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ARTA RAMADANI

Die Reise
zum ersten Kuss

Eine Kosovarin in Kreuzberg

Roman – Jugend zwischen zwei Welten

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DRAVA VERLAG • ZALOŽBA DRAVA GMBH

9020 Klagenfurt/Celovec, Gabelsbergerstraße 5

Telefon +43(0)463 501099

office@drava.at

www.drava.at

Lektorat: Dr. Carsten Schmidt

Copyright © dieser Ausgabe 2018 bei Drava Verlag

Klagenfurt/Celovec

Alle Rechte dieser Ausgabe vorbehalten

ISBN 978-3-85435-865-7

eISBN 978-3-85435-888-6

Inspiriert durch eine wahre Geschichte

„Ich hoffe, ich inspiriere Frauen, an sich selbst zu glauben; egal, wer sie sind, egal, wo sie herkommen, egal, welche Erziehung sie genossen haben.“

Madonna Ciccone

Hallo Du,

freue mich, dass mein Buch in Deiner Hand gelandet ist. Du hast jetzt bestimmt angefangen zu blättern, die Geschichte zu erschnuppern. Irgendwas sagt dir, Du möchtest das Buch behalten, stimmt’s?

Eras Geschichte klingt ja irgendwie interessant.

Flüchtlinge kennt jeder von uns. Manche aus der Schule. Manche aus der Nachbarschaft. Manche von der Straße. Und ganz viele kennt man aus dem Fernsehen. Jeden Tag wird allerdings auch teilweise über sie berichtet, als wären sie eine schlimme Krankheit. Dabei sind Flüchtlinge Menschen wie Du und ich. Sie haben Wünsche, Sorgen, Lieblingsmusik, ihr Lieblingsessen. Sind mal verliebt. Oder schlecht in Mathe. Viele, die zu uns gekommen sind, haben alles verloren. Daher sollten wir nett zu ihnen sein. Wenn Dir das schwerfällt, dann möchte ich Dir eine Frage stellen:

Was würdest Du tun, wenn Du in einem Kriegsgebiet leben müsstest? Wenn Du mitansehen müsstet, wie Deine Liebsten getötet werden?

Du würdest auch fliehen und nach einem besseren Leben suchen.

Mein Buch ist ein Roman, und ich lade Dich ein, direkt in Eras Leben einzutauchen. Meine Geschichte spielt zwar im Kosovo, aber sie könnte überall auf der Welt stattfinden.

Überall da, wo es Konflikte gibt und die Menschen frei und ohne Angst leben wollen.

Wenn Du noch mehr über die konkreten politischen und gesellschaftlichen Hintergründe des Kosovos erfahren möchtest, dann findest Du am Ende des Buches viele Antworten.

Jetzt wünsche ich Dir erstmal viel Spaß beim Lesen.

Ich glaube, Du hast beschlossen, mein Buch zu behalten. Juhu. Du kannst sicher sein, ich werde mich bei der guten Fee dafür bedanken. Denn, eines solltest Du wissen. Ich nehme Dich an die Hand. Durch die Zeit der Freude, der Wünsche und Geheimnisse. Der Ängste und Selbstzweifel. Und natürlich der ersten Küsse.

Herzlichst,

Arta Ramadani

Kapitelauswahl

1. Serbische Polizisten auf der Straße & Madonna im Radio

2. Kleine Stadt, große Sorgen

3. Freudentanz & Eiscreme

4. Langeweile macht Spaß

5. Novemberreise und gelbe Tulpen

6. In Deutschland wohnt das Glück

7. Zauberhaft buntes Kreuzberg

8. Ungewollt andersartig

9. Mittendrin und doch allein

10. Papa, mein Superheld

11. Mama weiß, wie es geht

12. Mit dem Herzen sieht man besser

13. Ein Fernseher als offenes Fenster

14. Küss‘ ich dich?

15. Freunde muss man festhalten

16. Das Leben geht immer weiter

Nachwort

Dank

1. Serbische Polizisten auf der Straße & Madonna im Radio

Prishtina, 1994

„Era, wir sehen dich. Geh ins Bett. Es ist spät. Und kalt. Du musst nicht immer alles mitbekommen, was wir hier so machen. Und stell die Musik leiser. Nicht alle mögen deine Madonna. Oder willst du, dass die serbischen Polizisten unsere Wohnung durchsuchen, weil sie denken, es geht uns zu gut?“, sagte Tante Jehona zu mir und schaute mich nicht mal dabei an.

Wenn sie so mit mir sprach, zuckte es überall in meinem Bauch. Nicht, dass ich Angst vor ihr hatte, aber sie fand immer wieder Wege, mir den Spaß zu verderben. Das fand ich total gemein. Eigentlich sollte sie an diesem Abend auf mich aufpassen, da meine Eltern auf eine Party gingen. Ich war nicht begeistert. Denn ich wusste, dass Tante Jehona nichts davon machen würde, was meine Eltern ihr sagten. Wie zum Beispiel mir einen Hagebutten-Tee machen, mit mir Karten spielen, mir was vorlesen und mich anschließend ins Bett bringen. Sie tat nichts davon. Sobald meine Eltern die Wohnung verließen, behandelte sie mich wie Luft. Sie rief ihre Busenfreundin Shota an, die zufällig innerhalb von zehn Minuten zu uns kam, so als ob sie den ganzen Tag nur darauf gewartet hätte. Tante Jehona kochte zwei Tassen Mokka-Kaffee, den sie schnell tranken. Dann drehten sie die Tassen um, schüttelten sie ein bisschen und warteten sitzend auf der alten orangefarbenen Couch im Wohnzimmer. Nach fünf Minuten ging es los. Tante Jehona ließ sich von Shota die Zukunft aus der Kaffeetasse vorlesen.

Beide lachten laut und redeten so, als würden sie sich mit der Tasse unterhalten. Ich stand neben der Wohnzimmertür, hatte meinen blauen Schlafanzug schon an und konnte nicht glauben, was diese zwei da machten: „Shota, kannst du wirklich darin lesen?“, fragte ich.

„Ich lese aus dem Kaffeesatz“, sagte sie beiläufig.

„Na und wie soll das gehen?“, fragte ich skeptisch.

„Na, einfach den Figuren auf dem Boden nachgehen, hier ist ein Baum, sehe ich grad“, dann schaute sie Tante Jehona an und grinste.

Ich näherte mich den beiden und frage: „Darf ich auch mal gucken?“, immerhin erschien mir diese Aktion doch sehr unlogisch.

Shota zeigte mir die Tasse: „Siehst du, hier unten ist der Baum, gegenüber ist ein Kreuz, und da unten ist das Herz“, sagte sie im Ernst.

Ich hob die Augenbrauen: „Ich sehe eigentlich nur schwarz, sonst nix. Ich glaube, euch ist langweilig, deswegen macht ihr sowas“, kam aus meinem Mund.

Tante Jehona verdrehte die Augen: „So, jetzt reicht es mir mit dir – du nervst. Geh sofort ins Bett. Putz dir aber vorher die Zähne. Und keine Musik. Verstanden?“

Ich tat was sie sagte. Ging genervt ins Bad. Ich hörte nur noch von weitem, wie sie zu Shota sagte: „Meine Nichte ist so anstrengend. So klein und so eine große Klappe. Seit sie diese Madonna im Radio gehört hat, ist sie nicht mehr auszuhalten. Ich glaube, Era wird meiner Schwester noch viel Ärger machen.“

Dann lachten beide über mich.

Am liebsten hätte ich den beiden gesagt, dass sie sich ein Vorbild an Madonna nehmen könnten. Die sitzt bestimmt nicht nur so rum und lässt sich aus einer Kaffeetasse vorhersagen, ob sie eines Tages heiraten wird oder nicht. Das war nämlich der Grund, warum Tante Jehona so gerne den Kaffeesatz befragte. Sie wollte wissen, wer ihr Mann werden würde. Als ob die Kaffeetasse ihr auf so eine Frage eine Antwort geben würde.

Aber ich traute mich nicht, so mit ihr zu reden. Ich ging in mein Zimmer, machte die Musik aus, kuschelte mich unter meine rotblaue Decke und versuchte zu schlafen, während ich Madonnas Lied: „Like a Prayer“ summte.

Es war Nacht und stockdunkel. Ich wollte nicht, dass die serbischen Polizisten unsere Wohnung durchsuchten.

Aber eine Sache nervt mich schon sehr lange: Tante Jehona behandelte mich wie eine Fünfjährige. Dabei bin ich schon zwölf und verstehe jede Menge.

Am nächsten Morgen saß ich in unserer kleinen, dunklen Küche und frühstückte. Ich aß Schokobrötchen, die Oma Emine für mich gebacken hatte. Alle sagten dazu llokums, nur ich nannte sie Schokobrötchen, weil Oma sie für mich mit Schokoladencreme füllte. Am Morgen schmeckten sie besser als je zuvor. Meine Mutter war dabei, ihre große grüne Stofftasche zu packen. Sie wollte, nachdem sie mich in der Schule abgesetzt hatte, noch einkaufen gehen. Sie sah um die Augen ganz schön müde aus. Wahrscheinlich ging die Party gestern lang.

Ich kaute weiter, mein Mund war voller Schokoladencreme, ich schloss die Augen, um alles in meinem Mund noch besser zu schmecken. Dabei dachte ich nach. Es gab eine Sache, die ging mir schon lange nicht mehr aus dem Kopf.

Mit geschlossenen Augen fragte ich meine Mutter: „Warum geht’s Tante Jehona so schlecht?“

„Warum hast du die Augen zu?“, kam als Gegenfrage von meiner Mama.

„Weil mir die Schokolade so besser schmeckt.“

„Ah, so ist das“, sagte meine Mutter. Ich hörte wie sie lächelte.

„Also, sag, warum geht’s Tante Jehona so schlecht?“

„Ich habe es noch nicht bemerkt, dass es ihr schlecht geht. Wie kommst du darauf, Era?“

Ich schaute sie an: „Weil sie immer genervt ist. Egal, was ich ihr sage, sie flippt total schnell aus.“

Mutter lächelte, während sie mir die Schokolade aus dem Gesicht wischte: „Tante Jehona wünscht sich einen Mann und findet keinen, der ihr gefällt. Vielleicht meinst du das. Aber das wird sich bestimmt legen. Wenn sie einen gefunden hat, geht’s ihr bestimmt besser.“

Ich nahm ein zweites Schokobrötchen, der gute Geschmack explodierte fast in meinem Mund. Oma Emine verstand es einfach, die leckersten Schokobrötchen der Welt zu backen. Sie mischte etwas Zimt in den Teig. Die Füllung machte sie aus einer Eier-Vanille-Schokocreme. Die Brötchen wurden frittiert, anschließend in Puderzucker getunkt. Einfach perfekt. Ich aß noch den letzten Biss, wischte mir den Mund und fragte etwas, worauf mir nicht einmal meine Mutter eine Antwort geben konnte:„Warum braucht Tante Jehona einen Mann, damit es ihr bessergeht, kann es ihr ohne Mann nicht gut gehen?“

„Das kannst du jetzt noch nicht verstehen, dafür bist du zu jung. Wenn du etwas älter bist, dann erkläre ich dir das“, sagte sie blitzschnell.

Sie nahm meinen Teller, meine Milchtasse, legte sie in die Spüle, trug ihren roten Lippenstift auf und schnappte ihre grüne Tasche: „Los Era, wir müssen, die Schule wartet.“

Als wir auf der Straße waren, auf dem Weg zur Schule, wir gingen immer zur Fuß hin, weil es nicht sehr weit von unserer Wohnung war, hörte ich Madonnas „True Blue.“ Egal, wo ich ging, ich hatte immer meinen Walkman und meine Madonna-Kassette dabei. Der Walkman war ein Geschenk von meinen Eltern zum zwölften Geburtstag. Madonnas Lieder hatte mir Onkel Agim auf einer Kassette aufgenommen.

Meine Mutter hatte mir an diesem Tag eine blaue Schleife in die Haare gebunden, so dass ich mich genauso fühlte, wie in Madonnas Lied. Auf der Straße war kaum ein Mensch. Es war Herbst, der Wind sang mit den Bäumen, die rotbraunen Blätter fielen vom Himmel. Der Boden war nass, voller Löcher und Schlamm, man musste aufpassen, wo man hintrat. Der Schlamm war wie Sekundenkleber, man bekam ihn sehr schlecht von den Schuhen. Drum herum waren ein paar Häuser zu sehen, sonst war alles wie ausgestorben. Aus der Ferne konnte ich ein paar serbische Polizisten erkennen. Sie hielten ihre Gewehre fest, klammerten sich sogar an sie, so als ob sie vor irgendetwas Angst hatten. Aber mir war das egal. Ich alberte herum, tanzte und sang, als würde mir die ganze Stadt gehören. Als wir ihnen näherkamen, sagte meine Mutter, ich solle leise sein: „Wir wollen die Polizisten nicht einladen in unsere Taschen zu gucken. So verlieren wir noch mehr Zeit und du kommst zu spät in die Schule.“

Ich befolgte ihren Rat, hörte auf zu singen und machte den Walkman aus.

Die Polizisten hielten uns trotzdem an. Es waren drei. Alle drei trugen schwarze- blaue Klamotten, auf dem Kopf hatten sie Polizeihelme. Ihre Stimmen waren laut. Ihre schwarzen Schuhe voller Dreck, als wären sie tagelang durch Matsch gelaufen. Ich hatte keine Angst. Sie sprachen eine Art Geheimsprache mit meiner Mama. Sie musste ihre grüne Tasche öffnen, ihren Ausweis zeigen und ein paar Fragen beantworten. Sie war total nett zu ihnen, verzog keine Miene.

Während sie redeten, sah ich, dass die Polizisten die roten Schuhe der Mama musterten. Sie warfen sich gegenseitig Blicke zu und grinsten sich an.

Der eine Polizist, der ein bisschen weiter weg stand, wollte wissen, was auf meinem Walkman läuft.

Meine Mutter antwortete freundlich: „Madonna.“

Der Polizist schaute mich an und zwinkerte mir zu. Einer von ihnen sagte was über Madonna zu seinen Kollegen und alle lachten sehr laut. Dann sagte er noch etwas Knappes zu meiner Mutter und wir durften gehen.

„Warum kann ich kein Serbisch, Mama?“

„Weil du es nicht können musst.“

„Aber warum nicht?“

„Weil Albanisch heute erlaubt ist. Früher mussten wir Serbisch lernen.“

„Ah so“, kam es aus mir raus. „Dann habe ich ja so richtig Glück gehabt. Ich mag Serbisch eh nicht. Diese Sprache ist bescheuert.“

„Keine Sprache ist bescheuert, Era. Je mehr Sprachen der Mensch spricht, desto mehr Welten kennt er“, erklärte mir meine Mutter.

„Ich mag nur Englisch“, während ich das sagte, versuchte ich den Schlamm auf der Strafe tanzend zu umgehen.

„Und was wollten die Polizisten von dir wissen, Mama?“

„Wo wir hingehen und was wir heute so vorhaben.“

„Hä, die sind aber doof. Wir gehen doch nur in die Schule. Warum wollen sie sowas wissen?“

„Weil das ihr Job ist und weil sie sonst nix zu tun haben“, erklärte mir Mama.

„Die haben aber eine blöde Arbeit, Mama.“

Dann richtete sie meine blaue Schleife.

„Also, du und deine Schleife seht aus wie ein Weihnachtsgeschenk.“

„Aber ich bin doch ein Geschenk Mama“, sagte ich patzig zu ihr.

Danach musste sie lachen: „Und frech bist du, aber das steht dir gut“, dann gab sie mir einen Kuss auf dem Kopf.

„Wenn du willst, kannst du jetzt Madonna weiter hören, Era.“

„Okay“ Ich drückte auf den Walkman.

„Welches Lied läuft?“, wollte sie wissen.

„Immer noch True Blue, konnte ich ja nicht zu Ende hören“, sagte ich laut.

„Du und deine Madonna. Zum Glück hat Onkel Agim alles aufgenommen. Ohne ihn wären wir aufgeschmissen.“

„Onkel Agim ist der beste Onkel der Welt“, sagte ich im Ernst.

Zum ersten Mal hörte ich Madonna im Radio singen. Da war ich in der Küche und aß Milchreis mit Erdbeermarmelade. Es war Samstag, 12 Uhr, es war September, es regnete. Da war ich elf. Als ich „Material Girl“ hörte, kribbelte es überall. Nase, Hals, Bauch, Beine, Po. In mir ging ein Feuerwerk ab. Ich fing an, in der Küche herumzutanzen und herumzuspringen. Ich weiß nicht, was es war. Aber es war etwas, das mein ganzes Herz umarmte. Seitdem liebe ich Madonna. Ihre Musik ist wie eine beste Freundin, immer bei mir. Sie gibt mir Kraft und macht mich stark, egal wie gemein die Erwachsenen zu mir sind. Onkel Agim nimmt seitdem Madonnas Lieder für mich auf, damit ich keins verpasse. Er findet Madonna auch super. Und freut sich, neue Lieder zu entdecken, mit denen er mich überraschen kann. Ich glaube, Onkel Agim hat mich doll lieb.

Madonna ist für mich so jemand wie der liebe Gott für Oma Emine. Oma betet abends immer Richtung Mekka und singt etwas auf Arabisch. Sie sagt, sie bedankt sich so beim lieben Gott. Gott heißt bei ihr Allah. Sie sagt, dass ihr Gott sie beschützt und stark macht. Deswegen bedankt sie sich immer.

Also ist es wie bei mir mit Madonna, ganz klar. Wenn ich Oma Emine sowas sage, lacht sie laut und gibt mir 1001 Küsse.

Era ist kosovo-albanisch und bedeutet Wind, ich bin auch ein bisschen wie der Wind. Obwohl ich so klein und jung bin, kann ich auch die großen Leute umhauen. Ich bin wie ein großer, schwerer Tornado. Ich rede viel, stelle viele Fragen, singe laut, mag am liebsten alles in Rot, esse viele Schokobrötchen von Oma Emine und mag die Stimme meines Klassenkameraden Gezim.

Wenn ich mich freue, dann bekommen das alle mit, denn ich springe minutenlang in die Luft. Wenn ich traurig bin, esse ich besonders viele Schokobrötchen. Traurig machen mich Menschen wie Tante Jehona, die immer nur am rumnörgeln sind. Aber auch andere Erwachsene, die meinen, Dinge vor mir verheimlichen zu müssen. Das fühlt sich so an, wie wenn der blaue Himmel plötzlich ganz grau wird und die Sonne sich zu einem Eisklotz verwandelt. Dadurch geben mir Erwachsene das Gefühl, total unwichtig zu sein. Das ist natürlich ungerecht, denn ich finde, auch Kinder sind wichtig und haben es verdient, dass man ihnen die Wahrheit sagt und sie respektiert.

Naja, und eine Sache, macht mich ganz besonders traurig: Ich werde wohl nie im Leben ein Konzert von Madonna besuchen. Hier, wo ich lebe, würde Madonna niemals hinkommen. Hier sind viele Polizisten auf der Straße. Die Menschen haben keine Arbeit, sind arm und haben viele Sorgen. Hier erfriert sehr oft die Sonne zu einem Eisklotz. Ich vermute, Madonna würde es bei uns nicht gefallen. Sie kennt bestimmt nicht mal den Namen der Stadt, in der ich wohne.

Wie soll sie da auf die Idee kommen, hier ein Konzert zu halten?

Aus dem Küchenradio spricht manchmal eine Frau. Sie sagt dann, dass Madonna auf Reise geht. Sie gibt Konzerte in Deutschland, England, oder Frankreich. Papa sagt, das sind reiche europäische Länder, die sind sehr weit weg. Um dorthin zu gehen, braucht man viel, viel, viel deutsches Geld. Und das haben meine Eltern nicht. Ich fühle mich oft, als würde ich unter einer großen Glasglocke stehen. Ich sehe zwar alles, bin aber nirgends mit dabei, weil diese blöde Glasglocke alles fernhält.

In der Schule würde ich am liebsten neben Gezim sitzen, aber das geht auch nicht, meine Klassenlehrerin will nicht, dass Jungs und Mädchen zusammensitzen.

Einmal, da habe ich ganz laut in der Klasse gesagt, dass ich neben Gezim sitzen will, da haben mich alle ausgelacht. „Era liebt Gezim“ haben sie ganz laut gerufen. Meine Klassenlehrerin hat sich sogar bei meinen Eltern über mich beschwert. Sie hat gesagt, ich sei vorlaut. Das gehöre sich für ein Mädchen nicht. An dem Tag habe ich in der Schule geweint. Als meine Eltern mich nach dem Unterricht abholten, weinte ich noch mehr. Ich erklärte ihnen alles.

„Du hast nichts Falsches gemacht, Era. Es ist doch toll, wenn du genau weißt, was du willst. Du bist unser Goldschatz. Wir haben dich lieb, genauso wie du bist.“

Ich schluchzte: „Aber warum sagt meine Lehrerin, Mädchen und Jungen dürfen nicht nebeneinandersitzen. Was ist an Jungs so schlimm?“

Mama wischte mir die Tränen weg: „An Jungs ist nichts schlimm, Era. Sie sind genauso so süß wie du. Deine Lehrerin hat wahrscheinlich Angst, die Jungs würden euch Mädels zu sehr ärgern, es würde unruhig werden in der Klasse, und so könnte sie keinen Unterricht halten.“

„Gezim ist total lieb, er tut doch nix“, sagte ich weinend.

„Deine Lehrerin kennt ihn ja nicht so gut wie du“, antwortete Papa.

„Meine Lehrerin ist blöd“, sagte ich laut.

Meine Eltern beschlossen, mit mir zum Lieblingsbäcker zu gehen, um frischgebackene Schokokuchen zu besorgen. Da gingen sie immer mit mir hin, vor allem wenn es regnete. Als ich im Laden war und die bunten und leckeren Kuchen auf der Theke sah, war die Trauer wie weggepustet.

2. Kleine Stadt, große Sorgen

Prishtina, 1994

Meine Heimatstadt heißt Prishtina. Die Gegend, in der wir wohnen, heißt Sonnenberg. Mein Name Era bedeutet „Wind“ und kommt aus der Sprache der Illyrer. Von denen stammen wir ab, sagen Mama und Papa. Die Illyrer waren ganz frühe Bewohner Europas, selbst vor den Germanen und den Briten waren die Illyrer da. Sie lebten auf schönen Burgen, einige von ihnen waren Ritter. Vor allem die illyrischen Frauen sollen schön und mutig gewesen sein. Sie fürchteten sich vor nichts und niemanden. Also waren sie so wie Madonna.

Das gefiel mir besonders. Und jedes Mal, wenn Tante Jehona sich über mich lustig machte, oder von mir genervt war, dachte ich an die mutigen Illyrischen Frauen. Sie hätten mich bestimmt gemocht, malte ich mir im Kopf aus.

Meine Eltern haben mich sehr lieb. Sie umarmen mich oft oder knutschen mich ab. Ihnen ist es wichtig, dass es mir gut geht. Sie achteten zum Beispiel sehr genau darauf, wie die Lehrer mich in der Schule behandelten. Oder ob ich genug Obst und Gemüse esse. Oder ob ich genug schlafe und auch wirklich die Mathehausaufgaben gemacht habe.

Sie wollen alles wissen. Sie reden viel mit mir und erklären mir alles Mögliche.

„Ich finde Mathe blöd. Macht gar keinen Spaß. Total langweilig und sinnlos“, beschwerte ich mich gerne.

„Du willst doch wissen, wie viel Schokolade du für fünf Mark bekommst, Era. Dafür brauchst du doch Mathe!“, versuchte Mama mich zu überzeugen.

„Ich will keine Verkäuferin werden. Wozu muss ich rechnen können?“

„Mathe begegnet dir überall im Alltag. Zum Beispiel, wenn du in einen Aufzug steigst, willst du doch wissen, in welches Stockwerk du fahren musst. Dafür musst du doch die Zahlen können“, sagte Mama.

„Die kann ich. Das reicht doch“, sagte ich plump.

„Mathe ist wichtig im Leben, auch wenn du das nicht gleich siehst. Mach lieber deine Hausaufgaben ordentlich“, sagte Papa.

„Oh, Papa, du nervst“, was anderes fiel mir nicht ein. Denn insgeheim wusste ich, dass er irgendwie recht hatte.

Meine Eltern erzählten mir aber auch oft halbe Wahrheiten. Sie denken, ich würde das nicht merken. Ich glaube, sie wollten mich beschützen, damit ich mir nicht so viele Sorgen machte. So schmücken sie die Erwachsenengespräche für mich aus: Die Geldscheine kamen „aus einer großen Fabrik in Deutschland.“ Onkel Agim hat seinen Arbeitsplatz „weitervergeben“, weil er mehr Zeit mit seiner Frau, Tante Anita verbringen wollte. Mamas Schwester Tante Lirie ist mit Sack und Pack nach Schweden gegangen, weil sie dort die „viel schönere Wohnung bekam.“ Und die serbischen Polizisten waren auf der Straße, weil sie für Sicherheit und Ordnung sorgten.

Die Wirklichkeit war aber so: Onkel Agim musste seinen Job abgeben. Sein serbischer Chef wollte keine albanischen Angestellten. Tante Lirie ging nach Schweden, weil sie es leid war, keine Arbeit zu haben und immer arm zu sein. Das Geld kam nicht aus einer Fabrik aus Deutschland, sondern von der Bank. Und die serbischen Polizisten hatte ein Mann namens Milosevic geschickt, um das Leben von Papa und Onkel Agim schwer zu machen.

Ich tat so, als würde ich meinen Eltern alles glauben.

Ich wollte auch nicht, dass sie sich um mich sorgten.

Eines Abends bekam ich eine Unterhaltung von ihnen mit. Einfach so. Sie dachten, ich würde schlafen, weil es spät am Abend war, aber ich tat nur so. Die Tür zu meinem Kinderzimmer war nicht ganz zu, unsere Wohnung war eh sehr klein, so dass ich auch die Geräusche jeder Ameise mitbekam. Meine Eltern hatten an dem Abend Kerzen angezündet, Schafskäse und Trauben auf dem Tisch gestellt und eine Flasche Rotwein geöffnet.

Sie saßen auf unserer orangenen Couch, steckten unter einer Decke, weil es draußen kalt war und die Heizung in unserer Wohnung mal wieder ausgefallen war.

„Era wird immer wachsamer, ich denke bald können wir ihr keine Märchen mehr erzählen, wir müssen besser aufpassen, was wir ihr sagen“, sagte mein Papa leise und trank seinen Wein.

Nach einer kleinen Pause antwortete Mama: „Wir lügen sie ja nicht an, wir verharmlosen die Dinge nur etwas, ist doch nicht so schlimm; sie muss ja nicht immer alles so genau wissen. Wir machen das schon.“

„Ich hoffe, du hast recht“, sagte mein Vater.

„Ich habe immer recht“, sagte Mama.

Dann lachten beide und aßen ein paar Trauben, die sie am Mittag in der Kleinmarkthalle am Rande der Stadt gekauft hatten.

An diesem Abend beschloss ich, meine Eltern nicht mehr mit allen möglichen Fragen zu löchern.

Mama, Papa und ich leben also in Prishtina. Mein Papa heißt Besnik und mag die Filme von James Bond; er mag dunkle Schokolade, Äpfel und Rotwein. Meine Mama heißt Lule und mag die Musik von Eli Fara; sie mag gelbe Tulpen, trinkt jeden Tag zwei Tassen Mokkakaffee und trägt immer roten Lippenstift. Zudem ist Mama ein großer Deutschlandfan. Sie sagt, dort sind die Menschen alle gleich: Frauen, Männer, Alte, Kinder, Behinderte und so weiter.

Ich bin Einzelkind, was richtig untypisch ist für die Menschen hier. Sie mögen Kinder und haben viele davon. Vor allem mögen sie Jungs. Jungs finden sie richtig toll. Wenn ein Junge geboren wird, freuen sich alle. Wenn ein Mädchen geboren wird, freuen sie sich auch, aber nicht so, wie wenn ein Junge geboren wird. Das habe ich einmal im Dorf meiner Großtante Hannah beobachtet. Ihre Schwiegertochter brachte einen Jungen zur Welt, obwohl alle dachten es würde ein Mädchen werden. Großtante Hannah fing an, wie eine Verrückte zu tanzen während sie gleichzeitig Baklava backte, als sie von der Nachricht erfuhr.

„Papa, warum freut die sich so? Was ist an Jungs so besonders?“, frage ich damals.

„Nichts, Era, Großtante Hannah freut sich, weil der Junge gesund zur Welt gekommen ist.“

„Nein, Papa, sie hat sich gefreut, weil das Baby ein Junge geworden ist, das habe ich genau gehört“, sagte ich trotzig.

„Ah, Era, du hast dich bestimmt verhört. Babys sind Babys. Egal, ob Jungen oder Mädchen. Hauptsache, sie sind gesund.“

„Du erzählst mir nicht die ganze Wahrheit, Papa“, sagte ich genervt.

Dann bohrte ich weiter: „Hat sich Großtante Hannah auch über meine Geburt so sehr gefreut?“

„Ich kann es dir nicht sagen, denn ich war an dem Tag bei deiner Mutter im Krankenhaus, aber ich vermute, sie hat sich bestimmt auch über deine Geburt sehr gefreut“, sagte mein Vater konzentriert. Er fuhr sehr vorsichtig, er hatte sich an dem Tag das Auto von Onkel Agim ausgeliehen. Das Auto war wirklich eine Schrottkiste. Eine alte, weiße, serbische Zastava, die immer wieder stehen blieb.

„Ich glaub nicht, dass Großtante Hannah sich über meine Geburt so gefreut hat. Sie mag nur Jungs“, sagte ich entschlossen.

Mein Vater schwieg und fuhr einfach weiter, so als hätte er mich nicht gehört.

Wir leben in Prishtina, wir sind Kosovo-Albaner, wir sprechen Albanisch. Wir sind Muslime, aber nicht solche wie die in Arabien oder in der Türkei. Wir sind andere Muslime, solche, die im Ramadan fasten, aber trotzdem Rotwein trinken. Wir sind moderne Muslime, so erklärte mir das Onkel Agim, der beste Freund meines Papas.

Die meisten Menschen im Kosovo sind Muslime. Aber es gibt auch jede Menge kosovo-albanischer Christen. Das sind auch moderne Christen.

Wenn Onkel Agim ein bisschen zu viel Raki getrunken hat, sagt er komische Sachen zu mir: „Era, egal wohin du gehst, egal wie alt du bist, vergiss nie: unsere Vorfahren waren Christen, aber die Türken haben viele zu Muslimen gemacht. Als Albanerin ist es egal, welche Religion du hast. Die Hauptsache ist: Du bist Albanerin. Wir können Christen und Muslime, Juden und Buddhisten sein, aber eines haben wir alle gemeinsam: wir sind Albaner. Unsere Nation steht über unsere Religion.“

„Aha“, dachte ich. „Also ist es egal, an welchen Gott man glaubt, Hauptsache man ist Albaner“, sagte ich.

„Genauso ist es, mein Kind, genauso“, sprach Onkel Agim bestimmt.

Onkel Agim ist der einzige unter den Erwachsenen, der mich ernst nimmt. Er erzählt mir immer alles so, wie es ist. Deswegen mag ich ihn sehr.

Wenn ich mit ihm rede, komme ich mir sehr groß vor.

Da fühle ich mich dann so, als würde ich auf den blauen Himmel schauen und die gelbe warme Sonne würde mir zuwinken.

Onkel Agim trägt einen Bart, hat aber sonst keine Haare auf dem Kopf. Wenn er lacht, dann bilden sich Grübchen in seinem Gesicht. Wenn er ernst schaut, dann bilden sich Falten auf seiner Stirn. Er flucht viel, isst gerne Pflaumen und trinkt Raki.

„Raki macht die Sorgen weg“, sagt er immer.

„Raki stinkt schrecklich, wie kannst du das trinken, Onkel?“, sage ich dann immer.

Dann trinkt er noch mehr Raki.

Onkel Agim ist auch Moslem, aber seine Frau ist Christin. Beide sind Kosovo-Albaner. Bis heute schwärmt er von seiner Hochzeit, zu der fast 500 Gäste eingeladen worden seien. Ich war damals leider noch gar nicht auf der Welt, sonst hätte ich bestimmt auf dieser Party mitgetanzt.

So feiert Onkel Agim seit jeher mit seiner Frau an Weihnachten den Heiligabend, also die Geburt von Jesus Christus. Und am Ramadan fastete sie mit ihm gemeinsam den heiligen Monat durch. Beim Fastenbrechen am Bayram, dem Zuckerfest, verteilen beide tonnenweise Süßigkeiten an alle Kinder, die sie treffen. Sie selbst haben keine Kinder. Warum, weiß ich leider nicht.

Bei Onkel Agim zuhause war es nie langweilig. Es gibt immer sehr viele Feste, die er und seine Frau feiern. An viele verschiedene Götter zu glauben ist echt eine super Sache, dachte ich mir. Man bekommt andauernd Geschenke und wenn das eine Fest zu Ende geht, fängt das andere an.

Ich selbst weiß noch nicht, was ich bin. Aber das ist nicht so schlimm. Denn meine Eltern haben mir das mit dem Glauben letztlich so erklärt: „Du kannst sein was du willst. Christin, Muslimin, Buddhistin. Hauptsache du bist ein guter Mensch.“

Über diesen Satz habe ich lange nachgedacht und habe folgendes beschlossen: Falls es einen Gott gibt, dann liebt er alle Menschen gleich. Egal, welche Religion sie haben.

Obwohl wir „nur“ Kosovo-Albaner sind, haben wir große Probleme. Wir sind nicht frei. Unser Land ist ein großes Gefängnis. Unsere Nachbarn, die Serben, mögen uns nicht, das erzählt mir Onkel Agim. Deswegen gibt es auf der Straße in Prishtina auch so viele serbische Polizisten. Die sind da, um den Menschen im Kosovo Angst zu machen.

Der Mann namens Milosevic tut alles Mögliche, damit es uns noch schlechter geht. Da kann auch der liebe Gott oder Omas Emines Allah nichts dagegen tun.

Wir selbst können auch nix dagegen tun. Eigentlich war das immer so, das lernte ich von Onkel Agim. Erst mochten uns die Türken nicht und dann kamen die Serben. Die Türken waren schlimm. Aber die Serben sind die Schlimmsten.

In meiner Phantasiewelt malte ich mir das so aus: Im Kosovo liegt bestimmt ein großer Schatz verborgen, der zu unendlichem Reichtum führt. Und dieser Milosevic wollte alles für sich haben. Um den großen Schatz für sich zu haben, müssten sie erst alle Albaner loswerden. Mir war das glasklar. Nur sprach da keiner offen. Und wenn ich Erwachsene danach fragte, dann wurde ich mit blöden Antworten abgespeist: „Du bist noch sehr jung Era. Wenn du etwas älter bist, wirst du das noch besser verstehen.“

Ich fand diesen Satz bescheuert.