben, müssen wir noch den Kaffee trinken, zu dem wir im Karo nicht mehr gekommen sind.«

»Sie haben recht, Vera. Nehmen Sie Platz.« Voss nahm die Füße vom Tisch.

»Was halten Sie von der Meldung? Sie kannten doch Professor Stieleke gut. War das ein Unfall?« Vera reichte ihm den Becher Kaffee und sah ihn zweifelnd an.

Er wiegte unentschlossen den Kopf. »Schwer zu sagen. Ich habe den Professor nur nüchtern erlebt. Ich kann nicht sagen, dass ich ihn gut kannte. Mehr als fünfmal habe ich seine Hilfe nicht in Anspruch genommen. Auf mich machte er immer einen ruhigen, überlegt-sachlichen Eindruck. Wie er sich unter dem Einfluss von Alkohol verhielt, kann ich nicht sagen. Die meisten Menschen verändern sich, wenn sie zu viel getrunken haben. Die einen werden so aggressiv, dass sie nicht mehr zwischen Freund und Feind unterscheiden können, und andere verfallen ins genaue Gegenteil. Sie werden so depressiv, als trügen sie den gesamten Weltschmerz auf den Schultern. Und dann gibt es solche Typen wie mich, die vor lauter Freude ihren Angestellten den Lohn erhöhen würden.« Voss lächelte Vera an. »Ein Grund, warum ich in Ihrer Gegenwart kaum Alkohol trinke.«

»Weil Sie es gerade erwähnen … möchten Sie nicht etwas Cognac in den Kaffee?«

Da sie schon seit den ersten Tagen der Agentur zusammenarbeiteten, hatte sich eine lockere Arbeitsatmosphäre zwischen ihnen entwickelt. Selbst wenn der Ton im Eifer der Diskussion einmal entgleiste, nahm das keiner übel. Dazu schätzten sie den anderen zu sehr. Wenn Vera sich nicht strikt geweigert hätte, ihren Chef zu duzen, hätten ihre Gefühle zueinander romantische Folgen haben können. Weil Vera das ahnte, bestand sie darauf, beim Sie zu bleiben.

»Was ich noch sagen wollte, Chef. Während ich Kaffee kochte, habe ich Elisabeth Gerkens angerufen. Sie bat mich, Ihnen auszurichten, dass Sie Frau Malakow heute Abend um neun Uhr in ihrer Wohnung aufsuchen möchten.«

»Hat sie gesagt, was Frau Malakow von mir will?«

»Können Sie sich das nicht denken?«

»Vera!«

»Entschuldigen Sie, Chef, wie komme ich nur darauf?«, sagte sie mit einem anzüglichen Lächeln. »Um Ihre Frage zu beantworten: Sie hat nichts gesagt. Entweder wusste sie es nicht, was ich bezweifle, oder sie hat die Order bekommen, nichts auszuplaudern.«

Vera reichte ihm einen Zettel, auf dem stand: 21.00 Uhr Besuch bei Frau Malakow – Privatwohnung.

»Okay, Vera, dann wollen wir mal sehen, was wir über den Toten herausfinden. Ich werde als erstes Kriminaloberrat Friedel anrufen, danach Silke Moorbach und zum Schluss Knut Hansen. Sie sollten währenddessen sehen, was das Internet über ihn hergibt. Ich möchte wissen, wie seine Position im Konzern war, woran er arbeitete, mit welchen Kollegen er zusammenarbeitete, ob es Konkurrenzkämpfe gab und ...«

»Ich weiß schon. Kein Grund, mir alles haarklein zu erklären, Chef.«

»Sorry.«

»Schon gut.« Vera drehte sich um und ging in ihr Zimmer zurück.

Voss wählte die Nummer seines Freundes Friedel. Er war Leiter der Abteilung für Tötungsdelikte im Landeskriminalamt Hamburg und sein engster Freund. Sie kannten sich schon seit der Schulzeit und waren zusammen zur Polizei gegangen. Friedel hatte dann Jura und Kriminalistik studiert, während Voss sich für den praktischen Dienst entschieden hatte.

Hilde Mertens, Friedels langjährige Sekretärin, meldete sich und begrüßte ihn auf ihre unkonventionelle Art.

»Welch seltener Gast, oder sollte ich besser Bittsteller sagen?«

»Moin, Hilde. Sie liegen ganz falsch, auch wenn das bei Ihnen nur selten vorkommt. Dies ist nur ein freundschaftlicher Anruf. Ihr Boss verschanzt sich so hinter seinem Schreibtisch, dass man nichts mehr von ihm zu sehen bekommt. Deshalb wollte ich mal nachfragen, ob er überhaupt noch lebt oder hinter dem Schreibtisch vertrocknet ist.«

»Sie wollen also seine wertvolle Arbeitszeit mit einem Privatgespräch vergeuden?«

»Wo denken …«

»Hör auf zu sülzen. Was willst du?«, schaltete sich Friedel in die Leitung. Offenbar hatte ihm die Sekretärin ein Zeichen gegeben, dass Voss am Apparat war.

»Hallo, Hans, ich freue mich auch, deine Stimme nach so langer Zeit wiederzuhören.«

Voss hörte, wie Friedel am anderen Ende der Leitung stöhnte, und lächelte.

»Wenn ich mich nicht irre, hast du mich erst vorgestern belästigt.«

»So lange ist das schon wieder her. Ich wusste …«

»Komm zur Sache, Jeremias. Ich hab wirklich alle Hände voll zu tun. Was willst du?«

»Ich wollte nur mal hören, was ihr über den Unfall von Professor Stieleke wisst?«

»Du auch noch. Das ist ja der Grund, warum ich alle Hände voll zu tun habe. Sein Tod hat mächtigen Wirbel verursacht. Im Halbstundentakt rufen Politiker oder Journalisten an und wollen die neuesten Erkenntnisse wissen.«

»Gibt es denn welche?«

»Nicht wirklich. Außer vielleicht, dass er volltrunken war. Er hatte drei Komma fünf Promille Alkohol im Blut. Dass er überhaupt den Ausgang gefunden hat, grenzt an ein Wunder. Jetzt muss ich los, abendliche Pressekonferenz – du kennst das ja.«

»Nur eine Frage noch: Unfall oder hat jemand nachgeholfen?«

»Augenblicklich gehen wir von einem Unfall aus. Tschüss, ich muss los.«

»Mein Gott, bin ich froh, dass ich nicht mehr zu diesem Haufen gehöre«, sagte Voss zu sich selbst.

Er machte eine kurze Notiz von dem Gespräch. Danach rief er Silke an.

Professor Dr. Silke Moorbach war Leiterin ihres eigenen Instituts für Rechtsmedizin und Forensik in Hamburg. Außerdem lehrte sie an der Universität Rechtsmedizin. Voss kannte sie genauso lange wie Vera. Sie waren sogar einmal ein Paar gewesen, hatten sich aber nach einem Jahr wieder getrennt. Beide waren Alphatiere, gerade dabei, sich eine Zukunft aufzubauen, und keiner wollte zurückstecken. Nach der Trennung waren sie gute Freunde geblieben. Manchmal suchten sie sich gegenseitig auf, um Trost und neue Energie zu tanken. Auch schliefen sie hin und wieder miteinander.

Esther Dombruch, Silkes Sekretärin, meldete sich.

Voss war erstaunt. Er kannte sie nicht.

»Ich möchte Frau Moorbach sprechen. Bitte melden Sie ihr, dass Jeremias Voss am Apparat ist.«

»Tut mir leid, Frau Professor ist im Sezierraum und möchte nicht gestört werden.«

»Das ist schon okay. Wenn Sie ihr meinen Namen sagen, wird sie eine Ausnahme machen.«

»Tut mir leid, aber ich habe strikte Anweisungen, sie nicht zu stören. Es hat heute schon jemand versucht, sie zu sprechen, und sich als enger Freund von Frau Professor ausgegeben. Ich habe ihm geglaubt und ihn weitergeleitet. Er hatte gelogen, und anschließend habe ich einen fürchterlichen Rüffel bekommen. Das passiert mir nicht noch mal.«

»Kann ich verstehen. Wer war denn der Mann?«

»Ein Reporter vom Hamburger Tageblatt

»Hieß er Knut Hansen?«

»Ja, den Namen nannte er.«

»Tut mir leid, dass Sie seinetwegen einen Anpfiff bekommen haben. Aber trösten Sie sich, den hätten Sie nie abwimmeln können. Sagen Sie bitte Frau Moorbach, dass ich sie sprechen will. Wenn Sie Zeit hat, möchte sie sich bei mir melden. Ich werde bei ihr ein gutes Wort für Sie einlegen. Den Hansen wären Sie nur losgeworden, wenn Sie saugrob zu ihm gewesen wären.«

»Vielen Dank, Herr Voss, für Ihr Verständnis und dass Sie sich für mich verwenden wollen. Ich werde Frau Professor ausrichten, dass Sie angerufen haben.«

Voss legte auf und wählte die Nummer von Knut Hansen. Sein Schreibtischnachbar im Großraumbüro der Redaktion meldete sich und teilte mit, dass Knut nicht erreichbar sei. Offenbar recherchierte er, denn er hatte sein Telefon ausgeschaltet. Voss bat auch hier um einen Rückruf.

Kapitel 2

Pünktlich um neun Uhr abends parkte Voss seinen SUV vor dem Glashochhaus am Rödingsmarkt, dem Verwaltungssitz des europäischen Segments des Malakow-Konzerns. Die Halle und der Vorplatz waren wie immer hell erleuchtet. Die breite, gläserne Eingangstür war verschlossen und dahinter mit einem Eisengitter gesichert. Voss, der das Einlassprozedere kannte, ging zu einem schmalen Nebeneingang und hielt seinen Personalausweis auf einen Bildschirm. Er wusste, dass sein Gesicht nun elektronisch gescannt und mit dem Foto auf dem Ausweis verglichen wurde.

»Wo möchten Sie hin, Herr Voss?«, erklang die Stimme des Nachtpförtners aus dem Lautsprecher neben dem Bildschirm.

»Ich habe einen Termin mit Frau Malakow um neun Uhr.«

»Einen Augenblick bitte.«

Der Pförtner fragte bei Charlotte nach, um sich den Termin bestätigen zu lassen.

Nach einigen Augenblicken öffnete sich die Stahltür geräuschlos. Voss trat ein und sah sich einer weiteren Stahltür gegenüber. Diese Sicherheitsmaßnahme war neu.

»Bitte legen Sie alle Gegenstände aus Ihren Taschen in die Klappe rechts neben der Tür. Sie erhalten sie auf der anderen Seite zurück«, erklang eine elektronische Frauenstimme. »Wenn Sie alle Gegenstände abgelegt haben, schließen Sie bitte die Klappe und heben Sie die Arme in die Höhe.«

Voss tat wie angewiesen, und die Stahltür öffnete sich. Er durfte eintreten und nahm sein Portemonnaie, den Haustür- und den Autoschlüssel vom Fließband.

Nun befand er sich in der Eingangshalle, die tagsüber jedermann ohne Kontrollen durch das breite Eingangsportal betreten konnte.

Voss ging zu den drei Fahrstühlen an der Rückwand. Zwei wurden mit den üblichen Pfeilen herbeigerufen, der dritte ließ sich nur mit einer Chipkarte bedienen. Er führte direkt in den zehnten Stock zu Charlottes Wohnung. Da Voss von ihr eine Chipkarte erhalten hatte, benutzte er diesen Fahrstuhl. In der obersten Etage betrat er einen mit dicken Teppichen ausgelegten Empfangsraum. Von dort führte eine Tür zu Charlottes Penthouse. Die Tür stand offen.

»Komm rein«, rief sie von innen.

Voss folgte ihrer Stimme. Sie kam aus dem Wohnzimmer. Es hatte die Größe einer Dreizimmerwohnung, war exquisit eingerichtet und mit Bildern moderner Maler geschmückt. In der Mitte des Raumes befand sich ein runder Couchtisch, um den acht bequeme Sessel mit hohen Rückenlehnen standen. Das Faszinierendste an dem Raum waren jedoch die vom Boden bis zur Decke reichenden Fenster. Sie umschlossen das Zimmer an drei Seiten und boten dem Besucher einen atemberaubenden Blick über den Hafen, die Elbe und das pulsierende Leben in der Stadt.

Sobald Voss das Zimmer betreten hatte, kam ihm Charlotte entgegen. In ihrem eng anliegenden Hausauszug aus schwarzer Seide wirkte sie verführerisch. Sie legte die Arme um seinen Hals und küsste ihn auf beide Wangen.

»Es ist lieb von dir, dass du gleich gekommen bist. Ich brauche dringend deinen Rat.«

»Das war doch selbstverständlich, Charlotte. Als Erstes möchte ich dir mein Beileid aussprechen. Als ich vom Tod Professor Stielekes in der Zeitung las, war ich geschockt. Das muss für euch ein großer Verlust sein.«

Voss musste sich zusammennehmen, um seiner Stimme einen ernsten Klang zu geben. Der Hosenanzug, der ihre weiblichen Reize so wirkungsvoll unterstrich, ließ in ihm ganz andere Gedanken aufkommen.

»Danke, Jeremias. Du hast recht. Er ist nicht zu ersetzen, jedenfalls nicht so schnell, wie es notwendig wäre. Doch setzen wir uns.«

Charlotte führte ihn zum Kamin, vor dem sich zwei dreisitzige Couchs gegenüberstanden. Auf dem niedrigen Tisch dazwischen stand eine Flasche Flensburger Bier, seine Lieblingsmarke, daneben ein Teller mit belegten Brötchen.

»Du findest mehr Bier rechts neben der Couch. Ich werde einen Schluck Champagner trinken. Du kannst selbstverständlich auch welchen bekommen, wenn du möchtest.«

»Vielen Dank, aber so wie du es hergerichtet hast, ist es bestens.«

Voss öffnete die Flasche Champagner und schenkte ihr ein. Er selbst bediente sich beim Bier und musterte Charlotte unauffällig. Es war immer wieder erstaunlich, wie natürlich sie sich gab. Niemand, der sie so gesehen hätte, wäre auf den Gedanken gekommen, dass sie die Chefin eines milliardenschweren, international operierenden Konzerns war. Ihr natürliches, charmantes Wesen war es, was Voss zu ihr hinzog.

Nachdem sie sich zugeprostet hatten, kam Charlotte ohne Umschweife auf das Thema, das ihr auf dem Herzen lag, zu sprechen.

»Ich … das heißt, der Konzern … speziell Hamburg ist in einer misslichen Lage. Professor Stieleke war nicht nur der Leiter der Forschungsabteilung, er hatte auch einen Geheimauftrag von mir bekommen. Er sollte für die Sicherheit im Forschungsbereich sorgen.«

Voss wollte etwas sagen, doch Charlotte hielt ihn mit einer Handbewegung zurück.

»Einen Augenblick, Jeremias, jetzt komme ich zum Wesentlichen. Vor etwa vierzehn Tagen kam Professor Stieleke zu mir und berichtete, dass er das Gefühl habe, in unserem Labor würde Industriespionage betrieben. Er hat im Internet die Veröffentlichung eines chinesischen Unternehmens namens Shantou Industries gefunden, mit Forschungsergebnissen, die genau denen unserer Forschungsreihen entsprechen. Ich fragte ihn, ob das Zufall sein könnte. Er hielt es für unwahrscheinlich. Wir haben daraufhin beschlossen, das Forschungspersonal genauestens zu überprüfen. Ergebnisse liegen noch nicht vor. Schließlich war Stieleke Wissenschaftler und kein Ermittler. Was mir zu denken gibt, ist, dass er zwei Wochen später tot war. Auch das könnte ich noch als Zufall abtun, wenn nicht einer unserer Biochemiker aus dem Labor in München vor knapp zwei Wochen beim Bergsteigen in den Tiroler Alpen tödlich verunglückt wäre. Auch er arbeitete an unserem geheimen Forschungsprojekt und – was das Verblüffende ist – war von Professor Stieleke beauftragt worden, nach undichten Stellen in unserem Sicherheitssystem zu forschen. Das alles gibt mir sehr zu denken. Sollten die Chinesen ein Patent auf Forschungsergebnisse beantragen, die bei uns gestohlen wurden, dann würde das einen Schaden verursachen, der an die 100 Millionen geht. Und nun frage ich dich, was hältst du davon? Habe ich mich in eine fixe Idee verrannt? Was meinst du?«

Voss schwieg eine ganze Weile. »Dascha gediegen!«, sagte er dann. »Sehr interessant. Ich glaube nicht, dass du dich verrannt hast. Deine Bewertung scheint mir auf den ersten Blick überzeugend.«

Wieder starrte er eine Weile schweigend vor sich hin. »Weißt du, ob Stieleke zum Alkohol neigte? Ich meine, übermäßig. Nicht die zwei, drei Gläser, die sich jeder von uns nach einem anstrengenden Tag gönnt, sondern ob er so viel konsumierte, dass er nicht mehr Herr seiner Sinne war.«

Charlotte sah ihn erstaunt an. »Wie kommst du jetzt darauf?«

»Als die Polizei ihn aus dem Fleet gezogen hat, hatte er drei Komma fünf Promille.«

Charlotte war entsetzt. »Bist du sicher? Mir ist er nie als Säufer aufgefallen. Ich müsste mich dazu mit seinem Forschungsteam unterhalten.«

»Tu es nicht. Sollte an deinen Verdächtigungen etwas dran sein, warnst du nur die Täter. Ich schlage sowieso vor, dass alles, was du mit mir besprichst, unter uns bleibt.« Voss sah sie einige Augenblicke forschend an, dann fragte er: »Du sagtest eingangs, du wolltest meinen Rat. So ganz verstehe ich nicht, wobei ich dich beraten soll.«

Charlotte lächelte ihn unsicher an. »Ich habe mich unglücklich ausgedrückt. Verzeih mir. In Wirklichkeit möchte ich dich anheuern, den Tod von Professor Stieleke zu untersuchen und gleichzeitig herauszufinden, ob bei uns Industriespionage betrieben wird. Und wenn ja, sollst du sie unterbinden.«

Im ersten Moment war Voss sprachlos, dann sah er sie mit großen Augen an und lächelte.

»Was findest du daran so lächerlich?«, fragte Charlotte. Offenbar hielt sie seine Heiterkeit für unangebracht.

»Hast du dir überlegt, was du da von mir verlangst? Dein Auftrag ist so komplex, dass er mein Ein-Mann-Team überfordert. Das ist eine Aufgabe für die Polizei.«

Charlotte schüttelte vehement den Kopf. »Das kommt nicht infrage. Wenn ich die Polizei einschalte, dann dauert es nur Stunden und die Presse bekommt Wind davon. Wie das Ergebnis aussehen würde, brauche ich dir nicht zu erklären. Nein, Jeremias, du bist der Einzige, der dieser Aufgabe gewachsen ist und sie so durchführt, dass niemand etwas davon bemerkt.« Charlotte ergriff seine beiden Hände. »Bitte, Jeremias, übernimm den Fall. Du bist der Einzige, zu dem ich Vertrauen habe. Lass mich nicht im Stich. Geld spielt keine Rolle. Dir stehen alle meine Ressourcen zur Verfügung. Deine Arbeit hat oberste Priorität. Ich zahle dir das Dreifache deines Honorars, und wenn du erfolgreich bist, darüber hinaus eine dicke Prämie.«

»Lass es gut sein, Charlotte, du weißt, dass ich einen Auftrag nicht des Geldes wegen übernehme, sondern weil er eine Herausforderung darstellt.«

»Du musst zugeben, dass er dieses Kriterium erfüllt.«

»Lass uns so verbleiben: Ich schlafe eine Nacht darüber und melde mich morgen mit einer Entscheidung.«

Obwohl Voss ein mehr als nur freundschaftliches Verhältnis zu Charlotte unterhielt, blieb er in dieser Nacht nicht bei ihr. In seinem Kopf schwirrten zu viele Informationen umher. Er benötigte Ruhe und Einsamkeit, um sich über den Umfang der Aufgabe klar zu werden.

Kurz vor Mitternacht war er wieder in der Villa am Mittelweg und wurde stürmisch von Nero begrüßt. Trotz der späten Stunde schnallte er dem Hund das Halsband um und ging mit ihm spazieren. Nero war es egal, ob er zu Hause war oder um Mitternacht zur Außenalster ging. Hauptsache, er war bei ihm.

Die Fußwege entlang der Außenalster waren menschenleer, sodass Voss sich ungehindert seinen Gedanken hingeben konnte. Charlotte hatte drei Aufgaben angedeutet: den Tod von Professor Stieleke aufklären, das Spionageleck aufspüren und es für immer verstopfen. Die Ermittlungen mussten so unauffällig erfolgen, dass niemand davon Wind bekam. Andernfalls wäre die Industriespionage nicht aufzuklären, da die Verantwortlichen ihre Arbeit für einige Zeit auf Eis legen würden.

Als er gegen halb drei in der Früh ins Bett ging, war er hundemüde, und doch konnte er nicht einschlafen. Im Halbschlaf dämmerte er durch den Rest der Nacht. Die Gedanken rollten in einer endlosen Schleife durch seinen Kopf.

Um acht Uhr hielt er es nicht mehr aus im Bett. Er fühlte sich wie gerädert. Das heiße und kalte Duschen half genauso wenig wie die Tasse Kaffee danach.

Um neun ging er ins Büro hinunter. Vera steckte den Kopf durch die Tür.

»Chef, wie seh’n Sie denn aus? Haben Sie so eine wilde Nacht hinter sich? Hoffentlich kommt heute Morgen kein Besucher. Ich mach Ihnen schnell einen starken Kaffee.«

»Von wegen wilde Nacht. Ich war um halb zwölf wieder zu Hause«, rief er ihr hinterher. »Bringen Sie sich einen Kaffee mit, wir müssen reden.«

Wenig später kam sie mit zwei dampfenden Bechern zurück. Unter dem Arm hatte sie einen Stenoblock und im Mund zwei Bleistifte.

Voss nahm ihr seinen Becher ab und trank vorsichtig ein paar Schlucke. Vera nahm auf ihrem Stammplatz an der rechten Seite des Schreibtischs Platz.

»Vera, wir haben einen neuen Auftrag, vorausgesetzt, ich nehme ihn an. Darüber will ich mit Ihnen sprechen. Ich bin mir nämlich noch nicht im Klaren darüber, was ich tun soll. Auf der einen Seite möchte ich Charlotte helfen, auf der anderen Seite könnte es unsere Möglichkeiten sprengen. Auf jeden Fall würde der Auftrag uns das Dreifache unseres üblichen Honorars einbringen, plus unbegrenzte Spesen, plus einen fetten Bonus nach erfolgreichem Abschluss. Also hören Sie zunächst zu. Anschließend diskutieren wir den Fall.«

Während der nächsten halben Stunde berichtete er, was Charlotte ihm erzählt hatte. Danach zeigte er die Probleme auf, die er bei einer Übernahme des Auftrags sah. Vera machte sich Notizen.

Die Einwände, die sie später erhob, hatte Voss bereits in der Nacht durchdacht. Er war sicher, dass es dafür Lösungen gab. Was blieb, waren Veras Bedenken hinsichtlich des Personals. Zusammen gingen sie die Liste geeigneter Privatdetektive in Hamburg durch, doch es gab nicht einen, der beiden gleichermaßen gefiel. Das Problem war, dass sie Zugang zu geheimen Forschungen bekommen könnten, und zum jetzigen Zeitpunkt war unmöglich zu sagen, wie tief die Ermittlungen gehen würden. Die Versuchung, dass jemand Informationen für sich behielt, um später daraus Kapital zu schlagen, war zu groß.

Gegen Mittag brachen sie die Diskussion ab. Das Personalproblem blieb ungelöst.

Am Nachmittag fuhr Voss zum Moorbach-Institut. Von Silke wollte er erfahren, ob es sich beim Todesfall Stieleke um einen Unfall, Selbstmord oder Mord handelte.

Er erreichte das Institut um zwei Uhr nachmittags und hatte Glück. Silke war anwesend und hatte Zeit. Er hätte vorher einen Termin ausmachen können, doch er wollte sowieso aus dem Büro raus, um einen klaren Kopf zu bekommen.

Silke war in ihrem Büro, als er eintrat. Sie stand auf, kam um den Schreibtisch herum und schüttelte ihm herzlich die Hand. Das distanzierte Händeschütteln war ein Zeichen, dass sie sich neu verliebt hatte. Sonst hätte sie ihn umarmt und geküsst. Als enger Freunde konnte er sich die Freiheit nehmen zu fragen: »Verliebt?«

Ein Hauch von Rosa erschien auf ihren Wangen. »Nicht in dich!« Das Lächeln nahm den Worten die Schärfe.

»Das hatte ich befürchtet. Deshalb will ich auch nicht weiter in dich dringen, sondern gleich zum Zweck meines Besuchs kommen. Ich gehe davon aus, dass die Leiche von Professor Stieleke in deinem Institut untersucht wurde.«

»Stimmt. Wegen der politischen und öffentlichen Bedeutung des Todesfalls habe ich es persönlich gemacht. Was ist dein Interesse an dem Fall?«

»Frau Malakow – du kennst sie ja auch – will mir die Aufklärung des Falls übertragen. Ich habe noch nicht zugesagt, möchte erst herausfinden, auf was ich mich da einlasse. Dazu brauche ich deine Hilfe, wie du dir denken kannst.«

Silke zog die Stirn in Falten. »Eine kritische Sache, Jeremias. Wenn Informationen an die Presse gelangen, kommen wir in Teufels Küche. Deshalb …«

»Silke, was soll das? Du weißt, dass ich nie etwas ohne deine Genehmigung ausplaudern würde. Du brauchst es mir wirklich nicht jedes Mal wieder zu erläutern. Ich will ja auch keine Details wissen. Was mich interessiert, ist, ob der Tod Unfall, Selbstmord oder Mord war. Dass er drei Komma fünf Promille Alkohol im Blut hatte, weiß ich.«

»Dann weißt du ja schon fast so viel wie wir.« Silke hatte sich wieder hinter ihren Schreibtisch gesetzt.

Bevor Voss antworten konnte, ging die Tür auf, und die Sekretärin kam mit einem Tablett, auf dem zwei Becher mit Kaffee standen, herein und setzte es ab. Silke bedankte sich mit einem Lächeln.

»Kennst du schon meine neue Sekretärin, Esther Dombruch? Sie hat den Job erst seit einer Woche. Also nimm Rücksicht auf sie, wenn du mit deinen Wünschen ankommst. Esther, der Herr hier ist ein enger Freund von mir und eine Nervensäge.«

Voss reichte Esther die Hand und lächelte sie an. »Sehr erfreut, Sie persönlich kennenzulernen, Frau Dombruch.« Und zu Silke gewandt: »Ich habe nicht gemerkt, dass Frau Dombruch neu im Geschäft ist. Es ist mir gestern nicht gelungen, zu dir durchzudringen. Sie hat all meine Versuche abblitzen lassen.«

Silke nickte ihr erneut freundlich lächelnd zu und entließ sie mit einer Geste der Hand.

»So, jetzt zurück zu unserem prominenten Toten. Sicher ist bis jetzt nur, dass er einen hohen Alkoholspiegel hatte. Allerdings – und das sage ich unter allen Vorbehalten – haben wir eine uns unbekannte Substanz im Blut gefunden. Erste Untersuchungen deuten darauf hin, dass es sich um eine Art Betäubungsmittel handeln könnte. Wenn sich diese Annahme bestätigt, dann dürfte es sich bei Stieleke um Mord oder um einen Mordversuch handeln. Aber wie gesagt, wir sind noch am Forschen und Bücherwälzen. Ich hoffe, morgen oder übermorgen mehr zu wissen.«

»Wenn ich es richtig verstanden habe, dann muss ihm das Mittel vor Verlassen des Lokals von jemandem zugeführt worden sein.«

»Das ist meine Annahme.«

»Wie kommt er dann in das Alsterfleet? Er konnte doch unmöglich noch allein gehen.«

»Das herauszufinden, mein lieber Jeremias, ist nicht meine Aufgabe, sondern die der Polizei oder deine.«

»Was war die Todesursache?«

»Eindeutig Ertrinken.«

»Wann?«

»Da er nicht lange im Wasser gelegen hat, sind wir uns ziemlich einig, dass er um zwei Uhr, plus minus eine halbe Stunde, gestorben sein muss.«

»Irgendwelche Kampfspuren? Ich meine, könnte jemand ihn unter Wasser gedrückt haben?«

»Es sind zwei winzige Hämatome im Nacken. Die könnten allerdings von allem Möglichen stammen.«

»Aber sie könnten auch dadurch verursacht worden sein, dass jemand den Kopf unter Wasser gedrückt hat?«

Silke zuckte mit den Schultern zum Zeichen, dass alles möglich war.

»Habt ihr sonst irgendetwas Auffälliges an ihm gefunden?«

»Nichts außer Trübstoffe vom Fleet in der Lunge.«

»Noch einmal zurück zu den Hämatomen. Nehmen wir mal an, sie stammten von jemandem, der den Kopf unter Wasser gedrückt hat. Wodurch genau könnten sie deiner Erfahrung nach verursacht worden sein?«

Silke dachte nach. Nach einer Weile sagte sie: »Mit der Hand scheint mir unmöglich, da die Wände des Fleets es nicht erlauben, sich so weit hinunterzubeugen, um Kopf oder Hals zu erreichen. Es müsste mit einem Holz oder Metallstab geschehen sein. Aber was wir hier treiben, ist reines Fantasieren.«

»Okay, das sehe ich ein. Hab herzlichen Dank für die Unterstützung. Ich wünsche dir viel Glück mit deiner neuen Liebe.« Voss drehte sich um und wollte gehen.

»Halt, nicht so schnell. Ich habe noch etwas für dich. Komm, setz dich wieder.«

Voss sah sie erstaunt an, denn dass Silke etwas von ihm wollte, kam selten vor.

Als er sich gesetzt hatte, sagte sie: »Ich habe hier einen Rechtsmediziner, einen jungen, agilen, fantasievollen Mann mit einem IQ von hundertfünfzig. Ein wirklich hervorragender Mitarbeiter. Leider will er mich verlassen. Er möchte eine neue Herausforderung, bei der er nicht im Büro versauern muss. Da musste ich an dich denken. Dir ging es doch genauso, als man dich untauglich hielt für den Außendienst.«

»Warum will dieser Wunderknabe dich denn verlassen?«

»Er meint, er habe eine ›Leichenallergie‹. Ich wusste gar nicht, dass es so etwas gibt, aber der arme Kerl leidet wirklich. Er sagt, den ganzen Tag nur mit Leichen umzugehen und sie wie Schlachtvieh auszuweiden, das geht ihm so auf die Psyche, dass er depressiv wird. Man sieht es ihm auch an.«

»Dann hat er den Beruf verfehlt.«

»So sieht er es auch.«

»Warum wechselt er nicht zurück in seinen Beruf als Arzt?«

»Genau das habe ich ihn auch gefragt.«

»Und?«

»Er sagt, Arzt zu werden war eine Fehlentscheidung. Deshalb wurde er ja Rechtsmediziner, aber das hätte sich als noch schlimmer herausgestellt. Er möchte weg von Krankheit und Tod.«

»Kann ich verstehen. Aber weswegen erzählst du mir das? Ich bin doch kein Seelenklempner.«

»Ich dachte, ein Mann mit seinen Qualitäten – wäre das nicht etwas für dich? Du jammerst doch schon seit Monaten, dass du zu viel zu tun hast. Jedenfalls war das immer deine Entschuldigung, wenn du mich mal wieder sitzen gelassen hast.«

»Also, das war jetzt ein Schlag unter die Gürtellinie«, sagte Voss und spielte den Empörten.

»Schon gut, ich korrigiere zu ›fast immer‹. Lass uns nicht vom Thema abweichen. Was hältst du von meiner Idee?«

Voss tat, als müsse er überlegen, dabei kam ihm der Vorschlag gerade recht angesichts des zu erwartenden Auftrags. Vorausgesetzt, er war von der Eignung des Burschen überzeugt.

»Wo ist denn dieser Supermann?«

»Hier, im Leichenkeller.«

»Wenn er das Herausschneiden von Herz und Lunge unterbrechen kann, dann lass ihn doch mal kommen.«

»Esther, bitte Herrn Hendriksen zu mir«, rief sie zu ihrer Sekretärin hinüber.